Romanische Literaturen und Kulturen
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Katharina E. Scheffner
Verrat in den eigenen Reihen?
Hernán Valdés’ literarische Produktion als Kritik an der chilenischen Linken im Kalten Krieg
Romanische Literaturen und Kulturen
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Romanische Literaturen und Kulturen
hrsg. von Dina De Rentiis, Kai Nonnenmacher und Enrique Rodrigues-Moura
Band 11
2020
Verrat in den eigenen Reihen?
Hernán Valdés’ literarische Produktion als Kritik an der chilenischen Linken im Kalten Krieg
Katharina E. Scheffner
2020
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Informationen sind im Internet über http://dnb.ddb.de/ abrufbar.
Diese Arbeit hat der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg unter dem Titel »Verrat in den eigenen Reihen? Hernán Valdés’ literarische Produktion als eine (unmögliche) differenzierte Kritik an der chileni-
schen Linken im Kalten Krieg« als Dissertation vorgelegen.
Gutachter: Prof. Dr. Enrique Rodrigues-Moura Gutachter: Prof. Dr. Kai Nonnenmacher Tag der mündlichen Prüfung: 07.11.2018
Diese Forschungsarbeit entstand innerhalb des von Prof. Dr. Enrique RodriguesMoura geleiteten Projekts »Schmerz und Empathie nach den Iberoromanischen Diktaturen: Narrationen, Filme und andere Kunstformen« an der Professur für Romanische Literatur/Hispanistik der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
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Bamberg erreichbar. Das Werk – ausgenommen Cover und Zitate – steht unter der CC-Lizenz CC-BY.
Lizenzvertrag: Creative Commons Namensnennung 4.0 http://creativecommons.org/licenses/by/4.0.
Herstellung und Druck: Digital Print Group, Nürnberg
Umschlaggestaltung: University of Bamberg Press Umschlagbild: Typoskript von A partir del fin von Hernán Valdés (ca. 1980). Universitätsarchiv Bamberg. © Maria Svidryk (Foto)
© University of Bamberg Press, Bamberg 2020
https://www.uni-bamberg.de/ubp/
ISSN: 1867-5042 ISBN: 978-3-86309-706-6 (Druckausgabe) eISBN: 978-3-86309-707-3 (Online-Ausgabe) URN: urn:nbn:de:bvb:473-irb-470216 DOI: http://dx.doi.org/10.20378/irb-47021
Inhalt
1. Hernán Valdés und der Kalte Krieg in Chile ................................. 7 2. Forschungsstand............................................................................ 25
2.1. Erinnerungsdiskurs in Chile................................................ 25 2.2. Erinnerung in der Literatur.................................................. 49 2.3. Autobiografisches und autofiktionales Schreiben .............. 61 2.4. Kanonisierung chilenischer Literatur .................................. 65
3. Chilenische Literatur und Kultur während der Diktatur – ein
Ausschnitt ...................................................................................... 75
4. Tejas Verdes..................................................................................... 85
4.1. Der chilenische testimonio .................................................... 85 4.2. Forschungsstand und Rezeptionsgeschichte ...................... 94 4.3. Vom Tagebuch zum »kollektiven Text« ............................ 108
4.3.1. Literarisierter Lageralltag als Zeugnis der Diktatur...... 108 4.3.2. Die spanischsprachigen Ausgaben................................ 111
4.3.2.1. Sprache und Sprachlosigkeit ....................................113 4.3.2.2. Folter und Verstummen ...........................................121
4.3.3. Die Paratexte ................................................................... 131
4.3.3.1. Die erste (1974) und die zweite (1978) Ausgabe in
Spanien......................................................................131
4.3.3.2. Die dritte Ausgabe (1996)
erstmalige
Veröffentlichung durch einen chilenischen Verlag.........................................................................135
4.3.3.3. Die vierte Ausgabe (2012) – eine digitale Ausgabe in Chile ......................................................................145
4.3.3.4. Die fünfte Ausgabe (2017) in Chile..........................147
4.3.4. Die Paratexte der deutschen Ausgaben
die
Politisierung des Textes.................................................. 152
4.3.4.1. Die erste Ausgabe von 1976 – Annäherung an die
Position des MIR ...................................................... 153
4.3.4.2. Die zweite Ausgabe von 1987 – Historisierung und Politisierung im Rahmen der neuen Chilepolitik der Bundesregierung ........................... 167
4.3.4.3. Politik – chilenische Exilanten und die deutsche
Chile-Solidarität ........................................................ 173
4.4. Resümee: Tejas Verdes als kollektiver Text .........................188
5. A partir del fin................................................................................191
5.1. Erzählperspektive nach Wolf Schmid ................................199 5.2. Zwischen Fiktion und Autobiografie: A partir del fin als
Autofiktion ...........................................................................205
5.3. Sprachliche Markierung von Schichtzugehörigkeit ..........211 5.4. »Reunión de los intelectuales« – Anspruch und Wirken der Intellektuellen während der Regierung Allendes........217
5.5. »La gata« – soziale Beziehungen in der Diktatur ..............247 5.6. »Interpelación al Presidente« – Kritik an Salvador
Allende und der UP.............................................................270
5.7. Beschreibung des Alltäglichen............................................294
5.7.1. Das Lateinamerikabild des Protagonisten und die
Stadt-Land-Dichotomie ...................................................295
5.7.2. Alltag vor und nach dem Putsch ....................................306
5.8. Stimme aus dem Exil und trotzdem kein Exilroman ........312 5.9. Fragmentierung der Erinnerung........................................318 5.10. Extraliterarische Aspekte.....................................................329
5.10.1.Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte bis in die
1980er Jahre.....................................................................330
5.10.2.Rezeptionsgeschichte in Deutschland (1984)................336
5.10.3.Exkurs: Ansilania oder Die Geschichte darunter (1986) ...346
5.10.4.Veröffentlichungs- und Rezeptionsgeschichte in
Chile (2003, 2013) ........................................................... 348
5.11. Resümee: A partir del fin als Randerscheinung des chilenischen kulturellen Gedächtnisses ............................ 366
6. Schlussbetrachtung und Ausblick .............................................. 373 7. Abkürzungsverzeichnis............................................................... 381 8. Danksagung ................................................................................. 383 9. Literaturverzeichnis ..................................................................... 385
9.1. Primärliteratur: Texte von Hernán Valdés ........................ 385 9.2. Sekundärliteratur ................................................................ 387 9.3. Quellen ................................................................................ 429
9.3.1. Forschungsinstitut Brenner-Archiv............................... 429 9.3.2. Biblioteca Nacional, Santiago de Chile.......................... 429 9.3.3. Mainzer Verlagsarchiv, Gutenberg-Institut für
Weltliteratur Abteilung
Gutenberg-Universität Mainz ........................................ 431
9.3.4. Persönliches Archiv von Hernán Valdés und Ulrike
Michael-Valdés in Kassel................................................ 432
9.4. Interviews ............................................................................ 435
10. Personen- und Sachregister ........................................................ 436 11. Anhang: Kritischer Apparat von A partir del fin von Hernán
Valdés von 1981 und 2003........................................................... 438
Hernán Valdés und der Kalte Krieg
- 1.
- Hernán Valdés und der Kalte Krieg in Chile
Die lateinamerikanische Literatur ist oft auch eine politisch ambitionierte Literatur,1 viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller sehen sich als »engagierte« Autorinnen und Autoren. Dies zeigt sich nicht nur dadurch, dass einige – insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zu Botschaftern verschiedener Auslandsvertretungen berufen wurden (wie z. B. Pablo Neruda, Octavio Paz, Jorge Edwards, Miguel Ángel Asturias, Carlos Fuentes, Armando Uribe) und viele Mitglied in Parteien waren oder sind,2 sondern auch darin, dass ihre Literatur als »engagiert« beschrieben wird. In der vorliegenden Arbeit geht es vorwiegend um das Politische in den Veröffentlichungen des chilenischen Autors Hernán Valdés (*1931), der zwar nie Parteimitglied war, sich jedoch politisch für ein sozialistisches Chile engagierte und dies in seinen literarischen und nicht-literarischen Texten über den chilenischen Sozialismus, den Militärputsch (11. September 1973) und die Diktatur (1973–1990) verarbeitete. Bei der Rezeption seiner beiden wichtigsten Veröffentlichungen spielte die systemische und ideologische Dichotomie des Kalten Krieges eine bedeutende Rolle – für oder gegen den Kommunismus, für oder gegen den US-amerikanischen Kapitalismus –, und Hernán Valdés setzte sich mit seinem Engagement zwischen alle Stühle, denn er sympathisierte zwar mit dem chilenischen linken Bündnis, sah aber die Vorgehensweise der Partei zur Umsetzung der Ziele kritisch.
Diskurse, die in einen Text verarbeitet werden und in denen sich der Text anschließend bewegt, können aus allen Lebensbereichen stammen, fasst man die Literatur als Text der Kultur auf. Jedoch beschränkt sich die Untersuchung eines Textes als kultureller Text nicht auf textuelle (Re-)
1
Vgl. Kohut, Karl (2013): »Literatura y política. Poder, violencia, memoria«. In: Nemrava,
Daniel (Hg.): Disturbios en la Tierra sin Mal. Violencia, política y ficción en América Latina.
Buenos Aires: Ejercitar la Memoria Editores, S. 25–49, hier S. 25. 2 Pablo Neruda (1904–1973) kandidierte 1970 gegen Allende in der Wahl zum chilenischen Präsidenten, trat aber zugunsten Allendes vor der Wahl zurück. Rómulo Gallegos (1884– 1969) war von 1948 weniger als ein Jahr Präsident von Venezuela; auch er wurde durch einen Militärputsch gestürzt. Sergio Ramírez (* 1942) war von 1985 bis 1990 Vizepräsident von Nicaragua. Mario Vargas Llosa (* 1936) kandidierte 1990 als Präsidentschaftskandidat in Peru. – Die Verfasserin bemüht sich um gendergerechte Schreibweise. Ist von einem abstrakten »Autor«, »Erzähler« usw. die Rede, sind damit alle Geschlechter gemeint.
7
Verrat in den eigenen Reihen?
Produktion, sondern Kulturdynamik, Situationsbedingungen und dialogische Austauschprozesse werden ebenso untersucht wie die damit einhergehenden Konflikte.3 Hier werden Texte mithilfe sozialhistorischer und gesellschaftstheoretischer Ansätze betrachtet, es geht um die Verknüpfung von empirischer und literarischer Realität. So berühren sich die drei Forschungsbereiche Literaturwissenschaft, Kanonisierung und Rezeption, die eng miteinander verflochten sind, sich gegenseitig beeinflussen und bedingen: Einerseits wird der Zusammenhang von Literatur, Kanonisierung und Rezeptionsgeschichte exemplarisch untersucht, andererseits die Verbindung von Literatur und gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozessen dargestellt. Damit steht diese Untersuchung in der Tradition der Literatursoziologie, in der die empirische Welt und der empirische Autor zur Analyse mit herangezogen werden, ohne dass der Autor oder seine Biografie als letzte Instanz der Interpretation gelten; vielmehr wird Autorschaft als soziales Phänomen untersucht. Damit bleibt die Trennung von Autor und Erzähler erhalten. Dabei wird auch auf Bourdieus Feldtheorie zurückgegriffen, die besagt, dass die Beeinflussung von Literatur und empirischer Welt reziprok ist, wobei das Schreiben vordergründig als soziale Praxis betrachtet wird, ohne dabei allzu sehr auf das kulturelle Kapital des Schreibens an sich einzugehen.4 Die Verknüpfung von Literatur und Politik findet sich in der »engagierten« Literatur: Hier wird die heteronomieästhetische Tradition des Realismus mit starkem politischen Impuls fortgeführt, der politische Aspekt von Literatur hervorgehoben und das Bedürfnis des Autors, sich mit seiner Literatur in der empirischen Welt zu engagieren, widergespiegelt.5 Dafür ist die Untersuchung des literarischen und außerliterarischen Feldes notwendig, innerhalb deren Romane entstehen und rezipiert werden.
Die Verzahnung der oben genannten Bereiche ist deshalb gegeben, weil sich die vorliegende Untersuchung primär auf zwei literarische Texte
3 Vgl. Bachmann-Medick, Doris (52014 [2006]): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kul-
turwissenschaften. Reinbek: Rowohlt, S. 38.
4
Bourdieu, Pierre (1999): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 346–353. [frz. Original: Ders. (1992) Les règles de l'art: genèse
et structure du champ littéraire. Paris: Seuil]
5
Vgl. Knaller, Susanne: »Realitätskonzepte in der Moderne. Ein programmatischer Ent-
wurf«. In: Dies./Müller, Harro (Hg.): Realitätskonzepte in der Moderne. Beiträge zu Literatur,
Kunst, Philosophie und Wissenschaft. München: Wilhelm Fink, S. 11–28, insbes. S. 24f. 8
Hernán Valdés und der Kalte Krieg
stützt, die explizit als politisch gelesen wurden und in der Aufarbeitungsdebatte der chilenischen Diktatur sowie innerhalb der europäischen Soli-
daritätskampagnen verwendet wurden: Tejas Verdes. Diario de un campo de concentración (1974), ein testimonio, und A partir del fin (1981), ein au-
tofiktionaler Roman. Beide Texte erschienen während der chilenischen Diktatur im Exil, in das der Autor Hernán Valdés 1974 fliehen konnte; ca. 20 000 weitere Chileninnen und Chilenen verließen zwischen 1973 und 1975 Chile ebenso.6 Viele chilenische Schriftstellerinnen und Schriftsteller entfalteten erst im Exil ihr volles Potenzial und ihre Romane, die im Exil entstanden, sind bis heute aktuell und viel gelesen (José Donoso, Isabel Allende, Antonio Skármeta, Jorge Edwards etc.). Die anhaltende Aktualität von Valdésʼ literarischer Produktion zeigt sich darin, dass Rodrigo Cánovas, der Leiter des Instituts für Literatur an der Universidad Católica in Santiago, im Dezember 2016 über Valdésʼ letzte Veröffentlichung Fan- tasmas literarios (2005)7 publizierte und die Journalistin María Teresa Cárdenas im Herbst 2017 Valdés in Kassel besuchte und anlässlich der
Neuauflage von Fantasmas Literarios einen Artikel in der Revista de Libros
der Zeitung El Mercurio veröffentlichte.8 Weiterhin wird Valdésʼ Testimo-
nialtext Tejas Verdes immer wieder als testimonio ejemplar in verschiede-
nen Untersuchungen aufgegriffen und in regelmäßigen Abständen neu aufgelegt (zuletzt 2017).
Die gewalttätigen politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts haben in der gesamten lateinamerikanischen Literaturproduktion tiefe Spuren hinterlassen;9 hier bildet auch Chile keine Ausnahme: Die Erinnerung an
6 Chaves Palacios, Julián (2010): »Dictaduras, represión y movimientos por la memoria en
Argentina, Chile y España«. In: Ders. (Hg.): La larga memoria de la dictadura en Iberoamérica.
Argentina, Chile y España (= Prometeo bicentenario). Buenos Aires: Prometeo Libros; AE- CID, S. 9–23, S. 13. – Vor dem Putsch waren zahlreiche Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner vor den Diktaturen in ihren Herkunftsländern nach Chile geflüchtet, sie mussten nun ein zweites Mal emigrieren. 7 Cánovas Emhart, Rodrigo (2016): »Noticias del yo: buscando la familia en otra parte. El caso
de Fantasmas literarios. Una convocación (2005) de Hernán Valdés«. In: ALPHA 43, ohne
Seite.
8
Cárdenas, María Teresa (2018): »Más de cuatro décadas fuera de Chile. Hernán Valdés:
“No soy un fantasma indiscreto”«. In: El Mercurio – Revista de libros, 08.04.2018, S. E7. On-
line verfügbar unter http://impresa.elmercurio.com/Pages/NewsDetail.aspx?dt=08-04-20 18%200:00:00&PaginaId=7&BodyId=6 (30.12.2019). 9 Kohut (2013): »Literatura y política«, S. 26.
9
Verrat in den eigenen Reihen?