Ausgabe 2015/1 KontroversenEthik der und Militär Militärethik & Sicherheitskultur Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss Hilfe für Verwundete – eine zentrale Pflicht der Menschlichkeit Dr. Paul Bouvier Medizin als Waffe – die Ethik von Winning Hearts and Minds-Einsätzen Dr. Sheena M. Eagan Chamberlin Militärärzte und Sanitäter im Konflikt mit dem Kriegsvölkerrecht d. R. Cord von Einem Kameraden zuerst? Militärische vor medizinischer Notwendigkeit Prof. Dr. Michael L. Gross Ethische Spannungen im Einsatz – Erfahrungen von kanadischen Militärärzten Dr. Bryn Williams-Jones, Sonya de Laat, Dr. Matthew Hunt, Christiane Rochon, Ali Okhowat, Dr. Lisa Schwartz, Jill Horning Es geht noch besser! Medizin und die Debatte um Human Enhancement bei Soldaten Dr. Bernhard Koch Von Rollenkonflikten und Verpflichtungen – Militärärzte sind Ärzte Dr. Daniel Messelken Respekt und Distanz – Ärzte ohne Grenzen und das Militär Dr. Ulrike von Pilar, Birthe Redepenning

Special: Helfer in Gefahr – neue Herausforderungen in bewaffneten Konflikten Healthcare in Danger – wie aus Helfern Opfer werden Babak Ali Naraghi Neue Werte für Sanitäter? Medizinische Ethik in militärischen Kontexten Generaloberstabsarzt Dr. Ingo Patschke Erster deutscher Militärpfarrer im Ebola-Gebiet – wer hilft den Helfenden? Andreas-Christian Tübler im Interview mit Gertrud Maria Vaske Die Gefahr der „schiefen Ebene“ – Sanitätspersonal zwischen Medizinethik und militärischem Auftrag Prof. Dr. Ralf Vollmuth

Lesen Sie mehr auf www.ethikundmilitaer.de Editorial

Zahlreiche Begegnungen mit Militärärzten Die medizinische Ethik ist im hippokratischen und Sanitätern von Hamburg bis Mazar-i- Eid verwurzelt und die nach wie vor promi- Sharif machten mir deutlich, wie drängend nentesten Prinzipien der Medizinethik gehen ethische Fragen in der Militärmedizin sind. auf die Ethiker Tom I. Beauchamp und James Das ernsthafte Ringen um Orientierung in F. Childress zurück. Diese lauten: Respekt einer Zeit, in der sich die Einsatzszenarien vor der Patientenautonomie, das Prinzip, und das Aufgabenprofil der Sanität stark ver- dem Patienten nicht zu schaden, das Pati- ändern, waren der Grund, medizinische Ethik entenwohl und Gerechtigkeit. Daneben gibt in militärischen Kontexten zu einem Schwer- es in der Militärethik zwei zentrale Regeln, punktthema zu machen. die auch im Völkerrecht verankert sind: das Prinzip der Unterscheidung zwischen Kom- Schilderungen aus konkreten Einsatzsituati- battanten und Zivilisten und das Prinzip der onen illustrieren, dass die Regeln des huma- Proportionalität des Gewaltmitteleinsatzes. nitären Völkerrechts oft nicht problemlos in die Praxis umzusetzen sind. Wen behandele Die Brisanz der Themen und die Notwen- ich angesichts knapper Ressourcen zuerst, digkeit eines internationalen Austauschs die eigenen verwundeten Kameraden, wurden auch auf dem Symposium deutlich, die Zivilisten des Einsatzlandes oder den dass das zebis im vergangenen Jahr in der Gegner? Katholischen Akademie in München zu Mili- tärmedizinethik veranstaltete. Über 50 Ärzte, Nach den Genfer Konventionen von 1949 Sanitäter, Militärseelsorger und Offiziere dis- sind alle am Konflikt beteiligten Parteien kutierten mit Experten und in Arbeitsgruppen verpflichtet, dass Kranke und Verletzte „mit anhand konkreter Einsatzszenarien Verhal- Menschlichkeit behandelt und gepflegt wer- tenskodizes, ethische und völkerrechtliche den, ohne jede Benachteiligung aus Gründen Fragen. des Geschlechts, der Rasse, der Staatsan- gehörigkeit, der Religion, der politischen „Den Gegner retten? Militärärzte unter Meinung oder aus irgendeinem ähnlichen Beschuss“ – die dritte Ausgabe des E-Jour- Grunde.“ Militärärzte haben eine Doppelrolle nals bringt unterschiedliche Professionen zwischen zwei Professionen – Arzt und Offi- und Zugänge, Expertise und Erfahrungen zier –, von der jede ihrem eigenen „Code of zusammen. Praktiker und Wissenschaftler, Conduct“ unterliegt: Welchem Code sollen Sanitätspersonal und zivile Helfer vertiefen Militärärzte gerade folgen, dem Ethos ihrer die medizinische, militärische, völkerrechtli- zivilen ärztlichen Kollegen oder dem des che und ethische Debatte. militärischen Bezugssystems? Sollen sie ihre Urteile und Entscheidungen allein auf die So wird in den Beiträgen die Diskussion über Prinzipien einer medizinischen Ethik grün- die „militärische Notwendigkeit“ und die den oder gibt es eine spezifische Ethik, die unparteiische medizinische Versorgung in beiden beruflichen Lebens- und Erfahrungs- bewaffneten Konflikten durch konträre ethi- welten Rechnung trägt? sche Positionen abgebildet. Das aktuelle Thema des Human Enhancement bei Sol- daten, der menschlichen Optimierung, wird

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 2 aufgegriffen und die grundsätzliche Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit zwischen zivilen und mili- tärischen Helfern in Konflikt- und Katastro- pheneinsätzen gestellt.

Mein Dank gilt all denen, die mit dieser Aus- gabe unseres E-Journals die wichtige interna- tionale Debatte über medizinethische Fragen in militärischen Kontexten voranbringen. Dafür danke ich den Autoren, den Herausge- bern und nicht zuletzt dem Redaktionsteam.

Dr. Veronika Bock Direktorin des zebis

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 3 Hilfe für Verwundete – eine zentrale Pflicht der Menschlichkeit von Dr. Paul Bouvier Ein grundlegendes, oft vernachlässigtes ein wesentlicher Schritt zur Achtung der Men- Problem schenwürde und zur Verhinderung extremer Übergriffe und Gewalt sein. In Zeiten von Krieg und bewaffneten Konflik- ten sind alle Seiten verpflichtet, kampfunfähig In diesem kurzen Artikel1 werden einige ethi- gewordene Verwundete und Kranke sowohl sche Aspekte dieser Verpflichtung erörtert. bei den eigenen Truppen als auch in den Ausgehend von der Pflicht, einer Person in gegnerischen Reihen ohne Unterschied zu Gefahr Hilfe zu leisten, befasst der Artikel sich retten und zu versorgen. Diese Verpflichtung mit der Versorgung verwundeter Kombattan- ist ein zentraler Grundsatz des humanitären ten und Gegner und versucht, Antworten auf Völkerrechts. einige ethische Fragestellungen in diesem Zusammenhang zu geben. Seit einigen Jahren schenken sowohl die Philo- sophie als auch die Rechts- und Politikwissen- Die Pflicht, einem Menschen in Gefahr zu schaften dem Umgang mit Feinden beachtliche helfen Aufmerksamkeit – insbesondere angesichts globaler Bedrohungen und des Terrorismus. Sind wir überhaupt moralisch verpflichtet, Bislang galt das Interesse vor allem dem Fol- einem Menschen in Gefahr zu helfen? Oder ist terverbot und der Suche nach Antworten auf die Hilfeleistung nur eine Nettigkeit, eine Geste den Terrorismus; die Versorgung kranker oder für Menschen, die einfach gern anderen Men- Zurück zum Inhaltsverzeichnis verwundeter Gegner blieb bislang weitgehend schen helfen? Für den Philosophen des chi- unbeachtet, so als handele es sich um eine nesischen Altertums Mengzi (372 – 289 v. Chr.) eher zweitrangige Angelegenheit. Möglicher- oder für Rousseau in der europäischen Neu- weise erscheint diese Aufgabe als so selbst- zeit war die Antwort klar: Einem Menschen verständlich und allgemein akzeptiert, dass in Gefahr Hilfe zu leisten, bedeutet schlicht sie keiner gesonderten Erwähnung bedürfte. und einfach, menschlich zu sein. Mit jeman- Oder vielleicht hofft man, die Erfüllung dieser dem, der sich in einer Notlage befindet, Mit- Pflicht ergäbe sich ganz von selbst durch das gefühl zu haben, erschien diesen Autoren als Verbot der Anwendung extremer Gewalt und vollkommen natürliche und universell gültige Folter. Diese Annahmen greifen jedoch zu kurz. Handlung, die gleichsam den Ursprung jegli- Die Pflicht, Kranke und Verwundete zu retten cher Moral darstellte. Für Rousseau wie auch und zu versorgen, ist keinesfalls zweitrangig. für Mengzi ist das Helfen die erste moralische Sie ist sogar zentraler Bestandteil des huma- Pflicht, aus der sich weitere Pflichten ableiten. nitären Völkerrechts. Zwar wurde dessen Gel- Andere Philosophen sahen dies jedoch auch tung jüngst in verschiedenen Publikationen als problematisch an. Erstens, weil diese über medizinethische Fragen in Konflikten in Pflicht auf Mitgefühl und Emotionen basiert. Frage gestellt. Doch die unparteiische Versor- Immanuel Kant (1785) war der Auffassung, gung verwundeter Gegner könnte durchaus dass die Moralphilosophie auf der Vernunft

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 4 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss aufbauen müsse und aus der Pflicht ein univer- Sicherheit und Gesundheit zu schützen sowie selles ethisches Gesetz erwachsen solle. Wenn die Selbstbestimmung der gefährdeten Person jedoch die Ethik zu einer radikalen Pflicht wird, zu achten und diese nicht gegen ihren Willen ist altruistisches Handeln unmöglich; es sei zu retten. denn, es ließe sich verallgemeinern und würde Vom Nutzen, Leben zu retten zu einem universellen Gesetz. Utilitaristische Ansätze weisen meist auf Eine zweite Problematik besteht darin, dass andere Problemstellungen hin. Die Rettung sich der Hilfeleistende Gefahren, Mühen und von Menschen in Gefahr ist kostspielig und Ausgaben aussetzt, die als über die Verpflich- kann begrenzte Ressourcen von anderen Akti- tung hinausgehend empfunden werden kön- vitäten abziehen, die einen größeren Nutzen nen. Dies ist auch die Position von Beauchamp hätten. McKee und Richardson (2003) definier- und Childress in ihrer Schrift „Principles of ten die Rule of Rescue (Rettungsregel) als den biomedical ethics“ (Prinzipien der biomedi- moralischen Imperativ, „den Menschen ver- zinischen Ethik, 1979), in der sie einen Ansatz spüren, eine identifizierbare Person vor einem entwickeln, der auf vier Grundprinzipien vermeidbaren Tod zu retten“. Die Verfasser füh- beruht: Selbstbestimmungsrecht, Patienten- ren an, dass die Rettungshandlung im Wider- wohl, Schadensvermeidung und Gerechtig- spruch zur Kosten-Nutzen-Rechnung steht und keit. Während sich ihr Hauptaugenmerk auf unter Hinweis auf soziale Ungerechtigkeit und die Achtung der Selbstbestimmung des Pati- das öffentliche Wohl kritisiert werden kann. enten und des professionellen Helfers richtet, Die Rettung hat jedoch einen sozialen Wert: bleibt die Frage der Hilfeleistung für Menschen Sie ist die Antwort auf eine Reaktion des „Ent- in Gefahr weitgehend unbeachtet. Nach Auf- setzens und Schreckens“ und Ausdruck der fassung dieser Autoren ist ein Arzt nur dann Wertschätzung in einer Gesellschaft zu leben, moralisch verpflichtet, an einem Unfallort ein- die auf Beziehungen gegenseitiger Achtung zugreifen, „wenn das damit verbundene Risiko beruht. Eine Kosten-Nutzen-Rechnung sollte gering ist und sein Eingreifen nur eine geringe Zurück zum Inhaltsverzeichnis insofern das Bestreben, anderen Menschen in Auswirkung auf sein eigenes Leben hat“. „Ein Gefahr Hilfe zu leisten, mit einbeziehen. Arzt ist nicht verpflichtet, ein ‚barmherziger Samariter’ zu sein, er braucht nur ein ‚ange- Peter Singer (1993) bringt den Aspekt der Nähe messen guter Samariter‘ (‚Minimally Decent mit ein. Er erkennt die moralische Pflicht an, Samaritan‘) zu sein.“ ein Kind zu retten, das vor unseren Augen zu ertrinken droht. Doch trügen wir eine genauso Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt der große Verantwortung, weiter entfernt befind- liberale Moralphilosoph Ruwen Ogien (2007), lichen Menschen in Not zu helfen, z.B. durch der einen abgestuften Begriff des „Samari- einen Beitrag zu humanitärer Hilfe. Diese Situ- tertums“ einführt. Dessen Grundlage ist die ationen unterscheiden sich jedoch aufgrund Höhe des Risikos, das für den Helfer besteht. der Beziehung zwischen dem Helfer und den Diese „Mindestethik“ erkennt nur eine einge- potenziell zu rettenden Personen, so Scott schränkte Verpflichtung zur Hilfeleistung an. James (2007). Im Fall eines ertrinkenden Kin- Die Verpflichtung ist zunächst durch das für des handelt es sich um einen bestimmten den Passanten oder den Rettungssanitäter Menschen, der auf den Retter angewiesen ist bestehende Risiko und darüber hinaus auch und dessen Überleben einzig und allein von durch die Aufforderung oder Meinung des diesem Retter abhängt. In einer solchen Bezie- Hilfebedürftigen selbst begrenzt. Man ist- ver pflichtet, Hilfe zu leisten, aber auch, die eigene

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 5 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss hung der „eindeutigen Abhängigkeit“ bestehe medizinischer Ethik versorgten sie die Ver- eine klare Pflicht zu handeln. wundeten ohne Unterschied, eigene Lands- leute und Feinde gleichermaßen. Sie stellten Kurz gesagt: Die Pflicht, einen Menschen in die Regel der unparteiischen Sichtung (Triage) Gefahr zu retten, ist in den Kulturen, Traditio- von Kriegsopfern auf und verteidigten zudem nen, Gesellschaften und Religionen rund um die Unabhängigkeit der medizinischen Ver- den Erdball tief verwurzelt. Sie gilt a priori, sorgung. Die unparteiische und effektive Ver- ohne Einschränkung und ohne Unterschied. sorgung der Kombattanten brachte ihnen Gleichzeitig wird sie durch andere Überlegun- weithin Anerkennung und Bewunderung ein, gen wie den Schutz der eigenen Sicherheit und sodass der Herzog von Wellington in Water- des eigenen Lebens, die Achtung der Würde loo das Kanonenfeuer von den Ambulanzen und Selbstbestimmung der gefährdeten Per- weg lenkte, um Larrey Zeit zu geben, die Ver- son, den bestmöglichen Einsatz begrenzter wundeten zu bergen. Aufgrund ihres Einsat- Ressourcen unter Berücksichtigung anderer zes im Gefechtsfeld schufen diese beiden Hilfebedürftiger sowie die Erfordernis -wirk Ärzte die ethischen Grundlagen für die Mili- samen und kompetenten Handelns beein- tärmedizin und für humanitäre Hilfseinsätze flusst. In dieser Hinsicht sind Personen, die in Kriegssituationen: Menschlichkeit, Unpar- eine besondere Funktion oder Verantwortung teilichkeit, Neutralität (Unantastbarkeit) und innehaben oder über besondere Handlungs- funktionale Unabhängigkeit des medizini- mittel verfügen, wie Rettungssanitäter, Ärzte schen Personals sowie der medizinischen oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, noch Versorgungseinrichtungen. zwingender zum Handeln verpflichtet. Sie sind zusätzlich verantwortlich für den Erhalt ihrer Nach der Schlacht von Solferino am 24. Juni beruflichen Kompetenzen und Fähigkeiten. Als 1859 organisierte Henry Dunant die Hilfsein- Mensch bin ich somit verpflichtet, persönlich sätze für verwundete Soldaten. Er startete zu handeln, wenn ich mich in einer Situation später einen dringenden Aufruf zur Gründung befinde, in der die Würde oder das Leben eines von Hilfsvereinigungen, die in Friedenszei- Zurück zum Inhaltsverzeichnis anderen Menschen von meinem eigenen Han- ten organisiert werden sollten. Dies führte deln abhängt und ich die Möglichkeit habe zu zur Gründung des Internationalen Komitees handeln. vom Roten Kreuz im Jahr 1863 und zum ers- ten „Abkommen zur Verbesserung des Loses Die Versorgung verwundeter Kombattanten der Verwundeten der Streitkräfte im Felde“ Schon in der Antike waren bei den Streit- von 1864, das die Krieg führenden Armeen kräften auch Ärzte tätig, doch ihre Rolle war verpflichtete, allen verwundeten Kombattan- zumeist nicht klar definiert, und alle Kräfte ten unparteiische Hilfe zu leisten. Kranken- waren im Wesentlichen auf die Kampftätigkeit häuser, Sanitätsfahrzeuge und das mit dem ausgerichtet. Verwundete Soldaten wurden Transport und der Versorgung der Verwun- auf dem Schlachtfeld zurückgelassen, und deten betraute Personal sollten als neutral einen verwundeten Soldaten hinter die Front- anerkannt, geschützt und respektiert werden. linie zu transportieren, wurde als eine Flucht Seit über 150 Jahren ist somit die Rettung und vor dem Feind betrachtet. Als Napoleons Mili- Versorgung kampfunfähiger Verwundeter und tärchirurgen Larrey und Percy (um 1797) eine Kranker eine vorrangige und im Humanitären Art „fliegendes Lazarett“ erfanden, begannen Völkerrecht verankerte Verpflichtung. Ärzte, auch mitten auf dem Gefechtsfeld Hilfe zu leisten. Entsprechend ihrem Verständnis

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 6 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Infragestellung der Versorgung verwundeter unter allen Umständen und in vollem Umfang Kombattanten zu medizinischer Loyalität verpflichtet.2 Zwar haben sie als Mitarbeiter der Organisationen, Einige Autoren stellen diese Verpflichtung in für die sie tätig sind, ebenfalls Pflichten zu Frage und bestreiten den Geltungsbereich befolgen. Diese Verpflichtungen dürfen jedoch bzw. die Anwendbarkeit dieser Verpflichtung. weder ihre medizinischen Entscheidungen Es folgt ein kurzer Überblick über die Fragen, noch die Patientenversorgung beeinträch- die Michel Gross in seinem Buch zur Bioethik tigen. Jede Nichteinhaltung ihrer Pflichten im Krieg (2006) sowie in verschiedenen Artikeln gegenüber den Patienten, insbesondere jeder aufwirft. Zunächst stellt Gross fest, es sei „Ziel Bruch der ärztlichen Schweigepflicht, hat kata- der Militärmedizin, die Verwundeten zu retten, strophale Auswirkungen auf die medizinische die in den Kampf zurückkehren können“. Diese Praxis. Ein solcher Verstoß zerstört das Ver- Aussage führt ihn zur kritischen Erörterung eini- trauen und die Beziehung zwischen Arzt und ger grundlegender ethischer und humanitärer Patient und ebnet den Weg für die Ausbeutung Grundsätze. Zunächst zieht er die Fürsorge- und den Missbrauch des Patienten. Die ärzt- pflicht des Staates gegenüber Kriegsveteranen liche Schweigepflicht muss stets und unter und verwundeten Kombattanten in Zweifel. allen Umständen in vollem Umfang gewahrt Schwer verwundete Soldaten hätten ledig- bleiben. lich das Recht auf medizinische Versorgung, wie es jedem anderen Kranken oder Verletz- Die funktionale Unabhängigkeit der Ärzte ten auch zukomme. Eine Militärorganisation von Behörden und Institutionen ist daher müsse als medizinische Mindestversorgung auch eine wesentliche Voraussetzung für die für schwer verwundete Soldaten lediglich eine militärmedizinische Versorgung von Trup- Palliativversorgung gewährleisten. Hinsicht- pen und Inhaftierten. Militärärzte und Pflege- lich der Unparteilichkeit schlägt er vor, dass kräfte sind insbesondere im Hinblick auf ihre besondere medizinische Anstrengungen und Sicherheit, Logistik und Stationierung auf fachärztliche Versorgung nur denjenigen ver- die Militärbehörden angewiesen. Doch in der Zurück zum Inhaltsverzeichnis wundeten Soldaten zugutekommen solle, die Versorgungspraxis muss ihre Unabhängigkeit in den Kampf zurückkehren könnten. Schwer stets gewährleistet sein. verwundete oder erkrankte Soldaten sollten eine qualitativ niedrigere medizinische Versor- Zur Frage der Versorgung verwundeter Gegner gung oder lediglich eine palliative Behandlung zitiert Gross aus Umfragen, die mit Sanitätern erhalten. Verwundete und gefechtsunfähige und Ärzten durchgeführt wurden. Einige geben Gegner in Gefangenschaft sollten einen niedri- an, sie würden eher zunächst den eigenen geren Standard der Versorgung oder Palliativ- Kameraden helfen und dann erst verwundete behandlung erhalten. Gegner versorgen. Gross zufolge ist „die bevor- zugte Versorgung von Familienmitgliedern und Gross ist zudem der Auffassung, Ärzte seien Freunden eine fundamentale moralische Ver- grundsätzlich nicht neutral, sondern der Seite pflichtung“, und er akzeptiert, dass Sanitäter zur Loyalität verpflichtet, auf der sie -kämpf in der Truppe „aufgrund von Freundschaften ten. Diese Auffassung macht den Weg frei für und Zusammengehörigkeitsgefühl“ Prioritä- folgenreiche Veränderungen in der ethischen ten setzten. Doch im Krankenhaus, abseits des Praxis, wie etwa hinsichtlich der Beteiligung Gefechtsfeldes, bestehe die Pflicht zur unpar- medizinischen Personals an Verhören mit teiischen Versorgung der Patienten. fragwürdigen Methoden. Doch weiterhin gilt: Ärzte und Pflegekräfte sind ihren Patienten

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 7 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Dieser Ansatz vermischt unterschiedliche den strategischen oder politischen Interessen Beziehungen, Rollen und Pflichten. Das -Kon unterzuordnen. zept der Versorgungsethik bedeutet nicht, dass Annäherung an eine ethische Antwort Familienmitglieder und Freunde vorgezogen werden dürften. Im Gegenteil geht es darum, Ein ethikorientierter Ansatz in der Versorgung zwischen professionellem Helfer und Patien- kranker oder verwundeter Gegner bedeutet ten eine „angemessene Distanz“ herzustellen.3 die Anerkennung klarer ethischer Verpflichtun- So sollte ein Arzt nach den Grundsätzen der gen. Gleichzeitig wird auch die Problematik medizinischen Ethik Familienmitglieder zur widersprüchlicher Emotionen sowie ethischer medizinischen Versorgung an andere Kollegen Spannungen und Herausforderungen sichtbar, überweisen, gerade weil die starke emotionale die sowohl im Kampfgebiet als auch in der Bindung sein klinisches Urteil beeinflussen praktischen medizinischen Versorgung auftre- könnte. ten können. Um diesen zu begegnen, schlagen wir vor, stets die folgenden ethischen Grund- In Krisen und bewaffneten Auseinanderset- sätze zugrunde zu legen. zungen kommt es zu starken emotionalen Spannungen in allen Bereichen. Dies gilt auch Humanität für die medizinischen Dienste, wenn es bei- Die Versorgung und Hilfeleistung gegenüber spielsweise um die Versorgung mutmaßli- Menschen in Gefahr ist ein ethischer Imperativ. cher Straftäter oder Terrorverdächtiger geht. Diese Verpflichtung hängt nicht von strategi- Gefühle und Empfindungen müssen bewältigt schen oder politischen Erwägungen ab. werden und können keinesfalls rechtfertigen, Unparteilichkeit dass die eigenen Landsleute gegenüber ver- Die Notfallrettung und Versorgung von Men- wundeten Gegnern bevorzugt versorgt wer- schen in Gefahr muss nach medizinischen den. Die ethisch richtige Antwort ist hier nicht Gesichtspunkten erfolgen, unabhängig von der Verzicht auf eine unparteiische Hilfeleis- der Nationalität der Patienten, ihrer Zugehö- tung, sondern vielmehr die organisatorische Zurück zum Inhaltsverzeichnis rigkeit zu einer Konfliktpartei oder sonstiger Stärkung der Militärmedizin zur Sicherstellung Unterscheidungsmerkmale. ihrer funktionalen Unabhängigkeit sowie die Förderung der medizinethischen Ausbildung. Achtung und Schutz der Würde, der Gesundheit und des Lebens Die von Gross gezogenen Schlüsse leiten sich Menschen, die in gegnerische Hände fallen, größtenteils aus der Vorstellung ab, die Mili- befinden sich in einer Situation extremer tärmedizin folge strategischen Zielen. Diese Abhängigkeit und Verwundbarkeit. Behörden, Annahme öffnet einem Angriff auf die Grund- Rettungskräfte und Gesundheitsdienste sind prinzipien der Medizinethik und des humani- verpflichtet sicherzustellen, dass die Rettungs- tären Völkerrechts Tür und Tor. Gross nimmt und Versorgungsmaßnahmen keine Gelegen- letztendlich in Kauf, dass Ärzte ihre Schwei- heiten für Missbrauch bieten. gepflicht brechen und sich an Verhören oder Folter beteiligen könnten, falls solche Hand- Neutralität der medizinischen Versorgung lungen im nationalen Interesse lägen. So Rettungsmaßnahmen und medizinische Ver- extrem diese Positionen erscheinen mögen, sorgung unterliegen keinerlei strategischem beruhen sie doch auf der Vorstellung, die Mili- Ziel. Nur unter dieser Voraussetzung kann eine tärmedizin trage zur Erreichung strategischer diskriminierungsfreie Versorgung von Verwun- Ziele bei. Doch Notfallrettung und medizini- deten und Kranken erfolgen sowie die medizi- sche Versorgung sind unter keinen Umstän-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 8 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss nische Versorgung von allen Konfliktparteien mit sich bringen. Dies gilt insbesondere in und -mächten geachtet und geschützt werden. bewaffneten Konflikten. Die bei diesen- Ein sätzen bestehenden Risiken müssen erkannt, Einsatz für den Patienten abgewogen und entschärft werden. Ethik Der zwischen medizinischem Personal und verlangt keine Aufopferung, sondern viel- Patient bestehende Betreuungspakt stellt ein mehr geht es im Sinne verantwortungsvollen zentrales Element der medizinischen Ethik dar. Handelns um Fürsorge, Großzügigkeit sowie Er beruht auf dem Grundsatz von Vertrauen Akzeptanz bestimmter Risiken im Rahmen von und Vertraulichkeit und auf dem professionel- Rettungs- und Versorgungsmaßnahmen. len Einsatz für eine kompetente und effektive Versorgung der Patienten. Gleichberechtigter Zugang zu medizinischer Versorgung Unabhängigkeit des medizinischen Personals Verwundete, Kranke und Inhaftierte, die in Um unparteiisch handeln und sich in vol- den Einflussbereich der gegnerischen -Kon lem Umfang für die Gesundheit und Würde fliktpartei geraten, haben entsprechend ihrem des Patienten einsetzen zu können, muss medizinischen Zustand mindestens das Recht das medizinische Personal in der medizini- auf das der allgemeinen Bevölkerung zukom- schen Versorgung und allen diesbezüglichen mende Versorgungsniveau des betreffenden Entscheidungen von politischen und militä- Landes oder Gebiets. rischen Kräften funktional unabhängig sein. Die Gesundheitsversorgung muss in der Praxis Unabhängigkeit der Justiz von jeglicher strategischen, politischen oder Die unparteiische Versorgung sowie die Wah- geheimdienstlichen Zielsetzung unbeeinflusst rung der medizinischen Neutralität, der Unab- bleiben. Diese Autonomie muss sich in der hängigkeit und einer angemessenen Distanz Organisation der Versorgung und in den hier- in der Behandlung der Patienten sind in Situ- archischen Strukturen widerspiegeln und eine ationen extremer Gewalt dadurch zu gewähr- klare Trennung zwischen militärmedizinischen leisten, dass die Justiz ihre unabhängige Rolle Diensten und Einsatzkommando beinhalten. beibehält. Nur so können Rettungskräfte und Zurück zum Inhaltsverzeichnis medizinisches Personal sich vollständig ihren Verhältnis zwischen medizinischem Personal Patienten widmen. und Patient Das vertrauensvolle, persönliche Verhält- In Situationen extremer Gewalt, die oft mit nis stellt ein wichtiges Element der Patien- einem Verlust an Menschlichkeit einhergehen, tenversorgung dar. Dabei sind Probleme zu kann es äußerst schwierig sein, eine angemes- vermeiden, die sich aus der affektiven und sene Arzt-Patient-Beziehung herzustellen. So emotionalen Nähe ergeben können. Eine kann ein Konflikt zwischen der Verpflichtung „angemessene Distanz” ist wie in jedem ande- zur Hilfe und Versorgung in Kampfgebieten ren Pflegeverhältnis einzuhalten. Dies kann in einerseits und der Gewährleistung der Sicher- Situationen, in denen Gegner als unmensch- heit der Helfer andererseits bestehen oder lich oder entmenschlicht wahrgenommen zwischen der Bereitstellung einer guten medi- werden, große Herausforderungen mit sich zinischen Versorgung und der begrenzten Ver- bringen. Menschlichkeit muss integraler fügbarkeit von Ressourcen. Darüber hinaus Bestandteil der Versorgung sein. kann das medizinische Personal in komplexe Achtung des Lebens und der Sicherheit der Zwangslagen geraten, etwa gegenüber der professionellen Helfer Justiz, wenn es um die Wahrung der ärztli- Die Rettung und Notversorgung kann Sicher- chen Schweigepflicht oder die Weitergabe von heitsrisiken und Gefahren für Leib und Leben

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 9 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Informationen über begangene oder geplante geratene serbische Soldaten im Krankenhaus Verbrechen geht. Seite an Seite mit den bosnischen Soldaten lagen“.5 Um diesen Situationen adäquat begegnen zu können, ist ein Ansatz der praktischen Ethik Bei ihren humanitären Einsätzen in Kriegs- zwingend notwendig. Derartige ethische Fra- situationen und bewaffneten Auseinander- gen lassen sich nicht lösen, indem man einen setzungen erleben die Mitarbeiter des IKRK Teil des Dilemmas ausblendet oder ein einfa- (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) ches Schema anwendet. Das Ziel der Anwen- häufig solche Beispiele von Menschlichkeit. dung der „praktischen Vernunft“ oder der Das IKRK unternimmt zahlreiche Anstren- „Klugheit“ („practical wisdom“) muss sein, gungen, um dieses Verhalten zu fördern. In praktische Leitlinien zu entwickeln, die der Kampfgebieten und belagerten Städten, Menschlichkeit als ethischem Grundsatz am Flüchtlings- und Inhaftierungslagern erleben besten zur Geltung verhelfen.4 Entscheidun- IKRK-Vertreter aber auch zahlreiche Beispiele gen in ethisch schwierigen Situationen zu tref- von Missbrauch und extremer Gewalt. Sie fen, setzt einen Deliberationsprozess und eine kennen daher die schrecklichen Konsequen- Diskussion in einer multidisziplinären Gruppe zen, die eine Vernachlässigung von ethischen voraus. Pflichten nach sich zieht, nur allzu gut aus eigener Erfahrung. Die Folgen sind katastro- Dem Feind zu helfen, ist zentraler Bestandteil phal, verbreiten sich rasend schnell und hin- der Ethik terlassen dauerhaft Spuren. Das Verbot von Die Hilfeleistung für Menschen in Gefahr Folter und unmenschlicher und herabwürdi- appelliert an grundlegende Emotionen der gender Behandlung gilt absolut; im Namen Menschlichkeit, an Mitleid und Mitgefühl. Eine der Menschlichkeit und in Anerkennung der Situation extremer Bedrohung und Gewalt mit- Menschlichkeit eines jeden Einzelnen. Die- zuerleben, führt zu einer Reaktion des Schre- ses Verbot stellt an sich noch keine Definition ckens und Entsetzens. Wer nicht handelt oder von Menschlichkeit dar, aber es setzt absolute Zurück zum Inhaltsverzeichnis keine Hilfe leistet, empfindet Scham, fühlt sich Grenzen, jenseits derer dem Menschen seine erniedrigt, gedemütigt und des Menschseins Menschlichkeit genommen wird. unwürdig. Scham- und Schuldgefühle entste- Verwundete und Kranke im Krieg zu versorgen hen, wenn Menschen sich der Passivität und und ihnen zu helfen, unabhängig davon, wel- Ohnmacht hingeben oder untätig zusehen, cher Konfliktpartei sie angehören, Freund und wenn anderen Gewalt angetan wird. Sie fühlen Feind zugleich, ist eine paradigmatische Situa- sich unmenschlich. Wer trotz aller Hindernisse tion gelebter Menschlichkeit. Hilfe und unabhängige Unterstützung leistet, nimmt das eigene Menschsein wahr. In sei- 1 Dieser Text bezieht sich auf den Artikel Bouvier, P. (2013): nem Buch „Humanity“ untersucht Glover, in The Duty to Provide Care to the Wounded or Sick Enemy, welchen Situationen Menschen sich anderen Kap. in: Baer, H. & Messelken, D. (Hrsg.): Tagungsband des gegenüber unmenschlich verhalten und wie 2. ICMM Workshops über Militärische Medizinethik Bern/ dies zu einer Entmenschlichung führt. Er führt Zürich. Die in diesem Artikel zum Ausdruck gebrachte Mei- als Beispiel für Menschlichkeit das Handeln nung des Verfassers entspricht nicht notwendigerweise der eines Arztes an, der unter äußerst schwierigen Sichtweise des IKRK.

Bedingungen in Srebrenica tätig war. Nach 2 Annas, G. (2008): Military Medical Ethics – Physician First, dem Krieg erklärte der Arzt, besonders stolz Last, Always. N. Engl. J. Med. 359, S. 1087-1090. sei er darauf gewesen, dass „in Gefangenschaft

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 10 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

3 Ricœur, P. (2001): Autonomie et vulnérabilité, in: Ricœur, Dr. Paul Bouvier ist Be- P.: Le Juste 2, Paris, S. 104 / Ricœur, P. (2007): Autonomy and rater für Gesundheits- und vulnerability, in: Reflections on the Just, Chicago, S. 271. Ethik-Fragen der humanitären Hilfe beim Internationalen 4 Ricœur, P. (1990): Soi-même comme un autre, Paris, S. 312. Komitee vom Roten Kreuz 5 Glover, J. (2001): Humanity: a moral history of the twen- (IKRK) und Dozent für tieth century, London, S. 152. öffentliche Gesundheit am Institut für Weltgesundheit an der Universität Genf. Als Facharzt für Pädiatrie und Experte für öffentliches Ge- sundheitswesen arbeitete er sowohl in Afrika im Bereich Mutter-Kind-Gesundheit als auch in der Schweiz in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen und in der Sozialpädiatrie. Er war als medizinischer Delegierter des IKRK im Rahmen von Hilfsmaßnahmen und Gefange- nenbesuchen in verschiedenen Konfliktgebieten im Ein- satz. Seit 2007 ist er Leitender Medizinischer Berater des IKRK für gesundheitliche und ethische Fragen humanitä- rer Maßnahmen zur Unterstützung und zum Schutz von Opfern in bewaffneten Konflikten. Seit 2012 koordiniert er in 12 Ländern Schulungskurse für humanitäre Ein- satzkräfte zu Themen des öffentlichen Gesundheitswesens und zu ethischen Fragen der humanitären Nothilfe. Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 11 Medizin als Waffe – die Ethik von Winning Hearts and Minds-Einsätzen von Dr. Sheena M. Eagan Chamberlin Seit Jahrzehnten wird die Militärmedizin for- scher Dilemmata bei medizinischen Hilfsein- mell als strategisches Instrument eingesetzt sätzen folgen konkrete Lösungsvorschläge. Der und dabei manchmal auch als „nichttödli- Schwerpunkt liegt hierbei auf den moralischen che Waffe“ bezeichnet, die auf die hearts and Gegebenheiten und der ethischen Komplexi- minds – die „Herzen und Köpfe“ der Bevöl- tät der Einsätze, wie sie von den Teilnehmern kerung – abzielt. Diese Einsätze erfolgen erlebt werden. Ziel ist die empfundene Verbes- häufig im Kontext größerer Programme, die serung in der Wahrnehmung der Militärärzte. unter dem Schlagwort humanitäre Hilfe oder Größere normative Fragen dahingehend, ob Engagement für die Zivilgesellschaft laufen. es moralisch zulässig ist, die Medizin für poli- Mittlerweile stellen medizinisch ausgerichtete tische Zwecke zu instrumentalisieren bzw. humanitäre Hilfsmissionen eine wichtige Kom- die Medizin ganz allgemein zu instrumentali- ponente bei den aktuellen Einsätzen der Streit- sieren, würden den Rahmen dieses Aufsatzes kräfte rund um den Erdball dar. Im Gegensatz sprengen und sollten in einer separaten Unter- zu ihren zivilen Gegenstücken (wie Ärzte ohne suchung behandelt werden. Grenzen, das Internationale Rote Kreuz und Die Geschichte der medizinischen der Rote Halbmond) sind Sinn und Zweck die- Hilfseinsätze für Zivilisten ser Militärprogramme nicht rein medizinischer Natur. Vielmehr ist bei humanitären Hilfsein- Seit den Anfängen einer formell organisier- sätzen der Streitkräfte die medizinische - Ver ten Armeemedizin in den USA versorgen mili- Zurück zum Inhaltsverzeichnis sorgung ganz klar an bestimmte strategische tärmedizinische Fachkräfte auch die zivile Ziele geknüpft. Solche Einsätze werden inner- Bevölkerung. Die in diesem Aufsatz genannten halb des US-amerikanischen Verteidigungs- Einsatzarten sind schon seit längerer Zeit unter ministeriums zunehmend befürwortet und einer Vielzahl von Bezeichnungen bekannt, die allmählich auch von den Streitkräften anderer sich nach dem jeweiligen Programm, dem his- Staaten angewandt. Diese Praxis wird bisher torischen Zeitraum, der jeweiligen Armee oder kaum hinterfragt oder kritisch beleuchtet. dem Aktionsbereich richten. Grundsätzlich jedoch weisen alle diese Einsätze unabhän- Der vorliegende Aufsatz beleuchtet mithilfe gig von ihren jeweiligen Zielen und Bezeich- verschiedener Quellen und Forschungsan- nungen grundlegende Gemeinsamkeiten auf: sätze die ethische Problematik dieser Einsätze. Im Rahmen eines offiziellen militärischen Zu den genannten Quellen gehören Archive, Einsatzes oder Programms werden unifor- Primärquellen (offizielle Berichte, Doktrinen mierte militärmedizinische Fachkräfte für die und veröffentlichte persönliche Berichte), medizinische Versorgung einer bestimmten Sekundärquellen sowie eine Reihe mündlicher Zivilbevölkerung eingesetzt. In diesem Zusam- Erzählungen, die von der Autorin zusammen- menhang wird im Folgenden für eine bessere getragen wurden. Das Thema Ethik wird hier- Übersichtlichkeit der Begriff „medizinische bei deskriptiv verstanden: Auf die Erfassung Versorgung von Zivilisten“ als Oberbegriff und Analyse ethischer Probleme und morali-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 12 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss verwendet, wie dies auch in meinen anderen der Patienten- bzw. der öffentlichen Gesund- Arbeiten der Fall ist.1 heit nur als sekundäres Ziel und Nebeneffekt betrachtet wurde. Der Begriff umfasst sämtliche Programme, die der obigen Beschreibung entsprechen – unab- Zu den weiteren strategischen Ansätzen hängig davon, ob diese formeller, informeller des MEDCAP gehörten umfangreiche psy- oder spontaner Natur sind, und ungeachtet chologische Operationen (PSYOP) sowie ihrer offiziellen Bezeichnung. Darüber - hin die Einbeziehung nachrichtendienstlicher aus wird durch die Vermeidung des Begriffes Aufklärungsaktionen.2 „humanitär“ eine mögliche Verwechslung Nach dem Vietnamkrieg wurde das MEDCAP mit anderen Programmen ausgeschlossen, angesichts der Vielzahl behandelter Patienten die nichtmilitärischer, ziviler Art sind und von und der mutmaßlich großen Zahl gewonnener Nichtregierungsorganisationen durchgeführt hearts and minds als großer Erfolg gefeiert. werden. Es wurde ausgeweitet und wird seitdem rund Die ersten offiziellen Einsätze zur medizini- um den Erdball durchgeführt: in Mittel- und schen Versorgung von Zivilisten erfolgten im Südamerika, Afrika, Ost- und Westeuropa, Rahmen des groß angelegten und weitreichen- Asien und im Nahen Osten. Seit dem schein- den Medical Civic Action Program (MEDCAP, baren Erfolg im Vietnamkrieg befürworten nun Aktionsprogramm zur medizinischen Versor- Autoren von Publikationen der Streitkräfte, gung von Zivilisten). Dieses Programm begann Befehlshaber und Studenten an Militärakade- im Vietnamkrieg, in dessen Verlauf militärme- mien den zunehmenden Einsatz der Medizin dizinische Fachkräfte über 40 Millionen Zivilis- zum Erreichen militärischer Ziele, darunter ten vor Ort im Rahmen von MEDCAP-Einsätzen eine verstärkte Durchführung von Program- untersuchten und behandelten. 1968 wurden men zur medizinischen Versorgung von Zivi- circa 188.440 Zivilisten pro Monat ambulant listen. Der Einsatz von MEDCAP-Operationen von MEDCAP-Fachkräften versorgt. Diese Zahl als militärischen Mittel, mit denen strategi- Zurück zum Inhaltsverzeichnis erhöhte sich im Jahr 1970 auf 225.000 ambu- sche Ziele ohne Einsatz von Gewalt erreicht lant behandelte Zivilisten pro Monat. Zur Zeit werden können, erscheint vielen Angehörigen des Vietnamkriegs erhielt die vietnamesische der Streitkräfte sehr verlockend. An den - Mili Zivilbevölkerung nur äußerst begrenzten tärakademien und in den verbundenen Krei- Zugang zu medizinischer Versorgung, da das sen ist im Zusammenhang mit der Bedeutung Arzt-Patienten-Verhältnis lediglich 1 zu 93.000 der medizinischen Versorgung von Zivilisten betrug.2 oft die Rede von den non-lethal weapons, den „nichttödlichen Waffen“. Befehlshaber sehen Das US-Militär wiederum verfügte über die Mit- eine mögliche Verwendung dieser Waffen ins- tel, um einer Bevölkerung mit mangelndem besondere in zukünftigen und gegenwärtigen Zugang zu Gesundheitsleistungen eine medi- low-intensity conflicts (LIC, Konflikte mit nied- zinische Versorgung zu bieten, und war sich riger Intensität), military operations other than dabei des großen strategischen Werts dieses war (MOOTW, Militäreinsätze unterhalb der Angebots durchaus bewusst. Die medizini- Kriegsschwelle) und bei unkonventioneller sche Versorgung war entsprechend durch und Kriegführung. durch strategisch motiviert. Das wichtigste Ziel der MEDCAP-Einsätze lautete, „der Regierung Politik und Praxis haben sich ebenfalls dieser … ein gutes Ansehen in den Augen der Men- Sichtweise angeschlossen. So liegt inzwischen schen“ zu verschaffen, wobei die Verbesserung der Schwerpunkt der Sicherheitspolitik auf

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 13 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Stabilisierungsoperationen, bei denen Maß- schungsarbeiten (Doktrinen, Berichte, Sekun- nahmen zur Stärkung der Zivilgesellschaft därquellen) sowie auf mündlich übermittelte und humanitäre Hilfe im Vordergrund stehen. historische Daten, um so die moralische Reali- Anweisung 3000.05 des US-Verteidigungsmi- tät dieser Einsätze zu erforschen. Die Berichte nisteriums besagt entsprechend, dass es sich der Militärärzte gewähren einen Einblick aus bei military stability operations (MSOs) um erster Hand in die Einsätze zur medizinischen „grundlegende Einsätze der Streitkräfte der Versorgung von Zivilisten und die speziellen Vereinigten Staaten“ handelt, die „die glei- ethischen Konfliktsituationen, vor die sie die che Priorität wie Kampfeinsätze erfahren sol- Beteiligten stellen. len ...“. Auch die Internationale Schutztruppe Die Erfahrung der Militärärzte: mündliche in Afghanistan (ISAF) hob die Bedeutung von Berichte MEDCAP-artigen Programmen als eine wichtige Einsatzform bei den Missionen der Gegenwart Ein Großteil der zu diesen Programmen vor- hervor. Gleichzeitig setzen zunehmend viele handenen Primärquellen besteht aus Mili- Armeen auf dieses Konzept und instrumentali- tärberichten. Leider geben diese Dokumente sieren die Medizin, um das militärische Ziel zu keine Auskunft zu den ethischen Dilemmata, erreichen, die Bevölkerung vor Ort für sich zu die Gegenstand dieses Aufsatzes sind. Aus die- gewinnen. Interessanterweise unterscheiden sem Grund werden mündlich übermittelte his- sich die aktuellen Programme zur medizini- torische Daten verwendet und als Grundlage schen Versorgung von Zivilisten nicht von dem für die in diesem Aufsatz gezogenen Schluss- ursprünglichen Modell, das in Vietnam ange- folgerungen herangezogen. Die aus den wandt wurde. Auch wenn sich Technik und mündlichen Berichten gewonnenen Daten Schauplatz geändert haben – die Programme wurden im Rahmen teilweise schematisierter selbst sind gleich geblieben. Die leitende Dokt- Interviews erhoben, die die Autorin unter Ein- rin, die strategischen Ziele und Prioritäten sind haltung eines von der zuständigen Ethikkom- unverändert. mission genehmigten Forschungsprotokolls Zurück zum Inhaltsverzeichnis führte. Bei aller Unterstützung dieser Programme aus den Reihen der Politik und dem Beifall und Die Auswahl der Teilnehmer für die Interviews der Rechtfertigung vonseiten der Befehlsha- erfolgte notwendigerweise zielgerichtet. Für ber gibt es auch kritische Stimmen. So brach- die vorliegende Forschungsarbeit wurden ten Philosophen, Ethiker, Zivilärzte und auch Veteranen, Pensionäre und im Dienst stehende die Teilnehmer selbst ihre Missbilligung und Ärzte befragt, die im Rahmen militärischer Unzufriedenheit zum Ausdruck. Trotz der vie- Missionen an Programmen zur medizinischen len berichteten negativen Erfahrungen der Versorgung von Zivilisten teilnahmen. Alle Teil- Teilnehmer wurde die Ausweitung der Pro- nehmer waren Militärärzte, wobei Rang, Alter gramme kaum hinterfragt oder von einer kri- und abgeleistete Jahre in den Streitkräften tischen Analyse begleitet. Stattdessen wurden stark variierten. Ebenso breit gefächert war die ethischen Bedenken und Kritikpunkte das Spektrum an Programmen zur medizini- mehr oder weniger komplett übergangen. schen Versorgung von Zivilisten, an denen die Befragten teilgenommen hatten: Dieses reichte Im Folgenden sollen die ethischen Probleme von MEDCAPs in Vietnam, Kuwait, Irak und untersucht werden, die im Zusammenhang Afghanistan bis zu Medical Readiness Training mit Programmen zur medizinischen Versor- Excercises (MEDRETEs, Schulungsübungen zur gung von Zivilisten auftreten. Die ethische medizinischen Bereitschaft) in Honduras und Analyse stützt sich dabei auf historische For-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 14 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Bolivien, darunter auch spontane und infor- gelegt. In Vietnam zum Beispiel wurden kleine melle Hilfseinsätze für Zivilisten. Der Zeitraum Dörfer aufgrund ihrer politischen Bedeutung dieser Einsätze reichte von 1960 bis 2012. Aus und nicht aufgrund der medizinischen Bedürf- Datenschutzgründen wurden sämtliche Aus- nisse der Bevölkerung ausgewählt – ein Vorge- sagen der Studienteilnehmer von Anfang an hen, das noch heute sowohl bei MEDCAP- als anonymisiert. auch bei MEDRETE-Einsätzen angewandt wird. Medikamente und Ausrüstung sind bei Bei entsprechender Einwilligung wurden die Einsätzen oft begrenzt und die Zeit ist stets Interviews aufgezeichnet, transkribiert, ver- knapp bemessen. Die Medikamente werden schlüsselt und ggf. im Zusammenhang mit vor- dabei aus dem medizinischen Lagerbestand liegenden Notizen aus dem Einsatz analysiert. innerhalb der militärischen Versorgungskette Es erfolgte sowohl eine Einzelfall- als auch bezogen und sind damit üblicherweise nur für eine fallübergreifende Analyse in Übereinstim- Erwachsene geeignet – trotz des Umstandes, mung mit der von Glaser und Straus entwi- dass viele der Patienten Kinder sind, in der Ver- ckelten Methode des permanenten Vergleichs. gangenheit wie in der Gegenwart. Die zur Dia- Mit diesem Vorgehen konnten die Antworten gnostik benötigte Ausrüstung ist unzureichend der Teilnehmer gruppiert und gleichzeitig die oder nicht vorhanden. Daneben stehen den verschiedenen Perspektiven zu zentralen The- Ärzten häufig keine Übersetzer oder Dolmet- men, ethischen Problemen und empfundenen scher zur Verfügung, sodass es zu großen Pro- Dilemmata analysiert werden. So wurde ein blemen aufgrund der Sprachbarriere kommt. systematischer Vergleich wichtiger Themen Versorgung über einen längeren Zeitraum möglich, die sich aus der Recherche in Archi- zum Beispiel von chronischen Erkrankungen ven, Primärquellen, Sekundärquellen und oder Nachbehandlungen können nicht durch- mündlich übermittelten historischen Daten geführt werden, da die Ärzte bei den Einsät- ergaben. Schließlich brachten die Interviews zen nur für einen Tag an einem bestimmten mündliche Erzählungen und Berichte von Mili- Ort sind. Das bedeutet, dass sie häufig nicht tärärzten ans Licht, die bis zu diesem Zeitpunkt Zurück zum Inhaltsverzeichnis viel mehr tun können, als Gesundheitspro- nie erzählt worden waren und wertvollen Ein- bleme zu erkennen und Vitaminpräparate blick in die moralischen Realitäten dieser Ein- oder Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Aspi- sätze und die ethischen Dilemmata der direkt rin zu verschreiben. Darüber hinaus berichte- Beteiligten boten. ten Militärärzte davon, dass die Patientenzahl Ethische Probleme aufgrund von Auflagen des Einsatzlands oder Vorgaben des Militärs begrenzt worden sei. Bei ihren Einsätzen zur medizinischen Versor- Die häufig altruistisch motivierten Militärärzte gung von Zivilisten fühlten sich die befragten berichten auch davon, wie sie von den Zwän- Militärärzte grundsätzlich durch die Umstände, gen des Einsatzes, den medizinischen Einsatz- Beschränkungen und ihr Arbeitsumfeld behin- regeln und Versorgungsengpässen behindert dert. Das ethische Problem einer unterdurch- wurden. schnittlichen medizinischen Versorgung wurde im Zusammenhang mit diesen Einsätzen Bei dieser Kritik geht es nicht nur um die häufig thematisiert. Bei Einsätzen zur - medi Schwachpunkte, die mit der Arbeit in einem zinischen Versorgung von Zivilisten bestehen mobilen Krankenhaus, in einem Entwicklungs- viele Beschränkungen. So werden die Einsatz- land oder einem Konfliktgebiet an sich zu tun orte im Vorfeld unter dem Gesichtspunkt der haben. Schließlich handelt es sich um Erfah- Sicherheit und des strategischen Wertes fest- rungen, die auch zivile Organisationen wie

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 15 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Ärzte ohne Grenzen machen. Das Problem ist vorne geschickt, um das Vertrauen dieser Leute 4 tief gehender und seine Ursache liegt in der zu gewinnen, indem er sie behandelt ...“ Ausgestaltung der Programme zur medizini- Levy lehnte diese Instrumentalisierung der schen Versorgung von Zivilisten selbst. Die Medizin ab und war zutiefst darüber besorgt, Frustration angesichts der als unterdurch- dass die Gesundheit der Patienten kein Haupt- schnittlich wahrgenommenen medizinischen anliegen der Mission darstellte. Der Fall Levy Versorgung ist dabei Ausdruck eines komple- und weitere Berichte illustrieren die Sicht- xen programmatischen und ethischen Prob- weise und moralische Argumentation der lems: Medizinische Anliegen haben im Rahmen Militärärzte. Diese merken in mündlichen militärischer Einsätze keine Priorität. Im Erzählungen, Briefen und persönlichen Schil- Gegensatz zu zivilen Hilfseinsätzen, bei denen derungen an, dass die Militärmedizin für die Ärzte möglicherweise frustriert sind, weil sie genannten Ziele eingesetzt und in einigen angesichts begrenzter Mittel und umgebungs- Fällen auch missbraucht wurde. Ablehnung bedingter Zwänge nicht richtig helfen kön- und Unzufriedenheit zeigen sie hinsichtlich nen, rühren die Unzufriedenheit und negative der Fälle, in denen sie den Einsatz der Mili- Bewertung hinsichtlich der Programme durch tärmedizin als Ausnutzung beschreiben. Der die Militärärzte daher, dass strategische Ziele wichtigste Grund, die genannten Programme vor medizinische Ziele gestellt werden. Mili- und die Instrumentalisierung der Medizin für tärärzte bewerten häufig als moralisch -frag politische Zwecke abzulehnen, liegt in der würdig, dass diese Programme ihre Rolle als erwarteten Auswirkung von Missbrauch und Soldaten und insbesondere als „Beschwich- Ausnutzung medizinischer Versorgung auf tigungsmittel“ betonen – Stichwort „winning die Patienten. Dem Unterschied zwischen der hearts and minds“ – und dabei die medizi- Instrumentalisierung der Medizin einerseits nischen Ziele vernachlässigt werden. Die und ihrer Ausnutzung andererseits messen die Befragten sind sich der Priorisierung der mili- Befragten eine hohe moralische Relevanz und tärischen Ziele wohl bewusst und beschreiben

Wichtigkeit bei. Zurück zum Inhaltsverzeichnis die Programme als „von medizinisch geringem Wert“, aber „großartiges Propagandamittel“.3 Während des Vietnamkriegs waren die MED- CAP-Operationen eng mit psychologischen Der Fall des US-Armeearztes Dr. Howard Levy Operationen (PSYOP) verknüpft: Die -MED gelangte zu Berühmtheit: Der Militärarzt wei- CAP-Einsätze wurden von einer Beschwich- gerte sich, die Sanitäter der Spezialeinheit tigungspropaganda begleitet, zu der speziell Green Berets in Vietnam in Dermatologie konzipierte Kuverts mit Medikamenten, Laut- zu unterweisen. Mit den dermatologischen sprecheransagen, Geschenke und T-Shirts mit Kenntnissen sollten die Sanitäter die strategi- eindeutigen Botschaften gehörten.1 Im Rahmen schen Ziele des MEDCAP erreichen. Levy sah dieser Einsätze wurde die Medizin als Mittel zur dies als eine „Prostitution der Medizin für poli- Informationsbeschaffung instrumentalisiert tische und militärische Zwecke“ an. Während oder sogar missbraucht. So nutzten Befehls- des Gerichtsverfahrens erklärte ein amerikani- haber das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt scher Wehrdisziplinaranwalt die Motive hinter und Patienten, um an taktische Informationen dem MEDCAP lapidar wie folgt: heranzukommen. Gegenüber den strategi- „Wir wollten die Medizin als Mittel der Annä- schen Zielen der Beschwichtigung der Zivilbe- herung an den Feind und zur Durchsetzung völkerung oder Informationsbeschaffung trat unseres Willens verwenden ... Der eine große 1 Ansatzpunkt ist dabei der Arzt, da die Leute die Medizin in den Hintergrund. Militärärzte dort kaum Ärzte und ausgebildete medizini- berichteten, dass die Priorisierung der Infor- sche Fachkräfte haben; also wird ein Arzt nach

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 16 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss mationsbeschaffung deutlich das Vertrauen Besonders aufschlussreich ist der Trend, dass beschädigte, das die Patienten dem Gesund- einige Studienteilnehmer die Programme heitsteam entgegenbrachten, und den gesam- ethisch und medizinisch als dermaßen prob- ten MEDCAP-Einsatz überschattete: „Wenn lematisch bewerteten und derartig bestürzt man die ärztliche Tätigkeit dafür verwendet, waren, dass sie ihre Teilnahme verweigerten. Informationen [zu beschaffen], verspielt man Die Einzelberichte über solche Vorkommnisse damit das Vertrauen der Bevölkerung, die häufen sich – entweder sprechen sich die man behandelt.“ Dieses Zusammenspiel der betreffenden Ärzte ganz offiziell dagegen aus Prioritäten und politischen Vorgaben trug dazu oder aber verweigern ihre Teilnahme inoffizi- bei, dass die Militärärzte keine angemessene ell, indem sie sich geschickt ihrer Abordnung medizinische Versorgung leisten konnten, und entziehen. Diese Weigerung verdeutlicht die war darüber hinaus mit dafür verantwortlich, moralischen Realitäten und tatsächlichen dass die Militärärzte die Medizin als ausge- ethischen Konflikte der an solchen Einsätzen nutzt wahrnahmen. Da die Ziele strategischer beteiligten medizinischen Fachkräfte. Darüber Natur waren, war die Verbesserung der medi- hinaus verweist die Heftigkeit der Reaktionen zinischen Versorgung nicht die treibende Kraft, auf einen Änderungsbedarf, sollte diese Art sondern lediglich eine Nebenerscheinung der Einsätze fortgesetzt werden. umgesetzten Ziele. Aus schriftlichen Erzählungen, mündlichen Militärärzte reagieren unterschiedlich auf ihre Berichten und einer kürzlich vom Center for negativen Erfahrungen aus den genannten Disaster and Humanitarian Assistance Medi- Einsätzen. Stabsärzte werden häufig „sanft cine (CDHAM) durchgeführten Studie geht gedrängt“, teilzunehmen oder (wenn auch hervor, dass Ärzte aus altruistischen Gründen weniger häufig) Einsätze zu organisieren. an diesen Programmen teilnehmen. Laut der Anfangs nehmen viele sogar gerne teil, da sie CDHAM-Studie gab nahezu die Hälfte aller eine klassische humanitäre Hilfsaktion, frei befragten Ärzte an, humanitäre Einsätze seien von militärischen Überlegungen, erwarten. ein wesentlicher Grund für ihre Entscheidung Zurück zum Inhaltsverzeichnis Sobald die Realität des Einsatzes deutlich zum Eintritt in die Streitkräfte gewesen: wird, geraten viele in die oben beschriebenen „Viele Bewerber für die USUHS [Uniformed Ser- ethischen Konfliktsituationen und kämpfen vices University of the Health Sciences, eine mit der Instrumentalisierung und Ausnutzung für den Sanitätsdienst ausbildende staatliche Universität für Gesundheitswissenschaften] ... der Medizin, mit der Unmöglichkeit einer ange- äußerten sich positiv mit Blick auf mögliche messenen Patientenversorgung, mit der unter- Einsätze im Ausland ... humanitäre Einsätze durchschnittlichen Qualität der Versorgung sind einer der entscheidenden Gründe für ihre Bewerbung an der USUHS und für die Verfol- und mit ihrer moralisch schwierigen Rolle als gung einer Laufbahn als Militärarzt.“5 ärztlich tätige Soldaten. Ihr mangelndes Wis- sen um die Realität dieser Einsätze rührt aus Die Umfrageergebnisse geben einen wertvol- mehreren Umständen: Militärärzte erhalten len Einblick in die Motivation von Militärärzten, häufig nur begrenzt Informationen zu Einsatz, die an Einsätzen zur medizinischen Versorgung Einsatzort oder der Situation der Bevölkerung von Zivilisten teilnehmen. Ihre Identität als vor Ort und bekommen im Vorfeld eines Ein- Militärarzt ist dabei zumindest teilweise von satzes oft keine entsprechende Einweisung. diesem humanitären Antrieb geprägt – medi- Zudem sind sie auch nur selten an der Planung zinische Versorgung zu leisten in einer Form, im Vorfeld beteiligt. die ihres Erachtens als Zivilarzt nicht geleistet werden kann. Aus der gleichen CDHAM-Studie geht auch hervor, dass humanitäre Hilfsein-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 17 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss sätze für 60 Prozent der Befragten wesentlich auch die militärischen Ziele erreicht. Inter- für ihre Entscheidung zum Verbleib in den nisten haben etwa entzündete Gelenke und Streitkräften waren.5 Die Bedeutung dieser Abszesse behandelt, Chirurgen waren bei der Ergebnisse für die Streitkräfte ist also erheb- Behebung von Lippen-Gaumen-Spalten und lich. Die Programme spielen eine zentrale Rolle bei Amputationen medizinisch (und auch im für die Bindung und Rekrutierung und stellen Hinblick auf die jeweiligen strategischen Ziele einen wesentlichen Faktor bei der Karrierepla- psychologischer Einsätze) erfolgreich. Kinder- nung der Militärärzte dar. Angesichts der gro- ärzte verzeichneten große Erfolge mit Entwur- ßen militärischen Bedeutung der Programme mungsmaßnahmen und Zahnärzte konnten verdienen die Erfahrungen der Militärärzte die Mundgesundheit mithilfe von Zahnextrak- im Rahmen dieser Einsätze mehr Beachtung: tionen deutlich verbessern. Auch Augenoptiker Für sie waren die Programme zur medizini- erzielten spürbaren Erfolg über die Verteilung schen Versorgung von Zivilisten bislang eine von Sehhilfen. Bei anderen Einsätzen standen gut gemeinte, aber fehlgeleitete und letztend- die öffentliche Gesundheit und Präventions- lich frustrierende Erfahrung. Sie erwarteten maßnahmen wie Impfungen und medizini- einen humanitären Einsatz mit wohltätiger sche Bildung in der jeweiligen Landessprache medizinischer Versorgung, erlebten aber die im Mittelpunkt. Obwohl medizinische Eingriffe Realität einer militärischen Operation, bei der in diesem Rahmen nur begrenzt durchgeführt medizinische Ziele nur eine nachrangige Rolle werden können, haben die Ärzte doch Wege spielten. gefunden, um therapeutisch etwas zu bewir- ken. Hierbei ist hervorzuheben, dass es bei Erfolgreiche Programme und alternative diesen Einsätzen um Versorgungsleistungen Lösungen ging, die in kurzer Zeit umgesetzt werden kön- Es ist wichtig zu betonen, dass Militärärzte nicht nen und gleichzeitig einen nachhaltigen posi- mit jeder Variante dieser Art Einsätze Probleme tiven Nutzen für die Gesundheit haben. haben. So gibt es erfolgreiche Programme zur Im Gegensatz zu Einsätzen, bei denen stra- Zurück zum Inhaltsverzeichnis medizinischen Versorgung von Zivilisten, bei tegische Ziele Vorrang hatten und die medi- denen ethische Bedenken und moralische zinische Ziele ignorierten, wurden die oben Dilemmata für die Teilnehmer nicht so groß aufgeführten Einsätze durch medizinische sind. Das MEDRETE-Programm zum Beispiel, Fachkräfte geplant und organisiert. In der eine schulungsorientierte Nachfolgevariante Vergangenheit wurden MEDCAP-Einsätze auf- des MEDCAP, erfährt deutlich weniger Kritik. Da grund ihres überwiegend militärischen (oder hier medizinische Ausbildung ein primäres Ziel strategischen) Zwecks von Befehlshabern und ist, spielen hier medizinische Ziele eine tragen- Offizieren ohne medizinischen Hintergrund dere Rolle. Ärzte, die sowohl an MEDCAP- als konzipiert, wobei strategische Ziele klar im auch an MEDRETE-Einsätzen teilgenommen Vordergrund standen. Empfohlen wird jedoch, haben, berichten, dass die medizinische Ver- medizinisches Personal in die Planung und sorgung bei letzteren weitaus sinnvoller durch- Organisation einzubeziehen – denn die ein- geführt wurde. Darüber hinaus gibt es auch zigen erfolgreichen Programme wurden von erfolgreiche Varianten des MEDCAP, die weiter- Stabsärzten aktiv geplant und berücksichtig- entwickelt und fortgesetzt werden sollten. Bei ten militärische und medizinische Ziele glei- diesen erfolgreichen Beispielen stehen wieder chermaßen. Werden Programme auf diese die medizinischen Ziele im Mittelpunkt – eine Weise geplant, nehmen die Teilnehmer häufig Ausnutzung der Medizin wird vermieden, statt- eine bessere medizinische Versorgung für die dessen werden sowohl die medizinischen als

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 18 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Bevölkerung vor Ort wahr. Schulungen für die Entwicklung eines Leitbilds und zur Erstellung Ärzte, Möglichkeiten, als Ärzteteam zusam- von Schulungsunterlagen leisten. Schließlich menzuwachsen, und eine insgesamt bessere fehlen der betreffenden Gruppe auch -Trai Erfahrung für alle Beteiligten, mit weniger ningsprogramme, in denen sie lernen können, schwerwiegenden ethischen Dilemmata, sind mit ihrer komplexen Rolle umzugehen. die positive Folge. Mit der frühzeitigen Einbin- Im Zusammenhang mit den hier besproche- dung von Ärzten in die Planungsphase könn- nen Programmen und Einsätzen kommen viele ten die Prioritäten dieser Programme neu moralisch und ethisch komplexe Situationen gesetzt und dabei die medizinischen Ziele zum Tragen. Militärärzte sollen als Vertreter stärker berücksichtigt werden. Durch die Neu- einer Doktrin agieren, deren Ziele sich nicht in ausrichtung der Prioritäten können viele der erster Linie an medizinischer Versorgung orien- in diesem Aufsatz besprochenen ethischen tieren. Inadäquate medizinische Hilfe, die stra- Probleme angegangen und die Ausnutzung tegischen Zielen untergeordnet ist, sorgt häufig der Medizin und eine unterdurchschnittliche für ethische Dilemmata. Dies stellt grundle- medizinische Versorgung vermieden werden. gende Überzeugungen der medizinischen Gleichzeitig kann damit auch das Ausmaß der Berufsethik vor große Herausforderungen. Frustration der teilnehmenden Militärärzte im Einsatz verringert werden. Die Frustration, wieder einmal nur Vitamine, Aspirin und Ibuprofen verteilt haben zu dürfen, Trotz des zunehmenden Literaturbestan- zeigt sich deutlich in den Bewältigungsmechnis- des zum Thema Militärmedizinethik stellen men, mit denen die Militärärzte versuchen, ihre die ethischen Probleme und moralischen Anspannung abzubauen. Dies wird zum Beispiel Zwickmühlen in Einsätzen zur medizinischen folgendermaßen ausgedrückt: „Das Einzige, was Versorgung von Zivilisten nach wie vor ein wir heute hier den Leuten mitgegeben haben, vernachlässigtes Studienfeld dar. Die negati- sind ein paar Magengeschwüre durch überdo- ven moralischen Erfahrungen und ethischen siertes Ibuprofen.“ Die moralische Beunruhi- Dilemmata der Beteiligten bleiben weiterhin Zurück zum Inhaltsverzeichnis gung der Studienteilnehmer bezieht sich kaum oft ungehört, während sich die Reichweite auf den Einsatz der Medizin als strategisches der beschriebenen Missionen erweitert und Instrument oder „nichttödliche Waffe“. Vielmehr diese verstärkt militärmedizinische Einsätze wehren die Ärzte sich dagegen, dass strategische beinhalten, ohne dass es zu einer Änderung in Gesichtspunkte über alle anderen Erwägungen Struktur oder Leitbild käme. Darüber hinaus gestellt werden und damit die Medizin ausge- wurde aus den Berichten der Militärärzte kaum nutzt wird. Hier ist ein Ausgleich erforderlich. je eine Lehre gezogen. Deutlich wird diese Realität an dem Umstand, Es ist bemerkenswert, dass Diskussionen, Leit- dass die Ärzte ihre Erfahrungen bei solchen Ein- bilder und Schulungen zum Thema der medi- sätzen immer dann als lohnenswert, positiv und zinischen Versorgung von Zivilisten fehlen. Der unproblematisch sehen, wenn medizinische Mangel an Reflexion, Bildung und einer echten Ziele in den Mittelpunkt gestellt werden und Debatte trägt zur weiteren Verunsicherung in medizinischer Nutzen erreicht wird. Geraten die ethischen Fragen bei. Militärärzte sind auf die Militärärzte jedoch in eine moralische Zwick- beschriebene Instrumentalisierung der Medi- mühle, weil sie eine medizinische Versorgung zin nur schlecht vorbereitet und nicht in dem leisten sollen, die ihrer Meinung nach grob unzu- heiklen Balanceakt zwischen ihrer Rolle als Arzt reichend ist, fühlen sie sich oftmals zwischen und ihrer Rolle als Soldat geübt. Deshalb müs- ihren Rollen hin- und her gerissen. sen Militärärzte und Ethiker einen Beitrag zur

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 19 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Nur selten befassen sich die Streitkräfte Dr. Sheena M. Eagan gegenwärtig mit diesen Fragen, und nur eine Chamberlin promovierte am Armee beginnt zurzeit, ihren medizinischen Institut für Medizinische Geis- teswissenschaften der Medizini- Fachkräften entsprechende Schulungen und schen Fakultät der University Möglichkeiten zur moralischen Reflexion of Texas. Zuvor schloss sie den über die Problematik von Winning Hearts and Masterstudiengang Öffentliches Minds-Einsätzen zu bieten. Dabei sind die Ana- Gesundheitswesen (Master of lyse und Diskussion der moralischen Komple- Public Health) an der Uni- xität dieser Programme unabdingbar. Mehr formed Services University ab. Ihre Forschungs- und Lehrtätigkeit umfasst die Themen militärmedizinische Trainings, Fortbildungen und Leitlinien sind Ethik, Medizinphilosophie, Ethik des öffentlichen Ge- hierzu erforderlich. Im Idealfall sollten diese sundheitswesens, Medizingeschichte und die medizinische Trainings und Fortbildungen sowohl von mili- Geisteswissenschaften. Auf Konferenzen in Nordamerika, tärmedizinischen Fachkräften als auch von Europa und Asien hält sie wissenschaftliche Fachvorträge ihren medizinisch nicht geschulten Befehls- über Medizinethik, Militärmedizin und Militärgeschich- habern besucht werden, damit ethische Span- te. Gegenwärtig ist Chamberlin Lehrbeauftragte der nungen abgebaut und medizinische Hilfe Philosophischen Fakultät der University of Maryland und unterrichtet Soldaten im aktiven Dienst und deren angemessen eingesetzt werden kann, ohne Angehörige in Ethikfragen. missbraucht zu werden.

1 Eagan Chamberlin, S. (2014): The Warrior in a White Coat: Moral Dilemmas, the Physician-Soldier & the Problem of Dual Loyalty, Medical Corps International Forum Band 4, S. 4–7; Eagan Chamberlin, S. (2013): The Complicated Life of a Physician-soldier: medical readiness training exer- cises & the problem of dual-loyalties, Journal of Biomedical Sciences and Engineering 6, S. 8–18; Eagan Chamberlin, S.

(2013): Using Medicine to ‘Win Hearts and Minds’ – Medical Zurück zum Inhaltsverzeichnis Civilian Assistance Programs, Propaganda & Psychological Operations in the U.S. Military, Lisboa, [http://hdl.handle. net/10362/10758, abgerufen am 21. Mai 2015].

2 Gilbert, D. & Greenberg, J. (1967): Vietnam: Preventive Medicine Orientation, Military Medicine 132, S. 769–790.

3 Wilensky, R. (2004): Military Medicine to Win Hearts and Minds: Aid to Civilians in the Vietnam War, Lubbock/TX.

4 Veatch, R. (1977): Soldier, Physician and Moral Man, in: Case Studies in Medical Ethics, Cambridge.

5 Driftmeyer, J. & Llewellyn C. (2002): Humanitarian Service: Recruitment & Retention Effects among Uniformed Services Medical Personnel, in: Measures of Effectiveness (Bethesda, MD: Center for Disaster and Humanitarian Assistance Medicine).

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 20 Militärärzte und Sanitäter im Konflikt mit dem Kriegsvölkerrecht von Oberstleutnant d. R. Cord von Einem

Das Selbstverständnis von militärmedizini- Der Konflikt im Selbstverständnis der militäri- schem Sanitätspersonal scheint bedenkliche schen Sanitätskräfte wird vermehrt deutlich. Entwicklungen anzunehmen. Meine Beob- Im Vergleich zu den Sanitätern, die in ihrer Rolle achtungen aus Weiterbildungsprogrammen einen strikt humanitären Charakter sehen, gibt zum Kriegsvölkerrecht (KVR) und militärme- es immer mehr Betroffene, die beispielsweise dizinscher Ethik zeigen, dass teilnehmende –– überzeugt aktiv an Kampfhandlungen teil- Militärärzte und Sanitäter häufig mit juristi- nehmen oder dazu bereit sind, schen Unklarheiten und ethischen Bedenken bei ihren Einsätzen und ihrer Ausbildung zu –– es als ihre Pflicht als Soldaten ansehen, kämpfen haben. In diesem Artikel werde ich bevorzugt für ihr eigenes militärisches Per- daher die Rechte und Pflichten von Militärärz- sonal da zu sein ten und Sanitätern im Kriegsvölkerrecht her- –– oder es als legitim ansehen, im Bedarfsfall ausarbeiten und auf juristische Probleme im Gefangene auch härteren Verhörmethoden Einsatz hinweisen. auszusetzen und als Mediziner lediglich das Die geschilderten Beobachtungen in diesem Überleben des Verhörten zu sichern. Artikel entstammen Aus- und Weiterbildungs- Diese Erfahrungen und der Diskurs innerhalb veranstaltungen sowie Konferenzen und der Sanitätskräfte in den Ausbildungsver- Besprechungen unter Beteiligung des ICMM anstaltungen führen zu der grundsätzlichen Zurück zum Inhaltsverzeichnis Center of Reference for Education on IHL and Überlegung, wie zweckdienlich die Art und Ethics (International Committee of Military Weise ist, mit welcher heute Kriegsvölkerrecht Medicine, ICMM; International Humanitarian im Sanitätswesen gelehrt wird und das Wissen Law, IHL), deren Teilnehmer sich in größten hierzu präsent gehalten wird. Lassen sich die Teilen aus militärmedizinischem Personal bedenklichen Entwicklungen aus rechtlicher aller Dienstgradgruppen und Spezialisierun- Sicht in Selbstverständnis und Einsatz von gen zusammensetzen. Die Veranstaltungen militärischen Sanitätskräften in heutigen Kon- wurden in Europa, Afrika und unter ande- fliktszenarien auf ein Defizit zurückführen? rem dem Nahen, Mittleren und Fernen Osten durchgeführt. In Hinsicht auf die Beobach- Denn eines steht fest: Allein die Genfer Kon- tungen macht es dabei keinen Unterschied, ventionen mit ihren Protokollen bergen eine ob die Teilnehmer aus unterschiedlich entwi- Menge Regeln, die insbesondere für militärme- ckelten Ländern oder Bildungssystemen kom- dizinisches Personal von erheblicher Bedeu- men oder welchen kulturellen Hintergrund sie tung sind. haben. Auch ist für dieses Bild sehr häufig ohne In der kennen wir problematische Belang, seit wann der Teilnehmer im Dienst ist Ansichtsweisen nicht zuletzt durch Afghanistan, und aus welcher Dienstgradgruppe er stammt. aber auch durch den NATO-Lessons-Learned Prozess. Die Einsatzrealität und die Art und

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 21 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Weise, wie sanitätsdienstliche Unterstützung Humanitäre Völkerrecht und nutzten perfide in Afghanistan teilweise gehandhabt wurde, Kriegsmittel. Zudem bewegten sie sich in dyna- verursachte eine besondere emotionale Nähe mischen kleinen Gruppen ohne Uniform kaum zwischen kämpfender Truppe und Sanität. So erkennbar inmitten der afghanischen Zivilbe- brachten es zum Beispiel die Teilnahme an völkerung. Nicht nur kämpfende Truppe, son- Patrouillen und der Wachdienst in Forward dern auch militärische und zivile Sanitätskräfte Operation Bases (FOBs) mit sich, dass Forde- wurden offensichtlich wiederholt durch diese rungen nach schwereren Waffen, Gefechtsaus- Aufständischen attackiert. bildung und dem Abtarnen der Schutzzeichen Um die Definition von Kombattanten recht- aufkamen. Es änderte sich die Bereitschaft zur lich anzupassen oder zu verändern, muss es Selbstverteidigung hin zur Bereitschaft zum sich allerdings bei den durch die Konfliktbe- Kampf, um den Kameraden nicht „im Stich“ teiligten eingesetzten Kräfte überhaupt um lassen zu müssen. Kombattanten im Sinne des Kriegsvölkerrechts Wer ist Kombattant und wer nicht? Das handeln bzw. gehandelt haben. Beispiel Afghanistan Die Rechtsstellung eines Kombattanten, also „Der Gegner hat die Regeln auf dem Gefechts- den Kombattantenstatus, sieht das Humani- feld verändert“ – ein Argument, das auch von täre Völkerrecht jedoch nur für den internatio- Sanitätspersonal benutzt wird, um das eigene nalen bewaffneten Konflikt vor. Kombattant ist Verhalten im Einsatz zu legitimieren. Diese dabei, wer berechtigt ist, unmittelbar an Feind- Begründung ist für den Ausbilder wie für die seligkeiten teilzunehmen (Zusatzprotokoll I zu Planung von Übungen und Einsatz in Bezug den Genfer Abkommen, Art. 43 Abs. 2). Im Rah- auf Sanitätskräfte herausfordernd, denn die men des Humanitären Völkerrechts dürfen nur referenzierten Konflikte mit ihren Konfliktpar- Kombattanten auch außerhalb der Grenzen teien müssten zunächst einmal dem Kriegsvöl- der Selbstverteidigung auf der Grundlage des kerrecht unterliegen, um rechtlich das Thema Kriegsvölkerrechts Schädigungshandlungen Zurück zum Inhaltsverzeichnis aufnehmen zu können. vornehmen. Da es sich in Afghanistan jedoch um einen nichtinternationalen Konflikt han- Die Problematik wird deutlich am Beispiel delt, gibt es keinen völkerrechtlichen Kombat- Afghanistan: Während die für den ISAF-Einsatz tantenstatus in diesem Konflikt. (International Security Assistance Force, ISAF) Truppen stellenden Nationen sich einseitig auf Anders wäre es, wenn der Kampf der Aufstän- die Einhaltung der humanitären Standards dischen sich in diesem nichtinternationalen des Kriegsvölkerrechts verpflichteten, stellte bewaffneten Konflikt gegen Kolonialherrschaft die menschenverachtende Verhaltensweise und fremde Besetzung oder gegen ein rassis- der Aufständischen nach Auffassung vieler tisches Regime in Ausübung ihres Rechts auf Teilnehmer der Veranstaltungen und aller Selbstbestimmung (Zusatzprotokoll I zu den Dienstgradgruppen anscheinend neue Anfor- Genfer Abkommen, Art. 1 Abs. 4) richten würde, derungen an die Definition von Kombattanten. wodurch ihnen ein Kombattantenstatus bei Einhaltung gewisser Mindeststandards zuge- So waren Frontlinien und gegnerische Grup- schrieben werden müsste. Die Aufständischen pen in Afghanistan kaum zu definieren und müssten dann aber auch Streitkräfte haben, zahlreiche Akteure mit undurchsichtigen Inte- die einem internen Disziplinarsystem unter- ressen profitierten von andauernden gewalt- liegen, das unter anderem die Einhaltung der samen Auseinandersetzungen. Die irregulären Regeln des in bewaffneten Konflikten anwend- Kämpfer der Aufständischen ignorierten das

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 22 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss baren Völkerrechts gewährleistet (Zusatzpro- Die Forderung nach einer neuen Definition von tokoll I zu den Genfer Abkommen, Art. 43 Abs. Kombattanten auf der Grundlage des Beispiels 1). Dies ist aber nicht der Fall. Afghanistan ist also fachlich nicht korrekt. Bei der Frage nach Anpassung oder Änderung die- Man muss die Aufständischen in Afghanistan ser Definition nach Kriegsvölkerrecht muss daher als Terroristen oder Kriminelle werten, stets hinterfragt werden: die nationales afghanisches Recht verletzen. Gelegentlich werden sie als „unrechtmäßige, –– Ist das Kriegsvölkerrecht auf den zugrunde illegale, ungesetzliche oder rechtswidrige liegenden Konflikt überhaupt anwendbar? Kombattanten“ bezeichnet. Eine solche völ- –– Und wenn ja, für welche Art von Konflikt ist kerrechtliche Sonderkategorie ist aber weder es anwendbar: internationale oder nichtin- für den internationalen bewaffneten Konflikt ternationale Konflikte? noch für den nichtinternationalen bewaff- neten Konflikt anerkannt und auch nicht Ein schmaler Grat zwischen Hilfeleistung erforderlich. und Strafbarkeit? Die rechtliche Klassifizierung als Kombattan- Für das sanitätsdienstliche Personal können ten steht im Beispiel Afghanistan den Aufstän- Unklarheiten in den Definitionen nach Kriegs- dischen also nicht zu. Wäre es anders, könnte völkerrecht schwerwiegende Auswirkungen man sie auch nicht für ihre Angriffe bestrafen, haben; so sehr, dass sich das handelnde Per- denn Kombattanten dürfen für ihre bloße Teil- sonal bei Fehlverhalten unter Umständen nahme an Feindseligkeiten (Zusatzprotokoll unterhalb der Schwelle eines Kriegsverbre- I zu den Genfer Abkommen, Art. 43 Abs. 2) chens der Gefahr einer strafrechtlichen Verfol- nicht bestraft werden, während Zivilpersonen, gung aussetzt. wie es auch Kriminelle und Terroristen sind, In den letzten Jahren entwickelte sich gerade gerade auf nationalem rechtlichen Niveau, bei unter Sanitätskräften führender Militärnati- unmittelbarer Teilnahme an Feindseligkeiten onen die Überzeugung, dass es Sanitätern Zurück zum Inhaltsverzeichnis mit strafrechtlicher Verfolgung für ihre Teilnah- gestattet sein müsse, schwerere Waffen auch mehandlungen rechnen müssen. offensiv einzusetzen, um z. B. den Zugang zu Die im Rahmen von ISAF eingesetzten Solda- Verwundeten und deren Bergung erzwingen ten waren gleichfalls keine Kombattanten, zu können, bis hin zu der Forderung, in kriti- auch wenn sie sich – aufgrund der Selbstver- schen Gefechtssituationen Kampftruppen z. B. pflichtung ihrer Nationen – bei Anwendung durch Feuer zu unterstützen. Ausgelöst wurde von Gewalt während des ISAF-Einsatzes an dies durch immer wiederkehrende Berichte die Prinzipien des Kriegsvölkerrechts halten von Übergriffen durch Konfliktparteien, insbe- mussten. Sie unterstützten lediglich die nati- sondere von offenbar gezielten Angriffen, eben onalen afghanischen Sicherheitskräfte bei der auch auf militärmedizinisches Personal und Aufstandsbekämpfung. dessen Einrichtungen. Selbst die Soldaten der ANA (Afghanische Natio- Die Berechtigung, unmittelbar an Feindselig- nalarmee) und die Angehörigen der ANP (Afghani- keiten teilzunehmen, wird auch als Kombat- sche Nationalpolizei) waren und sind im Übrigen tantenprivileg bezeichnet. Die Angehörigen der keine Kombattanten. Die Soldaten der ANA sind Streitkräfte einer am Konflikt beteiligten Partei aber die legitime militärische Macht des Staates, sind Kombattanten und sind dazu berechtigt, die Aufständische zulässigerweise mit dem Ein- unmittelbar an Feindseligkeiten teilzunehmen, satz militärischer Mittel bekämpft. während das Sanitäts- und Seelsorgepersonal

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 23 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss davon ausgenommen ist (Zusatzprotokoll I zu gung, ihren Austausch und ihren Abtransport den Genfer Abkommen, Art. 43 Abs. 2). Den zu ermöglichen. Dies mag schwer zu ertragen Personen mit Kombattantenstatus ist also im sein, findet seinen Ursprung aber im selben bewaffneten Konflikt die Bekämpfung - recht Interesse, das auch gegebenenfalls Kollateral- mäßiger militärischer Ziele gestattet. Dies schäden legitimiert, nämlich das Interesse der bedeutet die Befugnis zur Verletzung oder Nationen an einer gewichteten Betrachtung Tötung von gegnerischen Kombattanten oder von militärischer Notwendigkeit und huma- Personen, die ohne Berechtigung unmittelbar nitärem Schutz. Dem Gegner (aber auch den an Feindseligkeiten teilnehmen (Zusatzproto- eigenen Kräften) ist es insofern erlaubt, trotz koll I zu den Genfer Abkommen, Art. 51 Abs. 3), des Umherliegens von Verwundeten auf dem sowie zur Beschädigung, Neutralisierung oder Gefechtsfeld weiterzukämpfen. Zerstörung von Objekten, die als militärisches Die Grenzen der Selbstverteidigung Ziel einzuordnen sind (Zusatzprotokoll I zu den Genfer Abkommen, Art. 52 Abs. 2 Satz 2). Wenn der Dienstherr doch aber Waffen auch an Sanitäter ausgibt, wofür sind dann diese Während Kombattanten also für ihre bloße Waffen? Jedenfalls nicht zur Schädigung des Teilnahme an Feindseligkeiten gemäß ihrer Gegners, um z. B. einen taktischen Vorteil – wie Kombattantenimmunität (Zusatzprotokoll I Unterdrückung von Feindfeuer auf eine Pat- zu den Genfer Abkommen, Art. 43 Abs. 2) nicht rouille – zu gewinnen oder um einen Gegner bestraft werden dürfen, müssen andere Perso- von legitimen Handlungen wie z. B. Bekämp- nen, also auch militärisches Sanitätspersonal, fung gegnerischer Kräfte abzuhalten. Sie bei unmittelbarer Teilnahme an Feindselig- dienen der Selbstverteidigung gegen unrecht- keiten mit strafrechtlicher Verfolgung für ihre mäßige Übergriffe auf Patienten, Personal und Teilnahmehandlungen wie z. B. Totschlag, Kör- Material durch Personen, gleich ob militäri- perverletzung oder Sachbeschädigung etc. rech- scher oder ziviler Zugehörigkeit. Die Grenzen nen. Zudem verlieren Sanitätseinrichtungen der Selbstverteidigung sind an dieser Stelle oder bewegliche Einheiten des Sanitätsdiens- Zurück zum Inhaltsverzeichnis ein interessantes, viel diskutiertes und über tes ihren Schutz durch das Kriegsvölkerrecht, den hier betrachteten Themenbereich hinaus wenn sie außerhalb ihrer humanitären Bestim- brisantes Thema, das aber nur den wenigs- mung dazu verwendet werden, die Truppe des ten militärmedizinischen Teilnehmern in ihrer Gegners anzugreifen oder auf sonstige Weise zu Ausbildung zumindest in Grundzügen vermit- schädigen. Sobald sie in den Kampf eingegrif- telt wurde. fen haben können sie mit rechtlicher Deckung zum legitimen militärischen Ziel werden. Wie werden die Waffen also richtig einge- setzt? Wie gesehen, sind die Angehörigen des Auch die Forderung, militärische Sanitäter Sanitätsdienstes nicht zur unmittelbaren Teil- müssten sich im Zweifelsfall gewaltsam den nahme an Feindseligkeiten berechtigt, aber Zugang zu den Verwundeten verschaffen kön- das Tragen und der Einsatz von Waffen zur nen und deren Bergung durchsetzen, muss Verteidigung der eigenen Person und von Pati- am Kriegsvölkerrecht abprallen. Geregelt ist, enten sowie von Material gegen völkerrechts- dass,wann immer es die Umstände gestat- widrige Angriffe sind gemäß dem Recht auf ten, Feuerpausen oder andere örtliche Abma- Selbstverteidigung zulässig. chungen vereinbart werden, um die Suche nach den auf dem Schlachtfeld gebliebenen Doch bietet das Kriegsvölkerrecht nur selten Verwundeten, Kranken und Gefallenen sowie beachtete oder genutzte Auswege für den Fall ihre Identifizierung, ihre Sammlung, ihre Ber- an, dass eine Konfliktpartei medizinisches Per-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 24 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss sonal schwer bewaffnen und auch an Kampf- überhaupt durch das Kriegsvölkerrecht gere- handlungen teilnehmen lassen will. Allerdings gelt ist. Die Konflikte der neueren Zeit sind in wird diese Maßnahme mit gleichzeitig entste- der weit überwiegenden Zahl der Fälle von henden Nachteilen „erkauft“, warum sie wohl nichtinternationalem Charakter und können auch nur extrem selten genutzt wird. die Schwelle zur Geltung des Kriegsvölker- rechts nicht überschreiten. Letztlich ist dann Das Kriegsvölkerrecht zwingt die Nationen die Forderung nach Veränderung des Kriegs- nämlich nicht automatisch dazu, jemanden völkerrechts auf der Grundlage von Erfahrun- nur aufgrund seiner medizinischen Ausbildung gen aus Konflikten, die hiervon nicht erfasst zu einem Sanitäter zu machen. Sanitäter sind sind, der berühmte Vergleich von Äpfeln mit zwar nach Kriegsvölkerrecht geschützt, aber Birnen. In Fällen, die also nicht durch das eben nicht mit dem Kombattantenprivileg Kriegsvölkerrecht erfasst sind, ist es eine Frage ausgestattet. Entfällt dieser Verwaltungsakt nationalen Rechts oder anderer Beschrän- der Beauftragung mit ausschließlich -medi kungen außerhalb der Grenzen des Kriegs- zinischen Aufgaben sowie die dazugehörige völkerrechts, wer aktiv an Kampfhandlungen Kennzeichnung mit dem internationalen teilnehmen darf und wer nicht. Eine Änderung Schutzzeichen und damit die Beanspruchung des Kriegsvölkerrechts wäre hierdurch jeden- des vorgesehenen Schutzes durch die Rege- falls nicht gerechtfertigt. lungen des Kriegsvölkerrechts, steht einer schweren Bewaffnung und der Teilnahme an Aber gehen wir einmal davon aus, das Kriegs- Kampfhandlungen im Rahmen der Kampf- völkerrecht wäre betroffen. Dann wäre dennoch truppe nichts im Wege. zu überprüfen, was wirklich zu Vorkommnissen führte: Vorsatz des Gegners, konkret Sanitäts- Auch wenn das Kriegsvölkerrecht also eine kräfte zu treffen, oder z. B. unmittelbare Nähe Wahlmöglichkeit offenlässt, so steht diese der Sanitätskräfte und ihrer Einrichtungen zur Entscheidung doch nicht dem Einzelnen (1. Kampftruppe und/oder deren Einrichtungen Genfer Abkommen, Art. 7), sondern nur den und Gerät, unglückliche Umstände, militäri- Zurück zum Inhaltsverzeichnis Organen des Staates bzw. den entsprechen- sche Notwendigkeit? Denn es kann auch zu den Entscheidungsebenen der Streitkräfte zu. einem missbräuchlichen oder den Angriff pro- Angriffe auf Sanitäter – welches Recht gilt? vozierenden wie auch fahrlässigen Verhalten der eigenen Truppe gekommen sein, wie z. B. Keinesfalls lassen sich aber gerade in asymme- durch die mit Waffengewalt erzwungene Ber- trischen Konflikten Taktiken ausschließen, ins- gung von Verwundeten im Gefecht, die Teil- besondere Sanitätskräfte zu bekämpfen, um nahme von militärmedizinischen Personal an damit letztlich den Einsatz- und Risikowillen Patrouillen und an Wachdiensten in nichtsani- der kämpfenden Truppe zu treffen. Ein Infante- tätsdienstlichen Einrichtungen. rist überlegt es sich im Gefecht natürlich zwei- mal, ein Risiko einzugehen, wenn er weiß, dass Die Liste der Gefährdungen für Sanitätsper- er im Falle der Verwundung nicht unmittelbar sonal, mit dem Kriegsvölkerrecht und/oder und kompetent versorgt werden kann. nationalem Strafrecht in Konflikt zu geraten, ist lang. Sie umfasst auch Themen wie die Teil- Auch hier muss aber bei der Frage, ob diese nahme an oder Absicherung von „harschen“ Taktiken in asymmetrischen Konflikten ein Verhörmethoden sowie die Bevorzugung von Grund für Veränderungen am Kriegsvölker- eigenem militärischem Personal bei der medi- recht sein können, zunächst wieder geklärt zinischen Behandlung. Insbesondere der letzte werden, ob der zugrunde liegende Konflikt Punkt wird vorzugsweise durch die militärisch

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 25 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

überlegenen Kräfte gefordert, und gerade hier grundsätze im Hinblick auf Ausrüstungs- und muss der Forderung der Gedanke entgegenge- Kräfteansatz haben. halten werden „Was Du nicht willst, was man Damit werden aber doch gerade diejenigen Dir tu, das füg auch keinem anderen zu“. Werte der internationalen Gemeinschaft zum So wird, wie auch zu anderen Diskussions- größten Teil unnötigerweise über Bord gewor- punkten, vielfach übersehen, dass Verände- fen, zu deren Verteidigung viele der gerade rungen an den Rechten und Pflichten aus dem heutzutage geführten Konflikte – zumindest Kriegsvölkerrecht immer in zwei Richtungen offiziell – eingegangen werden. wirken: Gegen den Gegner zum einen und in Es erscheint daher dringend geboten, im Sinne die eigene Richtung zum anderen. Wenn man der Erhaltung humanitärer Grundsätze sowie also einen Kombattanten fragt, ob er – egal nicht zuletzt zum Schutz von Sanitätspersonal ob durch eigene oder Feindeskräfte – nach vor Strafverfolgung die Anstrengungen für die Nationalität oder nach medizinischer Notwen- Ausbildung und den Erhalt des Wissens in die- digkeit behandelt werden möchte, scheint es sen Bereichen weiter auf- und auszubauen. plausibel, dass er Letzteres vorzieht. Eine in diesem Rahmen argumentierte Legitimierung Cord von Einem ist Jurist, durch „militärische Notwendigkeit“ existiert Unternehmer und - jedenfalls im Kriegsvölkerrecht nicht. Diese der Reserve (d. R.). hat ihre Bedeutung in anderen Bereichen des Derzeit ist er eingeplant Kriegsvölkerrecht, nicht aber bei den Rege- als Gruppenleiter Bundes- wehraufgaben beim Streit- lungen über den Zugang zu medizinischer kräfteamt in Bonn. Er hat Versorgung. Einsatzerfahrung aus vier Einsätzen, davon zwei in Af- Fazit ghanistan als Abteilungsleiter Derzeit kann sich nach Lage der Dinge wohl Civil Military Cooperation

(CIMIC)/Zivil-Militärische Zurück zum Inhaltsverzeichnis kaum eine Nation und können sich nur wenige Zusammenarbeit (ZMZ) in Angehörige der Sanitätskräfte frei von Defiziten Mazar-e Sharif 2007 und Kunduz 2009. Außerdem wurde in der Ausbildung des für Sanitäter wichtigen er u. a. als Querschnittsreferent ZMZ im Einsatzfüh- Teils des Kriegsvölkerrecht sprechen. Dabei rungsstab des BMVg und als stellvertretender Abteilungs- überschreiten die Defizite die Grenzen der leiter ZMZ im Heeresführungskommando eingesetzt. Vertrautheit mit Gesetzen und berühren ganz Weiter war er Projektleiter beim Civil-Military Coope- offensichtlich die ethischen Wurzeln bezüglich ration Center of Excellence (CCOE) in den Niederlanden sowie Ausbilder für Kriegsvölkerrecht am Reference Cen- der Rolle des Sanitäters in gewaltsamen, mili- ter of Education of International Humanitarian Law and tärischen Konflikten und damit grundsätzlich Ethics des International Committee on Military Medicine auch das Selbstverständnis des militärmedizi- (ICMM) in der Schweiz. nischen Personals. Teils drängt sich dabei der Eindruck auf, dass seitens der Streitkräfte Defizite nicht zuletzt aus Haushaltsgründen bewusst in Kauf genommen werden, zumal Unwissenheit den Sanitäter im Konfliktfall flexibler einsetzbar macht, gerade wenn politische und haushäl- terische Vorgaben Auswirkungen auf Einsatz-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 26 Kameraden zuerst? Militärische vor medizinischer Notwendigkeit von Prof. Dr. Michael L. Gross Im Hinblick auf Militärmedizinethik erklärt der schen Grundsätze ohne jede Unterscheidung: Weltärztebund (WMA): Jeder Patient, ob Militärangehöriger oder Ärztliche Ethik in Zeiten bewaffneter Konflikte Zivilist, wird gemäß dem Prinzip der medizini- oder anderer Notsituationen unterscheidet sich schen Notwendigkeit versorgt und erhält eine nicht von der ärztlichen Ethik in Friedenszeiten. Behandlung auf der Grundlage des jeweiligen Was genau hat es mit der Erklärung auf sich, nationalen Gesundheitsplans, welcher lebens- wonach sich die medizinische Ethik auch in rettende Maßnahmen auf der einen und die Zeiten bewaffneter Konflikte nicht ändert? Eine Aufrechterhaltung der Lebensqualität auf der mögliche Antwort könnte in der allgemeinen anderen Seite vorsieht. Ein anderes Vorgehen Gültigkeit medizinethischer Grundsätze liegen. könnte den Vorwurf der Voreingenommen- Danach sind Normen wie das Do-no-harm- heit und Parteilichkeit nach sich ziehen. Ganz Gebot der Schadensvermeidung, die Pflicht anders jedoch stellt sich die Situation in Kriegs- zur neutralen und unparteiischen Versorgung zeiten und insbesondere auf dem Gefechtsfeld von Kranken und Verletzten und zur Achtung dar. Hier kann das Prinzip der militärischen der Würde, Autonomie und Privatsphäre der Notwendigkeit unter Umständen mit dem Patienten unabhängig von der jeweiligen Situ- Prinzip der medizinischen Notwendigkeit kol- ation unbedingt zu achten. Ob in der Psychia- lidieren und manchmal auch vorrangig sein. trie, Neonatologie, Pädiatrie oder Geriatrie: Es Im Folgenden erläutere ich zunächst das Prin- gelten stets dieselben ethischen Grundsätze. zip der militärischen Notwendigkeit und führe Zurück zum Inhaltsverzeichnis Die Umstände mögen unterschiedlich sein anschließend aus, wie sich dieses auf die Ver- und der Zustand der Patienten ebenfalls, doch sorgung und Rechte von Patienten im Kriegs- die ärztliche Ethik ändert sich nicht. fall auswirkt. Man mag hier – genau wie der Weltärztebund Der Unterschied zwischen medizinischer – versucht sein, die Militärmedizinethik der- und militärischer Notwendigkeit selben Logik zu unterziehen und militärische Militärische Notwendigkeit wird häufig defi- Einsatzkräfte einfach als eine weitere Patien- niert als „die Methoden und Mittel, die notwen- tengruppe zu betrachten. In Friedenszeiten dig sind, um einen Feind zu überwältigen, und trifft dies auch zu. So erfahren Militärangehö- die nicht vom Völkerrecht verboten sind“ (Gen- rige und ihre Familien in vielen Ländern die fer Konvention, Zusatzprotokoll I, 1977, Artikel gleiche medizinische Versorgung in militär- 35). In dieser Definition liegen zwei Schwie- medizinischen Einrichtungen wie Zivilisten im rigkeiten: Zum einen werden die möglichen Rahmen des jeweiligen nationalen Gesund- rechtmäßigen Ziele eines Krieges außen vor heitssystems. In vielen Fällen kommt es dabei gelassen, zu deren Erreichung ein Feind über- sogar zu Überschneidungen, insbesondere wältigt wird. Manchmal ist es zwar notwendig, wenn staatliche Krankenhäuser sowohl Mili- die Kriegsziele eines Landes rechtlich nicht zu tärangehörige als auch Zivilisten behandeln. berücksichtigen, da die Frage der Rechtmäßig- In solchen Situationen gelten die medizinethi- keit in der Praxis häufig nur schwer zu -beur

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 27 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

teilen ist. Deshalb behandelt das Recht alle Militärische Not- Medizinische Not- Kämpfer auf dem Gefechtsfeld gleich, solange wendigkeit wendigkeit sie keine Kriegsverbrechen begehen. Mora- Kollektiv/national Individuell/kollektiv lisch hingegen gibt es durchaus guten Grund, Lebensrettung Lebensrettung die militärische Notwendigkeit nur auf solche –– Leben der –– Leben aller Kriegsteilnehmer zu beschränken – ob Staaten Bürger Patienten –– Leben der Sicherung der oder nichtstaatliche Akteure wie Guerillaor- Soldaten Lebensqualität ganisationen –, die für eine gerechte Sache Was ist Sicherung der –– Qualitätskorri- kämpfen. Zu einer gerechten Sache gehören „gut”? Lebensqualität gierte Lebens- die Selbstverteidigung oder die Verteidigung –– Freiheit jahre (QALY) fremder Staatsangehöriger, die von schweren –– Hoheitsgebiet –– Wohlbefinden –– Sicherheit –– Normale Funkti- Menschenrechtsverletzungen ihrer eigenen onsfähigkeit Regierung bedroht sind (wie dies beispiels- –– Ehre weise in Libyen oder dem Kosovo der Fall Die Tabelle verdeutlicht zwei Punkte. Erstens war). Dieser Logik entsprechend könnte sich stellt die militärische Notwendigkeit die kol- ein repressives Regime wie Syrien nicht auf lektiven Interessen eines Staates oder Volkes die militärische Notwendigkeit berufen, um über die individuellen Interessen der meisten seine militärischen Operationen zu rechtferti- Bürger. Infolgedessen werden in Kriegszeiten gen. In diesem Fall wäre von vornherein keine Bürger üblicherweise zum Militärdienst ein- Notwendigkeit militärischen Handelns gege- gezogen und riskieren dabei ihr Leben zum ben. Zum anderen geht die Beschränkung der Schutz der nationalen Sicherheit. Um dieses militärischen Notwendigkeit auf völkerrecht- Ziel zu erreichen, müssen Entscheidungsträ- lich nicht verbotene Mittel und Methoden an ger, Politiker und Militärs das kollektive Wohl der eigentlichen Frage vorbei. Die kritische verteidigen. Die medizinische Notwendigkeit Frage lautet nämlich eigentlich: Wann kann hingegen ist komplett auf das Individuum aus- es einem Kriegsteilnehmer aufgrund mili-

gerichtet. Ärzte und Pflegekräfte richten sich Zurück zum Inhaltsverzeichnis tärischer Notwendigkeit überhaupt erlaubt nach den Bedürfnissen des jeweiligen Pati- sein, das Völkerrecht zu übergehen und auf enten. Um dies zu gewährleisten, muss das augenscheinlich unrechtmäßige oder unethi- nationale Gesundheitssystem ausreichende sche Kriegsmittel zurückzugreifen? Anders Mittel zur Verfügung stellen, damit alle Bürger gefragt: Kann es unter bestimmten Umstän- gleichermaßen entsprechend ihren medizini- den zulässig sein, das Völkerrecht oder einen schen Bedürfnissen versorgt werden können. medizinethischen Grundsatz zu verletzen, Dabei wird von keinem Bürger erwartet, dass er wenn dies militärisch notwendig ist? Die Ant- seine Interessen einer größeren, guten Sache wort lautet „manchmal“. Manchmal, wie ich opfert. Gleichwohl gibt es kollektive Zwänge. im Folgenden zeigen werde, kann es zulässig So müssen die für die medizinische Versor- sein, Soldaten nach ihrer Staatsangehörigkeit gung bereitgestellten Mittel irgendeinem Maß- und nicht nach militärischer Notwendigkeit stab von Gerechtigkeit entsprechen, der es zu behandeln. Um zu verstehen, wie es dazu dem Staat erlaubt, auch für andere grundle- kommt, müssen zunächst die militärische und gende Leistungen wie soziale Sicherung, Bil- die medizinische Notwendigkeit miteinander dung oder Sicherheit ausreichende Mittel zur verglichen werden. Verfügung zu stellen. Dementsprechend muss Die folgende Tabelle stellt militärische und die medizinische Versorgung ihrem Wesen medizinische Notwendigkeit gegenüber: nach begrenzt sein. Zudem darf der einzelne nicht das gesamte System in den Bankrott trei-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 28 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss ben können. Deshalb kann der Staat nicht jede Leid, Mobilität, alltägliche Funktionsfähigkeit Krankheit behandeln. Nichtsdestotrotz wird des Körpers sowie Zugang zu fortlaufender er aber versuchen, jedem Einzelnen die best- medizinischer Versorgung. Auch hier mag eine mögliche Behandlung zukommen zu lassen. Gesellschaft vielleicht Mittel zur Verbesserung Darum sind Ärzte und Pflegekräfte verpflich- der allgemeinen Lebensqualität bereitstellen, tet, ihre Patienten so gut und professionell wie andererseits aber auf die kostenintensivere möglich zu betreuen. medizinische Versorgung verzichten, die nur einige wenige Leben zu retten imstande ist. Die zweite Zeile der Tabelle betrifft die -Defi Für die Gewichtung von Lebensrettung und nition des „Guten“, dem die genannten Not- Lebensqualität gibt es keine verbindlichen wendigkeiten zugeordnet sind. Sowohl bei der Regeln. Vielmehr entscheidet hier jede Gesell- militärischen als auch bei der medizinischen schaft selbst – auf der Grundlage der univer- Notwendigkeit geht es darum, möglichst viele sellen Menschenrechte und ihrer nationalen Leben (bestimmter Einzelpersonen) zu retten Prioritäten und Wertvorstellungen. Nichtsdes- sowie eine möglichst hohe Lebensqualität totrotz gibt das politische Leben den Rahmen (anderer Einzelpersonen) sicherzustellen. Die für die Wahrung des individuellen Lebens vor Kriterien hierfür jedoch unterscheiden sich und wird deshalb häufig Vorrang haben, wenn jeweils. Im Krieg zwingt die militärische Not- diese beiden Interessenslagen in Konflikt gera- wendigkeit den Staat, Soldaten für die Rettung ten. Im Krieg ist dies häufig der Fall. von Zivilisten zu opfern, während die medi- zinische Notwendigkeit üblicherweise keine Das Verhältnis zwischen militärischer und Unterscheidung trifft, wessen Lebensrettung medizinischer Notwendigkeit ist komplex, prioritär zu betrachten wäre. Die medizinische da hier unterschiedliche Interessen (kollek- Notwendigkeit bezieht sich auf alle Patienten. tive und individuelle) sowie unterschiedliche Gleichzeitig sollen die militärische und die Güter (Leben und Lebensqualität im militäri- medizinische Notwendigkeit jeweils für eine schen/politischen/medizinischen Sinne) auf- möglichst hohe Lebensqualität sorgen. Aber einanderprallen. Um das Verhältnis zwischen Zurück zum Inhaltsverzeichnis auch hier wird jeweils eine andere Art Leben den beiden Arten von Notwendigkeit sowie verteidigt. So verteidigt der Staat sein kollekti- ihre Auswirkungen auf das Völkerrecht bes- ves, politisches Leben, wohingegen die medi- ser verstehen zu können, ist ein Blick auf die zinische Notwendigkeit das Menschenleben beiden Grundsätze in der Praxis lohnenswert. Einzelner retten oder verbessern will. Dement- Betrachten wir als Beispiel die medizinische sprechend unterscheidet sich auch der Begriff Versorgung von Verwundeten. Es stellt sich der Lebensqualität in der militärischen bzw. die Frage: Dürfen medizinische Fachkräfte auf- medizinischen Notwendigkeit. Die Qualität grund militärischer Notwendigkeit ihre Lands- des politischen Lebens hängt von vielen Din- leute zuerst behandeln, statt sich nach dem gen wie Freiheit, staatlichem Hoheitsgebiet, Grundsatz der medizinischen Notwendigkeit Sicherheit und Ehre ab, deren Wert im Krieg zu richten, wie es die medizinethischen Grund- häufig höher gestellt wird als der des einzel- sätze vorsehen? nen Menschenlebens: Wie viele Leben ein Medizinische Versorgung von Landsleuten Land für diese Güter riskieren will, ist eine Ent- im Kriegsfall scheidung, die die Politik bei Eintritt in einen Krieg treffen muss. Lebensqualität im medizi- Die eiserne Regel für die medizinische Versor- nischen Sinne ist selbstverständlich konkreter gung im Krieg ist klar: und umfasst die Maßstäbe Freude, Schmerz,

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 29 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

„Die Angehörigen der bewaffneten Kräfte [...] Diese Priorität kippt den ethischen Grund- die verwundet oder krank sind, sollen [...] mit satz der neutralen Behandlung, die allein den Menschlichkeit behandelt und gepflegt wer- den, ohne jede Benachteiligung aus Gründen medizinischen Bedürfnissen folgt. des Geschlechtes, der Rasse, der Staatsange- hörigkeit, der Religion oder aus irgendeinem Auch die seit 2001 im Irak und in Afghanistan ähnlichen Grunde [...] Nur dringliche medizini- durchgeführten medizinischen Interventionen sche Gründe rechtfertigen eine Bevorzugung in der Reihenfolge der Behandlung.“ (1. Genfer haben vor allem militärische Notwendigkeiten Abkommen 1949, Artikel 12) im Blick. Auch wenn die Militärorganisationen Notfall-Triagierungspläne zur Priorisierung der Um Missverständnisse zu vermeiden, weist der Behandlungen einsetzen, treten die morali- Kommentar zu Artikel 12 auf Folgendes hin: schen Härtefälle eher selten sein, bei denen Jede Kriegspartei muss verwundete Gegner so entschieden werden muss, ob das Leben behandeln, wie sie die Verwundeten ihrer eige- schwer verwundeter Soldaten gerettet wird nen Armee behandeln würde. oder die leicht verwundeten Soldaten wieder Die militärmedizinischen Fachkräfte kennen einsatzbereit gemacht werden. Weitaus häufi- zwar diese Vorgabe, sind aber an eine weitere ger stellen sich Fragen hinsichtlich der Versor- Regel ebenfalls gebunden: „Die Versorgung gung im Kreuzfeuer verletzter einheimischer von Landsleuten geht vor.“ Die Gründe für Zivilisten oder hinsichtlich der medizinischen die Bevorzugung von Landsleuten gegenüber Behandlung einheimischer Einsatzkräfte, die Feinden liegen in der militärischen Notwen- an der Seite der US- und NATO-Truppen im Irak digkeit sowie in der Verpflichtung, das Leben und in Afghanistan kämpfen. der eigenen Landsleute in einer Gefahrenlage Um ihre Soldaten zu unterstützen, bietet bei- zu bewahren. spielsweise die US-Armee eine medizinische Sämtliche militärmedizinische Organisationen Versorgung auf mehreren Ebenen an. So leis- erkennen an, dass Ärzte aufgrund der Gege- tet die Battalion Aid Station (Sanitätsstelle des Bataillons) Erste Hilfe und übernimmt den

benheiten im Gefechtsfeld die knappen medi- Zurück zum Inhaltsverzeichnis zinischen Ressourcen unter Umständen zuerst Krankentransport, während das 20 Personen den Soldaten zukommen lassen müssen, die umfassende Forward Surgical Team (mobile schnell wieder auf das Gefechtsfeld zurück- Operationseinheit) die sofortige Behandlung, kehren können, und erst dann sonstige Patien- Operation und Evakuierung zu einem Combat ten behandeln können, deren Leib und Leben Support Hospital (Feldkrankenhaus) mit 248 in Gefahr ist. Ein häufig zitierter Fall ist hier Betten übernimmt, das Reanimation, rekon- die „Penicillin-Triage“ im Zweiten Weltkrieg: struktive Chirurgie und intensivmedizinische 1942 setzten Militärärzte das knappe Penicil- sowie psychiatrische Behandlung bietet. Falls lin zur Behandlung der an Gonorrhö erkrank- erforderlich, erhalten die Verwundeten zudem ten Soldaten ein, um diese schnellstmöglich eine hochmoderne Behandlung in Deutsch- zurück in den Kampf zu schicken. Erst danach land im umfassend ausgestatteten Trauma- behandelten sie die im Gefecht verwundeten zentrum Landstuhl oder in den USA. kampfuntauglich gewordenen Soldaten.1 Hier Dieses System wurde konzipiert, um US-Sol- ist die Situation klar. Die militärische Notwen- daten die bestmögliche medizinische Versor- digkeit verlangt, dass weniger schwer verwun- gung bieten zu können. Daneben kümmern dete Soldaten behandelt werden, die noch sich die medizinischen Einrichtungen der einen wesentlichen Beitrag zum Kriegsgesche- US-Streitkräfte aber auch um einheimische hen leisten können – zulasten der Soldaten, Soldaten und Zivilisten, die bei amerikani- die lebensrettende Maßnahmen benötigen.

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 30 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss schen Militäroperationen verwundet wurden. jeweils eine andere Versorgung für die glei- Während aber schwer verwundete Ameri- chen Verletzungen. kaner in moderne medizinische Einrichtun- Das Beispiel verdeutlicht, dass es nicht immer gen ausgeflogen werden, müssen sich die möglich ist, die Verwundeten streng nach Schwerverletzten des lokalen Militärs für wei- medizinischen Bedürfnissen zu behandeln. tere medizinische Hilfe an ein nur schlecht Die Verfügbarkeit von Ressourcen zur Weiter- funktionierendes Gesundheitssystem vor Ort und Nachbehandlung – die eindeutig von der wenden. Dieses zweigleisige System begrenzt Staatsangehörigkeit der Patienten abhängt den Zugang einheimischer Verwundeter zur – bestimmt von Anfang an die weitere medi- medizinischen Versorgung und auch beispiel- zinische Versorgung der Verwundeten. Gleiche weise zu hochqualitativen Prothesen, sodass Fälle werden dabei nicht gleich behandelt, sie nicht die gleichen reparativen Operationen und vielleicht ist dieses Vorgehen auch rich- wie US-Soldaten im Einsatz erhalten. Noch tig. Dieser Ansatz verstößt allerdings eindeu- schlechter ergeht es den einheimischen Zivi- tig gegen die Neutralitätsklausel der Genfer listen. Die Koalitionsstreitkräfte unterhalten Konventionen, der zufolge die medizinische keine Versorgungseinrichtungen für Zivilis- Versorgung sich strikt nach den medizinischen ten am Einsatzort und sehen sich manchmal Bedürfnissen richten soll. Und obgleich einige gezwungen, diese Patienten abzuweisen. wissenschaftliche Meinungen diese Pflicht zur Nichtsdestotrotz behandeln die Streitkräfte Wahrung der Neutralität und unterschieds- der Koalition ins Kreuzfeuer geratene Zivilis- losen Behandlung als absolut ansehen,2 gibt ten insoweit, als „Leben, Leib und Augenlicht“ es im Krieg doch Situationen, die diese Sicht- einheimischer Verwundeter gerettet werden. weise in Frage stellen. Erstens kann bei knap- Dabei geht es vor allem um Erste Hilfe. Einrich- pen Ressourcen die Pflicht zur Behandlung der tungen für Nachuntersuchungen oder dauer- Soldaten, die sich am besten wieder ins Kriegs- hafte Pflege sind hingegen kaum vorhanden. geschehen einbringen können, die Pflicht zur Allerdings gibt es zwei besondere Situatio- 3 Rettung von Leben aufheben. Zweitens pflegt Zurück zum Inhaltsverzeichnis nen. Erstens stellen pädiatrische Fälle eine das medizinische Personal womöglich eine besondere Herausforderung dar. Aus Sorge Ethik der Kameradschaft, auch Fürsorgeethik um die zu erwartenden negativen Schlag- genannt, und behandelt zunächst die eigenen zeilen, falls Kindern nicht die bestmögliche Soldaten unabhängig von der Schwere ihrer medizinische Versorgung zukäme, bieten die Verletzungen, da es seinen Landsleuten gegen- medizinischen US-Einrichtungen umfassende über eine besondere Verpflichtung verspürt. und moderne Behandlungen für Kinder an. Die zweite und nicht weniger problematische Das Pflichtgefühl gegenüber Kameraden zeigt Situation betrifft die Versorgung von- Häft gleichzeitig, wie weit das Prinzip der militäri- lingen. Als Kriegsgefangene haben Häftlinge schen Notwendigkeit reicht. Hierzu sei folgen- Anspruch auf die gleiche Behandlung wie die der Fall angeführt: Soldaten der Koalitionsstreitkräfte und erhal- Ein US-Soldat und ein verbündeter Soldat ten deshalb sogar eine bessere Versorgung im der irakischen Armee erleiden beide eine Einsatzland als die alliierten Streitkräfte. Dem- Schussverletzung in der Brust. Beide weisen eine geringe Sauerstoffsättigung des Blutes entsprechend gibt es mindestens vier oder fünf auf. Das Lidocain für die Lokalanästhesie verschiedene Klassen von Patienten: Soldaten reicht nur für einen Patienten, und es gibt nur der Koalition, Häftlinge, einheimische Solda- einen Katheter zum Einführen in die Brust. Üblicherweise erhält einer der Patienten einen ten, einheimische Zivilisten und manchmal Thoraxkatheter mit lokaler Betäubung, der auch Kinder. Diese Patientengruppen erhalten andere eine Nadeldekompression des Thorax

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 31 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

in Verbindung mit einer Betreuung durch einen während andere, deren Behandlung auch 4 Flugsanitäter. später erfolgen könnte, sofort versorgt wer- Welcher Patient erhält nun den Thoraxkatheter den. Die Logik dahinter ist utilitaristisch und und die lokale Betäubung und warum? moralisch korrekt, denn ohne eine Umkehr der Als die Teilnehmer eines amerikanischen Behandlungsreihenfolge leidet die Intaktheit Workshops gefragt wurden, wie sie die Frage der Truppe und somit die militärische Schlag- beantworten würden, war die Antwort eindeu- kraft. Das Ergebnis – die Niederlage – wird als tig: „Der verwundete Amerikaner.“ Als ich fragte der schlimmste vorstellbare Fall betrachtet. warum, klang ihre Antwort ebenso selbstbe- Mit dieser Argumentation rücken auch die ver- wusst: „Because he’s our brother!“ („Weil er letzten Soldaten des Feindes an das Ende der unser ‚Bruder‘ ist!“) Warteschlange. Es scheint also, dass das militärmedizinische Eine ähnliche, aber weitaus komplexere Logik Personal im Hinblick auf die Genfer Konventi- steht hinter der Entscheidung im oben ange- onen geteilter Meinung ist. Auf der einen Seite führten Fall, zunächst den eigenen Kameraden wird das Prinzip der unparteiischen medizini- zu behandeln. Dabei sind die beiden Patien- schen Hilfe angewandt. Auf der anderen Seite ten im genannten Szenario sogar Verbündete wird eine hiermit im Widerspruch stehende und keine Feinde. Der militärische Nutzen und oftmals stärkere Pflicht wahrgenommen, der Rettung des einen oder des anderen wäre die eigenen Landsleute bestmöglich medizi- vermutlich gleich. Dennoch sprechen sich die nisch zu versorgen. Das erste Prinzip bedarf medizinischen Fachkräfte eindeutig für ihren keiner großen Rechtfertigung. Schließlich Landsmann aus. beruhen ärztliche Integrität und medizinische Ein Grund für dieses Verhalten ist eindeu- Wirksamkeit darauf, dass zuerst die dringlichs- tig utilitaristischer Natur. Schon seit Langem ten Fälle – unabhängig von Rang, Geschlecht kennen Militärsoziologen die Wichtigkeit der und Nationalität – behandelt werden. Aber sogenannten primären Bindungen (primary Zurück zum Inhaltsverzeichnis auch das zweite Prinzip scheint überzeugend: bondings) zwischen Soldaten und Vorgesetz- Armeen ziehen in den Krieg, um zu gewinnen. ten, insbesondere auf Zugebene (Einheiten Um zu gewinnen, bedarf es einer gesunden mit 40 bis 50 Soldaten). Primäre Bindungen Truppe, und eine gesunde Truppe wiederum beginnen mit Teamarbeit und gegenseitiger bedarf einer hervorragenden medizinischen Abhängigkeit und entwickeln sich langsam hin Versorgung. Deshalb ist es vorteilhaft und auch zu Vertrauen, Loyalität, gemeinsamen Zielen, korrekt, bei knappen Ressourcen zuerst die gegenseitiger Hilfe und Aufopferung. Kleine eigenen Landsleute zu behandeln. Aus diesem Militäreinheiten stellen nicht einfach nur eine Grund ändern viele Streitkräfte bei der Triage Ansammlung von gut koordinierten, eigennüt- im Gefechtsfeld, bei der Zuteilung von Peni- zig handelnden Individuen dar, sondern viel- cillin im Krieg und bei knappen Ressourcen mehr eine enge Gemeinschaft von Kameraden, zulässigerweise die Reihenfolge der Behand- die sich durch eine neue Identität auszeichnen: lung. Anstatt die medizinisch vordringlichen Sie sind Kampfgefährten. Angesichts solcher Fälle zuerst zu behandeln, kümmern sich die Verbundenheit ist die bevorzugte Behandlung medizinischen Fachkräfte zunächst um dieje- von Kameraden militärisch vorteilhaft, da dies nigen, die am schnellsten auf das Gefechts- die moralische Integrität und die Kampfkraft feld zurückkehren können. Entsprechend der Einheit aufrechterhält. versterben einige Patienten, die eigentlich erfolgreich hätten behandelt werden können,

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 32 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Es gibt jedoch noch eine weitere Pflicht, die Frage ist zweifelsohne berechtigt, aber bei der einige militärmedizinische Fachkräfte ebenso Fürsorgeethik geht es nicht um Gerechtigkeit. stark bindet wie die medizinethischen Grund- Vielmehr sollen sich Freunde und Familien- sätze. Diese Pflicht geht über die utilitaristische mitglieder gegenseitig helfen, ohne dafür eine Gerechtigkeit und die damit verbundene Beto- Gegenleistung zu erwarten; häufig geschieht nung einer effizienten und fairen Verteilung dies unter großen persönlichen Mühen und in knapper Ressourcen hinaus. Sie unterstreicht dem Bewusstsein, dass die gleiche Hilfe einem vielmehr die besondere Beziehung, die Indi- Fremden mehr Nutzen bringen könnte. Ist das viduen mit den Personen in ihrem Umfeld Leben der eigenen Familie oder der eigenen verbindet, welchen gegenüber sie eine beson- Freunde in Gefahr, dann ist die übermäßige dere Verpflichtung zur Hilfeleistung verspüren, Beschäftigung mit der möglichen Rettung unabhängig vom Aufwand und von anderen, eines Fremden „ein Gedanke zu viel“, formu- konkurrierenden Anforderungen. lierte Bernard Williams einst so treffend. Ist die medizinische Versorgung von verwunde- Es ist leicht nachvollziehbar, dass eine bevor- ten Feinden demnach „ein Gedanke zu viel“? zugte Behandlung von Familie und Freunden Wenn Militäreinheiten wie Familien erlebt als grundlegende moralische Verpflichtung werden, kann die bevorzugte Behandlung von wahrgenommen wird. So erwartet niemand Landsleuten moralisch genauso geboten sein von Eltern, dass sie sich in besonderer Weise wie die bevorzugte Behandlung von Familien- um andere Menschen kümmern, bevor sie ihre mitgliedern. Die Bindungen unter Kampfge- eigenen Kinder versorgt haben. Auch Freunde fährten unterscheiden sich nicht von denen nehmen besondere Verpflichtungen fürein- unter Familienmitgliedern oder Freunden ander wahr, die sie gegenüber Fremden nicht und implizieren die bedingungslose einseitige verspüren. Hier handelt es sich um etablierte Pflicht, einander in der Not zu helfen. intuitive Wahrnehmungen, die unterstreichen, was die Philosophin Virginia Held als Fürsorge- Übertragen auf die Situation im Gefechtsfeld, ethik bezeichnet. Die Fürsorgeethik bezeichnet hat die Fürsorgeethik wichtige Auswirkun- Zurück zum Inhaltsverzeichnis eine bedingungslose gegenseitige Verpflich- gen. Dazu seien drei verschiedene Szenarien tung zwischen Menschen, die in einer ganz angeführt. besonderen Beziehung zueinander stehen: Der Gleiche Verletzungen eine bietet die lebenserhaltende Behandlung an, auf die der andere angewiesen ist. Die Für- Beim genannten Beispiel aus dem Irak haben sorgeethik steht eher für eine emotionale denn beide Soldaten die gleichen Verletzungen und für eine vertragliche Bindung. Es geht hier um die gleiche Überlebenschance. Sie sind Ver- „persönliche Anteilnahme, Loyalität, Interesse, bündete, und die bevorzugte Lebensrettung Mitgefühl und Offenheit für die Einzigartigkeit, eines bestimmten Soldaten bedeutet keinen die besonderen Bedürfnisse, Interessen [und] größeren militärischen Nutzen. Besteht eine Lebensgeschichte geliebter Menschen“. emotionale Bindung zu beiden Soldaten, könnte man eine Münze werfen, doch auch Diese besonderen, durch Präferenzen gelei- wenn das LottoPrinzip Unparteilichkeit ver- teten Verpflichtungen gegenüber Freunden, spricht, darf die moralische Komponente der Familienmitgliedern und Landsleuten wer- Pflichten nicht verkannt werden, die sich aus fen unvermeidlich Fragen der Verteilungsge- der Zugehörigkeit zu einer Primärgruppe erge- rechtigkeit auf: Was passiert, wenn Personen ben. Diese Pflichten sind nicht nebensächlich, außerhalb dieses Kreises die Versorgung und sollten aber dennoch nur als letzte Entschei- Aufmerksamkeit dringender benötigen? Diese

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 33 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss dungshilfe herangezogen werden, nachdem 2. Die Landsleute sind von Verstümmelung alle anderen unparteiischen Kriterien der oder Gliedmaßenverlust bedroht, aber die Verteilungsgerechtigkeit bereits abgefragt Feinde sind lebensgefährlich verletzt. wurden. In diesem Fall ist es dann moralisch Normalerweise wäre die moralische Wahl klar. zulässig, zuerst den Amerikaner zu behandeln, Zwei Leben zu retten ist besser, als ein Leben da er aus Sicht der behandelnden medizini- zu retten; Leben zu retten ist wichtiger, als schen Fachkräfte ein Kamerad ist. Gliedmaßen zu retten. Nichtsdestotrotz kann Extrem ungleiche Verletzungen die Fürsorgeethik ein anderes Urteil zulassen. In einigen Fällen kann es moralisch zulässig Sanitätssoldaten bestehen in einigen Fällen sein, das Leben eines Landsmannes anstatt darauf, dass sie erst die kleinste Wunde eines das Leben zweier oder mehrerer Fremder (ob Landsmannes behandeln würden, ehe sie sich Feinde oder Verbündete) zu retten. Ebenso um den Feind kümmern. Wenn man jedoch kann die Rettung von Gliedmaßen unter genauer darüber nachdenkt, wird klar, was Umständen als wichtiger eingestuft werden als sie damit meinen: Sie werden erst den Lands- die Rettung von Leben. mann stabilisieren und sich dann um den Feind kümmern, wenn die Verwundung des Lands- Wie ist das möglich? Zum einen wird ein Eltern- mannes nur geringfügig ist und der Feind eine teil – der zwingenden Logik der Fürsorgeethik schwere oder sogar lebensbedrohliche Ver- folgend – das Leben seines eigenen Kindes letzung aufweist. In diesem Fall wird die Für- über die Rettung vieler anderer Menschenle- sorgeethik von einer anderen Regel verdrängt, ben stellen. Der Grundsatz der Wohltätigkeit, nämlich der Rule of Rescue, d. h. der Verpflich- die Pflicht, anderen zu helfen, wird erheblich tung, anderen zu helfen, wenn der Aufwand abgeschwächt, wenn der Preis dem Retter zu vertretbar und die Gefahr für einen Fremden hoch erscheint. Dies wird der Fall sein, wenn sehr groß ist. Auf dem Gefechtsfeld hingegen der Retter Gefahr läuft, sein Kind oder ein ist die relative Schwere der Verletzung eines anderes Mitglied seiner Primärgruppe zu ver- Zurück zum Inhaltsverzeichnis Soldaten für einen Feldsanitäter ohne umfas- lieren. Wenn Leben in Gefahr sind, wird unser sende Diagnosemittel oder -kenntnisse unter Verpflichtungsgefühl gegenüber Freunden und Umständen nicht ohne weiteres erkennbar. Familie offenkundig. Auch die Möglichkeit, Das kann dazu führen, dass Sanitäter sich an das Leben vieler Fremder retten zu können, den Prinzipen orientieren, die für Verletzungen wird uns nicht wichtiger erscheinen als unsere gleicher Schwere oder Verletzungen, die sich Pflicht als Eltern (oder Soldaten), das Leben nur unwesentlich unterscheiden, gelten. Beide unserer eigenen Kinder (oder Landsleute) zu Fälle können die bevorzugte Behandlung von retten. Landsleuten rechtfertigen. Droht der Verlust von Gliedmaßen, sind meh- Mäßig ungleiche Verletzungen rere Szenarien denkbar. Nehmen wir beispiels- weise an, künstliche Gliedmaßen könnten die Diese Fälle sind die schwierigsten. Hierzu seien körperliche Funktionsfähigkeit des Patienten die folgenden zwei Umstände betrachtet: zum Großteil wiederherstellen. Dann wäre aus 1. Es stehen ausreichende medizinische Mittel Sicht der Mediziner die Rettung der Gliedma- zur Verfügung, um das Leben eines Lands- ßen des eigenen Landsmannes nicht höher zu mannes oder zweier (oder mehrerer) Feinde bewerten als die Lebensrettung des Feindes. zu retten. Denkbar ist aber auch eine Situation, in der ein Verlust von Gliedmaßen die Aussicht auf ein würdevolles Leben stark beeinträchtigen

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 34 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss würde. In diesem Fall kann die aus primären nicht die Behandlung des Feindes abbrechen, Bindungen resultierende Verpflichtung es um sich um die eigenen Soldaten zu küm- rechtfertigen, die Rettung von Gliedmaßen der mern. Abgesehen von der berechtigten Sorge, Rettung von Leben vorzuziehen. dass ein Einstellen der Hilfe gleichbedeutend mit Mord wäre, liegt außerdem auf der Hand, Vorsicht vor dem Argument der schiefen „ dass medizinisches Personal eine besondere Ebene“ Beziehung zum Patienten eingeht, sobald es Es sei an dieser Stelle davor gewarnt, Freun- mit der Behandlung eines verwundeten Sol- den und Familienangehörigen zu viel Gewicht daten beginnt. Diese neue Beziehung bringt beizumessen. Auch wenn primäre Bindungen wiederum neue, deutlich wahrgenommene sowohl für einen effektiven Kampf als auch für Fürsorgepflichten mit sich, die nicht einfach die Verfestigung besonderer, übergeordneter vernachlässigt werden können. moralischer Verpflichtungen unter Gruppen- Wenn die Ressourcen beschränkt sind, sieht angehörigen von essenzieller Bedeutung sind, sich die Militärmedizin mit schwierigen mora- rechtfertigen sie weder das rücksichtslose lischen Problemen konfrontiert. Selbst bei Übergehen grundlegender moralischer Nor- einer Finanzierung durch ein finanziell gut men noch deren Vernachlässigung. Die Für- situiertes Land wie die USA unterliegt die sorgeethik sieht vor, dass Ärzte, Pfleger und medizinische Versorgung in Kriegszeiten Sanitätssoldaten neben der medizinischen der Ressourcenknappheit. Unter solchen Versorgung ihrer Landsleute auch Fremde in Umständen sind Ärzte und Pflegekräfte häufig Notlagen betreuen und die grundlegenden zwischen rechtlichen Normen und der Fürsor- Menschenrechte hochhalten. Held bezeich- geethik hin- und her gerissen. Dieses Dilemma net dies als das „moralische Minimum“ der lässt sich nicht leicht lösen, aber in Fällen wie Versorgung. den oben beschriebenen sollten Sanitäter, Sanitätssoldaten erkennen dies an, wenn sie Pfleger und Ärzte keine moralischen Beden- von ihrer Bereitschaft berichten, schwer - ver ken haben, zunächst ihre eigenen Landsleute Zurück zum Inhaltsverzeichnis wundete feindliche Soldaten zu stabilisieren medizinisch zu versorgen. oder mit Beruhigungsmitteln zu versorgen, Fazit nachdem sie sich zuvor um die weniger schwe- ren Verletzungen ihrer Landsleute gekümmert Der Krieg stellt die Medizinethik vor besondere haben. Damit ist auch erklärt, warum medizi- Herausforderungen, da militärische Notwen- nische Fachkräfte womöglich zwar zunächst digkeiten und besondere Fürsorgepflichten verwundete Landsleute und erst dann ver- den Grundsatz der medizinischen Notwendig- wundete feindliche Soldaten behandeln, aber keit und der unparteiischen Behandlung aus- auch von der Versorgung von Landsleuten hebeln können. Die oben dargestellten Fälle absehen, wenn sie bereits mit der Behand- sind nicht die einzigen, bei dem militärische lung der verwundeten Soldaten des Gegners Notwendigkeit die Auslegung medizinethi- begonnen haben. Dies kann der Fall sein, scher Prinzipien beeinflusst. Weitere Fälle wenn Chirurgen gerade mit der Behandlung seien hier kurz angeführt: die Notwendigkeit, feindlicher Soldaten begonnen haben und für eine effektivere Kriegführung nichttödliche sich dann plötzlich einer großen Anzahl neu Waffen zu entwickeln; die Zwangsernährung eingetroffener Verletzter aus den eigenen Rei- in Hungerstreik befindlicher Häftlinge, die ihr hen gegenübersehen. Einzelne Berichte lassen Leben für ein politisches oder militärisches darauf schließen, dass Ärzte und Pflegekräfte Ziel aufs Spiel setzen; oder die Entwicklung

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 35 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss effizienzsteigernder Technologien, bei denen Prof. Dr. Michael L. Gross medizinische Maßnahmen zur Verbesserung ist Professor und Leiter der der militärischen Schlagkraft eingesetzt -wer politikwissenschaftlichen Fakultät an der Universität den.5 In jedem einzelnen dieser sowie in vie- Haifa, Israel. Er promovierte len weiteren Fällen müssen Militärärzte ihren in Politikwissenschaften an Pflichten als Offiziere einerseits und medizini- der Universität Chicago. Er sche Helfer andererseits in Einklang bringen. veröffentlichte zahlreich zu Medizinethik, Militärethik, 1 Gross, M. (2006): Bioethics and Armed Conflict: Moral Militär-Medizin-Ethik und Dilemmas of Medicine and War, Cambridge. zu Fragen der Medizin und nationalen Sicherheit. Er ist Mitglied von nationalen 2 Sessums, L., Collen, J., O’Malley, P., Jacobson, J. & Roy, M. und regionalen Bioethikkommissionen in Israel und (2009): Ethical practice under fire: deployed physicians in the hielt Seminare und Vorträge für das niederländische global war on terrorism, Military Medicine 174 (5), S. 441–447; Verteidigungsministerium, die Sanitätsdienste der Baer. H., and Baillat, J. (2002): Military necessity versus the US-Streitkräfte am Walter-Reed-Militärkrankenhaus, protection of the wounded and sick: a critical balance, Military die US-Marineakademie, das International Committee Medicine 167, S. 17–19; Xenakis, S. & Ofran, Y. (2007): Main- of Military Medicine (ICMM) sowie den Sanitätsdienst taining Medical Neutrality in Conflict Zones, Virtual Mentor und das College für Nationale Sicherheit der israelischen Streitkräfte über Ethik in bewaffneten Konflikten, Medi- 9(10), S. 681–687. zin und nationale Sicherheit. 3 Howe, E. (2003): Dilemmas in military medical ethics since 9/11, Kennedy Institute of Ethics Journal 13(2), S. 175–188.

4 Vielen Dank an Jacob F. Collen, M.D., der diesen Fall in die Debatte einbrachte. Siehe Collen, J., O’Malley, P., Roy, M. & Sessums, L. (2013): Military medical ethics: Experience from Operation Iraqi Freedom, in: Gross, M. and Carrick, D. (Hrsg.): Military Medical Ethics for the 21st Century, Ashgate Publishing, Military and Defense Series, S. 17-42. Zurück zum Inhaltsverzeichnis

5 Gross, M. (2013): Military Medical Ethics: A Review of the Literature and a Call to Arms, Cambridge Quarterly for Healthcare Ethics 22 (1), S. 92–109.

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 36 Ethische Spannungen im Einsatz – Erfahrungen von kanadischen Militärärzten von Dr. Bryn Williams-Jones, Sonya de Laat, Dr. Matthew Hunt, Christiane Rochon, Ali Okhowat, Dr. Lisa Schwartz, Jill Horning

Bei internationalen Einsätzen finden militäri- zugunsten militärischer Zwecke zu überge- sche, humanitäre und entwicklungstechnische hen oder Soldaten, Kämpfer und Zivilisten Missionen oft parallel statt. Deshalb kommt es gegen deren Willen zu behandeln. Arbeiten häufig zu einer Überschneidung und -manch die Streitkräfte mehrerer Nationen mit ihren mal auch zu einer Kollision der Rollen, die jeweiligen Verhaltensregeln und Verfahren das militärmedizinische Fachpersonal (Ärzte, bei Einsätzen zusammen und greifen dabei Krankenschwestern, medizinische Assistenten auf eine gemeinsame medizinische Infra- und verwandte Berufsgruppen) zu erfüllen hat. struktur zurück, erhöht sich automatisch die So kann es vorkommen, dass militärmedizini- Eintrittswahrscheinlichkeit ethischer Dilem- sche Fachkräfte gleichzeitig oder zeitversetzt mata. Entsprechend stellt sich die Frage nach als Ärzte, Soldaten und Entwicklungshelfer der moralischen Verant wortung militärme- fungieren müssen. Dies kann zu komplexen dizinischer Fachkräfte in bewaffneten Konflik- ethischen Konflikten führen, die weit über die ten: Welcher Institution oder welchem Beruf in der Medizinethik üblicherweise genannten sind sie vorrangig zur Loyalität verpflichtet? Fälle hinausgehen. In solchen Situationen Welchem Berufsethos sollten sie folgen? Wie mögen die Grundsätze der Medizinethik zwar sollten sie sich verhalten, wenn sie mehrere, gelten, erfahren jedoch je nach den jewei- einander teilweise entgegenstehende morali- ligen internen und externen Einflüssen und sche Verpflichtungen zu beachten haben? Zurück zum Inhaltsverzeichnis Wahrnehmungen der verschiedenen Akteure Das alles sind keine leichten Fragen. Die Lite- eine unterschiedliche Gewichtung. So kom- ratur zur Bioethik – insbesondere die zur Mili- men die Aspekte Triage und angemessene tärmedizinethik – bietet einen hilfreichen Zuteilung der Ressourcen, Behandlungs- und Ausgangspunkt, weist allerdings hinsichtlich Pflegestandards, Einwilligung nach Aufklä- der jeweiligen Rollen und Verantwortlichkei- rung der Patienten, Patientenautonomie und ten des militärmedizinischen Fachpersonals der Schutz und die Förderung der Menschen- sehr unterschiedliche, teilweise auch polari- rechte je nach Situation unterschiedlich stark sierende Ansätze auf. Zudem handelt es sich zum Tragen. Noch deutlicher zutage treten häufig um konzeptuelle Analysen, die sich nur diese Fragen bei bewaffneten Konflikten, in in geringem Umfang auf empirische Untersu- denen das militärmedizinische Fachpersonal chungen stützen. 2010 starteten wir – die Ethics sowohl die Interessen der Patienten als auch in Military Medicine Research Group (EMMRG, der Soldaten zu berücksichtigen hat. Oft ste- www.emmrg.ca) – deshalb mithilfe des Büros hen die Mediziner unter dem Druck, an medizi- des Generalarztes der kanadischen Streitkräfte nischen Hilfsaktionen teilnehmen zu müssen, ein empirisches Bioethikprojekt, um die ethi- um das Vertrauen der Bevölkerung vor Ort zu schen Spannungen und Dilemmata militärme- gewinnen, oder sie fühlen sich genötigt, Solda- dizinischer Fachkräfte zu untersuchen, die bei ten auch in zweifelhaften Fällen für kampftaug- internationalen Missionen eingesetzt werden. lich zu erklären, die Privatsphäre der Patienten

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 37 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Ziel der EMMRG ist die Erarbeitung ethischer Prinzipien wie der Achtung der Patientenau- Instrumente bzw. Leitlinien, um militärmedi- tonomie und der Schadensvermeidung. Es zinische Fachkräfte durch den Ausbau ihrer besteht demnach ein Spannungsverhältnis ethischen Kompetenzen und die Stärkung zwischen militärischen und medizinischen ihres Selbstvertrauens besser für die ethischen Kontexten, wobei tendenziell davon ausge- Spannungen im Berufsalltag zu wappnen und gangen wird, dass die Hauptursache für das so auch die Versorgung ihrer Patienten zu ver- Auftreten ethischer Konflikte genau in diesem bessern. Im Folgenden geben wir einen Über- Gegensatz liegt. blick über die Ergebnisse unserer Studie1. 2. Divergente ethische Normen Erkenntnisse der medizinethischen Literatur Andere Autoren wiederum vertreten die Auf- fassung, die traditionellen Grundsätze der Die Literatur zur Militärmedizin befasst sich Bioethik seien nur schwer auf militärische Mis- häufig mit den politischen und gesellschaft- sionen anzuwenden, da hier auch die Interes- lichen Rollen medizinischer Fachkräfte sowie sen der Allgemeinheit auf dem Spiel stünden, mit deren Rollen gegenüber ihren Patienten. insbesondere die nationale Sicherheit. Die Wir gruppieren die bestehenden Ansätze zu Medizinethik, so wird argumentiert, könne in den Rollen militärmedizinischer Fachkräfte in Kriegszeiten nicht die gleiche wie in Friedens- der Literatur in drei (sich nicht gegenseitig aus- zeiten sein. Schließlich müsse die Ethik im schließende) Kategorien: 1) Primat der klassi- Kriegsfall oder bei Gefahr für die öffentliche schen bioethischen Grundsätze, 2) Befolgung Gesundheit auf besondere Weise angewandt des Berufsethos und 3) Konflikte, die sich aus werden, da sie dem Allgemeinwohl verpflich- dualen bzw. eine Doppelrolle beinhaltenden tet sei. Die Gesundheitsversorgung in der Pra- Tätigkeiten und Loyalitäten ergeben. xis – mit den eingesetzten Technologien, den 1. Das Primat der klassischen bioethischen jeweils verfügbaren Ressourcen und der Band- Grundsätze breite verschiedener Patiententypen – wird

Nach diesem Ansatz sollte sich militärmedizi- ebenfalls zunehmend komplexer. In bewaff- Zurück zum Inhaltsverzeichnis nisches Fachpersonal in jeder Situation und neten Konflikten stehen militärmedizinische zu jedem Zeitpunkt als medizinisches Fach- Fachkräfte immer wieder in der Pflicht, diame- personal begreifen und die Bedürfnisse der tral entgegengesetzte Prioritäten gegeneinan- Patienten, wie von der Medizinethik gefordert, der abzuwägen – z. B. die Einsatzbereitschaft als oberste Priorität behandeln. Einige Autoren der Truppen bzw. die nationale Sicherheit halten die Tätigkeit des Arztes bei den Streit- gegen die Medizinethik. Gleichwohl gilt laut kräften grundsätzlich für unethisch, während dem Weltärztebund (WMA): andere Verfasser für die Rückkehr zu einem „Die Medizinethik im bewaffneten Konflikt ist pazifistisch ausgerichteten medizinischen identisch mit der Medizinethik in Friedenszeiten Berufsverständnis plädieren. Ein Dilemma [...] Wenn Ärzte bei der Ausübung ihres Berufs in einen Loyalitätskonflikt geraten, gilt ihre erste entsteht, wenn medizinische Fachkräfte sich Pflicht ihren Patienten; bei sämtlichen -berufli angesichts vermeintlicher militärisch opera- chen Tätigkeiten sind Ärzte an die internationalen tiver Anforderungen verpflichtet fühlen, die Menschenrechtskonventionen, das humanitäre Völkerrecht und die Deklarationen des Weltärz- Interessen der Patienten zurückzustellen, oder tebunds zur Medizinethik gebunden“.2 wenn sie die in ihren Augen angemessene Behandlung nicht anbieten können. Militä- Wenn es auch um das Interesse der Allgemein- rische Grundsätze, die auf die Wahrung von heit geht, bewegen sich medizinische Fach- Kampfkraft und Gehorsam ausgerichtet sind, kräfte oft im Spannungsfeld widersprüchlicher kollidieren hier also mit medizinethischen Anweisungen und Normen, nämlich derer

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 38 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss ihres Arbeitgebers (die Streitkräfte) einerseits chend wird die Arzt-Patient-Beziehung auch und derer ihres Berufsstandes (Arzt, Kranken- in nahezu allen Fällen als Gegensatz zur Rolle pfleger usw.) andererseits. medizinischer Fachkräfte in anderen Zusam- menhängen (z.B. im Rahmen der Streitkräfte, 3. Doppelte Loyalität im Beruf – ein Widerspruch? in Staat und Gesellschaft) gesehen. Häufig Einige Autoren leiten die ethischen Herausfor- kommt es zu stereotypen Urteilen über Ärzte derungen der Militärmedizin aus dem Umstand und andere Gesundheitsberufe (Idealisierung) ab, dass sie zwei verschiedene Berufe mit ihren oder über die Streitkräfte (utilitaristischer ganz eigenen Verhaltenskodizes und Rollen Ansatz, Überidentifizierung mit den Kämpfern, zusammenführe, welche jedoch nicht immer Autoritarismus). In der wissenschaftlichen (bzw. teilweise überhaupt nicht) miteinander Debatte geht es vor allem um die verschiede- vereinbar seien. Der Widerspruch zwischen den nen ethischen Pflichten und die Verantwor- Wertvorstellungen des Berufs und der Ethik tung der medizinischen Fachkräfte, aber die schaffe das komplexe Spannungsverhältnis Grenzen dieser Verantwortung werden nur sel- der „doppelten Loyalität“ oder „Doppelrolle“. ten deutlich aufgezeigt. Ethische Spannungen Allerdings umfasst das Konzept der doppelten werden angeführt, um eine bestimmte Mei- Loyalität eine Reihe verschiedener Begriffe, nung zu untermauern und dabei a) den Druck die einer weiteren Definition bedürfen, wie z.B. militärischer Prioritäten herauszustellen, der Beruf, Berufsverständnis, Werte, Rolle, Kon- auf medizinischen Fachkräften lastet; b) die flikt, Interessenskonflikt, gesellschaftliche/ Unvereinbarkeit von Regeln, ethischen Kodizes politische Verantwortung und die Rolle der und humanitärem Recht mit der Realität mili- Menschenrechte in Gesundheitsfragen. Wie tärischer Missionen hervorzuheben; oder c) und zu welcher ihrer beruflichen Rollen sollen Richtlinien und Ideologien (Menschenrechte) sich medizinische Fachkräfte bekennen, wenn vorzustellen, die die Teilnahme medizinischer sie (entweder gleichzeitig oder zeitversetzt) als Fachkräfte an bewaffneten Konflikten rechtfer- tigen oder ablehnen.3 Schließlich stützt sich

Ärzte, Soldaten oder Entwicklungshelfer ange- Zurück zum Inhaltsverzeichnis fordert werden? Und muss diese Situation die theoretische Analyse häufig auf berichtete unweigerlich eine Entscheidung für das eine Sachverhalte und Einzelberichte (z.B. Teil- oder das andere bedeuten, oder kann eine nahme eines Arztes an einem Verhör) oder militärische Fachkraft gleichzeitig auch medi- auf eine konzeptionelle Analyse der Problem- zinische Fachkraft sein? stellungen (z.B. Triage). Nur in seltenen Fällen schreiben Militärärzte Fachartikel, Bücher oder Zusammenfassung Blogs, um ihre Ansichten und Erfahrungen zu Leider beschränkt sich die bestehende Litera- beschreiben. Bisher nur in sehr wenigen Stu- tur in vielen Fällen darauf, die zentralen Akteure dien wurden militärmedizinische Fachkräfte dieser ethischen Konflikte (z. B. militärmedi- zu den ethischen Dilemmata oder Konflik- zinisches Fachpersonal, Kämpfer, Nichtkom- ten befragt, die sie im militärischen Kontext battanten, Regierungen) isoliert zu betrachten. erleben. Allerdings liegen einige vergleich- Dabei werden weder die dynamischen Wech- bare Studien zu medizinischen Fachkräften in selbeziehungen noch die kontextabhängigen humanitären Einsätzen vor, die aufschlussrei- Faktoren ausreichend thematisiert, welche che Einblicke gewähren.4 das Erleben der ethischen Dilemmata und Spannungen entscheidend prägen. Span- Erkenntnisse der empirischen Untersuchung nungsfälle werden oft isoliert und nicht in ihrer Um die Natur ethischer Spannungen und Vielschichtigkeit behandelt. Dementspre- Dilemmata im Kontext der Militärmedizin und

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 39 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss die Mittel zu ihrer Bewältigung besser verste- schen oder alliierten Streitkräfte (in diesem hen zu können, befragten wir 50 medizinische Falle der NATO) zurückhalten müssen. Andere Fachkräfte der kanadischen Streitkräfte zu berichten von „problematischen“ heldenhaf- ihrem Einsatz in bewaffneten Konflikten, Natur- ten Behandlungen, die ihre Kollegen an ein- katastrophen oder Friedensmissionen. Zu den heimischen Patienten vornahmen, sowie von Studienteilnehmern gehörten Ärzte, Kranken- medizinischen Eingriffen an Soldaten, die sie schwestern, Physiotherapeuten, Rettungssa- als unnötig oder auch aussichtslos einstuften. nitäter und ein . Die meisten von Ursache 2: historische, kulturelle oder ihnen sind Offiziere und blicken auf Einsätze in gesellschaftliche Strukturen Afghanistan, Bosnien, den Golanhöhen, Haiti Unterschiede hinsichtlich der kulturellen oder und Sri Lanka zurück. Bei unserer Analyse religiösen Überzeugungen werden oft als Aus- stellten wir schon zu einem frühen Zeitpunkt löser erheblicher ethischer Konflikte in der fest, dass die Ursachen ethischer Herausfor- Gesundheitsversorgung genannt. Insbeson- derungen grob in die vier Hauptkategorien dere religiös bestimmte Haltungen zur kör- eingeordnet werden konnten, die Schwartz et perlichen Unversehrtheit (z.B. Amputationen 5 al. in ihrer Untersuchung der ethischen Her- oder lebensverlängernde Maßnahmen) lösen ausforderungen für das Gesundheitspersonal bei vielen militärmedizinischen Fachkräf- in humanitären Einsätzen vornehmen: 1) Res- ten Besorgnis und Unbehagen aus. Auch das sourcenknappheit, 2) historische, kulturelle Thema Geschlecht zeigt sich in drei typischen oder gesellschaftliche Strukturen, 3) Richtli- Situationen: Erstens bei weiblichen Angehöri- nien und Programme und 4) berufliche Rol- gen des Militärs, die in extrem patriarchalisch len. Erfolgen Einsätze in Konfliktregionen oder geprägten Kontexten ihre berufliche Auto- im Rahmen multinationaler Streitkräfte mit rität infrage gestellt sehen; zweitens in der unterschiedlicher Einsatzdauer (Wochen oder Behandlung weiblicher Patienten, die Opfer Monate), stellen sich diese Herausforderungen geschlechtsspezifischer Gewalt geworden umso komplexer dar.

sind; und schließlich in der fehlenden Selbst- Zurück zum Inhaltsverzeichnis Ursache 1: Ressourcenknappheit bestimmung einheimischer weiblicher Patien- Die Befragten sprechen häufig Probleme im ten. Zudem bringen viele Studienteilnehmer Zusammenhang mit knappen Ressourcen an, ihre Frustration, teilweise auch ihre innere sowohl im Hinblick auf die medizinische Aus- Not, angesichts der instabilen Gesundheits- rüstung als auch auf das Personal. So fällt es versorgung am Einsatzort und des ungleichen vielen Ärzten und Krankenschwestern, die Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen für normalerweise in Kanada tätig sind, schwer Kanadier und Einheimische zum Ausdruck. zu akzeptieren, dass sie am Einsatzort nicht Als besonders belastend erleben die Befrag- das gleiche Maß an Pflege bieten können ten die Erkenntnis, dass eine Überweisung der wie „zu Hause“. Zudem berichten die Studi- Patienten an das Gesundheitssystem vor Ort enteilnehmer von Interessenskonflikten bei angesichts ungenügender Ausbildung, fehlen- der bestmöglichen Zuweisung vorhandener der Fachkräfte und Ressourcen sowie- man Ressourcen. So geraten Rettungssanitäter auf gelhafter Infrastruktur den sicheren Tod der Patrouille ebenso wie Ärzte in temporären Patienten bedeute. Feldlagern in einen ethischen Zwiespalt, wenn Ursache 3: Richtlinien sie einheimischen Patienten (Zivilisten, Poli- International geltende Gesetze und Konven- zisten, Militärangehörige) eine Behandlung tionen geben medizinischen Fachkräften eine nur begrenzt oder gar nicht anbieten können, eher grobe ethische Orientierung. Aufgrund da sie Ressourcen für Patienten der kanadi-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 40 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss ihres Praxisbezugs und der klaren Entschei- es insbesondere bei den US-Streitkräften, da dungsgrundlagen nennen die Befragten die die eigenen medizinischen Fachkräfte auch Medical Rules of Eligibility (MROE, medizini- in Verhöre eingebunden sind. Interessanter- sche Auswahlkriterien) als wichtigste Vorgabe. weise – und entgegen der Aufmerksamkeit, die In Afghanistan z. B. schreibt die MROE-Richtli- dieses Thema in der Literatur erfährt – führen nie die vorrangige Behandlung von Soldaten nur wenige unserer Teilnehmer an, Probleme und Häftlingen vor (wenn auch mit einer Bin- mit der doppelten Loyalitätspflicht zu haben nendifferenzierung hinsichtlich eigener und oder sich nicht als Teil der kanadischen Streit- fremder Streitkräfte) sowie die Beschränkung kräfte zu verstehen. So machen einige Befragte medizinischer Eingriffe auf die Wahrung von deutlich, dass sie sich zwar in erster Linie als „Leben, Leib und Augenlicht“.Trotz der klaren medizinische Fachkräfte verstünden, aber Vorgabe durch die MROE-Richtlinie entste- auch akzeptierten, dass sie diese Aufgabe für hen Spannungen, vor allem in Situationen, in eine militärische Institution erfüllten. Weitere denen medizinische Fachkräfte zu entschei- Teilnehmer betrachten ihre Doppelrolle als den haben, ob Opfer von Kollateralschäden, medizinische Fachkraft und Angehöriger der kranke oder verletzte Zivilisten ebenfalls Streitkräfte von vornherein gar nicht erst als behandelt werden sollen. Zudem ändert sich problematisch, da sie beide Rollen als wesent- die Anwendung der MROE-Richtlinie teilweise liche Bestandteile ihrer beruflichen Identität je nach diensthabendem Arzt (etwa bei der verstehen. Entlassung der Patienten), sodass die Befrag- Fazit ten das Prinzip der „ethischen Gesundheits- versorgung“ in der Umsetzung als teilweise Unsere Untersuchungsergebnisse veran- widersprüchlich erleben. Verschärft wird dies schaulichen die Komplexität ethischer noch in Fällen, in denen die Gesundheitsversor- Fragestellungen im Zusammenhang mit inter- gung instrumentalisiert wird (z.B. im Rahmen nationalen Einsätzen militärmedizinischer vertrauensbildender Maßnahmen). Manche Fachkräfte sowohl im Kriegsfall als auch bei Zurück zum Inhaltsverzeichnis Studienteilnehmer beschreiben Frustration Katastrophen und in Friedensmissionen. Sie und Sorge im Zusammenhang mit Patien- zeigen, auf welche Weise diese Fragen durch ten, denen keine kontinuierliche Behandlung das berufliche Rollenverständnis der medizi- angeboten werden kann. Ebenfalls häufig nischen Fachkräfte einerseits und durch die sprechen die Befragten die Problematik (und Streitkräfte als Institution andererseits geprägt innere Not) bei der Behandlung von Kindern werden. Medizinische Fachkräfte werden in an, denn die Pädiatrie ist kein Bestandteil der ihren Einsätzen mit komplexen ethischen regulären militärmedizinischen Versorgung Problemstellungen konfrontiert, auf die sie und fällt nicht unter die MROE-Richtlinie. sich nicht immer gut vorbereitet fühlen. Auch Ursache 4: berufliche Rollen wenn sich diese ethischen Fragen bzw. Dilem- Aufgrund der Vermischung internationaler mata vom Thema der psychischen Gesundheit Einsatzkräfte mit medizinischem Fachperso- unterscheiden: Sie können – in Extremfällen nal sowie der Spannungen zwischen den ver- und wenn sie nicht effektiv gelöst werden – zu schiedenen Rollen medizinischer Fachkräfte Gewissensnot führen und zur Folge haben, ergeben sich entscheidende Unterschiede bei dass medizinische Fachkräfte die Teilnahme den Erwartungen und berufsbezogenen Nor- an Einsätzen verweigern, posttraumatische men hinsichtlich der Behandlung verschie- Belastungsstörungen oder hiermit assoziierte dener Patientengruppen (z.B. Kämpfer und Symptome entwickeln, aus den Streitkräften Nichtkombattanten). Zu Spannungen kommt ausscheiden oder – schlimmer noch – sich

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 41 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss selbst oder anderen Schaden zufügen. Dies und den Wert spezialisierter Ethikschulungen wiederum wirkt sich auf die Kommandokette, für militärmedizinische Fachkräfte. das Team und die militärische Organisation in Da militärmedizinische Fachkräfte in sehr ihrer Gesamtheit aus (z. B. auf die Quote des unterschiedlichen Umgebungen arbeiten (z.B. Verbleibs der Fachkräfte in den Streitkräften). in Konfliktregionen oder bei Naturkatastro- Beim Vergleich der Literatur zur Bioethik (hier phen), müssen Ethikschulungen bei dieser viel- insbesondere der Veröffentlichungen zur Mili- schichtigen Realität ansetzen. Entsprechend tärmedizinethik) mit den Erfahrungen unse- ausgerichtete Fallstudien wären ein geeigne- rer Studienteilnehmer von den kanadischen tes Unterrichtsmittel, das vor Einsätzen und im Streitkräften stellen wir in einigen Bereichen Anschluss bei Weiterbildungen eingesetzt wer- eine Divergenz hinsichtlichder der „wahren“ den könnte. Zudem zeigt sich in unseren Inter- ethischen Probleme der Mediziner in der Pra- views immer wieder die Bedeutung formeller xis fest. So gibt das Thema der doppelten und informeller (d.h. unabhängig von der mili- Loyalität, das in der Literatur so viel Beachtung tärischen Rangordnung stattfindender) Mög- findet, keinen Anlass zur Sorge. Stattdessen lichkeiten zum Erfahrungsaustausch im Team. zeigen sich komplexe Herausforderungen bei Auf diese Weise können vor und während der Themen, die auch in der öffentlichen Gesund- Einsätze die ethischen Herausforderungen in heitsversorgung und speziell bei humani- der Praxis besprochen und nach besonders tären Missionen eine zentrale Rolle spielen: schwierigen Situationen ausgewertet werden. dem Umgang mit Ressourcenknappheit und Darauf aufbauend könnten Mechanismen ungleichem Zugang, der Unmöglichkeit der erarbeitet werden, die den Dialog als zentralen kontinuierlichen Versorgung und der unaus- Bestandteil von Ethikschulungen verankern weichlichen Erkenntnis, dass die im Heimat- (Gruppendiskussionen) und die als Grundlage land angebotenen Gesundheitsleistungen bei für die Problemlösung und Entscheidungsfin- internationalen Einsätzen häufig nicht erbracht dung im Einsatz dienen können. werden können. Die medizinischen Fachkräfte Zurück zum Inhaltsverzeichnis Unsere Studie bestätigt unsere Ausgangshy- der kanadischen Streitkräfte durchlaufen zwar pothese – so einseitig diese innerhalb einer das gleiche Ethik-Training wie andere Teilstreit- Gruppe von Bioethikern ausfallen mag: Mili- kräfte. Schulungen zur Militärmedizinethik tärmedizinische Fachkräfte können von -kon beschreiben die Studienteilnehmer jedoch als text- und berufsspezifischen Ethikschulungen uneinheitliche Ad-hoc-Maßnahmen. Wie ein profitieren. Im nächsten Arbeitsschritt suchen Befragter anmerkt, „übernehmen es [die medi- wir nach Möglichkeiten zur weiteren Zusam- zinischen Fachkräfte] selbst, sich in irgendei- menarbeit mit den kanadischen Streitkräften ner Form in Medizinethik weiterzubilden, wenn (und den Streitkräften weiterer Nationen), um es jemanden im Team gibt, der dies für nötig innovative Instrumente für Ethikschulungen erachtet“, aber „ein Großteil der Ethik in der aufzuzeigen (z.B. Unterricht mit verschiedenen Gesundheitsversorgung beruht auf dem, was Methoden, Mobil- und Online-Formate), die man in ... der Schule gelernt hat, und das ist inhaltlich und formal speziell auf die Bedürf- wenig – im besten Falle“. Dass diese Auseinan- nisse militärmedizinischer Fachkräfte zuge- dersetzung überhaupt geführt wird – häufig auf schnitten sind. Dabei lautet das erklärte Ziel, Initiative von Einzelpersonen, die bereits ent- militärmedizinische Fachkräfte mit entspre- sprechende Erfahrungen bei ihren Einsätzen chenden Instrumenten so in Ethik zu schulen, gesammelt haben –, zeigt die Notwendigkeit dass sie die erforderlichen ethischen Kom- petenzen entwickeln, um ihre verschiedenen

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 42 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

(und potenziell widersprüchlichen) beruf- Die Forschungsgruppe Ethics lichen, gesellschaftlichen und politischen in Military Medicine Re- Rollen wahrzunehmen und gleichzeitig den search Group (EMMRG) betreibt empirische bioethische ethischen Herausforderungen ihrer Einsätze Studien zu Fragen der Ethik wirksam zu begegnen. im militärischen Umfeld. Ziel der Forschung ist es, Ethik- 1 Die in diesem Aufsatz vorgestellte Studie wurde mit Mitteln leitlinien zur praktischen An- des Ethics Office of the Canadian Institutes of Health Research wendung in der Ausbildung (CIHR), #EOG-107578, sowie der University of Montreal des militärmedizinischen und der McMaster University unterstützt. Wir danken den Personals und Unterstützung befragten Angehörigen der kanadischen Streitkräfte für ihre der bei internationalen Mis- Teilnahme sowie dem Büro des Generalarztes für die gewährte sionen eingesetzten Sanitäter zu entwickeln. Das Bio- Unterstützung. Die hier dargelegten Schlussfolgerungen ethik-Forschungsteam setzt wurden von den Autoren gezogen und geben nicht unbedingt sich aus Wissenschaftlern die Meinung der kanadischen Streitkräfte oder der kanadischen der University of Montreal Regierung wieder. (Dr. Bryn Williams-Jones, Christiane Rochon, Ali Okhowat), der McMaster University (Dr. Lisa 2 World Medical Association (2004/1956): WMA Regu- Schwartz, Sonya de Laat, Jill Horning) und der lations in Times of Armed Conflict and Other Situations of McGill University (Dr. Matthew Hunt) zusammen. Violence, verfügbar unter: http://www.wma.net/en/30publi- cations/10policies/a20/ (abgerufen am 28. Mai 2015).

3 Rochon, C. (2015): La bioéthique et les conflits armés : la réflexion éthique des médecins militaires [PhD], Université de Montréal.

4 Hunt, M. (2009): Moral experience of canadian health care professionals in humanitarian work, Prehospital Disaster Med. 24(6), S. 518-24. Zurück zum Inhaltsverzeichnis

5 Schwartz, L.; Sinding, C.; Hunt, M.; Elit, L.; Redwo- od-Campbell, L.; Adelson, N. et al. (2010): Ethics in humani- tarian aid work: Learning from the narratives of humanitarian health workers. AJOB Prim Res 1(3), S. 45-54.

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 43 Es geht noch besser! Medizin und die Debatte um Human Enhancement bei

Soldaten von Dr. Bernhard Koch Therapie – Enhancement – Doping dem leistungssteigernden Gebrauch flie- ßend,1 was bereits eine erste Schwierigkeit „Falkland-Krieg ungültig. Britische Soldaten in der Sache anzeigt. Man denke nur an die waren gedopt. Wiederholung im nächsten Diskussionen, ob ein potenzermöglichendes Jahr.“ Auch wenn man manchmal sportliche oder potenzsteigerndes Mittel wie Viagra von und kriegerische Auseinandersetzungen mit- den Krankenkassen bezahlt werden solle. Eine einander verglichen hat – eine solche Analo- zweite Schwierigkeit besteht in dem einfa- gie wurde dann glücklicherweise noch nicht chen Umstand, dass der Mensch alleine durch gezogen. Sport sollte Spiel sein, aber Krieg seine biologische Ausstattung nicht beim bio- und militärische Gewalt sind bitterster Ernst. logischen Naturzustand bleiben kann, son- Liegt es dann nicht nahe zu sagen: „Da Krieg dern beispielsweise in Europa auf Kleidung eine so ernste Sache ist, sollte man nichts angewiesen ist – eine durchaus frühe Form dem Zufall überlassen und alles versuchen, des Enhancement. Menschliche Kultur beginnt um ein optimales, d. h. bestmögliches Ergeb- mit dem Gebrauch von Werkzeugen; auch das nis – den Sieg – zu erlangen. Für den Sieg aber ist eine Methode der Selbstverbesserung. muss man alles aufbieten, auch Doping oder Heute aber kann der Optimierungsdrang des eben ein militärisches Äquivalent dazu!“? Menschen bis zum sogenannten Bodyhacking Doping sind die Einnahme unerlaubter (grob gesprochen: technische Implantate in leistungssteigernder Substanzen oder die den Körper einbauen und fast zum Cyborg Zurück zum Inhaltsverzeichnis Verwendung unerlaubter Methoden zur Leis- werden) und Human Genetic Engineering tungssteigerung im Sport. In einer gewissen gehen, bei dem die Verbesserungserfolge Weise fällt auch Doping unter ein Phänomen, durch Eingriffe in die Keimbahn erreicht wer- das man heute mit dem – ebenfalls englischen den sollen.2 Diese Forschung macht auch – Ausdruck enhancement zu fassen versucht: vor den Militärs nicht halt. Eher ist es umge- Leistungssteigerung durch medizinische oder kehrt: Militärische Forschungsprojekte bil- biotechnologische Mittel, die über die Wieder- den wie so oft die Speerspitze. So berichtet herstellung oder Erhaltung eines Normalzu- Jonathan Moreno in „Mind Wars“ (New York standes hinausgehen, also nicht einfach nur 2006, Neuauflage 2012) von „DARPA’s neuro- therapeutisch oder präventiv wirken. Insofern mics program, which is aimed at finding ways diese Leistungssteigerungen menschliche to permit brains and machines to interact“. Aktivitäten betreffen, spricht man von Human DARPA – Defense Advanced Research Projects Enhancement (Ich werde diesen Ausdruck für Agency – ist eine Forschungsabteilung des das Folgende unübersetzt lassen, denn wie Pentagon, und das Ziel dieser Forschungen der Begriff des Dopings hat er sich schon fast sind Soldaten, die durch Gedanken Roboter als solcher eingebürgert). steuern können. Im Jahr 2011 ließ sich diese Behörde alleine ihre Neuroscience-Projekte In der Praxis verlaufen die Grenzen zwischen 240 Millionen Dollar kosten. Aber westliche therapeutischem Gebrauch eines Mittels und Soldatinnen und Soldaten sind mit Enhance-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 44 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss ments nicht nur als mögliche oder tatsächli- verwunderlich, dass immer dort, wo über die che Nutzer konfrontiert, sondern auch durch Zukunft des Militärs diskutiert wird, auch die ihre Gegner. Mark Bowden berichtet schon in Frage nach dem Human Enhancement auf- „Black Hawk Down“ davon, dass während des kommt; eine Frage, die insbesondere auch die US-Somalia-Einsatzes im Jahr 1993 somali- Militärmedizin vor besondere, zumal ethische sche Männer häufig Khat gekaut haben, über Herausforderungen stellt. das das Amphetamin Cathin eingenommen Das Spektrum dessen, was Human Enhance- wird, das diese Männer unter Umständen ment bedeutet, ist auch im soldatischen Feld enorm aufstacheln oder gefährlich machen weit. So bezahlt beispielsweise die US Army kann. seit 2001 ihren Angehörigen die sogenannte Zivile Nutzung refraktive Chirurgie, also die laseroperative Korrektur der Augenhornhaut, mit der im Human Enhancement gelangte in die öffentli- günstigen Fall eine Fehlsichtigkeit, meistens che Debatte insbesondere durch Studien, die Kurzsichtigkeit, so behoben werden kann, zeigen sollten, dass sogenannte Neuro-Enhan- dass die betroffenen Personen keine Sehhilfe cement-Produkte - zu denen herkömmliche wie Brille oder Kontaktlinsen mehr benöti- Mittel wie Koffein, aber auch Drogen gehören gen. Ein solcher Eingriff in die Hornhaut wird – bei Schülern und Studenten auf dem Vor- gemeinhin noch als therapeutische Maß- marsch sind. Insbesondere Methylphenidat, nahme angesehen. Sie führt die Sehfähigkeit das eher unter seinem Handelsnamen Rita- nur auf einen vorab bestimmten Normalzu- lin bekannt ist, gehört zu den gängigen Leis- stand zurück. Für die Soldatinnen und Sol- tungssteigerungsmitteln in diesem Bereich. daten der Bundeswehr bezahlt der Dienstherr „In einer Studie zu Formen der Stresskom- diesen Eingriff (noch) nicht, obwohl sich der pensation und Leistungssteigerung bei knapp Wehrmedizinische Beirat bereits dafür aus- 8000 Studierenden in Deutschland zeigte sich, gesprochen hat.4 Wir wissen darüber hinaus, dass 12 % der Studierenden seit Beginn des dass in nicht allzu langer Zeit die Möglichkeit Zurück zum Inhaltsverzeichnis Studiums eine oder mehrere Substanzen ein- bestehen wird, auch über technologische genommen haben, um die Studienanforde- Implantate, wie beispielsweise Nanochips, rungen besser bewältigen zu können“.3 die sinnliche Aufnahmeleistung zu steigern. Leistungsorientierung und Leistungsdruck Liegt es nicht nahe, gerade Soldatinnen und bei Soldatinnen und Soldaten Soldaten, von deren Sinnesfähigkeit so viel abhängt, vorrangig mit solchen Verbesse- Stress und Leistung sind aber Faktoren, die rungsmitteln auszustatten? im soldatischen Beruf erst recht eine Rolle spielen. Das militärische Berufsfeld zählt zu Das andere Feld bezeichnet die Weise, wie wir den folgenschwersten Arbeitsbereichen, die Stress und Schmerz bewältigen und Müdig- man sich denken kann. Jeder Fehler im Ein- keit unterdrücken können. Selbst in weni- satz kann bedeuten, dass ein Mensch unnö- ger ernsten Arbeitsgebieten helfen sich viele tigerweise getötet wird oder dass man selbst Beschäftigte mit etwas Koffein über den Tag. unnötigerweise in eine äußerst kritische Die Hoffnung, Militärmediziner könnten - Sol Situation gerät oder sein Leben verliert. Von datinnen und Soldaten im Einsatz durch Soldatinnen und Soldaten wird – wenn es medikamentöse Enhancer aufmerksamer hart auf hart kommt – Höchstleistung abge- und durchhaltefähiger machen, ist vor dem fordert; ein Umstand, der sie natürlich auch Hintergrund der Folgenschwere von Feh- unter enormen Stress setzt. Daher ist es nicht lern durchaus verständlich. David N. Kenagy5

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 45 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss schildert, dass während des Irak-Krieges 2003 Leute, die diese Frage bejahen, nennt Nick Piloten, die von der Whiteman Air Force Base Bostrom „Biokonservative“ (bioconservatives). in Missouri gestartet sind, bis in den Irak und b) Sind Enhancements erlaubt? Leute, die diese zurück über 35 Stunden in der Luft sein muss- Frage bejahen, könnten wir mit einem weiteren ten, andere, die bis nach Afghanistan geflo- Ausdruck von Nick Bostrom als „Transhuma- gen sind, sogar 44 Stunden. Ohne Hilfe durch nisten“ (transhumanists) bezeichnen. c) Sind Enhancement-Medikamente ist so eine Belas- Enhancements geboten oder verpflichtend? Wir tung nicht durchzustehen. können jene, die diese Frage bejahen, „Bioop- timisten“ nennen. Den Regeln der deontischen Aufsehenerregend sind auch die Entwick- Logik nach können wir mithilfe der Negation lungen von sogenannten Powered Exoskele- die Frage c) in eine Frage der Form von a) tons, wenngleich die Forschung auf diesem umformulieren: Ist es verboten, dass Enhance- Feld schon einige Jahrzehnte lang andauert. ments nicht eingesetzt werden? Dabei handelt es sich um eine Art mecha- nische Außenhaut, ähnlich dem Exoskelett Wenn wir die Folgen eines Handelns als das eines Insekts, bei der ein motorisiertes oder entscheidende ethische Kriterium ansetzen, hydraulisches System die Bewegungen des liegt durchaus eine Pflicht zur Aufbesserung Trägers dieser „Kleidung“ unterstützt. Exos- der Leistungsfähigkeit nahe. Soldatisches kelette können so helfen, Kräfte zu sparen, die Handeln entscheidet oft über das Leben und Ausdauer (und die Fähigkeit, Lasten zu tragen) den Tod von Menschen: das eigene Leben, das zu steigern und die Präzision zu verbessern. Leben von Gegnern, das Leben von Zivilisten. Neben Soldaten werden vielleicht Ärzte – auch Soldaten müssen an die Grenze ihrer Leis- militärmedizinisches Personal –, insbeson- tungsfähigkeit gehen, um die besten Resultate dere bei chirurgischer Tätigkeit, in der Zukunft zu erzielen, und wenn sich diese Grenzen mit mehr auf die Hilfe von (zumindest Teil-)Exos- biotechnologischen Mitteln in eine Richtung keletten (beispielsweise am Arm) vertrauen, verschieben lassen, die bessere Resultate wenn es darum geht, Bewegungen mit äußers- erbringt, scheint die Pflicht zumEnhancement Zurück zum Inhaltsverzeichnis ter Genauigkeit auszuführen. Wie bei mobiler geradezu unausweichlich. Natürlich müs- Computertechnologie besteht heute eine der sen eventuelle langfristige Schäden durch Schwachstellen dieser Außenhäute noch in das Enhancement an den Soldatinnen und der dauerhaften Stromversorgung. Bei der Soldaten selbst dem realen oder vermeintli- Wartung derartiger Enhancements bei Solda- chen Nutzen gegenübergestellt werden, aber ten sind Mediziner – Orthopäden – gefragt, da Soldaten gewisse professionelle Lasten die auch über Ingenieurskenntnisse verfü- zugemutet werden dürfen, kann es sein, dass gen. Aber ist es denn überhaupt in Ordnung, die Lasten-Nutzen-Rechnung nach wie vor dass Soldatinnen und Soldaten sich selbst zugunsten des Enhancements ausfällt. Ähnlich in derartiger Weise „erweitern“, „verbessern“ wie in der Debatte um bewaffnete Drohnen oder „verbessern“ lassen? Entspricht Human bringt also das konsequentialistische Räson- Enhancement überhaupt unseren ethischen nement eine starke Präferenz für die techni- Vorstellungen, Prinzipien und Urteilen? sche Fortentwicklung mit sich. Es scheint also, dass die Biooptimisten recht haben und eine Müssen, sollen, dürfen Enhancements sein? biokonservative Position gar nicht haltbar ist. In der ethischen Befassung mit solchen Neu- entwicklungen müssen wir drei Fragen unter- scheiden: a) Sind Enhancements verboten?

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 46 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Ein neues normatives Feld entsteht auch bestimmte Eigenschaften, die aus dem Enhancement resultieren, beispielsweise ver- Aber so einfach ist es nun doch nicht. Tech- besserte Sinnesfähigkeiten, nicht mit dem nologie zu verbieten, ist zwar fast immer aus- Ausscheiden aus dem soldatischen Dienst. sichtslos; auf sie zu verzichten, kann aber Ausdruck ethischen Bewusstseins sein. Ein Sollte sich eine Praxis durchsetzen, dass Sol- solcher Verzicht erscheint durchaus sinnvoll, datinnen und Soldaten mehrheitlich oder wenn wir die Fülle von ungeklärten Schwie- doch in beträchtlichem Anteil mit den bespro- rigkeiten bedenken, die Human Enhancement chenen Enhancements ausgestattet werden, in den Streitkräften aufwirft. So geht es zum stellt sich auch die Frage, ob nicht deswegen einen um die Frage, wie man vermeiden kann, die Regeln des ius in bello neu justiert werden dass durch Enhancement Individualrechte von müssen. Sollte es beispielsweise ein Waffen- Soldatinnen und Soldaten verletzt werden. In kontrollregime – also so eine Art „Dopingkon- den allermeisten Fällen werden wir es bei- trolle“ – für Enhancements geben, oder muss spielsweise für ethisch erforderlich halten, die man davon ausgehen, dass Soldaten, die ein Soldaten nach ihrer Zustimmung zum Enhan- Enhancement erhalten haben, selbst zu einer cement zu fragen. Der Biooptimist aber muss Waffe geworden sind? In einem solchen Fall fordern, dass selbst dann, wenn sich ein Sol- müsste ihr Einsatz nach Art. 36 des Zusatz- dat verweigert, man gewissermaßen „pater- protokoll I der Genfer Konventionen erst nalistisch“ über ihn hinweghandeln darf, um völkerrechtlich überprüft werden. Manche das bestmögliche Ergebnis zu erreichen. Den- Völkerrechtswissenschaftler und Militärethi- noch widerspräche so ein Vorgehen den Wert- ker werden vielleicht argumentieren, dass urteilen, die wir uns von der Autonomie eines Soldaten mit Enhancement „den Grundsätzen erwachsenen Menschen und dem Respekt, der Menschlichkeit und den Forderungen des den wir dieser schulden, machen. Es erscheint öffentlichen Gewissens“ widersprechen, wie auch ethisch vernünftig zu fordern, dass vor- es in der Martens‘schen Klausel heißt – eine genommene Enhancements wieder rückgän- Formel, die uns wieder an den Ausgangspunkt Zurück zum Inhaltsverzeichnis gig gemacht werden können. Bei Exoskeletten zurückverweist und fragen lässt, ob Enhance- ist das sicherlich der Fall, aber bereits beim ments ethisch gerechtfertigt sein können. Augenlasern ist der Schritt unumkehrbar. Die Liste der uns heute noch kurios anmu- Enhancements bei Soldatinnen und Soldaten tenden Fragen lässt sich erweitern. So ist ein werden sich auch auf das eigene Rollenver- Szenario denkbar, in dem nicht Menschen, ständnis und möglicherweise auf ihre rol- sondern Tiere ein bestimmtes Enhancement lenspezifischen Pflichten auswirken. So kann erhalten. Allerdings könnte ein solches „ver- man vielleicht von einem Soldaten, der ein bessertes“ Tier dann durchaus als biologische Enhancement erhalten hat, erwarten, dass er und damit kriegsvölkerrechtlich ausgeschlos- auch spezifische Aufgaben übernimmt, von sene Waffe aufgefasst werden. Zweifellos wer- denen ein Soldat ohne Enhancement ver- den auch Proliferationsprobleme auftreten, schont bleibt. Aber er wird sich vielleicht auch denn die Nutzung einer Technologie lässt sich als soldatische Elite fühlen und seine Kame- auf Dauer nie nur bei einem Staat oder einer raden verächtlich betrachten oder behandeln. Staatengemeinschaft monopolisieren. Möglicherweise übernimmt er dieses Elitever- ständnis – über dessen Sinn und Berechti- Nicht zuletzt aber sind die Militärmediziner gung selbst eigens zu diskutieren wäre – auch von den ethischen Fragen, die sich rund um Human Enhancement in sein ziviles Leben. Schließlich verliert er ja das stellen betroffen:

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 47 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Wenn beispielsweise zwei Soldaten verwun- unserer Verfasstheit als leibliche Menschen. det sind, von denen einer ein unter Umständen Wir brauchen – auch allen gegenwärtigen durchaus kostspieliges Enhancement erhalten Bedürfnissen nach Schönheitsoperationen hat, liegt aus ökonomischen Gründen durch- zum Trotz – unseren Körper nicht auf fremde aus nahe, den Soldaten mit Enhancement zu Ziele hin zu optimieren. Wir dürfen es aber, bevorzugen. Aber ethisch ließe sich dagegen- wenn wir andere dadurch nicht ihrerseits in halten, dass der Soldat ohne Enhancement in der Verwirklichung ihrer Freiheit unangemes- einer gewissen Hinsicht die größere Leistung sen einschränken. Doping im Wettkampfsport erbracht hat. Militärmedizinisches Personal beispielsweise ist Betrug und daher immer ist auch gefordert, wenn es um die richtige eine Einschränkung von Freiheit anderer. Aber Behandlung von gefangen genommenen Doping und Enhancement haben gemein- Soldatinnen und Soldaten mit Enhancement sam, dass die ernste Gefahr besteht, dass geht. In vielen Fällen könnte eine Art „Drogen- Personen, die eigentlich Enhancement beim entzugstherapie“ notwendig sein. Menschen ablehnen, durch die Nutzung von Enhancements bei anderen unter sozialen Nur ein Aspekt, aber ein zentraler Druck gesetzt werden (vor allem in kompetiti- Angesichts der Fülle von Fragen und Anfragen ven Kontexten). kann hier zur Anregung der ethischen Diskus- Sport und gesunde Lebensweise sind in ver- sion nur ein sehr genereller Aspekt herausge- nünftigen Grenzen richtig und wichtig. Diese griffen werden. Das oben erwähnte Ergebnis, Grenzen können bei Soldaten auch etwas dass im Hinblick auf den Nutzen die techno- anders liegen als bei Menschen mit anderen logische Innovation meistens vorzugswürdig Berufen. Aber auch wenn von der Soldatin ist, ist für sich nicht überraschend, denn das oder vom Soldaten in der Rolle als Soldatin angelegte konsequentialistische Denken stellt oder Soldat höchste Leistung gefordert ist, selber einen technoformen Vernunftgebrauch bleibt sie oder er dennoch auch Mensch und dar. Ethisches Denken erschöpft sich aber leibliches Wesen, das selbst entscheiden Zurück zum Inhaltsverzeichnis nicht in Folgenabwägungen. Auch nichtfina- kann, in welcher Weise es sich in seiner Leib- listische Gesichtspunkte dürfen und müssen lichkeit entfaltet. Eine – biooptimistische – berücksichtigt werden. Ein wichtiger Aspekt Pflicht zumEnhancement übertreibt die Macht dieser Art ist die Entscheidungsfreiheit in des konsequenzorientierten Denkens. Inso- Bezug auf den eigenen Körper als Leib, nicht fern kann man sich verantwortungsbewusst als bloßes Instrument eines Menschen. Zu für oder gegen das Enhancement entschei- unserem Körper nehmen wir ein eigen- und den. Andere Fragen sind jedoch, ob der Soldat einzigartiges Verhältnis ein. Zwar „haben“ ohne Enhancement Aufgaben übernehmen wir einen Körper und „sind“ nicht ein Körper, sollte, die aus guten Gründen der mit einem aber dieses Haben ist von anderer Art als das Enhancement ausgestatte Soldat besser erfül- Haben eines äußerlichen Werkzeugs, wie bei- len kann, oder ob bestimmte Enhancements spielsweise eines Messers. Ein Messer ist gut, verboten werden sollten. Enhancements wenn es gut schneidet, sagt Aristoteles. Wenn können sich auf die betreffenden Personen wir gute Schnitte brauchen, müssen wir die langfristig negativ auswirken, sei es durch gif- Klinge schärfen. Dieses Enhancement muss tige Aussonderungen aus dem verwendeten sein. Ein stumpfes Messer zu verwenden, Material oder durch Sucht und Abhängigkeit. kann gefährlich und daher unverantwortlich In vielen der sehr diversen Fälle von Human sein. Aber der Körper ist nicht ein Instrument Enhancement fehlen jegliche langfristige Stu- zu einem Zweck, sondern selbst der Ausdruck

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 48 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss dien über die Effekte. Das bedeutet auch, dass dass man rechtliche Fragen in dieser Hinsicht Mediziner, die solche Verbesserer verabrei- neu diskutieren müsste. Vielleicht wird diese chen, über die ungeklärten Risiken aufklären Möglichkeit aber auch gerade von jenen, die müssen, und dass die betroffenen Personen ohnehin gerne das Folterverbot beschneiden Nein sagen dürfen – auch Soldatinnen und möchten, argumentativ ins Spiel gebracht, um Soldaten sowie militärmedizinisches Perso- ihrem Ziel näher zu kommen. Die Frage, wie nal. Bei Mitteln, deren Einsatz mit mutmaßlich nämlich Enhancements wirklich wirken, wird massiven Gefährdungen einhergeht, muss eine sehr langfristige empirische Forschungs- sogar über ein Verbot nachgedacht werden. aufgabe darstellen, und ob wir uns aufgrund Dies gilt insbesondere dann, wenn die Gefah- von wirkungsbezogenen Argumenten schnell ren nicht nur den aufgeklärten Nutzer des von erkämpften ethischen Standards abwen- Enhancements betreffen, sondern Personen, den sollten, ist mehr als fraglich. Aber selbst die keinen Einfluss auf die Nutzung hatten, wenn wir solche Studien hätten, bleibt ein wie beispielsweise Zivilisten, die von einem viel tiefer liegendes Problem: Möglicherweise Soldaten bedroht werden, der aufgrund eines verschieben Enhancements – insbesondere Enhancements „ausrastet“. neurologische – das, was wir unter Hand- lungsurheberschaft verstehen. In dieser- Hin Militärmedizinisches Personal ist besonders sicht könnten ethische Standards tatsächlich gefordert unter enormen Druck geraten. Mit welchem Für Militärmediziner stellen sich neue Fragen Recht sollte beispielsweise ein Soldat für ein und alte Fragen stellen sich neu. Die zent- Kriegsverbrechen noch zur Verantwortung rale neue Frage ist, inwieweit sie an solchen gezogen werden können, wenn er durch ein Aufbesserungen bei Soldatinnen und Sol- Neuro-Enhancement geradezu ferngesteuert daten beteiligt sein dürfen. Aus den alten agiert? Hier muss man im Vorfeld entgegenar- Fragen, die sich neu stellen, greife ich nur beiten und Soldatinnen und Soldaten aufklä- eine heraus, die gegenwärtig diskutiert wird: ren: Handlungsurheberschaft abzugeben ist Zurück zum Inhaltsverzeichnis Dürfen Militärärzte – was ihrem beruflichen selbst keine verantwortbare Handlung. Solda- Ethos nach ausgeschlossen sein sollte – nun ten sollten dieser Preisgabe nicht zustimmen, vielleicht doch eine – begleitende oder gar und Militärmediziner sollten dabei nicht hel- unterstützende – Rolle bei Folterhandlungen fen, wenn wir nicht wollen, dass unser ethi- spielen, wenn sie wissen, dass das Folterop- sches Feld zur Gänze kollabiert. fer aufgrund eines Enhancements fast oder 1 Vgl. Bostrom, N.; Roache, R. (2008): Ethical Issues in gänzlich schmerzunempfindlich ist? Die- Human Enhancement, in: Ryberg, J.; Petersen, T.; Wolf, ses Folteropfer mit Enhancement ist also C. (Hrsg.): New Waves in Applied Ethics, Basingstoke, S. von der Folter nicht in der Weise betrof- 120-152. fen, wie man es von einem Folteropfer in einem Nicht-enhanced-Zustand anneh- 2 Als Einstieg in diese mittlerweile geradezu unüberschau- men müsste.6 „In changing human biology, bare Debatte dient vielleicht Sandel, M. (2004): The Case we also may be changing the assumptions Against Perfection, in: The Atlantic Monthly April, S. 1-11 behind existing laws of war and even human (http://www.theatlantic.com/magazine/archive/2004/04/ ethics“, schreibt Patrick Lin dazu in The Atlan- the-case-against-perfection/302927/, abgerufen am 7. Mai tic Monthly (2/2012)7. Möglicherweise hat das 2015). Folterverbot die mögliche Schmerzresistenz, 3 Akademien der Wissenschaften Schweiz (Hrsg.) (2012): die durch biotechnologische Mittel erlangt Medizin für Gesunde? Analysen und Empfehlungen zum werden kann, noch nicht vorhergesehen, so

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 49 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Umgang mit Human Enhancement – Bericht der Arbeits- Dr. Bernhard Koch ist gruppe, Bern, S. 54. stellvertretender Direktor des Instituts für Theologie und 4 So in einer Nachricht des Deutschen Bundeswehrverbandes Frieden (ithf) in Hamburg. von 2011: https://www.dbwv.de/C12574E8003E04C8/Print/ 2014 war er Visiting Fellow W28HEJVV857DBWNDE (abgerufen am 7. Mai 2015). am Oxford Institute for Ethics,

5 Dextroamphetamine Use During B-2 Combat Missions, in: Law and Armed Conflict Aviation, Space, and Environmental Medicine 75/5 (2004). (ELAC). Er lehrt praktische Philosophie in Frankfurt am 6 Wahrscheinlich sollte man den Handlungstyp der Folter Main und studierte Philo- nicht von den Wirkungen her, sondern wie Handlungen von sophie, Logik und Wissen- den Absichten her definieren. schaftstheorie in München und Wien. Von 1999 bis 2004 arbeitete er an der Pädagogischen Hochschule Weingar- 7 http://www.theatlantic.com/technology/archive/2012/02/ ten und promovierte mit einer Arbeit zur Philosophie der more-than-human-the-ethics-of-biologically-enhancing-soldi- Antike an der Hochschule für Philosophie in München. ers/253217/ (accessed 4 June 2015). Ich verdanke viele meiner Er war Lehrbeauftragter an der Helmut-Schmidt-Univer- Beispiele Patrick Lin und seiner Arbeit zu diesemThema. sität der Bundeswehr in Hamburg. Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 50 Von Rollenkonflikten und Verpflichtungen – Militärärzte sind

Ärzte von Dr. Daniel Messelken

Kriege und gewaltsam ausgetragene Konflikte Militärärzte Teil des Militärs sind, gelten sie führen nicht nur zur Zerstörung materieller als Nonkombattanten und genießen Immuni- Güter, sondern bedeuten immer auch Tod, tät vor Angriffen. Diese Sonderrolle geht mit Leid und Verletzung für die beteiligten Solda- Verpflichtungen einher, denn als geschütztes ten oder Kämpfer und die betroffene Zivilbe- Personal dürfen sie sich zum einen nicht an völkerung im Konfliktgebiet. Prominent und Kampfhandlungen beteiligen und müssen eindrücklich wurde das Leid der im Krieg Ver- zum anderen alle Verletzten und Hilfsbedürf- letzten von Henri Dunant, dem Ideengeber für tigen gleichermaßen behandeln – unabhän- die Genfer Konventionen und die Rotkreuz- gig von Nationalität, Rang, Geschlecht und bewegung, in seinen Erinnerungen an Solfe- anderen nichtmedizinischen Unterscheidun- rino beschrieben. Ärzten und medizinischem gen. Medizinische Versorgung soll einzig dem Personal kommt in solchen Situationen eine Prinzip der Humanität verpflichtet und damit wichtige Rolle zu, da sie mit ihrem Wissen und neutral sein. Humanität als „principe essentiel“ durch ihren Einsatz zur Linderung des verur- (nach Pictet) des Völkerrechts ist als Gegenge- sachten Leides beitragen können. Armeen wicht zur Logik der militärischen Notwendig- stellen seit Langem auch Ärzte in ihren Dienst, keit zu verstehen. um ihren Soldaten im Fall einer Verletzung die Die doppelte Rolle des Militärarztes

Aussicht auf eine schnelle medizinische Ver- Zurück zum Inhaltsverzeichnis sorgung zu bieten. Im Beruf des Militärarztes, der zugleich Soldat und Arzt ist, offenbart sich der Konflikt zwischen In diesem Beitrag wird die medizinische Auf- militärischer Notwendigkeit und dem Prinzip gabe und ihre Sonderrolle im Völkerrecht kurz der Humanität in besonderer Weise. Denn die eingeführt und anschließend die Problematik kämpfende und damit auch verletzende Rolle diskutiert, die sich aus der doppelten Rolle des Soldaten steht der heilenden und pfle- als Arzt und Soldat ergibt, welche von Mili- genden Rolle des Arztes entgegen. In gewisser tärärzten begrifflich und leider auch in der Weise wird also vom Militärarzt begrifflich die Realität erwartet wird. Basierend auf völker- Erfüllung zweier Rollen erwartet, die jedoch rechtlichen und ethischen Argumenten zeigt nicht immer miteinander vereinbar sind und dieser Beitrag, dass der medizinischen Rolle damit in einer Person zu Rollenkonflikten mehr Gewicht zugestanden werden muss. oder widersprechenden Rollenverpflichtun- Humanität trotz Krieg gen (dual loyalties1) führen können. Wenn in der Praxis und damit im Erfahrungshorizont Mit den ersten Genfer Konventionen im 19. der Militärärzte die Unterschiede der beiden Jahrhundert und im heute gültigen huma- Rollen verwischt werden, besteht die Gefahr, nitären Völkerrecht wird der medizinischen dass diese Unterschiede zunehmend weniger Tätigkeit und dem mit ihr betrauten Personen- und nicht mehr hinreichend reflektiert wer- kreis eine Sonderstellung eingeräumt: Obwohl den. Die Vermischung der beiden Rollen wird

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 51 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss in heutigen Konflikten befördert durch die einflussreichsten Ansatz zumeist an vier „Einbettung“ von medizinischem Personal Prinzipien gemessen: Respekt der Patien- in kämpfende Einheiten, um deren schnelle tenautonomie, Nichtschaden, Wohltun und medizinische Versorgung zu gewährleisten. (Verteilungs-) Gerechtigkeit. So oder so liegt der Fokus medizinethischer Erwägungen üblicher- Unterschiedliche Rollenethiken weise in der Förderung des Wohls einzelner Wer de facto zwei Rollen zugleich ausfüllen Patienten. (Ausnahmen hiervon werden teil- soll, sieht sich auch mit der Frage konfron- weise in der Forschungsethik und der Public tiert, welche Rollenethik als die relevante(re) Health-Ethik gemacht, bei denen jeweils die zu erachten ist. Zwar müssen die ethischen Gesundheit einer größeren Gruppe betrachtet Regeln für verschiedene Rollen nicht unbe- wird – ohne allerdings den individuellen Pati- dingt und ständig konfligieren; im Fall von enten ganz aus dem Blick zu verlieren.) Militärethik für den Soldaten und Medizinethik Soldat und Arzt sind also an grundlegend für den Arzt muss aber von widersprechenden verschiedene Berufsethiken gebunden. Zuge- berufsethischen Pflichten ausgegangen werden.2 spitzt könnte man sagen: Soldaten verteidigen Militärärzte sind zudem häufig auch zwei Eiden ihr Land und ihre Mitbürger; Ärzte heilen ihre verpflichtet: dem hippokratischen und einem Patienten. Während die Medizinethik einer soldatischen. individuellen Logik folgt, die das Patienten- Auf der einen Seite stehen also militärethi- wohl in den Mittelpunkt stellt, nimmt die Mili- sche Verpflichtungen und Regeln. Sie werden tärethik einen kollektiven Blickwinkel ein. Sie meist aus der Tradition des gerechten Krieges folgt daher kollektiver Logik und zielt auf nati- abgeleitet. Für Soldaten sind in erster Linie onale Sicherheit sowie das Überleben einer die Regeln des ius in bello relevant, nach Gruppe. denen sich Gewalt nur gegen Kombattanten Problematische Doppelrolle in der Realität richten darf und proportional sein muss.

Gewalt ist also auch im Krieg Regeln unter- Wenn nun für die Berufsgruppe der Mili- Zurück zum Inhaltsverzeichnis worfen. Entscheidend ist aber, dass Soldaten tärärzte nicht klar ist, ob sie der Militär- oder nach diesen Regeln in bestimmten Situati- Medizinethik verpflichtet sind, befinden sie onen moralisch berechtigt sind, Soldaten der sich in der Praxis schnell in einem Rollenkon- Gegenseite anzugreifen. Sie dürfen dann auch flikt mit Loyalitäten für beide Rollen. Es ist (potenziell) tödliche Gewalt einsetzen – ohne dabei letztlich unerheblich, ob dieser Rollen- sich dabei zwangsläufig in einer Situation konflikt tatsächlich besteht oder im Einzelfall individueller Notwehr zu befinden. Ein solda- „nur“ so empfunden wird. In den vergangenen tischer Eid oder ein entsprechendes Gelöbnis Jahren hat sich jedenfalls in einer Reihe von verpflichten Soldaten, ihrem Land zu dienen; Fällen gezeigt, dass die (wahrgenommene) als soldatische Tugenden werden häufig etwa doppelte Rolle und die Unsicherheit hinsicht- Gehorsam, Tapferkeit und Kameradschaft lich der Zugehörigkeit in der Realität zu genannt. bedeutenden moralischen Problemen oder sogar zu Verstößen gegen das humanitäre In der Tradition des hippokratischen Eides Völkerrecht geführt haben. Zu nennen sind in schwören Ärzte ihr Leben und Schaffen der diesem Zusammenhang etwa die Beteiligung Gesundheit ihrer Patienten zu widmen, deren (bzw. schon die Anwesenheit) von Ärzten bei Genesung zu fördern und ihnen keinen Verhören, welche an sich oder durch die einge- Schaden zuzufügen. In der modernen Medi- setzten Methoden unmoralisch oder illegal zinethik wird ärztliches Handeln nach dem

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 52 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss sind; ebenso aber auch fragwürdige Triage- zinische Rolle zuweisen. Militärärzte sind nach kriterien und nichtmedizinische Grundlagen dieser Logik zuerst Ärzte und dementspre- für die Patientenselektion (rules of eligibility).3 chend der ärztlichen Berufsethik verpflichtet (auch wenn sie innerhalb des Militärs angestellt Wiederholt ist zuletzt auch die angebliche und bezahlt sind). Es muss nicht begründet Notwendigkeit einer stärkeren Bewaffnung werden, warum sie als Mediziner und wenn des medizinischen Personals und seiner Fahr- sie gemäß der Regelungen für Ärzte handeln, zeuge diskutiert worden, weil diese in aktuellen sondern es muss begründet werden, wenn sie Einsätzen häufig angegriffen würden. Angriffe von dieser Rolle abweichen sollen. auf medizinische Einrichtungen in Konflikten sind unbestritten ein Problem. Allerdings muss Dies wird zum Beispiel in Artikel 16 (Zusatz- die Frage gestellt werden, ob sie sich durch protokoll I) und Artikel 10 (Zusatzprotokoll die Bewaffnung des medizinischen Personals II) zu den Genfer Konventionen deutlich. In verhindern lassen oder ob nicht vielmehr die diesen ist festgelegt, dass niemand „bestraft zunehmende Einbettung von medizinischem werden [darf], weil er eine ärztliche Tätigkeit Personal in militärische Patrouillen und damit ausgeübt hat, die mit dem ärztlichen Ehren- die Vermischung von kämpfender und medizi- kodex im Einklang steht, gleichviel unter nischer Rolle sogar zur Begünstigung solcher welchen Umständen und zu wessen Nutzen Angriffe beiträgt. Nicht ohne Grund wird aus sie ausgeübt worden ist.“ Und ganz ähnlich völkerrechtlicher Perspektive eine angemes- heißt es in Regel 26 des vom Internationalen sene räumliche Distanz zwischen geschützten Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) zusammen- Einheiten und Kombattanten gefordert (1. gestellten International Customary Law: Genfer Konvention, Art. 19). „Punishing a person for performing medical duties compatible with medical ethics or com- Eine weitere problematische Vermischung von pelling a person engaged in medical activities medizinischer und militärischer Rolle kann in to perform acts contrary to medical ethics is so genannten Winning Hearts and Minds-Kam- prohibited.“ Zurück zum Inhaltsverzeichnis pagnen gefunden werden, bei denen ärztliches Völkerrechtlich werden also Militärärzte in Handeln zu nichtmedizinischen Zielen instru- ihrem Handeln ganz klar an die Einhaltung mentalisiert wird. Zuletzt scheint es zumindest medizinethischer Standards gebunden. Die unwahrscheinlicher, dass Ärzte bei der Doku- Verfasser des humanitären Völkerrechts mentation von Kriegsverbrechen und dem verlangen von Militärärzten dabei interessan- Schutz der Rechte von Personen, wie häufig terweise explizit die Einhaltung medizinethi- angenommen, eine neutrale Perspektive scher (und damit außerrechtlicher) Standards. einnehmen, wenn sie sich eher als Soldaten Anders formuliert: Wie sich Militärärzte und wahrnehmen. medizinisches Personal im Krieg zu verhalten Bedeutung und Gewicht der ärztlichen Rolle haben, findet sich nicht nur im Völkerrecht, sondern in erster Linie in den Regelungen Die genannten Beispiele machen deutlich, der Medizinethik.4 Es kann daher von einem dass die Überlagerung von ärztlicher und Vorrang der medizinischen Rolle ausgegangen soldatischer Rolle aus ethischer Sicht als prob- werden. lematisch zu erachten ist. Eine solche Einschät- zung spiegelt sich auch in völkerrechtlichen Damit bleibt natürlich die Frage offen, welche Regelungen und anderen wichtigen Richtlinien medizinethischen Standards zur Geltung wider, die eine klare Rollentrennung fordern kommen und ob diese sich im Konfliktfall von und dem medizinischem Personal seine medi- zivilen Standards unterscheiden. Die bekann-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 53 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss teste Antwort auf diese Frage liefert die World Besonders problematisch ist die Vermischung Medical Association (WMA) in der so genannten von soldatischer und ärztlicher Rolle, wenn Havana Declaration. Dort heißt es im ersten es letztlich in der Verantwortung des indivi- Satz: duellen Militärarztes liegt, eine Gewichtung „Ärztliche Ethik in Zeiten bewaffneter Konflikte der Rollen vorzunehmen, allenfalls sogar unterscheidet sich nicht von der ärztlichen situationsbedingt. Gespräche zeigen, dass Ethik im Frieden.” Militärärzte mit weniger Erfahrung oder in Über diese Aussage (bzw. diese Forderung) eingebetteten Einsatzsituationen ihre ärztli- ist viel diskutiert worden und sie wird häufig chen ethischen und legalen Verpflichtungen wegen ihrer Allgemeinheit kritisiert. Die direkte teilweise verdrängen und sich (primär oder Übertragbarkeit ziviler klinischer Standards auf ausschließlich) als Soldaten wahrnehmen. Konfliktsituationen wird bestritten. Sicherlich Gruppendynamik in kleinen Einheiten kann können im Einzelfall und vor allem in Extrem- diese Tendenz verstärken. fällen hier Abweichungen unvermeidbar sein. Es ist wichtig, dass die aus militärischer Pers- Allerdings wird dadurch nicht in Frage gestellt, pektive besondere Rolle der Militärärzte mit dass für Ärzte auch in Kriegs- und Konfliktsi- ihren Verpflichtungen und Einschränkungen tuationen keine anderen berufsethischen auf allen Ebenen und auch beim nichtmedizi- Maßstäbe und ethischen Prinzipien angelegt nischen Personal bekannt und anerkannt ist. 5 werden sollten. Analog argumentieren auch Auch bei der Einsatzplanung muss ihr syste- eine Reihe wichtige internationale Organisa- matisch Rechnung getragen werden. Dazu tionen (darunter das IKRK und das Internati- wird der (politische) Wille benötigt, medizini- onal Committee of Military Medicine, ICMM), die sches Personal und seine unabhängige und in diesem Jahr ein gemeinsames Dokument neutrale medizinische Aufgabe gemäß dem zu Ethical Principles in Health Care in Times of Prinzip der Humanität zu respektieren und Armed Conflict and Other Emergencies verab- zu schützen. Dies liegt letztlich auch im Inte- schieden wollen. In dem Dokumentenentwurf resse der Kombattanten: Denn nur auf diese Zurück zum Inhaltsverzeichnis wird explizit formuliert, dass die Prinzipien Weise kann garantiert werden, dass Mili- und Grundlagen der Medizinethik auch im tärärzte erstens ihren moralischen und legalen militärischen Kontext (oder allgemein in Notsi- Verpflichtungen gerecht werden können und tuationen) unverändert gültig bleiben. zweitens im Notfall dann auch als Militärärzte Schlussbemerkungen zur Verfügung stehen, wenn ihre kämpfenden Kameraden oder andere Gewaltopfer und In der Figur des Militärarztes treffen zwei Leidtragende im Konflikt medizinische Hilfe Rollen aufeinander, die an konfligierende benötigen. Rollenethiken gebunden sind. Dieser Rollen- konflikt ist nicht nur theoretischer Natur, 1 Vgl. z. B. Allhoff, F. (Hrsg.)(2008): Physicians at war – The sondern zeigt sich auch in der Realität (wie dual-loyalties challenge, Dordrecht. die Beispiele weiter oben verdeutlichen). Den 2 Interessant dazu z. B. Sidel, V. & Levy, B. (2003): Physici- aktuellen Tendenzen, in Militärärzten mehr an-Soldier: A Moral Dilemma?, in: Military Medical Ethics Vol. und mehr Soldaten mit speziellen Fähigkeiten 1, hrsg. von T. E. Beam, Washington, S. 293–312. zu sehen, stehen das humanitäre Völkerrecht 3 Für aktuelle Diskussionen militärmedizinethischer Fra- und (medizin-)ethische Prinzipien eindeutig gestellungen vgl. die jährlich erscheinenden Proceedings of the entgegen, welche beide der medizinischen ICMM Workshop on Military Medical Ethics, http://publications. Rolle eine größere Bedeutung und Sonderstel- melac.ch [abgerufen am 13. März 2015] und Gross, M. & lung zugestehen.

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 54 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Carrick, D. (Hrsg.)(2013): Military medical ethics for the 21st century, Farnham.

4 Für eine ausführliche Darstellung der völkerrechtlichen Rolle von Militärärzten vgl. Mehring, S. (2015): First do no harm: medical ethics in international humanitarian law, Leiden.

5 Vgl. dazu Nathanson, V. (2013): Medical Ethics in Pea- cetime and Wartime: The Case for a Better Understanding, International Review of the Red Cross 95/no. 889, S. 189–213.

Dr. Daniel Messelken ist seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Zürcher Fachzentrums für Militärmedizin-Ethik der Schweizerischen Akademie für Militär und Katastrophen- medizin, das in Kooperation mit dem Sanitätsdienst der Schweizer Armee und dem International Committee of Military Medicine (ICMM) Forschung und Weiterbil- dung auf dem Gebiet der Militärmedizin-Ethik durch- führt (www.melac.ch). Daniel Messelken hat in Leipzig und Paris Philosophie und Politikwissenschaft studiert und 2010 an der Universität Leipzig bei Prof. Dr. Georg Meggle mit einer Arbeit zum Begriff und zur morali- schen Bewertung interpersonaler Gewalt in Philosophie Zurück zum Inhaltsverzeichnis promoviert. Seit 2012 ist er Mitglied im Vorstand von Euro-ISME (European Chapter of the International Socie- ty for Military Ethics). Zu seinen Arbeitsgebieten gehören aktuell Militärmedizinethik, Militärethik im Allgemei- nen, Disaster Bioethics und angewandte Ethik.

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 55 Respekt und Distanz – Ärzte ohne Grenzen und das Militär von Dr. Ulrike von Pilar und Birthe Redepenning

Die Rahmenbedingungen humanitärer Hilfe: keit (eher ein fundamentaler ethischer Wert die humanitären Prinzipien als ein Grundsatz), Unparteilichkeit, Unab- hängigkeit und Neutralität. Diese beruhen auf Humanitäre Hilfsorganisationen brauchen den Genfer Konventionen und auf den Verhal- Distanz zu den Streitkräften, um ihre Aufgabe tenskodizes des Roten Kreuzes und des Roten wahrnehmen zu können; gleichzeitig müssen Halbmondes. sie sich darauf verlassen können, dass ihre Prinzipien und ihre Arbeitsweise respektiert Menschlichkeit bedeutet, dass Personen unter werden. Letzteres erweist sich dabei allzu häu- allen Umständen menschlich behandelt wer- fig als schwierige Herausforderung. Warum? den und ihre Würde geachtet wird. In diesem Das soll im Folgenden erläutert werden, und Sinne bildet Menschlichkeit die Grundlage zwar aus dem Blickwinkel von Médecins Sans humanitärer Hilfe; sie begründet deren Ein- Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF). Ärzte satz und Bedeutung, denn sie spricht jedem ohne Grenzen ist eine von Tausenden Hilfsor- Menschen das Recht auf lebensrettende Hilfe ganisationen – aber eine, auf die internatio- zu. Unparteilichkeit übersetzt das Prinzip der nale Streitkräfte bei ihren Auslandseinsätzen Menschlichkeit in praktische Arbeit: Die Hilfe höchstwahrscheinlich treffen werden. soll einzig und allein nach Maßgabe der indi- viduellen Bedürftigkeit geleistet werden, ohne

Ärzte ohne Grenzen ist eine private, internati- Zurück zum Inhaltsverzeichnis Diskriminierung aufgrund von Staatsangehö- onale Hilfsorganisation, die Menschen in Not rigkeit, Ethnie, Geschlecht, sexueller Ausrich- medizinische Hilfe leistet – ungeachtet ihrer tung, Religion oder Zugehörigkeit zu einer ethnischen Herkunft oder ihrer religiösen, bestimmten politischen Gruppe. Unpartei- weltanschaulichen oder politischen Überzeu- lichkeit bedeutet auch, dass die Schwächsten gung. Unabhängige internationale Nichtregie- nach Möglichkeit zuerst versorgt werden. Hilfe, rungsorganisationen (NGOs) wie Ärzte ohne die sich nicht um Unparteilichkeit bemüht, Grenzen unterscheiden sich von den UN-Orga- kann nicht als humanitär bezeichnet werden. nisationen, die stets politisch abhängig sind, Unabhängigkeit bedeutet, dass die Hilfe nicht und auch vom Internationalen Komitee vom von militärischen, politischen, ideologischen Roten Kreuz (IKRK), das ein offizielles Mandat oder ökonomischen Interessen eingeschränkt hat, in Konfliktsituationen aktiv zu werden und oder beeinflusst werden darf. Dieser -Grund die von Konflikten betroffenen Menschen in satz ist für jede humanitäre Organisation, die besonderer Weise zu schützen. unparteiliche Hilfsprogramme umsetzen will, Auch wenn es keine rechtlich verbindliche von grundlegender Bedeutung. Neutralität Definition von humanitärer Hilfe gibt, so- gel schließlich bedeutet, dass Hilfsorganisatio- ten im Allgemeinen doch die folgenden vier nen in Konflikten keine Partei ergreifen dürfen Prinzipien als grundlegende Rahmenbedin- und dass die Hilfe nicht zur Bevorzugung einer gungen für humanitäres Handeln: Menschlich-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 56 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Seite oder zur Unterstützung politischer oder Das Ausmaß, in dem Hilfe bzw. Hilfsmaßnah- wirtschaftlicher Ziele eingesetzt werden darf. men zu einem integralen Bestandteil westli- cher Außen- und Sicherheitspolitik geworden Die Realität der humanitären Hilfe ist natür- sind, ist im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte lich weitaus unübersichtlicher und komplexer, derart gestiegen, dass Antonio Donini, ein auch wenn die Hilfsorganisationen danach bekannter Experte und Forscher im Bereich streben, entsprechend diesen Grundsätzen zu humanitärer Hilfe, 2013 in seinem Buch „The handeln und zu arbeiten. Golden Fleece“ schrieb: „Humanitarismus ist Zunehmend verwischte Grenzen: die Teil der globalen Staatsführung geworden, Instrumentalisierung der humanitären Hilfe wenn nicht gar der Staatsgewalt.“ Für viele Hilfsorganisationen – auch für Ärzte ohne Seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Grenzen – bedeutet dies eine wesentliche Ver- Zusammenbruch der Sowjetunion stehen letzung humanitärer Grundsätze und gefähr- internationale Streitkräfte und humanitäre det die Möglichkeiten der Hilfsorganisationen, Hilfsorganisationen bei ihrer Arbeit im Kon- Menschen in Not zu helfen. text bewaffneter Konflikte zunehmend Seite an Seite: im Nordirak heute und in den frühen Die spürbare Folge dieser Entwicklung ist ein 1990ern, in Somalia, Bosnien, dem Kosovo wachsendes Misstrauen der Behörden und und Afghanistan, um nur ein paar Beispiele Gemeinden in Konfliktgebieten gegenüber zu nennen. Viele dieser als „humanitäre Inter- humanitären Organisationen. Dies kann dazu ventionen“ bezeichneten militärischen Opera- führen, dass Hilfsorganisationen der Zugang tionen wurden seitens der beteiligten Staaten zu hilfsbedürftigen Menschen verwehrt wird. zumindest teilweise mit „humanitären Zielen“ In Pakistan zum Beispiel musste Ärzte ohne gerechtfertigt – etwa der Unterstützung der Grenzen gemeinsam mit anderen Organisa- einheimischen Bevölkerung oder dem Schutz tionen um Zugang und Akzeptanz kämpfen, der Arbeit humanitärer Hilfsorganisationen als bewaffnete staatliche und paramilitärische in den Konfliktgebieten. Nach dem 11. Sep- Gruppen ihnen aus verschiedenen Gründen Zurück zum Inhaltsverzeichnis tember 2001 nahm diese Entwicklung eine den Zugang zur einheimischen Bevölkerung neue Wende. Regierungen begannen nun, die verweigerten. Als 2011 der Verdacht aufkam, humanitäre Hilfe als eines von mehreren Ins- die US-Regierung habe bei der Suche nach trumenten zur Bekämpfung von Terrorismus Osama bin Laden ein fingiertes Impfprogramm und/oder Stabilisierung unruhiger Regionen eingesetzt, folgte der Schaden auf dem Fuß und einzusetzen. Dabei wurde die Sicherheit im wird noch lange nachwirken. Ein aktuelles Bei- internationalen Krisenmanagement eng an spiel aus dem Jahr 2015: die Mission deutscher Hilfs- und Entwicklungsleistungen gekoppelt. Einsatzkräfte im Nordirak zur Unterstützung Dieses Thema ist zu komplex, um es in einem der Ausbildung irakischer Sicherheitsbeam- einzelnen Aufsatz oder Vortrag darzustellen. ter.1 Mit der Einbettung der humanitären Hilfe Dennoch sei kurz angeführt, dass an den meis- in einen breiten militärisch-politischen Ansatz ten bewaffneten Konflikten der Gegenwart verwischt die deutsche Regierung absichtlich eine große Anzahl staatlicher und nichtstaat- die Grenzen zwischen humanitärem Handeln licher Akteure beteiligt sind, die allesamt das und einer politischen/militärischen Reaktion Thema Hilfsleistungen für ihre Zwecke ge- und und gefährdet damit den Zugang humanitärer missbrauchen sowie aus verschiedenen Grün- Hilfsorganisationen zum betreffenden Gebiet. den dazu tendieren, den Zugang Bedürftiger Gleichzeitig kann der Zugang zu Menschen in zur humanitären Hilfe zu beschränken. Not auch dadurch eingeschränkt sein, dass

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 57 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Betroffene aus Furcht vor Vergeltungsmaßnah- Helfern und Mitgliedern der regionalen Wie- men durch eine der Krieg führenden Parteien deraufbauteams (Provincial Reconstruction keine Hilfe mehr in Anspruch nehmen wollen. Teams, PRTs) zu unterscheiden. Gleichzeitig Die praktische Erfahrung von Ärzte ohne Gren- trugen einige Hilfsorganisationen selbst zu zen in der konfliktreichen Provinz Nord-Kivu in der Verwirrung bei, da viele von ihnen mit Gel- der Demokratischen Republik Kongo verdeut- dern westlicher Staaten operierten, die selbst licht dies: „Im Oktober 2009 gerieten Hunderte zu den Konfliktparteien zählten, oder militäri- Frauen und Kinder, die sich für eine Impfung schen Schutz für ihre Mitarbeiter wollten – ein eingefunden hatten […], in insgesamt sieben Vorgehen, das mit den humanitären Prinzi- Dörfern bei Angriffen der kongolesischen Armee pien nicht vereinbar ist, insbesondere nicht auf die Forces Démocratiques de Libération du mit dem der Unabhängigkeit. Darüber hinaus Rwanda (Demokratische Kräfte der Befreiung haben jüngere Studien (beispielsweise der Ruandas, FDLR) unter Beschuss. Diese Angriffe Tufts University) ergeben, dass dieser Ansatz fanden statt, obwohl die medizinischen Teams der Sicherheit der Mitarbeiter nicht zuträglich zuvor von allen Konfliktparteien die Garan- ist. tie erhalten hatten, die Impfkampagne sicher Bis heute ist Afghanistan den Zahlen nach für und unbehelligt in einer Gegend durchführen Helfer der gefährlichste Ort der Welt: So stieg zu können, die für die lokalen Gesundheits- laut dem Aid Worker Security Report 2014 die behörden unzugänglich gewesen wäre. Diese Anzahl der Angriffe auf Helfer im Jahr 2013 Verwendung medizinischer Hilfe als Köder für gegenüber dem Vorjahr um 45 Prozent. Teil- militärische Zwecke zerstörte das Vertrauen weise ist diese Entwicklung auf die Beteiligung der Patienten in Gesundheitsdienstleistungen des Militärs an Tätigkeiten zurückzuführen, die und brachte umso mehr Leid über diese Men- traditionellerweise von Hilfsorganisationen schen, die bereits mit Gewalt und Vertreibung übernommen werden. Dadurch verschwim- konfrontiert waren.“ (Aus einem MSF-Bericht.) men die Grenzen zwischen militärischen und

Zunehmende Unsicherheit für humanitäre zivilen Akteuren. Die Auswirkungen auf die Zurück zum Inhaltsverzeichnis Helfer ist eine weitere direkte Folge fehlen- Wahrnehmung der Hilfe in Afghanistan als den Vertrauens. Denn wenn Hilfe als Teil einer neutral und unabhängig sind dramatisch, wie politischen oder militärischen Agenda wahr- Ärzte ohne Grenzen wiederholt aufgezeigt genommen wird, laufen die Helfer Gefahr, hat, unter anderem in dem 2014 veröffentlich- selbst zum Ziel von Angriffen zu werden. Auch ten Bericht Between Rhetoric and Reality: The wenn es keinen offiziellen Beweis dafür gibt, Struggle to Access Healthcare in Afghanistan. dass die Einbindung humanitärer Hilfe in die Erste Regeln für das Miteinander westliche Sicherheitspolitik eine Ursache für die Zunahme an Gewalt gegenüber Helfern ist, Mit der Zunahme sogenannter integrierter so stimmen doch die meisten Experten darin Einsätze stieg auch der Bedarf nach einer Klä- überein, dass die erhöhten Sicherheitsrisiken rung der Rollen humanitärer und politischer für humanitäres Personal auch eine Folge der Akteure. Deshalb wurde seit den 1990er Jah- oben beschriebenen Politik sind. Afghanistan ren eine Reihe neuer Regeln und Bestimmun- war hierbei ein besonders gefährlicher Ein- gen eingeführt. Dazu gehören beispielsweise satzort für Hilfsorganisationen, da der integ- die Initiative Good Humanitarian Donorship rierte Ansatz der Mission es sowohl der lokalen (Prinzipien und gute Praxis der humanitären Bevölkerung als auch den Konfliktparteien Geberschaft, 2003), der Europäische Konsens sehr erschwerte, zwischen unabhängigen

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 58 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

über die humanitäre Hilfe (2007) und die Leitli- pen entzogen, die politisch unerwünscht sind nien von Oslo (2007). und/oder als Terroristen angesehen werden (z. B. Resolution 1373 des UN-Sicherheitsra- Diese Dokumente betonen noch einmal Ziel tes). So wurden mehrere UN-Resolutionen und Aufgabe der humanitären Hilfe: in Krisen- und Beschlüsse verabschiedet (z.B. Resolution situationen Menschenleben zu retten und Leid 1373 oder 1390 des UN-Sicherheitsrates), die zu lindern. Zudem legen sie fest, dass sich die eine Bereitstellung von Ressourcen – darun- Hilfe allein an den Bedürfnissen der Notlei- ter auch humanitäre Hilfsleistungen – krimi- denden orientiert und nicht für politische oder nalisieren, insofern Gruppen oder Personen militärische Zwecke instrumentalisiert werden von ihnen profitieren, die als terroristisch darf. Der von der EU und ihren Mitgliedstaaten eingestuft wurden.3 Diese Beschlüsse wurden verabschiedete Europäische Konsens über die auf UN- und EU-Ebene angenommen und in humanitäre Hilfe bestimmt zum Beispiel, dass mehreren Mitgliedstaaten in nationales Recht die Achtung der Unabhängigkeit gleichzeitig umgesetzt. Seitdem machen sich Hilfsorga- die Abgrenzung humanitärer Ziele von poli- nisationen strafbar, wenn sie mit Gruppen tischen, ökonomischen, militärischen oder verhandeln, die als terroristische Netzwerke anderen Zielen bedeutet. So soll sichergestellt gelten, oder Menschen Hilfe anbieten, die werden, dass der Zweck humanitärer Hilfe unter der Kontrolle solcher Gruppen stehen. ausschließlich darin besteht, in humanitären Deshalb stehen humanitäre Hilfsorganisatio- Krisen Leid zu lindern oder zu verhindern. nen wie Ärzte ohne Grenzen, trotz aller Bemü- Auf ähnliche Weise spiegelt auch der Vertrag hungen, im Einsatz neben internationalen von Lissabon (2009) die Spannungen zwischen Streitkräften vor großen Hürden. Damit sollte dem Bekenntnis zu humanitären Prinzipien auch klar sein, warum Ärzte ohne Grenzen es und den integrativen Ansätzen der aktiven ablehnt, mit militärischen Einheiten zusam- Außenpolitik wider. Der Vertrag legt fest, dass menzuarbeiten, und versucht, so unabhängig „für die Maßnahmen der Union im Bereich wie möglich von militärischen Interventionen Zurück zum Inhaltsverzeichnis der humanitären Hilfe die Grundsätze und zu bleiben. Ziele des auswärtigen Handelns der Union „Wollen wir denn nicht alle dasselbe?“ den Rahmen [bilden]“.2 Somit wird der umfas- sende Ansatz der Union im internationalen Ist es wirklich nötig, die humanitären Grund- Krisenmanagement auf institutionelle Ebene sätze, ihre Anwendung und Legitimität auf die- gehoben. Bezeichnenderweise vermeidet das ser sehr theoretischen Basis zu diskutieren? Vertragswerk, das Prinzip der Unabhängigkeit Will Ärzte ohne Grenzen letzten Endes nicht humanitärer Hilfe ausdrücklich zu nennen. auch die Sicherheit und Stabilität in bewaff- Diese Vermeidung bzw. dieser Widerspruch neten Konflikten und Frieden, die Demokra- zu den humanitären Prinzipien wurde von tie und die Menschenrechte fördern? Anders vielen Hilfsorganisationen als potenzielle Ver- gefragt: Wollen wir denn nicht alle dasselbe? stärkung der Politisierung von Hilfsleistungen Das sind Fragen, die Ärzte ohne Grenzen häu- kritisiert. fig gestellt werden. Doch die Wahrung von Wie dargestellt, wird die humanitäre Hilfe Stabilität, Sicherheit, Demokratie und Men- zunehmend unter eine übergeordnete Strate- schenrechten gehören nicht in den Verant- gie des War on Terror subsumiert. Als solche wortungsbereich von Hilfsorganisationen, so wird sie als Belohnung für politisches Wohl- erstrebenswert diese Ziele auch sein mögen. verhalten eingesetzt oder aber jenen Grup- Die Aufgabe einer Hilfsorganisation besteht

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 59 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss nicht darin, eine bestimmte Ideologie oder je zuvor und dieser Bereich eine enorme Pro- Weltsicht zu unterstützen, sondern Men- fessionalisierung durchlaufen hat, ist die Hilfe schenleben zu retten und Leid zu lindern. doch äußerst ungleich verteilt und richtet sich Ärzte ohne Grenzen legt großen Wert auf diese allzu oft nicht nach Bedürftigkeit.6 Das ist in Unterscheidung. großen Teilen das Ergebnis der Instrumenta- lisierung, der Kriminalisierung und des Miss- Natürlich vollzieht sich humanitäres Handeln brauchs von Hilfsleistungen durch die oben nicht in einem luftleeren Raum. Helfer agie- dargestellte Politik. ren in einem politischen Kontext und stehen dabei häufig knietief in örtlichen und interna- Für das erfolgreiche Miteinander politischer tionalen politischen Debatten. Von daher kann und militärischer Akteure erachtet Ärzte es niemals eine wirklich neutrale Position in ohne Grenzen die folgenden Grundsätze für einem Konflikt geben – schon gar nicht in den unabdingbar: Augen der Bevölkerung vor Ort oder der betei- Die humanitären Prinzipien müssen der zent- ligten bewaffneten Gruppen. Schließlich hat rale Rahmen für die Definition von Hilfe bleiben. auch die humanitäre Hilfe immer eine Funk- Es wird teilweise behauptet, diese Grundsätze tion und wird aus einem bestimmten Grund hätten ihre Relevanz verloren bzw. seien im bereitgestellt. Dessen Beurteilung allerdings Einsatz vor Ort noch nie sinnvoll gewesen. liegt hauptsächlich im Auge des Betrach- Trotz aller Hürden und Zugeständnisse blei- ters. So bezieht auch Ärzte ohne Grenzen bei ben die humanitären Prinzipien für Ärzte ohne allem Streben nach größtmöglicher Neutra- Grenzen sowie für viele andere Helfer und viele lität manchmal, unter außergewöhnlichen engagierte Politiker jedoch ein wertvolles Inst- Umständen, eine klare politische Position. In rument zur Definition und Abgrenzung dessen, den bewaffneten Konflikten der Gegenwart, was humanitäre Hilfe auf welche Weise leisten die sich durch große Komplexität auszeich- sollte. Deshalb sind vertiefte Kenntnisse und nen, wird es oft zum Drahtseilakt, unpartei- mehr Respekt für diese Prinzipien erforderlich. lich, unabhängig und neutral zu bleiben. Es Zurück zum Inhaltsverzeichnis ist nicht unsere Absicht, bei dieser Argumen- Wir wissen auch, dass akzeptierte, glaubwür- tation den Humanitarismus über die Politik dige Programme unser bester Schutz gegen zu stellen oder zu leugnen, dass Ärzte ohne Misstrauen sind. Wir streben an, im Rahmen Grenzen manchmal selbst schwierige Kom- unserer Möglichkeiten die bestmögliche medi- promisse eingehen muss, um jenen Menschen zinische Versorgung zu leisten. Durch die Unter- zu helfen, die in der heutigen Welt am meisten stützung der Gemeinden vor Ort können wir leiden.4 Allerdings rechtfertigt die Anerken- normalerweise am besten sicherstellen, dass nung der komplexen Verhältnisse und Her- die Menschen uns vertrauen und uns glau- ausforderungen bei der aktiven humanitären ben, dass unser einziges Ziel darin besteht, Hilfe nicht den zunehmenden Missbrauch der ihnen zu helfen. In diesem Zusammenhang ist humanitären Hilfe, wie er seit dem Beginn der es wichtig, auf unsere Finanzierungsstruktur 1990er Jahre ganz offensichtlich in der Politik hinzuweisen. Ärzte ohne Grenzen finanziert des Westens erfolgt. sich hauptsächlich über private Spenden und nimmt für die Arbeit in bewaffneten Konflikten Es steht viel auf dem Spiel: Gegenwärtig sind kein Geld von Staaten an, die an diesem Kon- Millionen von Menschen von bewaffneten flikt beteiligt sind. Für die Projekte in- beson Konflikten und Krisen betroffen, die -von Hel ders heiklen bewaffneten Konflikten wie etwa fern nicht erreicht werden können. Auch wenn in Syrien, Afghanistan oder Nord-Mali nehmen es heutzutage mehr humanitäre Hilfe gibt als

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 60 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss wir überhaupt keine finanziellen Mittel von tionen zu achten. Die Staaten Europas, auch Regierungen an. Insgesamt wird die Arbeit von Deutschland, stehen in der Pflicht, einen Ärzte ohne Grenzen zu 90 Prozent aus privaten unabhängigen Raum für humanitäre Hilfe zu Spenden finanziert. schaffen, der von anderen Instrumenten zum Krisenmanagement eindeutig abzugrenzen Wir sprechen mit jedem (der mit uns spricht). ist. Insbesondere müssen Staaten damit auf- Um Gemeinden in instabilen Konfliktgebieten hören, ihre politischen/militärischen Interven- medizinisch versorgen zu können, muss Ärzte tionen als „humanitär“ zu bezeichnen bzw. die ohne Grenzen jeden Tag aufs Neue seine Unab- humanitäre Hilfe in den Kontext einer größe- hängigkeit und Unparteilichkeit unter Beweis ren Politik- und Sicherheitsstrategie zu stellen. stellen und dabei sorgfältig darauf achten, mit allen Akteuren eines Konflikts zu kommunizie- 1 „Es ist unsere humanitäre Verantwortung und unser sicher- ren. Wir tun unser Möglichstes, um nachzuver- heitspolitisches Interesse, den Leidenden zu helfen und ISIS folgen, wie wir wahrgenommen werden. Die einzudämmen. Die Unterstützungsleistungen der Bundesre- gierung tragen zur Linderung der unmittelbaren humanitären Bewertung der Tätigkeit einer humanitären Notlage und zur Stabilisierung der Lage im Norden des Iraks Hilfsorganisation vor Ort beeinflusst sowohl bei.“ (Seite 6). Weiter heißt es: „Die deutschen Unterstüt- ihren Aktionsradius als auch die Sicherheit zungsleistungen sind eingebettet in einen breiten politischen ihrer Mitarbeiter. Wie eine humanitäre Hilfs- Ansatz, der von der großen Mehrheit der Staatengemein- organisation international wahrgenommen schaft getragen wird und auf politischer, militärischer und wird, wirkt sich auf ihre Möglichkeiten zur rechtsstaatlicher Ebene wirkt“, (Seite 7) und: „Die militäri- politischen Einflussnahme aus. Das ist eine schen Unterstützungsmaßnahmen zugunsten der irakischen Streitkräfte bleiben eingebettet in einen ganzheitlichen komplexe Angelegenheit – viele interne und politischen Ansatz und werden in Ergänzung der weiterlaufen- externe Faktoren, die oftmals kaum nachvoll- den Entwicklungszusammenarbeit, Wirtschaftshilfe sowie der ziehbar sind, bestimmen, wie unser Gegen- fortgesetzten humanitären Hilfe umgesetzt. Abhängig von der über unsere Arbeit wahrnimmt. weiteren Entwicklung und Umfang der Ressort-Engagements wird dieser Ansatz weiter zu entwickeln sein.“ Antrag der Bun- Wir wahren Distanz zu allen politischen Akteu- desregierung „Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte Zurück zum Inhaltsverzeichnis ren, insbesondere den Streitkräften. Nur in Aus- der Regierung der Region Kurdistan-Irak und der irakischen nahmefällen akzeptieren wir den bewaffneten Streitkräfte“ (Drucksache 18/3561). Schutz unserer Mitarbeiter und äußern uns im 2 Ebenda, Kapitel 3, Artikel 188 J, Abschnitt 1. komplexen Umfeld bewaffneter Konflikte nicht 3 Mackintosh, K. & Duplat, P. (2013): Study of the Impact of zu politischen oder militärischen Strategien. Donor Counter Terrorism Measures on Principled Humanita- Deshalb sind wir keine offiziellen Mitglieder rian Action, S. 18 ff. der UN-Koordinierungsstellen und -cluster. 4 In dem 2011 veröffentlichten Buch „Humanitarian Nego- Die Vereinten Nationen sind gleichzeitig eine tiations Revealed: The MSF Experience“ spricht Ärzte ohne Grenzen offen über solche notwendigen Kompromisse, deren politische Vertretung ihrer Mitgliedstaaten und Grenzen und die Bedeutung für die Neutralität. eine für die Koordinierung humanitärer Hilfe 5 Healy, S. & Tiller, S. (2014): Where is everyone? A review verantwortliche Organisation. Wie wir gezeigt of the humanitarian aid system’s response to displacement haben, kann dies in Konfliktgebieten, in denen emergencies in conflict contexts in South Sudan, eastern die UN sowohl eine humanitäre als auch eine Democratic Republic of Congo and Jordan 2012-2013, Méde- politische Rolle spielt, äußerst problematisch cins Sans Frontières. sein. Dieser Artikel basiert auf dem Vortrag und der Veröffent- Ärzte ohne Grenzen wird auch weiterhin Regie- lichung „Humanitarian action and Western military inter- vention – a view from Médecins Sans Frontières “ rungen dazu auffordern, die Unabhängigkeit von Ulrike von Pilar, Corinna Ditscheid und Alfhild Böhrin- und Autonomie humanitärer Hilfsorganisa- ger, Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen Berlin.

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 61 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Dr. Ulrike von Pilar Birthe Redepenning ist Leiterin des Teams für abolvierte einen Master in humanitäre Fragen bei Non Profit Management and Médecins Sans Frontières/ Public Governance. Ihren Ba- Ärzte ohne Grenzen (MSF) in chelor hat sie in International Berlin. Nach dem Studium der Cultural and Business Studies Mathematik promovierte sie abgeschlossen. Sie arbeitet an der Universität Tübingen seit November 2011 bei Ärzte in Biomathematik. Langjäh- ohne Grenzen, erst in der rige Lehrtätigkeit führte sie Spendenabteilung, seit März als Dozentin für Mathematik Foto: Barbara Sigge 2014 ist sie die Assistentin des an verschiedene Universitäten in Deutschland, Belgien Geschäftsführers und unterstützt das Advocacy-Team im und Hongkong. 1991 nahm sie ihre Tätigkeit für MSF Berliner Büro der Organisation. in Brüssel auf, wurde 1993 Mitbegründerin und schließ- lich Gründungspräsidentin von Ärzte ohne Grenzen, der deutschen Sektion von MSF. 1997 bis 2005 war sie Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Deutschland. Zwischen Juni 2009 und April 2012 war sie Vorstands- mitglied von MSF Großbritannien und MSF Ostafrika. 2011 erschien das von ihr herausgegebene Buch „1971– 2011: 40 Jahre MSF“. Seit einigen Jahren ist sie Hauptbe- raterin für den Humanitarian Congress Berlin. Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 62 E-Journal-Special

Helfer in Gefahr – neue Herausforderungen in bewaffneten Konflikten Zerbombte Kliniken, bedrohte Sanitäter und begünstigt, unter anderem auch durch die all- Ärzte – der Krieg macht auch vor den Hel- gegenwärtige Grausamkeit und den Terror des fern keinen Halt. Entführungen von Mitarbei- Islamischen Staats (IS) in den letzten Jahren. tern internationaler Hilfsorganisationen sind immer häufiger die Realität. Seit einigen Jah- Innere Konflikte und Gefahren für militärme- ren steigt die Zahl der humanitären Helfer, dizinische Helfer drohen heute in bewaffne- die in Kriegs- und Krisengebieten angegriffen ten Konflikten von allen Seiten. Das ist nicht werden. In den Jahren 2012 bis 2014 zählte neu und doch kann es heute gefährlicher sein, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz einen Arztkoffer offen auf dem Beifahrersitz (IKRK) in 11 Ländern 4275 Helfer und Patien- zu deponieren, als ein Maschinengewehr bei ten, die Opfer von gewaltsamen Übergriffen sich zu haben. Dies gilt für humanitäre Helfer wurden. Eine medizinische Einrichtung wurde ebenso wie für Militärärzte. Hilfsorganisatio- in diesem Zeitraum in 60 Fällen als militäri- nen bleiben oft in Kriegsgebieten, obwohl es sche Basis missbraucht. Nicht nur die Hilfsor- dort zu gefährlich wird. Sind sie deshalb selbst ganisationen, auch die UN (Vereinte Nationen) schuld, wenn ihnen etwas zustößt und wer sind beunruhigt und suchen nach Gründen. hilft ihnen? Zurück zum Inhaltsverzeichnis Häufig sind terroristische Gruppen an Angrif- Für viele medizinische Helfer ist es wichtig, fen auf humanitäre Helfer beteiligt. eine klare Trennlinie zwischen humanitären Das gesamte medizinische Helferpersonal, und militärischen Einsätzen bzw. NGOs und auch der Sanitätsdienst der Bundeswehr, ist Streitkräften zu ziehen. Im Fall Ebola gab es gefährdet, wenn Gegner die Schutzrechte jedoch in diesem Jahr zum ersten Mal eine der Genfer Konventionen und die Regeln des internationale Kooperation zwischen dem Kriegsvölkerrechts nicht einhalten. Spätestens Roten Kreuz (DRK), dem Internationalen seit dem Krieg in Afghanistan hat das Symbol Roten Kreuz (ICRC) sowie Ärzte ohne Grenzen des Roten Kreuzes seine reine Schutzwirkung (MSF) und der Bundeswehr. Bereits in den Vor- verloren und ist immer häufiger zum Ziel für bereitungskursen arbeiteten diese eng und Angriffe geworden. Es besteht heute -grund durchaus erfolgreich zusammen. sätzlich die Sorge, dass in der Militärmedizin Auch Helfer brauchen Helfer – in vielerlei Hin- ein Denken und Durchsetzen „neuer Werte“ sicht. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr und der Wunsch nach einer „neuen Ethik“ auf- arbeitet derzeit an einem neuen Leitbild. Im kommt, nach der man die eigenen Kameraden Zweifel sollen sich Militärärzte und Sanitä- bevorzugt behandeln darf. Diese Forderung ter immer „für die Menschlichkeit“ entschei- neuer militärmedizinethischer Werte wird vor den. Der Realität in bewaffneten Konflikten allem durch aktuelle asymmetrische Konflikte

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 63 und der Menschlichkeit gerecht zu werden, bedeutet für die Erstellung eines neues Leit- bilds Herausforderung und Chance zugleich. Die medizinische Militärethik befindet sich in mehrfacher Weise im Zwiespalt. In jedem Fall ist eine zeitgemäße, länderübergreifende und ausgewogene Ethik-Ausbildung mit gezielter Vermittlung „moralisch-ethischer Kompeten- zen“ künftig unabdingbar.

Viel Spaß beim Lesen des E-Journal-Special wünscht

Gertrud Maria Vaske Chefredakteurin „Ethik und Militär“ Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 64 E-Journal-Special

Healthcare in Danger – wie aus Helfern Opfer werden

Babak Ali Naraghi ist seit No- heiten wird einfach vorenthalten. Wir stehen vor vember 2014 Leiter des „Health einem immensen Problem. Care in Danger“-Projekts. Er hat zehnjährige Praxiserfahrung Vor 151 Jahren wurde das Erste Genfer Abkom- beim Internationalen Komitee men zur Verbesserung des Loses der Verwun- vom Roten Kreuz (IKRK) und deten und Kranken der Streitkräfte im Felde war in verschiedenen Füh- verabschiedet. Als wichtigste Grundsätze legte rungspositionen im Einsatz, das Abkommen die Pflicht zur Hilfe für die Ver- unter anderem in Afghanistan, wundeten, ungeachtet ihrer Staatsangehörig- Guinea-Conakry, Sudan, Uganda und Sri Lanka. Seit 2000 ist er am Hauptsitz des IKRK in Genf keit, und die Neutralität (Unverletzlichkeit) der tätig und war zuerst Stellvertreter und anschlie- medizinischen Fachkräfte und medizinischen ßend Head of Operations ad interim für Nord- Einrichtungen fest. Zudem führte das Abkom- und Westafrika. Er absolvierte einen Master in men das Symbol des roten Kreuzes auf weißem Politikwissenschaft. Grund als Zeichen des Schutzes für medizini- sche Fachkräfte und medizinische Einrichtun- In den bewaffneten Konflikten der Gegenwart gen ein. werden medizinische Fachkräfte und Einrich- Zurück zum Inhaltsverzeichnis tungen nur allzu häufig zum Ziel gesteuerter Seit ihrer Gründung spielen die nationalen Angriffe oder zu Opfern einer unterschiedslosen Gesellschaften des Roten Kreuzes und Roten Kriegführung. Medizinethik und Unparteilich- Halbmondes als Unterstützung für die mili- keit hinsichtlich der Bedürfnisse der Patienten tärmedizinischen Dienste eine zentrale Rolle finden keine Anwendung, und das Rote Kreuz und sind zusammen mit dem Internationalen stellt kein Zeichen des Schutzes mehr dar. Diese Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) bestrebt, Form der Gewalt wirkt sich direkt und unmittel- den Opfern bewaffneter Konflikte und anderer bar auf die Kranken und Verwundeten aus. Noch Notsituationen Zugang zu medizinischer Ver- dramatischer aber ist die Folgewirkung für die sorgung zu bieten. Dennoch ist 151 Jahre nach Bevölkerung und das Gesundheitswesen der Verabschiedung des Ersten Genfer Abkommens jeweiligen Länder: Krankenhäuser werden zer- festzuhalten, dass die Verletzung der dort fest- stört oder geschlossen, medizinische Fachkräfte gelegten Grundsätze ein akutes und doch häu- werden getötet oder fliehen und die Einrichtun- fig ignoriertes Problem darstellt. gen können ihre Aufgaben nicht wahrnehmen, Das IKRK zeigte sich bereits 2008 alarmiert weil es an grundlegender Ausstattung fehlt. Der durch die zunehmenden Schwierigkeiten bei Zugang zu elementaren Angeboten wie einer der sicheren medizinischen Versorgung in Kon- medizinischen Grundversorgung, Impfpro- fliktregionen und führte eine Erhebung und grammen, Gesundheitsfürsorge für Mutter und Auswertung von Daten aus 16 Ländern durch, Kind und Unterstützung bei chronischen Krank- die von Kriegen oder anderen Notsituationen

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 65 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss betroffen waren. Diese länderübergreifende Stu- ten Akteuren aus verschiedenen Perspektiven die kam zu dem Schluss, dass das Problem der beleuchtet. Dazu zählten die Gesetzgebung, die Unsicherheit und Gewalt mit der entsprechen- für die Streitkräfte des jeweiligen Landes - eta den Auswirkung auf die Gesundheitsversorgung blierte Verfahrensweise, ethische Grundsätze nicht als einfache Summe einzelner Zwischen- in der Gesundheitsversorgung, die Rolle von fälle betrachtet werden dürfe. Vielmehr han- Führungspersönlichkeiten der Zivilgesellschaft, dele es sich angesichts der Konsequenzen um die Sicherheit der Gesundheitseinrichtungen, ein komplexes humanitäres Problem, dessen Ambulanzen und Rettungswagen sowie die Lösung nicht nur bei den medizinischen Fach- beobachteten Handlungsformen nichtstaatli- kräften liege, sondern auch und vor allem eine cher bewaffneter Gruppen. In der Folge wurde Aufgabe von Recht und Politik sei – ein Dialog eine Reihe von Maßnahmen erarbeitet, um über humanitäre Fragen müsse gemeinsam mit die Sicherheit beim Zugang zur medizinischen allen Beteiligten zu abgestimmten Gegenmaß- Versorgung sowie deren Durchführung zu ver- nahmen führen. bessern. In folgenden Situationen sind diese Die Ergebnisse der Untersuchung wurden auf Maßnahmen für die militärische Einsatzpra- der Internationalen Konferenz des Roten Kreu- xis von direkter Bedeutung: Durchführung von zes und Roten Halbmondes im Jahr 2011 rund Suchoperationen und Verhaftungen in Gesund- 3.700 Teilnehmern aus über 180 Unterzeichner- heitseinrichtungen, Besetzung von Checkpoints staaten der Genfer Abkommen vorgestellt. Auf sowie Durchführung von Kampfhandlungen in der Grundlage der Ergebnisse verabschiedete der Nähe einer Gesundheitseinrichtung. Tat- die Konferenz die Resolution 5 – Health Care in sächlich ergab die Datenerhebung des IKRK, Danger und beauftragte das IKRK, mit Experten dass Angehörige der Streitkräfte mit am stärks- der Länder und dem Roten Halbmond sowie ten für Gewalt gegen Gesundheitspersonal und mit weiteren Akteuren im Gesundheitsbereich -einrichtungen verantwortlich sind, insbeson- ins Gespräch zu kommen, um die medizini- dere in den oben genannten Situationen.

sche Versorgung in bewaffneten Konflikten und Viele der in dem HCID-Projekt erarbeiteten Zurück zum Inhaltsverzeichnis anderen Notsituationen sicherer zu gestalten. Empfehlungen verstehen sich als präventive Damit war das Projekt Health Care in Danger Maßnahmen. Sie sollen zum Beispiel sicherstel- (Gesundheitsversorgung in Gefahr geboren, len, dass Gesundheitsdienste, Behörden und HCID) geboren. Gefechtsbeteiligte sich angemessen auf Situa- Seitdem hat die Initiative zahlreiche Beteiligte tionen einstellen können, die infolge von Unsi- zusammengebracht – Gesetzgeber, politische cherheit oder im Zusammenhang mit Gewalt Entscheidungsträger, staatliches Gesundheits- gegen Gesundheitseinrichtungen entstehen. personal, Waffenträger, humanitäre Hilfsor- Zudem soll eine angemessene Vorbereitung auf ganisationen, Vertreter der Wissenschaft und bzw. Linderung der Auswirkungen bewaffneter Zivilgesellschaft. Es geht darum, konkrete und Konflikte und sonstiger Notlagen sichergestellt praktische Empfehlungen zu erarbeiten und werden. im Ergebnis die Achtung und den Schutz für Die präventive Natur der HCID-Empfehlungen die medizinische Versorgung in Konflikten zu wirkt sich unter anderem auf die folgenden stärken. Bereiche aus: Das Thema Gewalt gegen Gesundheitsperso- –– Militärische Leitbilder und Übungen1 tragen nal und Gesundheitseinrichtungen wurde in 12 dazu bei, im Fall bewaffneter Konflikte und Ländern in Form von Workshops sowie im Rah- anderer Notlagen einen sicheren Zugang men direkter Gespräche mit den oben genann-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 66 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

zu medizinischen Leistungen sowie deren ziehen und aktiv werden, können wir den weit- sichere Durchführung zu gewährleisten. reichenden Folgen von Gewalt gegen Gesund- –– Vorsorge in Gesundheitseinrichtungen. heitspersonal und Gesundheitseinrichtungen Mithilfe einer angemessenen Notfallpla- im humanitären Bereich wirksam begegnen. nung können die Folgen von Gewalt gegen Das Thema gewinnt auf globaler Ebene zuneh- Gesundheitseinrichtungen abgefedert oder mend an Fahrt. Inzwischen dürfen wir auf eine möglicherweise sogar ganz vermieden Reihe wichtiger Meilensteine verweisen. So werden. wurde zum Beispiel im Dezember 2014 während –– Die Schulung der medizinischen Fachkräfte2 der 69. Tagung der Generalversammlung der erfolgt nicht nur zu fachlichen Aspekten der Vereinten Nationen die Resolution zu Außen- medizinischen Versorgung, sondern insbe- politik und globaler Gesundheit zusammen sondere auch zu den Rechten und Pflich- mit drei weiteren Resolutionen verabschiedet. ten sowie zu ethischen Problemen, die in Die vier Resolutionen rufen die Staatengemein- bewaffneten Konflikten und anderen Notla- schaft dazu auf, 1) die Gesundheitsversorgung zu gen typischerweise auftreten. schützen, 2) die Widerstandsfähigkeit der nati- onalen Gesundheitssysteme zu stärken und 3) –– Schulung und Einbeziehung der jeweiligen geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Gewalt nationalen Gesellschaften des Roten -Kreu gegen Gesundheitspersonal und Gesundheits- zes und Roten Halbmondes. einrichtungen einzudämmen und zu vermei- –– angemessene Koordinierung aller an der den. Damit wurde der Weg frei für ein stärkeres Notversorgung beteiligten Akteure. Dafür internationales Engagement zur sicheren medi- sind sowohl Pläne für eine entsprechende zinischen Versorgung im Konfliktfall. Koordinierung als auch szenariobasierte Trainings vor Einsatzbeginn erforderlich. Mit Blick in die Zukunft wird die im Dezember 2015 stattfindende Internationale Konferenz –– Erarbeitung von nationalen normativen des Roten Kreuzes und des Roten Halbmon- 3 Zurück zum Inhaltsverzeichnis Rahmenvorgaben für die Umsetzung inter- des ein nächster wichtiger Meilenstein sein. nationaler Verpflichtungen zum Schutz der Bei dieser Gelegenheit werden die beteiligten Gesundheitsversorgung in bewaffneten Akteure erneut die Wichtigkeit dieses Themas Konflikten und anderen Notlagen. Um die unterstreichen, seine weitreichenden unmittel- Wirksamkeit eines normativen Rahmens baren und langfristigen Folgen im humanitären sicherzustellen, muss er bereits zu Friedens- Bereich anerkennen sowie sich zur Umsetzung zeiten geschaffen werden. der im Rahmen des HCID-Projekts ausgespro- Im Laufe der Jahre haben sich tragfähige Part- chenen Empfehlungen verpflichten. nerschaften mit relevanten Akteuren entwickelt, 1 Vgl. auch HCID-Veröffentlichung: „Promoting military zum Beispiel mit dem Weltärztebund, dem operational practice that ensures safe access to and delivery of International Council of Nurses (einem Zusam- health care“. menschluss nationaler Berufsverbände im Pfle- gebereich), dem International Council of Military 2 Vgl. auch HCID-Veröffentlichung: „Ambulance and pre-hos- Medicine (Internationaler Rat der Militärmedi- pital services in risk situations“; „Health care in danger: The res- zin), der International Federation of Medical Stu- ponsibilities of health-care personnel working in armed conflicts dents Association (Internationale Vereinigung and other emergencies“. medizinischer Studentenorganisationen) und 3 Vgl. auch HCID-Veröffentlichung: „Domestic Normative der Weltgesundheitsorganisation. Nur wenn frameworks for the Protection of Health Care“. viele verschiedene Akteure an einem Strang

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 67 E-Journal-Special

Neue Werte für Sanitäter? Medizinische Ethik in militärischen Kontexten

Generaloberstabsarzt Dr. Im Augenblick diskutieren wir auch mit der Ingo Patschke trat 1973 in die Unterstützung von renommierten Ethikern Bundeswehr ein und ist seit 2011 über die Frage, wie wir uns selbst als Sanitäter Generaloberstabsarzt und Ins- sehen. Gibt es Situationen, in denen es unum- pekteur des Sanitätsdienstes der gänglich ist oder von uns ethisch geradezu Bundeswehr. Er wurde mit dem Ehrenkreuz der Bundeswehr in gefordert wird, am Feuerkampf teilzuneh- Silber (1994) und Gold (2000) men – und wo liegen die Grenzen? Sollen wir ausgezeichnet und erhielt 2002 das rote Kreuz verstecken, um nicht zur Ziel- die Einsatzmedaille Bronze Fluthilfe. 2006 wurde scheibe zu werden, oder müssen wir uns sogar ihm sowohl die Bundeswehr-Einsatzmedaille als so stark wie möglich bewaffnen? auch die NATO-Medaille ISAF verliehen und er ist seit 2014 Träger des Verdienstordens der Diese Diskussion ist bei Weitem noch nicht aus- Bundesrepublik Deutschland gestanden. Wir haben uns im Rahmen eines Generalstreffens Ende 2014 dieser Fragestel- In Diskussionsrunden spüre ich immer wie- lung als Teil eines Gesamtbilds – das Selbst- der, dass jüngere Militärärzte und Sanitäter verständnis des Sanitätsdienstes – gewidmet. teilweise eine radikalere Ansicht zu manchen Zurück zum Inhaltsverzeichnis Dingen vertreten, als es die „Alten“ – und dazu Ein weiteres Dilemma zeigt sich, wenn wir als zähle ich mich – tun würden. Arzt, als Rettungsassistent oder als Sanitäter im Einsatz handeln. Wie ist hier das Verhältnis Aus den vielen verschiedenen ethischen Dilem- von uns zu unseren Patienten zu betrachten, mata, denen wir im Sanitätsdienst ausgesetzt insbesondere vor dem Hintergrund einer mög- sind, möchte ich zunächst das Spannungsfeld licherweise geforderten Nützlichkeitsabwä- zwischen Arzt und Soldat herausgreifen. Es gung? Wir alle kennen eine MASCAL-Situation, gibt darüber seit vielen Jahren Publikationen d. h. eine Situation, in der ein Missverhältnis von Sanitätsoffizieren, die einmal als Arzt und zwischen einer hohen Anzahl anfallender Pati- einmal als Offizier aus unterschiedlichen Blick- enten und den zur Verfügung stehenden Res- winkeln über ihr Rollenverständnis schreiben. sourcen herrscht. Das bedeutet: Selbst wenn Ich glaube, dass der Fokus sich insbesondere es sich bei den Patienten um unsere eigenen vor dem Hintergrund der Auslandseinsätze Soldaten handelt, machen wir auch dort im zunehmend auf die Frage richtet, die nicht Grunde genommen eine Nützlichkeitsabwä- nur für den Arzt, sondern generell für jeden gung, indem wir die Chancen für einen Patien- aus dem Sanitätsdienst dahintersteckt: „Was ten, der sehr schwer verwundet ist, gegenüber machen wir tatsächlich in einer Kampfsitua- der Möglichkeit abwägen, in der gleichen Situ- tion – sind wir dann mehr Sanitäter oder sind ation viele andere Patienten retten zu können. wir mehr Kämpfer?“ Wir müssen also ab einem gewissen Punkt

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 68 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss mangelnder personeller oder materieller Res- über die Jahre hinweg verändert haben. Als sourcen weg von der Individualmedizin, wie ich Sanitätsoffizier und junger war, wir sie in Mitteleuropa, in den USA oder in bestand die wahrscheinlichste Bedrohung, Israel kennen, hin zu einer Abwägung der Mög- die ich mir denken konnte, in einem Krieg zwi- lichkeiten in solchen Notlagen. schen NATO und Warschauer Pakt aufgrund einer möglichen Konfrontation. Bei diesem Das also ist aus meiner Sicht nicht das eigent- Szenario konnte man sich auf das humanitäre liche Dilemma. Die ethische Frage lautet viel- Völkerrecht berufen und es gab – zumindest in mehr: Ist uns im übertragenen Sinne das der Theorie – Spielregeln, wie ich auf der einen Hemd nicht näher als die Hose? Ist mir der ver- Seite als Sanitäter oder Sanitätsoffizier durch letzte Soldat als Bundeswehrangehöriger oder einen Gegner behandelt werden würde und als Angehöriger meiner Koalition nicht wichti- wie ich auf der anderen Seite als Sanitätsof- ger und wertvoller in der Behandlung als ein fizier meinen Gegner behandeln sollte, wenn Zivilist oder eben auch – schlimmer noch – als dieser mir als Patient gegenübertritt. Dies habe ein Gegner? Wir sind eben nicht das Deutsche ich auch vor dem Hintergrund gegenseitiger Rote Kreuz, sondern die Betriebssanitäter der ethischer Verpflichtungen als eine gewisse Bundeswehr. Man muss sich darüber klar sein, Ausgewogenheit empfunden. dass unser Handeln in dreierlei Weise wirkt. Einmal auf mich selbst als Behandelnder: Ich In den modernen Konflikten und asymme- habe einen ethischen und auch einen ärztli- trischen Kriegen – wir brauchen aktuell nur chen Anspruch an mich, den ich gerne befol- in den Nordirak zu schauen – sehen wir dazu gen will. Dann hat mein Handeln natürlich eine doch deutliche Unterschiede. Was wir hier Wirkung auf den potenziellen Patienten – und sehen und in der Vergangenheit schon in Afg- wenn es ein gegnerischer Patient ist, hat es hanistan gesehen haben, ist für mich ehrlich somit einen erheblichen Einfluss auf den Geg- gesagt durchaus ein Problem. Denn der Geg- ner, ob ich ihn behandle oder nicht. Und als ner in Afghanistan oder, noch schlimmer, der dritte Gruppe gibt es meine eigenen Soldaten, IS, hat für mich eine andere Qualität. Einen Zurück zum Inhaltsverzeichnis für die ich eigentlich da bin. Diese vertrauen Gegner der alten Art konnte ich auch emotio- auf mich und verlangen von mir, vorrangig für nal irgendwie verstehen. Denn dieser Gegner sie da zu sein. Der gute Ruf des Sanitätsdiens- war ein Mensch aus meinem europäischen Kul- tes der Bundeswehr im Einsatz beruht auch turkreis. Er hatte prinzipiell denselben Auftrag auf dem Vertrauen der Truppe und insbeson- wie ich, nur eben reziprok. Bei den neuen Krie- dere der Erkenntnis, dass wir für sie da sind – gen – diesen asymmetrischen Konflikten –, bei und zwar unter allen Bedingungen. denen oft furchtbare Dinge passieren, fehlt mir oft das Verständnis und ich hätte persönlich Wenn wir diesen guten Ruf dadurch verwäs- Schwierigkeiten, manche Gegner als bemit- sern, dass wir andere auch behandeln oder leidenswerte Individuen zu erkennen, wenn vielleicht zuerst behandeln, dann ist das mög- sie mir als Patienten gegenüberträten. Das licherweise in den Augen unserer eigenen Sol- macht durchaus etwas aus. Und ich erkenne daten ein Problem, mit dem sie sich erst einmal auch darin ein Dilemma, dass zwischen rech- auseinandersetzen müssen. Ich denke, das tens und richtig aus meiner Sicht eine immer müssen wir auch aus der Perspektive der Ein- größere Schere klafft. Dass das humanitäre satzverpflichtung durchaus im Blick behalten. Völkerrecht in dieser Art von innerstaatlichen Das dritte Dilemma, welches ich persönlich Konflikten immer weniger Anwendung finden sehe, liegt darin, dass sich Krieg und Gegner

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 69 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss kann, ist gerade für unsere Leute ein großes auf Kriegsdienstverweigerung ist per se richtig Problem. für eine Demokratie. Deswegen bin ich fest davon überzeugt, dass Bleiben wir also im Gespräch und hoffen auf Veranstaltungen, Diskussionen, Publikationen zahlreiche spannende und auch kontroverse und lebhafter Austausch zu diesen Themen in Diskussionen zu diesem Thema. Medizinische nicht unerheblichem Maße wertvoll und geeig- Ethik in militärischen Kontexten wird uns auch net sind, den eigenen Wertekompass zu justie- zukünftig immer wieder vor große Herausfor- ren und sich dessen bewusst zu werden, wofür derungen stellen. wir stehen. Unser Grundgesetz, aufgeklärter Humanismus oder auch unsere Religion, um nur einige zu nennen, sind Werte, die uns tra- gen und die wir aus meiner Sicht den Unwerten moderner, asymmetrischer Konflikte entgegen setzen müssen. Wir – die ältere Generation – müssen hier Ver- antwortung übernehmen in der Diskussion und können nicht alles den Jüngeren über- lassen, auch wenn diese unstrittig die Zukunft des Sanitätsdienstes darstellen. Wir müssen die Jungen vorbereiten auf Situationen, die im Krieg oder in solchen Konflikten passieren kön- nen, damit sie eine Vorstellung und ethisches Rüstzeug für diese Dilemmata und für ihr eige- nes Handeln entwickeln können. Vorantreiben müssen wir tatsächlich den Dialog mit den Zurück zum Inhaltsverzeichnis Jungen über diese möglichen Fragestellun- gen. Wir hatten in den letzten zwei Jahren eine Welle der Kriegsdienstverweigerung innerhalb des Sanitätsdienstes. Sehr viele von diesen Antragstellern, die das Recht auf Kriegsdienst- verweigerung für sich in Anspruch nehmen wollten, waren erkennbar finanziell getrieben durch die Verlockungen oder vermeintlichen Verlockungen eines guten Verdienstes außer- halb der Bundeswehr. Aber ich verkenne nicht, dass auch einige dabei waren, die gerade aus einer schwierigen Situation im Einsatz her- aus „wach geworden“ sind, die damit nicht zurechtkamen und gesagt haben, dass sie sich in eine solche emotionale und ethische Zwick- mühle nicht mehr begeben könnten. In der Folge haben sie den Weg aus der Bundeswehr gesucht. Aus meiner Sicht war und ist es rich- tig, ihnen das zu ermöglichen, denn das Recht

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 70 E-Journal-Special

Erster deutscher Militärpfarrer im Ebola-Gebiet – wer hilft den Helfenden? Andreas-Christian Tübler im Interview mit Gertrud Maria Vaske

Andreas-Christian Tübler ist für die Bevölkerung zu schaffen. Die Aufgabe ev.-luth. Militärpfarrer und seit des Militärpfarrers ist, die Bundeswehrsoldaten 2010 Leiter des Militärpfarramts zu stabilisieren, denn wir wussten nicht genau, Appen/Heide/Seeth. Er ist nebenamtlich Dozent an wie groß die Gefahr sein würde. Wir haben der Führungsakademie der durchaus mit vielen Ebola-Toten im Stadium Bundeswehr und war in ver- der Ausbildung in Hamburg gerechnet. Es hat schiedenen Auslandseinsätzen. sich aber herausgestellt, dass diese Befürchtung 2014 begleitete er das grundlos war, dennoch wurde jeder Patient in Ausbildungskontingent der Bundeswehr in Mali unserer Einrichtung die ersten beiden Tage bis (Westafrika). 2015 war er freiwillig im humanitä- zur definitiven Blutanalyse so behandelt, als ob ren Ebola-Hilfseinsatz in Liberia und unterstützte Soldaten und das Deutsche Rote Kreuz. er Ebola haben könnte, und das hat eine dau- ernde, schleichende 24/7-Bereitschaft zum Aus- Ebola – zum ersten Mal in der deutschen druck gebracht. Geschichte arbeiteten Bundeswehr, Deutsches Was genau konnten Sie in Liberia in der Haupt- Rotes Kreuz (DRK), Internationales Rotes Kreuz stadt Monrovia tun? Wie war Ihr konkreter (IKRK) und Ärzte ohne Grenzen (MSF) zusam- Arbeitsalltag? men. In den Ebola-Vorbereitungskursen nutz- Zurück zum Inhaltsverzeichnis ten sie gemeinsam Synergien und konnten in Der Alltag begann 06:00 Uhr morgens und ging diesem humanitären Einsatz stark voneinander bis um 21:00 Uhr. Neben anderem war eine Prä- profitieren – Militärpfarrer Andreas-Christian senz im benachbarten Lager – bestehend aus Tübler war als erster deutscher Militärseelsor- einer Zeltstadt (200 x 200 m) mit mehreren Zel- ger in Liberia. Für die Helfer und Kranken war er ten für verwundete bzw. für verletzte Personen direkt vor Ort. – notwendig, um mit den Menschen zu reden, einschließlich des Personals der Bundeswehr, Vaske: Als Sie im Ebola-Einsatz vor Ort waren, des Roten Kreuzes und schließlich der Einheimi- gab es zum Glück wenig infizierte Menschen, schen. Am Ende des Tages gingen wir in unser trotzdem war die ständige Angst vor Anste- Hotel zurück und sprachen über das Erlebte mit ckung vorhanden. Worum ging es in diesen den Soldaten und gestalteten gemeinsam die Einsätzen genau und was ist dabei Ihre Funk- Freizeit (Gottesdienste usw.). tion als Militärpfarrer? Was genau konnten Sie den Soldaten und Tübler: Auftrag und Ziel dieser Einsätze sowohl freiwilligen Helfern mitgeben, wie konnten Sie von der Bundeswehr als auch vom Roten Kreuz helfen? war, die Infektionskette zu unterbrechen. Es galt, die Infektionskette von Ebola von Ausbruch bis Ich weiß nicht, ob man das so punktuell sagen zum Ende zu unterbrechen, Erste Hilfe für die kann. Ich war dafür da, die Gespräche im infizierten Personen zu leisten und Sicherheit Back-Office-Bereich, also im Rückraum dessen,

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 71 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss was man in der Zeltstadt tat, zu führen und den Das Krankheitsbild von Ebola gibt es schon Soldaten die Gewissheit zu geben, dass sie gute seit über 30 Jahren. Erst als Europa durch Arbeit gemacht haben. Ich sprach mit den Betei- einreisende Personen konkret bedroht war, ligten über die Probleme, die sie in bestimmten schalteten sich Politik und Industrie ein, dies Situationen hatten. Wir hatten zum Beispiel sollte sich ändern. Eine Weißhelm-Truppe soll keine Ebola-Patienten, aber wir hatten eine speziell für Infektionskrankheiten ausgebildet Reihe von HIV-Patienten, die unsere besondere werden, um schneller eingreifen zu können. Aufmerksamkeit brauchten, und das war nicht Weiterhin gibt es viele Dörfer und Gegenden, immer ganz einfach. Man sah schwere Verlet- in denen wir noch nicht waren, da diese inf- zungen und abgestorbene Gliedmaßen und die rastrukturell nicht zugänglich sind. Natürlich seelische Situation der Patienten wie auch der kann es sein, dass hier noch Ebola-Patienten Betreuungspersonen war zwiespältig, deshalb liegen, ohne dass man es weiß. Es handelt sich musste mit allen darüber gesprochen werden. in Liberia, Sierra Leone und Guinea um eine Letztlich ist meine Aufgabe, ein offenes Ohr für Grauzone, da niemand definitiv sagen kann, die Menschen im Einsatz zu haben. ob Ebola bekämpft ist. Deshalb muss man wei- terhin achtsam sein. Was sagen Sie den Menschen vor Ort, um Ihnen die konkreten Sorgen zu nehmen? Wie groß war Ihre Angst vor Ansteckung mit Ebola? Es geht darum, das Erlebte und besondere Situ- ationen in Form von Gesprächen (Frage – Ant- Angst war nicht vorhanden, aber die Befürch- wort) einzuordnen. Ich habe selber die Situation tung ist immer mitgeschwungen. Im November miterlebt, ich habe selber Besuche bei Patien- letzten Jahres haben wir Meldungen gehört, ten gemacht, übrigens auch bei den HIV-Patien- dass man sich auf viele Tote einstellen muss. ten. Ich war zwar nicht im Ebola-verdächtigen Zum Glück ist es nicht so weit gekommen. Angst Bereich, aber in dem Bereich, wo andere schwer- hatte ich weniger, weil ich wusste, wenn wir kranke Personen mit anderen Infektions- uns vernünftig schützen, die Hände waschen Zurück zum Inhaltsverzeichnis krankheiten lagen. Man kann versuchen eine und alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, dann gemeinsame Strategie bzw. Zukunftsperspek- können wir eigentlich gut mit der Gefahr leben. tive zu entwickeln, zum Beispiel mittels externer Ebola hat Ängste, Anteilnahme und Hilfe Förderung mit Geld, mit Überlegungen zur Ver- ausgelöst. Zum ersten Mal gab es eine Koope- besserung der Situation im Land oder zur Stär- ration zwischen Bundeswehr, Rotem Kreuz kung des Gesundheitssystems – aber das allein und Ärzte ohne Grenzen in Vorbereitungs- reicht natürlich nicht aus. Es gibt Korruption, die kursen und der Arbeit vor Ort. Wie lief diese Armut ist sehr groß und die Leute handeln eher Kooperation? eigennützig. Es braucht eine „Supervision von außen“, Leute, die zum Beispiel stellvertretend Unter dem Strich lief sie sehr gut. Wir haben für andere Krankenhäuser leiten. Diese Überle- hervorragend zusammengearbeitet, das hat gungen haben wir gemeinsam entwickelt. sich auch nach dem Einsatz gezeigt. Wir hat- ten eine gemeinsame Einsatznachbereitung, Die Pharmaindustrie hat einen Wirkstoff zur in der wir uns ausgetauscht haben und sogar Bekämpfung von Ebola gefunden. Warum ist es Freundschaften geschlossen haben. notwendig, die Arbeit trotzdem fortzuführen? Auch auf der Leitungsebene lief es sehr gut. Ebola kann jeden Tag neu ausbrechen. Es Das Problem ist, dass die Auftragslage – das ist nicht so, dass diese Krankheit nach vier kann aber auch an mir liegen – nicht so ganz Wochen ohne Neuerkrankung bekämpft ist.

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 72 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss klar war, dabei ging es um die Aufgabenvertei- Auslandseinsätzen, alle wussten, worauf sie lung. Als Bundeswehr sollten wir nur unterstüt- sich einlassen, das waren wirklich Profis. Aber zen, aber wir haben weitaus mehr gemacht Profis mit einer weichen Seele, die ein feines und unter anderem medizinisch geholfen. Gespür für die Belange und Bedürfnisse für die Das Rote Kreuz war Head of Mission, jedoch Betroffenen vor Ort hatten. Das habe ich als könnte in Zukunft klarer definiert werden, wer sehr wohltuend empfunden. Damit hatten sie welches Aufgabenprofil hat. Ansonsten war es keinen Konflikt in ihrer Rolle, im Gegenteil, sie gut, „Klarheit schafft Vertrauen“ und für - Fol haben sich in ihrer Rolle richtig wohlgefühlt. geeinsätze sollte bestimmt werden, welcher Sie waren nicht nur im Ebola-Einsatz, sondern Auftrag besteht und wann der Einsatz zu Ende schon häufiger als Militärseelsorger im Aus- ist. Wesentliche Kritikpunkte zum Einsatz kann land tätig. Welche Einsätze waren besonders ich so nicht erkennen, im Gegenteil. Es war so, prekär und wo lauerten die lebensbedrohlichen dass beide Seiten voneinander gelernt haben Gefahren? und Vorurteile abgelegt wurden. Es ist immer so, dass es nie eine total entspannte Denken Sie, dass solche Kooperationen für Situation gibt. Selbst in Nicht-Kampfeinsät- zivile Einsätze zukünftig verstärkt werden zen wie dem Ausbildungseinsatz in Mali ist es sollten? Welche Synergien könnte das haben, immer so, dass die Gefahr mitschwingt und ein insbesondere für die Militärseelsorge? Restrisiko bleibt – sei es durch einen Anschlag Das kann schon so sein, insbesondere wenn auf dem Weg zum Besuch der Botschaft (ist es sich um keine Kampfeinsätze, sondern um zum Glück nicht passiert, da die Bundeswehr Hilfseinsätze handelt, kann ich mir durchaus alle erforderlichen Maßnahmen trifft) oder vorstellen, dass man die Ressourcen bündelt. durch Ansteckung einer Krankheit. Es muss Sofern die Auftragslage (wer macht was?) für nicht sein, es reicht schon aus, wenn Sie sich die einzelnen Bereiche und Institutionen klar mit Malaria oder mit anderen Krankheiten ist, können solche Kooperationen mit Ärzte anstecken. Die Bundeswehr tut alles dafür, Zurück zum Inhaltsverzeichnis ohne Grenzen, der Gesellschaft für internatio- dass sie diese Gefahr reduziert, aber so ganz nale Zusammenarbeit oder anderen Partnern ungefährlich und ohne Risiko ist nichts auf der vollzogen werden. Welt. Militärärzte sind Ärzte und Soldaten. Haben Sie als Militärseelsorger die Erfahrung gemacht, dass Militärärzte oder Helfer in Situationen kamen, in denen diese Doppelrolle durchaus als Rollenkonflikt wahrgenommen wurde? Im letzten Einsatz nicht. Es gibt Situationen in Kampfeinsätzen, in denen dieser Rollenkon- flikt vorhanden ist. Ich selbst habe diesen Kon- flikt noch nicht erlebt. Hier war es so, dass es äußerst professio- nelle Ärzte waren – sowohl von Seiten des Deutschen Roten Kreuzes als auch von der Bundeswehr. Alle Ärzte hatten Erfahrung in

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 73 E-Journal-Special

Die Gefahr der „schiefen Ebene“ – Sanitätspersonal zwischen Medizinethik und militärischem Auftrag

Oberfeldarzt Prof. Dr. andererseits Teile der Militärmedizin und der Ralf Vollmuth arbeitet am Sanitätsdienste jenseits aller medizinethischer Zentrum für Militärgeschichte Kategorien willig missbrauchen ließen. und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam und Ethische Maßstäbe und rechtliche Vorgaben ist apl. Professor für Geschichte der Medizin an der Universität Die Aufgaben des Soldaten und die Grenzen sei- Würzburg. Nach seinem Ein- ner legitimen Gewaltanwendung ergeben sich tritt in die Bundeswehr als Sa- aus staatlichen wie überstaatlichen Rechts- nitätsoffizieranwärter studierte er Zahnmedizin normen, also etwa im nationalen Rahmen und Geschichte; er promovierte und habilitierte dem Grundgesetz, dem Soldatengesetz, dem sich in Geschichte der Medizin. Im Sanitäts- dienst durchlief er zahlreiche Verwendungen im Strafrecht sowie international im Wesentlichen zahnärztlich-kurativen Bereich und in Stäben dem Kriegsvölkerrecht und dem humanitären und Kommandobehörden. Zu seinen Schwer- Völkerrecht. – Der ethische Grundkonsens für punkten zählen das berufliche Selbstverständnis den ärztlichen Beruf wurde im hippokratischen im Sanitätsdienst und Wehrmedizinethik. Als Eid seit der Antike tradiert und lebt heute in Zurück zum Inhaltsverzeichnis Autor zahlreicher Fachbeiträge gehört er diver- etwas modifizierter und aktualisierter Form, sen Fachgremien an und leitet den Arbeitskreis aber in den wesentlichen Aussagen unver- Geschichte und Ethik der Wehrmedizin. ändert gültig, im Genfer Gelöbnis weiter (wie Im Zusammenhang mit dem Beruf und der übrigens auch die anderen Deklarationen des Stellung des Sanitätsoffiziers begegnet konse- Weltärztebundes wichtige ethische Maßstäbe quent das Bild vom „Spannungsfeld zwischen setzen). Einige Kernpunkte sind unter anderem Arzt und Offizier“, ja diese immer wiederkeh- der Dienst an der Menschlichkeit, die ärztliche rende Formulierung scheint geradezu eine Schweigepflicht sowie das Patientenwohl als Metapher für eine Vielzahl eher diffus empfun- oberstes Gebot des Handelns und unabhängig dener denn konkret greifbarer (Gewissens-) von Herkunft, Abstammung, politischer Zuge- Konflikte. Und in der Tat werden in kaum hörigkeit, Status und weiteren Merkmalen des einem anderen Bereich des Militärs bereits Patienten. Aber auch zu diesen zwar ethischen, in den allgemein gesellschaftlich konsentier- allerdings nicht rechtsverbindlichen Vorgaben ten Grundannahmen so viele Widersprüche kommen gesetzliche Normen hinzu, in denen offensichtlich wie bei den im „Sanitätsoffi- die ethischen Grundwerte ihrem Wesen nach zier“ zusammengeführten Berufsbildern. Das umgesetzt wurden: die ärztlichen Berufsord- zeigt auch der Blick in die Geschichte der nungen, Approbationsordnungen, die Bun- Weltkriege, in denen Militärärzte sich einer- desärzteordnung und analoge Gesetze für alle seits für ihre Patienten aufopferten, sich aber Approbationen, das humanitäre Völkerrecht

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 74 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss und viele andere mehr. Sie alle machen deut- Patienten, aber hat der Sanitätsoffizier nicht lich, dass die Rolle des Sanitätsoffiziers nicht auch die Interessen des Dienstherrn im Sinne in seinem eigenen Ermessen liegt, sondern einer Einsatzfähigkeit der Truppe und gerech- vielmehr ethisch wie juristisch determiniert ist ten Ressourcenverteilung zu wahren? Was und bei Grenzüberschreitungen auch sanktio- zählt mehr, die Anweisung von Vorgesetzten niert werden kann. Dies zu erkennen, ist für die in diesem hierarchisch strukturierten System Diskussion überaus wichtig, wird doch häufig Bundeswehr oder die ärztliche Freiheit, das unterstellt, das Sanitätspersonal ziehe sich heißt die ärztliche Verpflichtung auf das Wohl aus mannigfachen eigennützigen Gründen des Patienten und das eigene Gewissen? Und auf den Nichtkombattantenstatus zurück oder stellt sich im Einsatz nicht die Frage, ob eine schiebe diesen vor. Bevorzugung der eigenen Soldaten gegenüber neutralen Personen oder gar Feinden ethisch Hier werden schon die Widersprüche ersicht- zu rechtfertigen ist, wenn Letzteren hieraus lich: Zum Berufsbild des Soldaten gehört es, ein Nachteil entsteht? Welche Aufgaben im im Rahmen seines rechtlich legitimierten Auf- Einsatz, die zum Teil von der Truppe gefordert trags anderen Menschen mit Waffengewalt oder erwartet werden, sind mit dem Bild des entgegenzutreten, sie zu verletzen, in letzter Arztes und dem Berufsethos überhaupt verein- Konsequenz vielleicht auch zu töten. Aufgabe bar und wann werden die Grenzen von Ethik des Arztes ist es hingegen (so auch in der Mus- und Recht überschritten? Was wiegt schwerer, terberufsordnung, die im Folgenden mehrfach Patientenwohl oder die Auftragserfüllung? zitiert wird, formuliert), „das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederher- Der Blick in die Geschichte zustellen, Leiden zu lindern […]“. – Soldaten Wie unterschiedlich der ärztliche Auftrag aus- orientieren ihr Handeln am Auftrag, während gelegt wurde, welche zwiespältige und unselige „ärztliches Handeln am Wohl der Patientinnen Rolle ein Teil der Militärärzte in der deutschen und Patienten auszurichten“ und den Ärzten Geschichte für das Wohl und die Heilung des jegliche Tätigkeit untersagt ist, „welche mit Zurück zum Inhaltsverzeichnis Individuums einerseits und für den militäri- den ethischen Grundsätzen des ärztlichen schen Auftrag und damit das (zumindest- ver Berufs nicht vereinbar ist“. – Im militärischen meintliche) Gemeinwohl andererseits spielten, Bereich gilt der Grundsatz von Befehl und mögen zwei Beispiele zeigen: Im Ersten Welt- Gehorsam, während Ärztinnen und Ärzte für krieg wurde der Sanitätsdienst mit einem sich in Anspruch nehmen, einem freien Beruf vollkommen neuen Phänomen konfrontiert, anzugehören, und „hinsichtlich ihrer ärztli- den „Kriegsneurotikern“ bzw. „Kriegszitte- chen Entscheidungen keine Weisungen von rern“ – Soldaten, die durch ihr Erleben im Stel- Nichtärzten entgegennehmen“ dürfen. lungskrieg und durch den ständigen Beschuss Aus diesen offensichtlichen Widersprüchen schwerst traumatisiert waren, was sich unter heraus ergeben sich nun auch konkrete anderem durch extremes Zittern und Zucken ethische Dilemmasituationen, die dadurch oder Lähmungen äußerte. In der Militärpsy- gekennzeichnet sind, dass der Sanitätsoffizier chiatrie wurden hierfür Behandlungsmetho- zwischen konkurrierenden und miteinander den entwickelt, die mehr auf Disziplinierung nicht zu vereinbarenden Handlungsmöglich- als auf Heilung ausgerichtet gewesen sind: keiten zu entscheiden hat. Das Spektrum und Die berüchtigte „Kaufmann-Kur“ arbeitete die Dimensionen dieser Dilemmata können mit der Einleitung von Strom in den Körper hier nur angedeutet werden: So gilt die unein- bzw. mit Elektroschocks, weitere „Therapien“ geschränkte Verpflichtung gegenüber dem waren Isolation, militärischer Drill und andere

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 75 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Abschreckungen – man ging davon aus, dass Von der Makro- zur Mikroebene es den traumatisierten Soldaten vor allem an Die Angehörigen des Sanitätsdienstes der Willensstärke mangelte, oft wurde ihnen auch Bundeswehr werden mit Bezug auf die deut- Simulation unterstellt. Nicht wie ethisch gebo- sche Vergangenheit zuweilen mit dem Vorwurf ten das Wohl der Patienten stand also im Zen- konfrontiert, dass jede Form eines Militärsani- trum der ärztlichen Bemühungen, sondern die tätswesens per se ethisch angreifbar sei. Mili- Interessen Dritter – die Auffassung, dass Mili- tärärzte wie auch die Angehörigen der anderen tärärzte durch diese Restriktionen und Diszi- Approbationen und der medizinischen Assis- plinierungen vor allem anderen „Kaiser, Volk tenzberufe würden nicht aus einem humani- und Vaterland“ zu dienen hätten. Jene Mili- tären Antrieb bzw. einer ärztlichen Gesinnung tärpsychiater, die diese Methoden anwandten, heraus (be-)handeln, sondern das Bemühen um die Soldaten wieder ins Gefecht zurück- sei (wie schon in den beiden Weltkriegen) zutreiben, verglich Sigmund Freud später mit ausschließlich auf die Erhaltung oder Wieder- „Maschinengewehren hinter der Front“. herstellung der Kampfkraft gerichtet. Krieg sei In der Vorbereitung und Führung des Zwei- ohne Sanitätsdienste überhaupt nicht führbar, ten Weltkrieges – dies als zweites Beispiel – sodass Ärzte die Mitschuld an Kriegen trügen. wurden viele führende Sanitätsoffiziere und Diese historisch hergeleiteten Anschuldigun- Wissenschaftler, auch wenn sie nicht natio- gen auf den Sanitätsdienst der Bundeswehr nalsozialistisch ideologisiert waren, durch die zu übertragen, ist indessen nicht haltbar, da Erfüllung ihres wissenschaftlichen oder beruf- sich die Bundeswehr von ihren Vorgängern lichen Ehrgeizes korrumpiert. Sie ließen sich elementar unterscheidet: Vor dem Briand-Kel- für die Führung eines Angriffs- und Vernich- logg-Pakt (Kriegsächtungspakt) von 1928 tungskrieges eines verbrecherischen Regimes wurde der Krieg als legitimes Mittel der Politik instrumentalisieren und dienstbar machen, angesehen, sodass die Streitkräfte des Kaiser- fühlten sich als „Arztsoldaten“, waren zum Teil reichs ein Instrument zur Durchsetzung der gar konkret an der Beauftragung oder Durch- staatlichen Interessen darstellten. Die Wehr- Zurück zum Inhaltsverzeichnis führung von menschenverachtenden und mit macht ließ sich gar trotz Kriegsächtungspak- medizinethischen Maßstäben in keiner Weise tes in und von einer Diktatur zur Führung eines zu vereinbarenden medizinischen Versuchen Angriffs-, Eroberungs- und Vernichtungskrieges beteiligt. Zweifellos hätten aber selbst diese missbrauchen. – Bei der Bundeswehr handelt Täter ihr verbrecherisches Handeln nicht als es sich hingegen um eine Parlamentsarmee unethisch oder unärztlich bezeichnet, sondern zur Verteidigung einer freiheitlich-demokrati- damit gerechtfertigt, dass sie Einzelne geop- schen Staatsordnung bzw. im völkerrechtlich fert hätten, um mit den aus diesen Versuchen legitimierten Einsatz für freiheitlich-humani- gewonnenen Ergebnissen Viele zu retten. täre Grundwerte. Bereits auf dieser Basis und vor dem Hintergrund der skizzierten, auch im Bereits aus diesen beiden Beispielen wird militärischen Bereich verbindlichen recht- somit deutlich, wie zerbrechlich die ärztliche lichen Normen kann der Sanitätsdienst der Ethik angesichts einer falsch verstandenen Bundeswehr und mit ihm alle seine Angehö- Pflichtauffassung oder unter dem Druck einer rigen – gewissermaßen auf einer Makroebene tatsächlichen oder vermeintlichen militäri- – eine positive ethische Grundhaltung für sich schen Notwendigkeit ist, wie schnell diese beanspruchen. Eine wesentliche Ergänzung Fragilität in ethische Abgründe bis hin zur Aus- sehe ich im Übrigen darin, den Grundgedan- übung von Verbrechen führen kann. ken und die grundlegenden Regelungen der Genfer Konvention, das heißt den Neutralitäts-

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 76 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss gedanken für die Nichtkombattanten und das diesem Status unvereinbar sind; nur so kann Verbot ihrer aktiven Teilnahme an und Unter- vermieden werden, dass diese Akteure durch stützung von Kampfhandlungen, auch dann Unkenntnis Dritter in vermeidbare Dilemmasi- zur Maxime des eigenen Handelns zu erheben, tuationen hineingeworfen werden. Angehörige wenn – wie etwa im Afghanistaneinsatz – die des Sanitätsdienstes sind weder „Hilfsinfante- formaljuristische Gültigkeit infrage steht. Nur risten“ oder eine stille militärische Reserve, dadurch ist es möglich, das eigene Wertesys- noch entziehen sie sich durch ihren Status tem nicht ad absurdum zu führen. Auch das gefährlichen oder unangenehmen Tätigkeiten. Slippery-Slope-Argument verfängt hier: In der – Vielmehr unterliegen sie schlichtweg ande- Tat besteht die Gefahr, dass das Sanitätsper- ren Gesetzmäßigkeiten, die im Gesamtgefüge sonal durch die starke Dominanz des rechtli- Bundeswehr „ohne Wenn und Aber“ als eine chen Ausnahmefalls auf eine schiefe Ebene Facette unserer Rechtsstaatlichkeit anzuer- gerät und den völkerrechtlich vorgesehenen kennen sind. Regelfall nicht mehr als solchen erkennt oder Doch nicht nur auf diesen beiden übergeord- anerkennt. neten Ebenen, sondern auch und vor allem auf Wichtig ist dabei aber nicht nur die Selbst- der Mikroebene, der Ebene der im Sanitäts- wahrnehmung des Sanitätsoffiziers und des dienst tätigen Personen, im täglichen Handeln gesamten Sanitätspersonals, sondern auch die sowohl in den Einsätzen als auch im Grund- Fremdwahrnehmung und die Akzeptanz dieses betrieb, können ständig ethische Dilemmata Sonderstatus in den anderen Truppengattun- entstehen. Konflikte mit einzelnen Patientin- gen, insbesondere in der Kampftruppe, sowie nen oder Patienten, in der Zusammenarbeit in der militärischen Führung. Wir betreten also des Sanitätspersonals, Loyalitätskonflikte die Mesoebene – im Sinne der Positionierung oder das Lavieren zwischen dem Einsatz für des Sanitätsdienstes im Gesamtgefüge der den Patienten und tatsächlich oder schein- Bundeswehr. Mehr, als dies heute der Fall ist, bar widersprechenden Bestimmungen oder muss der Sanitätsdienst nachhaltig kommuni- Dienstvorschriften sind, wie bereits eingangs Zurück zum Inhaltsverzeichnis zieren, dass seine Angehörigen nicht nur den angedeutet, bei genauerem Hinsehen stän- Bestimmungen des humanitären Völkerrechts dig präsent: Folgt man der eigenen fachlichen unterliegen, sondern darüber hinaus in ein Auffassung oder beugt man sich etwaigen berufsspezifisches Wertesystem eingebunden äußeren Einflüssen? Wie sind Erwartungen der sind, das mit seinen Vorgaben, Verpflichtun- Patienten mit fachlichen Grundsätzen oder gen und Schutzfunktionen auf nationaler wie verfügbaren Ressourcen in Einklang zu brin- auch auf internationaler Ebene rechtsverbind- gen? Welche Bedeutung haben dienstliche lich geregelt ist. Welche fatalen Folgen die Interessen für Diagnostik, Therapie, Krank- Fehlinterpretation, Aufgabe oder gar Instru- schreibungsverhalten und Schweigepflicht? mentalisierung dieses Wertesystems für andere Wie gestaltet sich das Verhältnis zu Patienten, Zwecke sowohl für das Patientenwohl als auch die lieber einen Arzt ihres Vertrauens als den für die nachhaltige Glaubwürdigkeit der Ärz- zuständigen Truppenarzt aufsuchen würden? teschaft und des gesamten Sanitätspersonals Sicherlich ist es möglich, solche und viele haben kann, zeigen die historischen Beispiele. andere ethische Dilemmata unter Heranzie- Nur wenn das verstanden und akzeptiert wird, hung hochkomplexer und philosophischer kann dies den Sanitätsoffizier und das -Sani Ethiktheorien und -konzeptionen zu erklären, tätspersonal davor bewahren, strukturell für zu lösen oder einer Lösung zumindest näher Aufgaben herangezogen zu werden, die mit zu kommen. Für die handelnden Personen im

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 77 Den Gegner retten? Militärärzte und Sanitäter unter Beschuss

Sanitätsdienst von entscheidender Bedeutung Bundeswehr, also unter Angehörigen des ist jedoch die Anwendbarkeit einer Problem- Sanitätsdienstes oder gegenüber Dritten, lässt lösungsstrategie im (militär-)medizinischen sich die Prinzipienethik dahingehend modi- Alltag. In der klinischen Medizin weit verbrei- fizieren, dass das Nichtschadens- und das tet und im ärztlichen Alltag gut anwendbar ist Wohltunsprinzip auf den Betroffenen rekur- die sogenannte Prinzipienethik nach Tom L. rieren und die Patientenautonomie ebenfalls Beauchamp und James F. Childress. Sie beruht mit Bezug auf den Betroffenen durch ein Prin- auf den vier Prinzipien Patientenautonomie, zip Menschenwürde oder Selbstbestimmung Nonmalefizienz (Nichtschadensgebot), Benefi- ersetzt wird, während das Prinzip Gerechtig- zienz (Wohltunsgebot) und Gerechtigkeit, also keit unverändert die berechtigten Interessen auf Kategorien, deren Allgemeingültigkeit wei- Dritter abbildet. Vorstellbar ist zum Beispiel testgehend konsentiert und nachvollziehbar eine Anwendung dieser modifizierten Prinzi- ist. Während sich die Patientenautonomie, das pienethik, wenn Angehörige des Sanitätsdiens- Nichtschadens- und das Wohltunsgebot einzig tes selbst ihre Position zwischen Medizinethik und allein auf den Patienten beziehen, finden und militärischer Notwendigkeit definieren im Prinzip Gerechtigkeit auch die Interessen müssen. Dritter Berücksichtigung. Diese Prinzipien wer- Viele Facetten des beruflichen Selbstverständ- den bewertet und gegeneinander abgewogen nisses im Sanitätsdienst der Bundeswehr und ermöglichen eine zwar von der Gewich- und der Ambivalenz zwischen Militärethik tung der Argumente abhängige subjektive, und militärischer Notwendigkeit konnten im aber dennoch begründbare und nachvollzieh- vorliegenden Beitrag nur oberflächlich ange- bare Gesamtbeurteilung und Entscheidung. rissen werden und bedürfen sicherlich einer Die Prinzipienethik nach Beauchamp und Chil- inhaltlichen Vertiefung. Historisch begründ- dress lässt sich aber, in bestimmten Konstel- bar und kaum zu bestreiten ist aber, dass die lationen etwas modifiziert, auch auf andere medizinethische Ausbildung und Schulung der

Bereiche wie beispielsweise militärisch-me- Angehörigen des Sanitätsdienstes der Bundes- Zurück zum Inhaltsverzeichnis dizinische Konfliktfelder und Dilemmasituati- wehr einer deutlichen Intensivierung bedür- onen übertragen. So sind zahlreiche ethische fen. Und von ebenso großer Bedeutung ist es, Zweifelsfälle, insbesondere diejenigen, die die Besonderheiten und Gesetzmäßigkeiten, im behandlerischen Alltag patientenbezogen die im Sanitätsdienst greifen, sowohl inner- auftreten, mit diesem bewährten Instrument halb der Bundeswehr als auch gegenüber der zu lösen. Durch die drei patientenzentrierten Öffentlichkeit deutlich zu kommunizieren. Prinzipien Nonmalefizienz, Benefizienz und Patientenautonomie werden die Interessen der auf den Sanitätsdienst der Bundeswehr angewiesenen Soldaten ebenso gewahrt, wie durch das Prinzip Gerechtigkeit auch legitime Interessen des Dienstherrn, der (möglicher- weise durch den Ausfall des Patienten mehr belasteten oder gefährdeten) Kameraden u.Ä. in eine ethisch fundierte Entscheidungsfin- dung einfließen. Bei ethischen Konflikten im Binnen- und Außenverhältnis des Sanitätsdienstes der

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 78 Impressum

Das E-Journal „Ethik und Militär“ mit der Vertretungsberechtigter Vorstand der KS: ISSN-Nummer 2199-4129 ist ein unentgeltliches, Leitender Militärdekan Msgr. Wolfgang nicht kommerzielles, journalistisch-redaktionell Schilk gestaltetes, digitales Angebot des Am Weidendamm 2 Zentrums für ethische Bildung in den 10117 Berlin Streitkräften – zebis Diplom-Kaufmann Wolfgang Wurmb Herrengraben 4 Am Weidendamm 2 20459 Hamburg. 10117 Berlin Direktorin des zebis: Dr. Veronika Bock Kontakt zur KS: Kontakt zum zebis: Telefon: +49(0)30 - 20 617 - 500 Telefon: +49(0)40 - 67 08 59 - 51 Telefax: +49(0)30 - 20 617 - 599 Telefax: +49(0)40 - 67 08 59 - 3 [email protected] E-Mail: [email protected] Verantwortlich gemäß § 55 Abs.2 Rund-

funkstaatsvertrag (RStV): Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Gertrud Maria Vaske Herrengraben 4 20459 Hamburg Diensteanbieter als Rechtsträger des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften - zebis

Katholische Soldatenseelsorge (KS) Rechtsform

Anstalt des öffentlichen Rechts Aufsicht

Katholischer Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr Am Weidendamm 2 10117 Berlin

Ethik und Militär | Ausgabe 2015/1 79