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2011/2013...... 15 Die Beiträge im EinzelnenVon den Parlaments- zu den Präsidentschaftswahlen 2012...... 15 Die Präsidentschaftswahlen vom Mai/Juni 2012...... 16 Was ist die größere Gefahr? ...... 17 Mohammed Mursis Präsidentschaft Der arabische Frühling vor dem Ende (22.8.2013) 4 (21.8.2013)...... 18 Zwei Elemente Mursi´s Präsidentschaft Das Drama der syrischen Revolution (21.8.2013) ...... 7 18 Hier eine Zusammenfassung der Das Blutbad der Putschisten (17.8.2013) Ereignisse: ...... 11 18 Probleme des syrischen Widerstandes (10.6.2012)...... 20 Tahrir 3.0 (3.7.2013) : Revolution and Conterrevolution12 Table of Contents (14.12.2012)...... 21 Zwischenkultur magazin Mubarak nr. 3 und ...... Mursi (21.8.2013)2 Economic growth rate and wealth13 per capita / Die Beiträge im Einzelnen ...... 2 employed (7.3.2012)...... 22 Der arabische Frühling vor dem Ende Mohammed Mursis Präsidentschaft (21.8.2013) 30 kurze Thesen zum „arabischen18 Frühling“ (22.8.2013)...... 4 (7.3.2012)...... 23 Ein Lufthauch von Freiheit...... 4 Generalstreik in Syrien (2.3.2012)...... 28 ProblemeDilemma des syrischen der demokratischen Widerstandes (10.6.2012)Cairo: Militär-Kampfgas gegen 20 Revolution...... 5 Demonstranten? (26.11.2011)...... 29 Die Restauration und die "Heilige Egypt: Revolution and Conterrevolution (14.12.2012)Das befreite Libyen und die neue21 Allianz" von 2013...... 6 Interventionsgefahr (25.8.2011)...... 30 Das Drama der syrischen Revolution Libyen: Die Stunde Null? (24.8.2011)...... 32 Economic(21.8.2013) growth...... rate and wealth per capita7 / employedWie (7.3.2012)die demokratische Revolution22 Die Eskalation der Gewalt...... 7 vollenden? ...... 32 30 kurzeKrieg Thesen gegen zum Kinder „arabischen...... Frühling“7 (7.3.2012)Libyen: Underdog des europäischen23 Die Intervention der fremden Mächte ... Kapitalismus...... 33 ...... 8 Generalstreik in Syrien (2.3.2012) Die soziale Frage...... 28 34 ... ist eines der Schwächen des Neue Rollen, alte Rollen...... 34 Syrischen Aufstandes...... 8 Abbildungen...... 35 Cairo: Militär-KampfgasDer schmale Grad der gegen syrischen Demonstranten? (26.11.2011) 29 Revolution...... 9 Das Blutbad der Putschisten (17.8.2013)....11 Das befreite Libyen und die neue Interventionsgefahr (25.8.2011) 30 Tahrir 3.0 (3.7.2013)...... 12 Nachwort (12.7.2013)...... 12 Libyen:Zwischen Die Mubarak Stunde Null?und Mursi (24.8.2011) (21.8.2013).13 32 Eine Art von Doppelmacht...... 13 Der "oberste Rat der Streitkräfte"...... 13 Das Verfassungsreferendum vom März 2011...... 14 Impressum, Offenlegung und Bildquellennachweis auf Seite 29. Reaktionen, Leserbriefe, Gastbeiträge werden gerne entgegengenommenDie Intervention und nach der Militärs Maßgabe am des 15. vorhandenen Platzes aufgenommen. Zusendungen bitte an: [email protected] 2012. Werfen...... Sie darüber hinaus einen14 Blick auf http://kulturkritik.blogw orld.at. Auch wenn nicht jeweils extraDer ausgeschrieben, Blutzoll vor densind Wahlenalle Personenbegriffe im Winter geschlechtsneutral gemeint.

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Sprache. Tahriri & Co befinden sich im selbstverschuldeten Der arabische Frühling vor dem Abseits. Ende (22.8.2013) Es wird einige Zeit dauern, bis die Bewegung merken wird, dass sie dem neuen alten Regime aufgesessen ist. Bis dahin wird das Ägypten der Generäle seine Stellung zemen­ tiert haben.

Die Konterrevolution in Ägypten wird ihr Echo in der In den Jahren seit der Vertreibung von Tunesiens Präsi­ gesamten Region finden und die demokratischen Bewegun­ denten Ben Ali inspirierte der Siegeszug der demokrati­ gen in anderen Ländern die Courage nehmen, verwirren schen Revolution die halbe Welt. Ende 2010 begannen die und desillusionieren. Es ist das Ende des arabischen Früh­ Massenproteste in Tunesien, am 14. Jänner 2011 floh das lings. Staatsoberhaupt. Bereits 11 Tage später war der "Tag des Zorns" in Ägypten und am 11. Februar 2011 trat Hosni Ein Lufthauch von Freiheit Mubarak zurück. Nur 6 tage später begannen die Demons­ trationen in bengasi, Libyen. In Libyen war der Kampf ge­ Trotz des im Westen bei bürgerlichen Intellektuellen ver­ gen das alte Regime bereits zäher und die demokratische breiteten Skeptizismus hatte der arabische Frühling eine im­ Revolution durch die militärische Intervention des Westens mense Ausstrahlung. Nicht nur in der Region (vgl. Abbil­ 2 getrübt, die Oppositions-Führung kappte sich von der Ba­ dung 1) sondern bis nach Russland, China und Spanien. sisbewegung und installierte bürgerlich-liberale Honoratio­ nen, um das Misstrauen des Westen zu entkräften. Es dau­ erte an die acht Monate, bis das Regime Gaddafis am Ende war. In der ersten Jahreshälfte 2011 bildete sich der Auf­ stand in Syrien. Aber der arabische Frühling lief sich in ei­ nem Bürgerkrieg, der bis heute andauert, tot.

Möchten wir darin eine Gesetzmäßigkeit erkennen, so wurde der Kampf der Massen für demokratische Rechte bei jedem Anlauf schwieriger und kräfteraubender und das Er­ reichte immer schwerer abzusichern. Schließlich trat mit der Gegenrevolution des Militärs in Ägypten am 3. Juli 2013 der Verlauf des arabischen Frühlings in seine Umkehrung.

Seit der Attacke des Militärs, Polizei und Geheimdienste auf den demokratischen Protest der Muslimbrüder samt An­ hänger sind an die 1.500 ermordet worden, das Militär setzt wieder freihändig Verwaltungsbeamte ein und zuletzt, als bedürfte es dieses Symbols, wurde aus der Haft entlassen. Die liberale Bewegung, die noch vor kurz­ em völlig zu recht auf dem Tahrir gegen die Mursi-Regie­ rung protestierte und den Militärputsch als Unterstützung der demokratischen Revolution missverstand, hat sich da­ mit in die Bedeutungslosigkeit manövriert.

"Ahmed Maher, Vorsitzender der Jugendbewegung 6. April, erklärte gegenüber der „New York Times", er erwar­ te keine größeren Proteste: „Jeder, der es momentan wagt, Kritik an Regierung, Präsident oder Militär zu üben, wird sofort des Hochverrats beschuldigt und als heimlicher 1 Muslimbruder verdächtigt." Das Zitat spricht eine klare Mubarak-per-Helikopter-aus-der-Haft-entlassen? from=suche.intern.portal 1 http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/1444157/ 2

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Die Inspiration, ja die Inspiration ... die erinnert an die gendwie kommt das dem verbreiteten Gefühl der Menschen berühmte Worte eines anderen Revolutionärs vor einiger in der Region nahe, dass ihr Staat zwar auch in der Vergan­ Zeit: genheit nie wirklich gut war, aber entweder der Bogen an Unterdrückung wurde überspannt, oder das Gefühl dafür, "Wir haben ein Ende gemacht mit der Tyrannei der Pri­ was noch legitim sei, hat sich gewandelt. vilegien. Wir haben ein Ende gemacht mit den uralten Übeln, jenen Herrschaftsrechten und Gewalten, auf die Dilemma der demokratischen Revolution kein Mensch ein Anrecht hatte. Wir haben ein Ende ge­ macht mit dem Alleinanspruch von Reichtum und Geburt Um was für Revolutionen handelte es sich überhaupt in auf alle Entscheidungen unseres Staates (...) Wir haben er­ Nordafrika und Westasien? Von der Stoßrichtung und des klärt, dass der einfachste Mann gleich ist mit dem Größten Inhalts eine demokratische Revolution. Das klingt in den im Land. Wir haben uns die Freiheit genommen, und gaben Ohren derer, die seit Jahrzehnten nicht mehr in einer Auto­ sie unseren Sklaven. Wir überlassen es der Welt, aufzubau­ kratie leben, gering. Für die, die jahrzehntelang in einer en auf der Hoffnung, die wir geboren haben. Das zählt Autokratie lebten, ist es schlicht das einzig erstrebenswerte mehr als ein Sieg in einer Schlacht, mehr als alle Schwerter Leben. Die demokratische Revolution ist zugleich viel und und Kanonen all dieser glänzenden Kavallerien Europas. wenig, kühn und ungenügend. Es ist eine Inspiration für die Visionen aller Menschen überall; ein Lufthauch von Freiheit, der sich nicht mehr Weshalb? Zum einen ist sie mehr als die alte bürger­ verleugnen lässt.“3 lich-parlamentarische Demokratie im Westen. Die gewalti­ ge Ausstrahlung des Tahrir 2011 bestand ja nicht nur darin, Der Westen gab der Revolution in Tunesien den ver­ dass es sich um eine unbeugsame Massendemonstration harmlosenden Begriff "Die Jasmin-Revolution". Die Men­ handelte, um eine Kampfform. nein, der Tahrir war gleich­ schen vor Ort hat einen weit zutreffenderen Begriff als "Re­ zeitig eine neue Art der Zusammenkunft, der Verständi­ volution der Würde". Abseits aller Mühen, Kompromisse, gung, der Lebenserfahrung. Plötzlich konnte jede und jeder Unzulänglichkeiten und Hindernissen wurde diese Bewe­ frei reden, sich einbringen. Jede wurde gebraucht, die ge­ gung getragen von der plötzlichen Erkenntnis, lieber zu sellschaftlichen Rollen von Frauen und Männern nivelliert, sterben als weiterhin gebückt und gebrochen zu vegetieren: Freiwilligkeit und Aufopferung kein Gegensatz. Es war eine "They may take our lives, but they will never take our free­ Art tägliche und unmittelbare Demokratie auf der Straße. dom!".4 Da war schon etwas mehr dabei, als die behäbige und abge­ hobene parlamentarische Demokratie. Ein zeitgenössiche Beobachter der französischen Revo­ lution von 1789 hat einmal den langfristige Pfad zur Demo­ Andererseits war es auch weniger und ungenügend. und kratie als Umwälzung und sozialen Egalisierung der alten das hängt mir der ökonomischen Rolle der betroffenen Län­ Gesellschaft beschrieben: "Die Gesellschaft kannte damals der im Weltsystem zusammen, als Werkbank des Westens, wohl Ungleichheit und Elend, aber keine entwürdigten Rohstofflieferant oder einfach nur gezeichnet durch Kapit­ Menschen. Nicht Machtunterworfenheit oder gewohnter alarmut und Abhängigkeit vom westlichen Kapital. Der alte Gehorsam entehrt den Menschen; vielmehr die Ausübung Kalauer "Demokratie ist das Privileg reicher Länder" ist einer für ungerecht gehaltenen Macht und Gehorsam ge­ nicht ganz falsch. Sehr verallgemeinert lässt sich sagen: De­ genüber einer Gewalt, die man für angemaßt (...) hält".5 Ir­ mokratische Fortschritte sind nicht von Dauer, sie fallen früher oder später der einen oder anderen Form des backs­ 3 http://de.wikipedia.org/wiki/Georges_Danton lash zum Opfer. Oder aber: die demokratische Revolution 4 http://video.search.yahoo.com/video/play;_ylt=A2KLqIH geht in eine soziale über und stürzt den Kapitalismus. Rich­ sQRZS0XwAZnz7w8QF;_ylu=X3oDMTEwNXVkczI3B HNlYwNzcgRzbGsDdmlkBHZ0aWQDVjE0NgRncG9z tig, auch damit ist nichts auf Dauer garantiert. Aber die AzI4? Kräfteverhältnisse würden sich doch zu Gunsten der Mas­ p=tahrir+2011&vid=78d913acca5972c8042a1bde07600f8 sen ändern. Sie hätten den Staats- und Sicherheitsapparat in f&l=7%3A52&turl=http%3A%2F%2Fts2.mm.bing.net den Händen und könnten diesen umgestalten. Das ist in ei­ %2Fth%3Fid%3DV.5059421036415905%26pid ner Weltregion, in der ganz "normale" Wahlen zuerst einmal %3D15.1&rurl=http%3A%2F%2Fvimeo.com durch hunderte Tote erkämpft wird, nicht wenig. %2F19559138&tit=Tahrir+Square%2C+Cairo %2C+Feb+1+2011&c=27&sigr=10p8anmih&pstcat=polit In allen Ländern des Aufstandes, in Tunesien, Ägypten, ics&age=0&fr=sfp-vid&tt=b Libyen und Syrien, gab es auch ein soziales Element der 5 Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique, Revolution. Einfach deswegen, weil eine demokratische Paris 1835; deutsch: Demokratie in Amerika, Wien 1950, Revolution der Massen solcher Länder immer auch soziale Seite 20. . Anliegen zur Artikulation bringt. Ganz elementar: So die

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Slogans am Tahrir 2011: "Brot, Freiheit, Würde, Mensch­ ven Veurteilung einig. So sagte der US-Außenminister Ker­ lichkeit!"6, "Würde, Freiheit, soziale Gerechtigkeit", "Ägyp­ ry: "„Das Militär wurde von Millionen und Abermillionen ten den Ägyptern, nicht Mubarak ...!"; "Mubarak ver­ Menschen zum Einschreiten gebeten, die allesamt Angst schwinde, Du hast Ägypten ausverkauft!"7 Zwei Tage nach davor hatten, in Chaos und Gewalt abzugleiten. [...] Nach dem Rücktritt von Mubarak, also in der Phase des ersten allem, was wir wissen, hat das Militär bisher noch nicht die Sieges der Tahrir-Bewegung demonstrierten ArbeiterInnen Macht übernommen. Es gibt eine zivile Regierung zur Lei­ im ganzen Land für bessere Verträge und Krankenwagen­ tung des Landes. Letztlich wurde dadurch die Demokratie fahrer und Beschäftigte des Transportgewerbes für bessere wiederhergestellt"8 Löhne und Bedingungen. Man muss sich dabei auch vor Augen führen, dass die Arbeiter in der Mubarak-Epoche Und: "Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der durch die Dominanz von gelben Gewerkschaften, die eng Duma Alexej Puchow sagte: „Der arabische Frühling hat­ mit dem Staat verbunden waren, niedergehalten wurden. te nicht Demokratie, sondern Chaos zur Folge. Die Ereig­ Allein das Ende von Mubarak ließ die Hoffnung nach einer nisse in Ägypten zeigten, dass es keinen schnellen und Besserung der sozialen Lage entstehen. friedlichen Übergang von autoritären Regimes zu einer de­ mokratischen Politik gebe. Das bedeutet, dass die Demo­ Aber ohne ein Programm, wie die demokratische in eine kratie kein Patentrezept ist und in den Ländern nicht funk­ soziale Revolution übergehen kann und ohne eine gesell­ tioniert, die nicht zur westlichen Welt gehören.“9 Das war schaftlich relevante Kraft, die innerhalb des Tahrir für diese deutlich. Schritte kämpft, verkümmert das soziale Element, wenn der Alltag einkehrt und die Institutionen den Takt vorgeben. So­ Zwei Antworten, ein Schluss. Und es zeigt, dass der dass sich das Dilemma der demokratischen Revolution auf Putsch sowie das Ende des Arabischen Frühlings auch auf den Punkt bringen lässt: Entweder die demokratische Revo­ internationaler Ebene die Kräfte stärkt, die den status quo lution geht in eine soziale über, oder sie verendet und mün­ vor der Revolution erhalten wollen. Es ist die Phase der Re­ det in der Restauration. Ebendies ist jetzt in Ägypten einge­ stauration und der "Heiligen Allianz" angebrochen, um den treten. Fortschritt zu verhindern.

Damit ist ein "historischer" Zyklus zu Ende und um wie­ der auf die verlorene Höhe zu gelangen, ist ein neuer Anlauf notwendig.

Die Restauration und die "Heilige Allianz" von 2013

Die Reaktion der USA und Russlands auf den konterre­ volutionären Militärputsch vom 3. Juli 2013 in Ägypten deckten sich. Das ist insofern interessant, da die für viele Linke plötzlich Putins Russland der Garant gewesen wäre, Interventionen wie jene des Westens in Libyen zu verhin­ dern. In Wirklichkeit sind sich beide Rivalen in der positi­

6 http://www.dailymotion.com/video/xuonij_tahrir-2011- the-good-the-bad-and-the-politician-directed-by-amr- salama-tamer-ezzat-and-ayten-amin_news 7 http://video.search.yahoo.com/video/play;_ylt=A2KLqIH sQRZS0XwAZnz7w8QF;_ylu=X3oDMTEwNXVkczI3B HNlYwNzcgRzbGsDdmlkBHZ0aWQDVjE0NgRncG9z AzI4? p=tahrir+2011&vid=78d913acca5972c8042a1bde07600f8 f&l=7%3A52&turl=http%3A%2F%2Fts2.mm.bing.net 8 http://de.wikipedia.org/wiki/Staatskrise_in_ %2Fth%3Fid%3DV.5059421036415905%26pid %C3%84gypten_2013#Massent.C3.B6tung_von_Mitglie %3D15.1&rurl=http%3A%2F%2Fvimeo.com dern_der_Muslimbruderschaft %2F19559138&tit=Tahrir+Square%2C+Cairo 9 http://de.wikipedia.org/wiki/Staatskrise_in_ %2C+Feb+1+2011&c=27&sigr=10p8anmih&pstcat=polit %C3%84gypten_2013#Massent.C3.B6tung_von_Mitglie ics&age=0&fr=sfp-vid&tt=b dern_der_Muslimbruderschaft

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Flüchtlinge, die ihr Land verlassen haben. Insgesamt hat Das Drama der syrischen Revoluti­ Syrien eine Population von rund 20 Millionen Menschen".12 on (21.8.2013) Somit sind 10% aller Syrer bereits außer Landes geflohen. Mehr als 4 Millionen Syrer sind innerhalb Syriens auf der Flucht und fliehen jeweils vor den aktuellen Kampfgebie­ ten.

Zwei lange Jahre dauert der Syrische Bürgerkrieg nun an, zwei Jahre, in denen die Kämpfe mindestens 100.000 Krieg gegen Kinder Tote gefordert haben. Wo steht die Revolution heute? Zu der Eskalation gehört auch, dass der Krieg auch ge­ gen Kinder geführt wird. "Brutal, unsäglich, unmenschlich - die Weltgemeinschaft hat mit drastischen Worten auf die Die Eskalation der Gewalt Schreckensmeldungen aus Hula reagiert. Während eines Angriffs syrischer Panzer auf ein Wohnviertel starben in der Ortschaft nach Angaben von Uno-Beobachtern mindes­ Zuletzt kam es zu Berichten, dass das Regime Assads 13 Giftgas gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hat. "Die tens 92 Menschen, darunter 32 Kinder." "Bei dem Massa­ ker im syrischen Hula sind 108 Menschen getötet worden, Berichte über einen angeblichen Giftgaseinsatz der syri­ 14 schen Armee werden immer dramatischer: 1300 Menschen darunter 50 Kinder. UN-Vermittler Annan ist schockiert." sollen bei Angriffen auf Dörfer östlich von Damaskus getö­ Das alles geschieht übrigens als hunderte UN-Beobachter tet worden sein. Ein Vertreter der oppositionellen Nationa­ im Lande anwesend sind, quasi vor deren Augen und in den len Syrischen Allianz sprach in Istanbul von 1300 Toten. Monaten des sogenannten Waffenstillstandes. Die syrische Regierung dementiert zwar nicht, Angriffe in der östlich von Damaskus gelegenen Region Ghuta geflo­ Auch beim Häuserkampf werden Kinder "gerne" getötet, gen zu sein, weist den Einsatz von Giftgas jedoch zurück."10 um die Zivilbevölkerung zu terrorisieren, und zum aufge­ ben zu bewegen. So grausam dies ist, folgt es einen ratio­ Aber auch die Rebellen sollen Giftgas angewendet ha­ nellen Kalkül der Unterdrückung. ben: "Die UNO hat Zeugenaussagen gesammelt, die auf den Einsatz des Nervengases Sarin durch syrische Rebellen "(...) offenbar richtet sich die Gewalt auch gezielt gegen hindeuten. Dies erklärte Carla Del Ponte, Mitglied der ent­ Kinder. Dies geht aus einem UN-Bericht hervor: Kinder sprechenden UN-Untersuchungskommission. Zeugen be­ würden verstümmelt und getötet, gefoltert und sexuell richteten von Giftgas-Einsatz in Syrien. "Auf Basis ihres missbraucht. Die Täter seien Soldaten, Geheimdienstleute Berichts von vergangener Woche gibt es einen deutlichen, und regierungsnahe Milizen. (...) Ihr Team sei mit konkreten Verdacht, aber noch keinen unwiderlegbaren Be­ schrecklichen Schilderungen über gefolterte und weis für den Einsatz von Saringas, was die Art der Behand­ massakrierte Kinder aus Syrien zurückgekehrt, sagte lung der Opfer angeht"11 Chemiewaffen solle bereits drei Radhika Coomaraswamy, UN-Sondergesandte für Kinder mal eingesetzt worden sein, im März 2013 in Aleppo und in bewaffneten Konflikten, der BBC. Kinder hätten sich als Damaskus und im Dezember 2012 in Homs. menschliche Schutzschilde auf Panzer setzen müssen, damit diese nicht von Aufständischen angegriffen würden. Bürgerkriege sind in der Regel stets eine Dosis grausa­ Inhaftierte Mädchen und Buben würden nicht nur mer als Kriege zwischen Staaten. Beide Seiten wissen, dass geschlagen, sondern auch ausgepeitscht und mit Elektroschocks malträtiert. „So etwas haben wir noch nie für sie als Verlierer kein Platz im Freieden sein werden. 15 Dazu kommt die Verzweiflung der Bevölkerung, deren Le­ gesehen“, sagte Coomaraswamy." bensgrundlage vernichtet wurde. 200.000 Syrer sind in die Türkei in Camps untergebracht, ungefähr genauso viele 12 http://www.deutsch-tuerkische- ebenfalls in die Türkei geflohen, aber nicht in Camps unter­ nachrichten.de/2013/08/483120/tuerkische-lager- gebracht; 600.000 sind in den Libanon geflohen. "Derzeit ueberfuellt-mehr-syrische-fluechtlinge-leben-ausserhalb/ stünde man kurz vor der Zwei-Millionen-Marke syrischer 13 http://www.spiegel.de/politik/ausland/massaker-an- kindern-im-syrischen-hula-schockiert-die-welt-a- 10 http://www.salzburg.com/nachrichten/welt/politik/sn/artik 835463.html el/bis-zu-1300-tote-durch-giftgaseinsatz-in-syrien-71318/ 14 http://www.swp.de/ulm/nachrichten/politik/Syrien-Das- 11 http://de.reuters.com/article/worldNews/idDEBEE945049 Massaker-in-Hula-und-die-Folgen;art4306,1480059 20130506 15 http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/765230/U

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Die Intervention der fremden Mächte ... Kriegsgerät an Syrien. Russland erfülle gegenüber Syrien "die in Lieferverträgen über Militärausrüstung eingegan­ ... nahm 2013 weiter zu. "In Israel herrscht indes nach genen Verpflichtungen", sagte der Chef der staatlichen dem Luftangriff im syrischen Nachbarland aus Sorge vor Rüstungsexportbehörde Rosoboronexport, Anatoli Issaikin. einer Reaktion erhöhte Alarmbereitschaft. Die Armeeein­ Zudem handele es sich hauptsächlich um Defensivwaffen heiten entlang der Grenze seien zu größter Wachsamkeit wie Luftabwehrsysteme sowie militärische Reparaturtech­ aufgerufen, meldete der israelische Rundfunk am Montag. nik."19 Der Luftraum im Norden Israels ist bis Donnerstag für zivi­ le Flugzeuge gesperrt. Israelische Kampfjets hatten in der Auf Seitens Assads kämpfen zahlreiche Milizen, die Nacht auf Sonntag ein militärisches Entwicklungszentrum Schabiha, Hisbollah, Volksfront zur Befreiung Palästinas, nahe der syrischen Hauptstadt Damaskus angegriffen. Sy­ al-Quds-Einheit. Diplomatische Unterstützung in den UN- rien sprach von einer Kriegserklärung. Der Angriff galt Gremien enthält Assad durch die Vetomächte China und nach Medienberichten einer Lieferung iranischer Raketen Russland. des Typs Fateh-110 an die mit Israel verfeindete Hisbol­ lah."16 Das ist nur ein Beispiel. Wie groß bislang die logistische und das bedeutet auch militärische Unterstützung der Aufständischen durch die "Wenige Stunden nach einem Granatenangriff auf ein USA, Frankreich und Großbritannien in der Zwischenzeit türkisches Grenzdorf hat die türkische Armee am Mittwoch kladestin wirklich ist, ist nicht ganz klar. Vermutlich sind erstmals Ziele in dem vom Bürgerkrieg erschütterten Nach­ nachrichtendienstliche Informationen über die Feindbewe­ barland angegriffen. Der Einsatz sei Reaktion auf eine At­ gung das nützlichste vom Westen bislang. Bedeutender war tacke syrischer Regierungstruppen, bei der fünf Türken ge­ in der letzten Zeit die finanzielle und militärische Unterstüt­ tötet worden waren (...) "17 zung von Seiten der Golfstaaten wie Katar und Saudi Arabi­ en. Abgesehen davon kämpfen auf Syrischen Boden ver­ Oder: "Der Iran wird 4.000 Elitesoldaten nach Syrien schiedene Mudschahidin-Gruppen gegen die Syrische Re­ schicken um bei der Bekämpfung der Rebellen zu helfen. gierung, al-Nusra-Front, Fatah al-Islam, ISI (ISIS) und Ta­ (...) "Es ist in der Tat so, dass wir logistische und personel­ liban. le, aber auch finanzielle Unterstützung aus Teheran bekom­ men. Einerseits über den Arm der Hisbollah, andererseits Seit den letzten Giftgasangriffen erwägen die USA, auch direkt. Aber diese Hilfe ist nur ein zusätzlicher Hebel, Frankreich und Großbritannien Luftangriffe gegen die um die Terroristen, die vom Westen Hilfe bekommen, zu be­ Assad-Einheiten. kämpfen", meinte ein syrischer Offizier, der nicht beim Na­ men genannt werden will, gegenüber der APA. (...) Waren es 2009 noch syrische Sicherheitskräfte, die Teheran bei der Zerschlagung der Proteste unterstützten, so sind es nun ... ist eines der Schwächen des Syrischen Auf­ iranische Bassij- und Revolutionsgardisten, die in Damas­ standes kus aushelfen. Zudem ist das sogenannte Perserviertel in Damaskus größer geworden, denn nicht unweit der Haupt­ Kann keine der Konfliktparteien den Bürgerkrieg gewin­ stadt bilden beide Länder Sicherheitskräfte in Camps aus. nen? Muss die eine Seite vielleicht noch eine fremde Unter­ Teheran liefert an Syrien auch Ausrüstung zur Bekämpfung stützung gewinnen? von Aufständen sowie Geräte zur Kontrolle des Internets und zum Abhören von Telefongesprächen."18 Das Problem des Syrischen Aufstandes ist aber nicht, dass zu wenig fremde Unterstützung am Werken ist, son­ "Russland liefert trotz des Bürgerkriegs weiterhin dern genau umgekehrt, dass zu viel fremde Unterstützung bzw. die falsche im Lande ist. Der Syrische Aufstand von NO_Konflikt-in-Syrien-ist-Buergerkrieg? 2011 wurde somit zunehmend zu einem Spielball fremder from=suche.intern.portal Mächte. Das ist einer der Gründe für die Dauer des Kamp­ 16 http://www.salzburg.com/nachrichten/welt/politik/sn/artik fes und der erschreckend hohen Anzahl an Todesopfern und el/zeugen-berichteten-von-giftgas-einsatz-in-syrien- Vertriebenen. 57728/ 17 http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher- Das für sich sprechende Indiz für diese Schlussfolgerung ist die osten/vergeltungsangriff-nach-granatbeschuss-tuerkei- zweite Front zwischen den syrischen Rebellen der nationalen Ko­ greift-erstmals-ziele-in-syrien-an-11912929.html 18 http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/politik/iran/3341 19 http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-02/russland- 840/iran-schickt-4-000-elitesoldaten-nach-syrien.story syrien-waffen

------8 kultur magazin Nr. 5 ------alition (Freie Syrische Armee, Syrischer Nationalrat, Muslimbrü­ Revolution einschränkt. der, Lokale Koordinationskomitees, Fahne der Nation, General­ kommission der Syrischen Revolution) und den nach Syrien ge­ Diese Zahlen spiegeln aber nicht die realen Verhältnisse sendeten Mudschahidin-Gruppen, die gleichzeitig Assad bekämp­ wieder, denn jede Kriegshandlung findet nicht im luftleeren fen seitdem Juli 2013. Dies zeigt sehr drastisch, dass mit der jeden Raum statt, sondern - in einem Bürgerkrieg zumal - in einer Teilnehmenden politischen Kraft auch deren partikularen Interes­ Beziehung zur Bevölkerung. Die Jihadisten müssen sich die sen in den Syrischen Kampf einwirken. Es ist nicht egal, Unterstützung der lokalen Bevölkerung notfalls durch Dro­ wer aller gegen Assad kämpft und wie gekämpft wird. hung und Terror erwirken, die Regierungstruppen zählen auf die passive Haltung der Zivilbevölkerung. Die ur­ "Sie haben uns den Krieg erklärt", empörten sich Spre­ sprünglichen Aufständischen hingegen sind Teil der Zivil­ cher der Freien Syrischen Armee (FSA). Letzte Woche hat­ bevölkerung, aus deren Protest sich die bewaffneten Einhei­ ten Al-Qaida-Bewaffnete den populären FSA-Kommandeur ten bildeten. Ohne hier auf die Unterschiede zwischen der Abu Bassir an einer Straßensperre nahe Latakia hingerich­ FSA und anderen Kräften eingehen zu können, hat dieser tet. Seitdem explodieren die seit Monaten andauernden Teil den größten Support durch die Bevölkerung - woraus Spannungen zwischen den moderaten und radikalen Geg­ sich übrigens auch erklärt, weshalb die regierungstreuen nern von Diktator Assad. Abu Bassir gehörte zur Füh­ Einheiten den Krieg nicht nur gegen die bewaffneten Auf­ rungsspitze der Aufständischen, er war eines von 30 Mit­ ständischen sondern auch gegen die Zivilbevölkerung füh­ gliedern des Nationalen Militärrats. Seine Mörder kommen ren. So grausam das klingen mag, von dem Gesichtspunkt aus dem "Islamischen Staat im Irak und Syrien" (ISIS), der Assads ist das ganz folgerichtig und rational. neuen Einheitsfront der Gotteskrieger, der auch die von Washington geächtete Al-Nusra-Front angehört. (...) Zwei Wie auch immer, mit jeder zusätzlichen Intervention von FSA-Kämpfer mit abgeschnittenem Kopf wurden in einer außen wird das Potential der demokratischen Revolution in Mülltonne auf dem Rathausplatz gefunden. Offenbar ein Syrien weiter verschüttet. Das wird auch der Endeffekt ei­ Racheakt. "Geht zurück nach Afghanistan, ihr habt die Re­ ner vom Westen vielleicht durchzusetzenden Flugverbots­ volution ruiniert", sprühten Menschen in Aleppo an die zone sein. Die mit der Vernichtung bedrohten Rebellen­ Hauswände. Als im Mai drei schwarz gekleidete Bärtige gruppen sehen den Westen als Möglichkeit, gegen Assad mit ausländischem Akzent einen 14-jährigen Kaffeeverkäu­ doch noch bestehen zu können. Doch wie in Libyen 2011 fer wegen angeblicher Gotteslästerung vor den Augen sei­ wird der militärische Sieg sodann mit einer politischen Nie­ ner entsetzten Eltern hinrichteten, zogen aufgebrachte derlage der demokratischen Revolution erkauft. Menschen vor die Zentrale der Al-Nusra-Brigaden. "Haut ab, raus mit euch, ihr seid nicht besser als Bashar al- Assad", skandierte die empörte Menge."20 Der schmale Grad der syrischen Revolution Mittlerweile sind ca. 10.000 Jihadisten in Syrien militä­ risch aktiv, die nicht nur gegen die regierungstreuen Einhei­ Das übergeordnete Ziel der Revolution ist nicht eins zu ten kämpfen, sondern auch gegen kurdische Einheiten. Eine eins der militärische Sieg über die syrische Regierung. Das regierungsnahe britische Quelle behauptet, dass insgesamt zu behaupten, bedeutet aber nicht, dass der Widerstand ge­ 50.000 den Islamisten zugeordnet werden können, also ca. gen die Assad-Truppen und die regierungstreuen Milizen die Hälfte der bewaffneten Aufständischen.21 Aber es frgat aufgegeben werden soll. Der beliebte Slogan einer "politi­ sich, ob islamistisch dasselbe wie jihadistisch bedeuten soll. schen Lösung" des Bürgerkrieges, bedeutet im Endeffekt, Auf dem militärischem Gebiet ist der Unterschied jeden­ dass die Kraft mit den aktuell stärkeren militärischen Res­ falls eindeutig und leicht zu definieren, denn die Jihaddisten sourcen dominiert. Die Lösung am Verhandlungstisch mit beugen sich nicht unter die Kriegsziele einer der syrischen Assad - vielleicht unter Beteiligung der Groß- und Regio­ Dachorganisationen. Sie führen ihren eigenen Krieg. nalmächte" bedeutet, dass dessen Banden in der Zwischen­ Glaubwürdige Quellen bezieffern ihre Größe auf 8 bis 15 zeit mit den Rebellen gezielt aufräumen können. Diese "Lö­ prozent der Antiregierungseinheiten, je nach Region.22 In­ sung" würde erst recht das verkümmerte Potential der Re­ des sind auch die kurdischen Parteien in Syrien auf die Seite volution endgültig begraben. Assads gewechselt, was ebenfalls die Möglichkeiten der Nein, die Rebellen müssen gewinnen. Aber sie müssen 20 http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-07/syrien- und können nur anders gewinnen. Die Internationalisierung buergerkrieg-rebellen des Konfliktes muss umgedreht werden. Von einer Interna­ 21 http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/1453079/ tionalisierung nach dem Methoden und Interessen der in­ Syrien_Haelfte-der-Rebellen-offenbar-radikale-Islamisten volvierten Staaten in einer Internationalisierung der Massen 22 Die Presse, 19. September 2013, Seite 11. Methoden und Interessen. Das hört sich nach einer abstrak­

------9 kultur magazin Nr. 5 ------ten Floskel an. Und es ist tatsächlich schwer, ja fast unmög­ sequent umgesetztes Programm für eine echte Demokratie lich, diese Perspektive umzusetzen. Es würde etwa bedeu­ unter Einbeziehung aller konfessioneller und ethnischer ten, dass eine breite, proletarische Antikriegsbewegung im Minderheiten und für eine soziale Revolution könnte die Westen, in Russland, dem Iran und den Golfstaaten die In­ verarmten Massen nicht nur Syriens sondern auch der Regi­ tervention wie bisher verhindert oder nach den legitimen In­ on bis hin nach Russland und China eine Ausstrahlungs­ teressen der syrischen Rebellen umformt. kraft besitzen und dazu betragen, dass die internationale Unterstützung für Assad weniger leicht umgesetzt werden

Es würde aber auch bedeuten, dass die Rebellen sich an­ kann. Vielleicht kann auf diese Weise auch eine Spaltung ders organisieren. Die Spaltung oder aber Vereinigung in der syrischen Armee vertieft werden, den ein guter Teil verschiedene Gruppen müsste von der von der Bevölke­ fürchtet bislang mit Assad unterzugehen. rung legitimiert werden; die Einbeziehung der unteren Klassen in alle Kampfformen erreicht werden; die Leitung Unwahrscheinlich, dass dies umgesetzt werden kann. müsste der Wohnbevölkerung und Vertriebenen verantwort­ Aber man könnte genauso sagen: Unwahrscheinlich, dass lich sein, dort wo der Kontakt noch herstellbar ist; ein kon­ das Drama Syriens endet.

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wissheit fanden, dass ihre Verwandten nicht mehr am Leben Das Blutbad der Putschisten waren.”23 (17.8.2013) Ist die Rede von Chile 1973, als der General Pinochet die demokratisch gewählte Regierung wegputschte, oder von der Türkei 1980? Nicht ganz, aber Sie haben es bereits erra­ ten, es ist die Rede von Ägypten 2013.

“Es waren Bilder des Grauens, die am Donnerstag von Kairo aus um die Welt gingen: verkohlte, entstellte Körper, die nur noch entfernt an menschliche Wesen erinnern, über­ füllte Leichenhallen, in denen Angehörige die traurige Ge­ 23 Die Presse, 16, August 2013, Seite 1.

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lag ein Teil der säkularen Opposition dieser Option, begrüß­ Tahrir 3.0 (3.7.2013) te das Ultimatum der Armee an Mursi oder forderte gar di­ rekt und unverblümt das Einschreiten der Armee, wie es etwa der bürgerliche El-Baradei tat. Der Punkt ist aber, dass der Militärputsch durchaus keine sinnvolle Option gegen In dem Kräftemessen der Opposition gegen die Regie­ Mursi ist, sondern die Revanche des alten Regime und der rung Mursi steht der Fortschritt auf Seiten ersterer. Seit der Entzug der in der Revolution erkämpften demokratischen unvollendeten demokratischen Revolution von 2011, die Rechte. Es gibt in Ägypten 2013 keine fortschrittliche Rolle schließlich von den Muslimbrüdern kanalisiert wurden, vergleichbar jener Kemal Atatürks in der Türkei nach dem schwellt ein Machtkampf auf der Straße und am Tahrir um ersten Weltkrieg. das Erbe der Revolution. Dass aber Mursi reüssieren konn­ Die Gefahr ist zudem groß, dass der Militärputsch, die te, lag daran, dass beim Sturz des Ancien Régime von Mu­ Auflösung des Parlaments und die Beschränkung der Kan­ barak die Tahrir-Bewegung nicht weiter ging in Richtung didatenliste durch die Putschisten bei den nächsten Wahlen sozialer Revolution. Ein sinnvoller Zwischenschritt wäre die Islamisten in den Augen der verarmten Bevölkerung der eine echte, das ganze Land durchdringende verfassungsge­ Vororten der Metropolen und auf dem Land unverdient zu bende Versammlung gewesen. Helden macht.

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gung bei all ihren Meriten weder stark genug noch willens Zwischen Mubarak und Mursi war, mit dem Fall Mubaraks auch gleich mit diesem bürger­ (21.8.2013) lich-abgehobenen Militär aufzuräumen, kam in weiterer Folge als Bumerang zurück.

Nach dem 11. Februar 2011 hätte das Militär theoretisch gleich ohne Mubarak dafür aber auf eigene Rechnung Ägypten weiterregieren können. Aber zurecht fürchteten die Mohammed Mursi war ziemlich genau ein Jahr lang Prä­ Generäle, dass die Glut des Tahriri noch heiß genug wäre, sident des neuen Ägyptens. Wie war das eigentlich und um mit diesem Affront nicht einen weiteren Flächenbrand welche objektive Rolle spielten diese Phase bei der Wieder­ anzuheizen. Deswegen setzte das Militär auf einen kontrol­ herstellung der Macht der Generäle? An dieser Stelle wol­ lierte Phase der bürgerlich-parlamentarischen Gebräuche: len wir uns mit der Vorgeschichte des Militärputsches vom Wahlen. 3. Juli 2013 beschäftigen. Diese Geschichte ist zugleich die Auch hier war das Militär nicht stark genug, um den Geschichte, wie die demokratische Revolution Ägyptens Tahrir einfach zu übergehen, aber stark genug, um den verkümmerte und korrumbierte. Und die Geschichte Mursi Übergang zu dem demokratischen Experiment nach den ei­ ´s Präsidentschaft ist gleichzeitig die seiner Widersacher, genen Spielregeln zu gestalten. dem Militär. Doch der Reihe nach. Wir haben daher eine Art Doppelmacht vor uns: Hier die demokratische Revolution, da der alte Staatsapparat. Beide Seiten zu schwach, um die jeweilig andere auf einen Satz Eine Art von Doppelmacht hin niederzuringen. Das ist nun, im Sommer 2013 anders. Die Doppelmacht ist längst vorbei: die Revolution hat ver­ Am 11. Februar 2011 zwangen die Massenproteste am loren. Zwischen diesen beiden Zuständen liegt Mursi´s Prä­ Tahriri und in ganz Ägypten den langjährigen Diktator Hos­ sidentschaft. Das das ist ihre objektive Rolle in der Ent­ ni Mubarak zur Abgabe der Macht. Oder aber auch: Das wicklung. Militär zwang Mubarak zum Rücktritt. Mubarak und seine Söhne wurden verhaftet und angeklagt. Die demokratische Revolution wurde somit vom 11. Februar 2011 bis zum 24. Juni 2012, als die Wahlkommission Mursi zum Sieger der Der "oberste Rat der Streitkräfte" Präsidentschaftswahlen erklärte, direkt von den Militärs verwaltet. Und der jetzige starke Mann Al-Sisi war unter Der Rat ersetzte Mubarak als Regierungschef und stand Mubarak Chef des Militärgeheimdienstes. über den eigentlich politischen Ministerien. Der Rat bestand aus Generaloberst Abd al-Fattah as-Sisi als Vorsitzender - Es scheint also, als habe das ägyptische Militär seine be­ diesen Herren kennen wir bereits. Des weiteren gehörten herrschende Rolle nie wirklich aufgegeben. In diesem Satz dem Militärrat an General Mohsen al-Fanagry (Stellvertre­ liegt einige Wahrheit, aber nicht die ganze. Denn tatsächlich tender Verteidigungsminister), Generalleutnant Sami Hafez war die Tahrir-Bewegung vom Ausmaß und der Tiefe des Enan Anan (Generalstabschef der Armee), Vizeadmiral Volksempfindens für das Militär nicht mehr kontrollierbar. Mohab Mamish (Befehlshaber der Marine), Luftmarschall Die Militärs konnten aber immerhin noch den Zeitpunkt des Reda Mahmoud Hafez Mohamed (Generalstabschef der Endes der Massenproteste bestimmen, indem sie gekonnt Luftwaffe), General Mohammed Abdel Nabi (Befehlshaber die Massenstimmung gegen das Haupt des alten Staates der Grenztruppen), Generalleutnant Abd El Aziz Seif-Elde­ nutzen, um mit der Absetzung Mubaraks der Bewegung die en (Befehlshaber der Luftverteidigung), General Ismail Spitze zu nehmen. Mit diesem Schritt konnte das Militär Othman (Generalstabsoffizier für Moralische Landesvertei­ das Gesetz des Handelns wieder in die Hand nehmen. Es digung), General Hassan al-Rwini (Befehlshaber der Zen­ waren aber die revolutionären Umstände, die dies überhaupt tralen Militärzone), General Mohammed Hegazy (Befehls­ erst erzwangen. Ohne Tahrir hätten Mubarak und seine haber der 3. Feldarmee), General Sobhy Sedky ( Befehlsha­ hochdekorierten Freunde so weitergemacht wie bisher. ber der 2. Feldarmee) sowie Sieben Kommandeure der Aber gleichzeitig stimmt es eben, dass das Militär so Nord-, Süd- und Westmilitärzonen. bleib wie es unter Mubarak war und es blieb, was es war: eine von der Bevölkerung abgehobene Macht im Staate, ja Über die herausragenden Heldentaten dieses Gremiums sie ist dieser Staatsapparat in Essenz. Dass die Tahrir-Bewe­ weiß Wikipedia folgendes zu berichten: "Zur Abschreckung wurde u.a. der in Ägypten umstrittene Blogger Maikel Na­

------13 kultur magazin Nr. 5 ------bil Sanad, (...) von einem Militärgericht zu drei Jahren Haft Statt dessen: "Der Entwurf zur Änderung der bestehen­ verurteilt. Er hatte in seinem Blog berichtet, dass die ägyp­ den Verfassung wurde von einem Verfassungskomitee aus­ tische Armee absichtlich Konflikte zwischen Christen und gearbeitet und vom Obersten Rat der Streitkräfte autori­ Muslimen anheizte, um daraus politisches Kapital zu schla­ siert. Für die neue Verfassung stimmten 77,2 Prozent der gen." Der Militärrat: "hat Ende März 2011 ein Gesetz be­ Wähler, die Wahlbeteiligung lag bei etwa 41 Prozent, was schlossen, das Proteste verbietet, die das reibungslose deutlich mehr ist als bei früheren Referenden. Die Änderun­ Funktionieren von Institutionen oder der Wirtschaft beein­ gen traten am 30. März 2011 in Kraft."25 trächtigen. Das Gesetz war keine vier Stunden alt, da wandte das Militär es bereits an und räumte die Besetzung der Kairoer Universität."24 Die Intervention der Militärs am 15. Juni 2012 Abgesehen davon legte der Oberste Militärat generös seine Hand über jene Exekutivkräfte, die an den Massakern Wie ging es indes mit der Staatsreform voran? und Folterungen an Demonstranten zu Beginn von 2011 be­ teiligt waren, während die Bewegung nach Gerechtigkeit "Laut Militärrat sollen vom 28. November 2011 bis zum rief und Untersuchungsverfahren forderte. 10. Januar 2012 demokratische Parlamentswahlen in drei Phasen abgehalten werden. Die zweite Parlamentskammer Formell gesehen hatte der Militärrat auch eine zivile Ma­ (Schura-Rat), soll auch dreischrittig ab dem 29. Januar rionettenregierung an der Hand, das Kabinett Scharaf, das 2012 gewählt werden. Anfang Oktober 2011 änderte der von dem 3. März 2011 bis zum 22. November 2011 die Militärrat umstrittene Wahlrechtsparagraphen. Am 15. Juni ägyptische Regierung stellte. Die Minister waren entweder 2012 – einen Tag vor dem Termin der Stichwahl zum ägyp­ vom Militärrat eingesetzt oder noch von Mubarak ernannt. tischen Präsidenten – löste der Militärrat das aus den ers­ Die Pointe ist, dass das brutale Vorgehen des Militärs gegen ten Parlamentswahlen nach dem Sturz Mubaraks hervorge­ Demonstranten im Herbst 2011 das Scheinkabinett immer­ gangene Parlament auf, nachdem sein Zustandekommen hin veranlasste, kurz vor dem ersten Wahldurchgang aus am Vortag vom obersten Gericht Ägyptens für verfassungs­ Protest zu demissionieren. Und danach - am 16. Dezember widrig erklärt worden war, da nicht die Bedingungen zur 2011 - trat der kurz davor eingerichtete 30-köpfige zivile Besetzung eines Drittels der Plätze durch sogenannte „Un­ Beirat des Oberstern Rats der Streitkräfte zurück - aus Pro­ abhängige“ eingehalten worden waren. Der Militärrat in­ test gegen das gewalttätige Vorgehen (mit mehreren Toten) itiierte, dass den Mitgliedern des Parlaments der Zugang des Militärs gegen eine Demonstration. Diese Pointe zeigt zu diesem versperrt wurde."26 Das muss man sich auf der auch die Schwierigkeit des Militärs sich eine zivile Camou­ Zunge zergehen lassen. Der Militärrat ändert autonom und flage zu geben. Diese Schwierigkeit wurde erst im Juli 2013 selbst nach dem Verfassungsreferendum die Verfassung. nach dem Militärputsch "gelöst", doch selbst dieser Schein­ Die ersten freien Parlamentswahlen finden unter der Prä­ regierung sprang ElBardei aus Protest gegen das Morden misse statt, dass ein Drittel der Kandidaten "unabhängig" der Militärs ab. sein sollte. Wie gut und glaubhaft die Begründung für diese vom Militärrat vorweggenommene Wahlentscheidung ge­ wesen sein war, erinnert sie frabant an unzähligen Wahlfäl­ schungen, Wahlbeugungen und Verfassungskrisen des Di­ Das Verfassungsreferendum vom März 2011 rektoriums zwischen der Französichen Revolution und Na­ poleons Militärdiktatur, 1795-1799. Wobei der Korse ge­ Der erste Schritt des Militärs, die demokratische Revolu­ genüber Al-Sisi den unschätzbaren Vorteil hatte, immerhin tion niederzuringen, bestand darin, eine allgemeine, dem sozialen Umwälzungen der Revolution zu bewahren. Mit Volk verantwortliche, verfassungsgebende Versammlung zu solch einem Erbe kann Al-Sisi der Weltgeschichte nicht verhindern und eine zermürbend zähe und lange Phase bis aufwarten. zu den Wahlen einzuschlagen. Die Methoden folgten der Napoleonischer Plebiszite. Sprich: ein achtköpfiges Komi­ Die Rolle des Militärats kann insgesamt so auf den Punkt tee wurde von dem Obersten Militärat auserkoren und de­ gebracht werden: Zurückdrängen des Tahrir-Elements ren Schaffen dann auch vom Militärrat überwacht. Das durch repressive Maßnahmen, anderseits die schrittweise Endergebnis wurde dem Wahlvolk vorgelegt, das nur noch Ersetzung des Tahrir-Elements durch die Verheißung der ja oder nein stimmen, nicht aber selbst seine Vorstellungen einbringen konnte. 25 http://de.wikipedia.org/wiki/Verfassungsreferendum_in_ %C3%84gypten_2011 24 http://de.wikipedia.org/wiki/Oberster_Rat_der_ 26 http://de.wikipedia.org/wiki/Oberster_Rat_der_ %C3%84gyptischen_Streitkr%C3%A4fte %C3%84gyptischen_Streitkr%C3%A4fte

------14 kultur magazin Nr. 5 ------bürgerlichen Demokratie, eine Verheißung, die auch im und diese Option war bereits mit dem März 2011 passe. ländlichen Ägypten, in dem die Tahrir-Bewegung nicht Fuß fassen konnte, wirkt. Und schließlich auch die Gängelung Das wirklich relevante Element dieser Phase vor den des normalen Parlamentsbetriebs durch den Obersten Mili­ Parlamentswahlen war das Wiederaufleben der Tahrir-Be­ tärrat. wegung auf der Straße. Die zentrale Losung war die Abga­ be der Macht des Militärrats an eine zivile Regierung, das Der erste Punkt, die Repression unter Tantawi war zeit­ Ende der post-mubarak Repression durch Polizei, Geheim­ weise noch härter als jene unter Mubarak: "Unterdessen er­ polizei und Militärgerichte. Sehr wahrscheinlich, dass Mili­ hob Amnesty International (AI) schwere Vorwürfe gegen tär unter Tantawi bereits im Herbst 2011 plante, die gesam­ die Militärführung: In Ägypten würden die Menschenrechte te Macht weiterhin auszuüben. Auf alle Fälle war die Bewe­ heute teilweise stärker mit Füßen getreten als zu Zeiten gung "Tahrir 2.0" das einzig ein starkes Argument, den Mubaraks, hieß es in einem Bericht der Organisation. Wahltermin nicht noch einmal zu verschieben: Amnesty wirft dem Militärrat vor, friedliche Proteste regel­ mäßig gewaltsam aufzulösen. Außerdem sei in den vergan­ "Tausende Demonstranten forderten einen sofortigen genen Monaten mehr als 12.000 Zivilisten vor Militärge­ Rücktritt der Generäle und nicht erst im Juni eine Präsi­ richten ein unfairer Prozess gemacht worden, heißt es in dentenwahl. Auf Livebildern von al-Jazeera waren De­ dem 62 Seiten langen Bericht."27 monstranten zu hören, die ankündigten, den Platz so lange besetzt zu halten, bis ihre Forderungen erfüllt seien. Erneut soll es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Sicher­ heitskräften gekommen sein. Nach einer kurzen Beruhigung Der Blutzoll vor den Wahlen im Winter in den frühen Morgenstunden setzten sich die Zusammen­ 2011/2013 stöße am Mittwoch den fünften Tag infolge fort. Die Stra­ ßenkämpfe verlegten sich vor allem vor das stark befestigte 28 Die ersten Parlamentswahlen nach dem Sturz Mubaraks Innenministerium." Der Blutzoll von "Tahrir 2.0", also wurden vom Militärrat drei mal nach hinten verschoben. Im dem "Marsch der Million" war mit ca. 50 Ermordeten be­ Vorfeld der Wahlen standen drei Konflikte im Vordergrund: trächtlich. Ohne diesem Blutzoll wäre es im im November Übergeben die Militärs tatsächlich einer zivilen Regierung 2011 bis zum Jänner 2012 zu keinen Wahlen gekommen! die Macht, endet der Ausnahmezustand und die Militärge­ genau genommen ging es dabei auch weniger darum, wie richtsbarkeit? Erst als die Muslimbrüder mit einem Wahl­ die Mehrheitsverhältnisse am Ende aussahen, sondern dass boykott drohten und damit die erste "freie" Wahl zur Farce das Militär seine diktatorischen Vollmachten abgab. geraten wäre und andererseits im Herbst 2011 erneut Mil­ lionendemonstrationen die Machtabgabe der Militärs for­ derte, versprach der Militärrat das Wahlergebnis ernst zu nehmen. Von den Parlaments- zu den Präsidentschafts­ wahlen 2012 Der Zweite Konflikt bezog sich auf die Frage, ob die ehemalige Regierungspartei, die Nationaldemokratische Am 23. Januar 2012 tritt das in drei Durchgängen neu Partei (NDP) überhaupt kandidieren dürfe. In weiterer Fol­ gewählte Parlament zum ersten mal zusammen. Zwei Tage ge war diese Frage nicht mehr relevant, da diese Parteien zuvor war das Endergebnis der Auszählung bekannt gege­ nicht mehr als 6% der Stimmen bekamen. Für den Militär­ ben: die FGP wurde mit 45,7 % stärkste Kraft, salafistische rat war dies aber eine schwierige Situation, denn ihr fehlte Partei des Lichts erreicht 24,6 %, die liberale Partei Neue eine relevante politische Vertretung. Der dritte Konflikt be­ Wafd-Partei und das liberale Parteienbündnis Ägyptischer traf ursprünglich den Wahltermin. Ein Teil der demokrati­ Block erreichen 8,4 % und 6,6 % Prozent. Das Parteien­ schen Tahrir-Bewegung befürchtete eine unfaire Ausgangs­ bündnis "Die Revolution geht weiter erzielte" 2%. der Ge­ lage gegenüber den Muslimbrüder, weil diese bereits als neralsekretär der FPG wird zum Parlamentspräsident er­ (teils in der Illegalität formierten) Partei organisert waren. nannt. Wenig später wurden wurden die Notstandsgesetze Bei den Wahlen erreichten die Muslimbrüder (FGP) 37,5%. weitgehend aufgehoben und über 1.950 Gefangene von der Vermutlich hätte aber auch ein späterer Wahltermin daran Militärjustiz freigelassen. daraus ist ersichtlich, dass allein nicht swesentliches geändert - außer dass der Oberste Mili­ die Bildung des Parlaments unabhängig vom Militär eine tärrat noch länger seine Macht einzementieren hätte kön­ Schwächung der Macht desselben bedeutete. nen. Die Alternative zu einem "fairen" Wahltermin wäre die demokratische verfassungsgebende Versammlung gewesen Im Frühjahr 2012 ist die Stoßrichtung der Demokratiebe­

27 http://www.orf.at/stories/2090835/2090837/ 28 http://www.orf.at/stories/2090835/2090837/

------15 kultur magazin Nr. 5 ------wegung weiterhin der alte Staat der Mubarak-Epoche. Das Das Interessante fand allerdings kurz davor statt: Von den zeigt sich bei den Massenprotesten vor der staatlichen TV- 23 Kandidaten wurden plötzlich ganze 10 vom dem - vom Gesellschaft und in dem Konflikt des CTUWS mit dem Militär installiereten - Verfassungsgericht aus fadenscheini­ ETUF, der gelben aus der Mubarak-Zeit stammenden Ge­ gen Gründen zu den Wahlen nicht zugelassen.31 Zwar kann werkschaftsföderation. Der CTUWS-Führer hatte die Rede es als berechtigt gelten, wenn etwa Suleiman als zentraler des ETUF-Führer vor der ILO in Genf unterbrochen und ist Verantwortlicher des Mubarak-Regimes vom dem passiven daraufhin in Ägypten von einem Gericht verurteilt worden, Wahlrecht ausgeschlossen werden kann - wenngleich dann was zeigt, dass im Staatsapparat keineswegs die alten auch Schafiq ausgeschlossen werden müsste, denn der war Strukturen zerschlagen wurden. "Freitag, 4. Mai 2012 Luftwaffengeneral und letzter Premierminister unter Hosni Knapp drei Wochen vor der Präsidentschaftswahl haben in Mubarak! Und die Begründungen für die anderen Wahlaus­ Kairo und Alexandria tausende Ägypter, vor allem Jugend­ schlüsse sind allesamt dubios. Die Stichwahl zwischen liche, gegen den Militärrat demonstriert. Sie forderten eine Mursi und Schafiq sollte eigentlich den Militärs, die auf umgehende Machtübergabe an eine Zivilregierung. Vor Schafiq setzten, nützen. Denn ein guter Teil der Tahrir-Be­ dem Verteidigungsministerium, in den Straßen angrenzend wegung stand nun vor dem 2. Durchgang vor einem Rätsel: zum Kairoer Stadtteil El-Abbassiyah, kam es zu stunden­ Den Mubarak-Vertrauten Schafiq wird man wohl kaum langen Straßenschlachten mit den dort in Bereitschaft ste­ wählen - aber deswegen die Islamisten wählen? Zurecht sa­ henden Sicherheitskräften. Eingesetzt gegen die Demons­ hen viele des Tahrir in Schafiq den Vertreter des alten Staa­ tranten wurden Wasserwerfer, Schlagstöcke, Tränengas und tes. Das belegen die Zwischenfälle bei seiner Stimmabgabe. auch scharfe Munition. Um das Verteidigungsministerium herum wurden Schützenpanzer postiert und eine Barriere "Der Oberste Militärrat, der seit dem erzwungenen aus Stacheldraht angelegt. Zur Eskalation der Gewalt kam Rücktritt Mubaraks am 11. Februar 2011 das Land am Nil es, als die Protestierenden versuchten, den Stacheldraht regiert, habe bestimmt, wer für die Wahlen antreten dürfe beiseite zu räumen. Die vorläufige Bilanz dieser Auseinan­ und wer nicht, so Nabil. Dies schließe eine wirklich freie dersetzung lautet: zwei Tote und 130 Verletzte. In der ersten Wahl aus. Außerdem könne auch ein mit großer Mehrheit Maiwoche starben in Ägypten allein neun Menschen in den gewählter Präsident jederzeit von den Generälen abgesetzt politischen Auseinandersetzungen."29 und vor ein Militärtribunal gestellt werden." - diese Worte des Bloggers Nabil sollten sich ein Jahr später bewahrhei­ Eine Machtübergabe des Militärs konnte - wenn über­ ten. "Die Wahlen finden in einer Atmosphäre der Unfreiheit haupt - wegen der stark autoritären Verfassung nicht an das statt", kritisiert Nabil und erinnert daran, dass seit der Re­ Parlament sondern nur an einen neuen Präsidenten überge­ 31 ben werden. Genauso wie vor den Parlamentswahlen be­ "Am 14. April 2012 gab die Wahlkommission bekannt, fürchteten die Massen, dass die Machtübergabe des Militärs zehn von 23 Kandidaten von der Präsidentschaftswahl an einen Präsidenten nicht oder irgendwie getürkt stattfin­ auszuschließen, darunter Chairat al-Schater, Aiman Nur, den werde. und Hasem Abu Ismail. El-Schater, der im März 2011 aus dem Gefängnis entlassen wurde, dürfe nicht an der Wahl teilnehmen, da ein geltendes Gesetz be­ sagt, dass frühere Häftlinge nach Verbüßung ihrer Strafe Die Präsidentschaftswahlen vom Mai/Juni 2012 oder Begnadigung sechs Jahre lang nicht bei einer Wahl antreten dürfen, was auch für Nur gilt. Suleiman habe nicht wie vorgeschrieben die Unterstützung von Wählern "Der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahl in Ägyp­ aus 15 Provinzen erhalten. Er hatte zuvor in einer reprä­ ten 2012 wurde am 23. und 24. Mai 2012 abgehalten. Am sentativen Umfrage der unabhängigen Tageszeitung Al- 16. und 17. Juni 2012 kam es zu einer Stichwahl zwischen Masry Al-Youm mit 20,1 Prozent die meiste Zustimmung Mohammed Mursi von der islamistischen Freiheits- und erhalten. Ein gleichzeitig von der Mehrheit im Parlament Gerechtigkeitspartei und dem als unabhängiger Kandidat gebilligtes Gesetz, das vorsieht, hohe Vertreter des Muba­ angetretenen Ahmad Schafiq, der unter dem gestürzten rak-Regimes für einen Zeitraum von zehn Jahren von Präsidenten Husni Mubarak als Minister und Premiermi­ Staatsämtern auszuschließen, ist noch nicht von der Mili­ nister gedient hatte. Die Ergebnisse wurden am 24. Juni tärregierung in Kraft gesetzt worden. Abu Ismail wurde 2012 bekanntgegeben. Mursi gewann die Wahl mit 51,7 30 gesperrt, weil seine Mutter die US-amerikanische Staats­ Prozent gegen Schafiq (48,3 Prozent)" bürgerschaft besessen habe. Kandidaten dürfen gemäß Gesetz ausschließlich die ägyptische Staatsbürgerschaft 29 http://de.wikipedia.org/wiki/Revolution_in_ besitzen und müssen von ägyptischen Eltern abstammen" %C3%84gypten_2011 http://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschafts­ 30 http://de.wikipedia.org/wiki/Pr wahl_in_%C3%84gypten_2012 %C3%A4sidentschaftswahl_in_%C3%84gypten_2012

------16 kultur magazin Nr. 5 ------volution mehr als 2.000 Menschen wegen ihrer politischen man ja über Erfahrung im Umgang mit Wahlen verfügt.“ Ansichten verurteilt und inhaftiert worden seien. "Niemand Maher weiters: „Insgesamt wurden doch die meisten Stim­ kann in Ägypten seine Meinung frei äußern und es gibt kei­ men für die Revolution abgegeben, denn Shafik erhielt ja ne Versammlungsfreiheit." Menschen, die gegen die herr­ nur 20 Prozent der Stimmen, Abdel Moneim Aboul Fotouh schenden Zustände demonstrierten, würden verfolgt und und dagegen fast 50 Prozent und die getötet. Schon mehr als 12.000 Bürger seien verhaftet wor­ Muslimbrüder 25 Prozent. Die allgemeine Stimmung ist den." (...) Maikel Nabil, der als Kriegsdienstverweigerer also gegen das alte Regime und seine loyalen Anhänger.“ schon vor Beginn der Revolution im Gefängnis saß, war im Wie soll sich die Tahrir-Bewegung nun in der Stichwahl März des letzten Jahres festgenommen und von einem Mili­ entscheiden? „Der Lösungsansatz, nun Mursi zu unterstüt­ tärgericht zunächst zu drei Jahren Haft verurteilt worden. zen, steht durchaus im Raum und wir verschließen uns ihm Diese Strafe wurde später auf zwei Jahre reduziert. Ihm nicht. Doch unsere Bewegung hegt natürlich Vorbehalte wurde vorgeworfen, die Armee beleidigt, falsche Informa­ gegenüber den Ansichten der Muslimbrüder. (…) Vielfach tionen verbreitet und die öffentliche Sicherheit untergraben haben sie uns in der Auseinandersetzung mit dem Militär­ zu haben. Auf Facebook und in seinem Blog hatte er Artikel rat einfach allein gelassen. Zudem lösen die Muslimbrüder veröffentlicht, in denen er bestritt, dass das Militär die In­ mit ihrem Verhalten und ihren Forderungen im Parlament teressen des Volkes vertrete. "Die Armee stand nie auf Sei­ große Ängste unter den Kopten aus. Sollte es uns gelingen, ten der Menschen", schrieb er. "Wir sind zwar den Diktator öffentlich ein Abkommen mit den Muslimbrüdern zu unter­ losgeworden aber nicht die Diktatur.""32 zeichnen, das ihre Verpflichtungen uns gegenüber im Falle eines Wahlsieges Mursis klar festlegt, dann wäre die Opti­ on, ihn zu unterstützen, durchaus eine realistische Lösung.“ (…) „Schließlich ist das alte Regime weiter in allen Staats­ Was ist die größere Gefahr? organen fest verwurzelt: in der Justiz, der Staatsanwalt­ schaft, bei der Polizei und innerhalb der staatlichen Medien Die Jugendbewegung 6. April vor der Stichwahl: "Zu­ – einfach überall. Leider haben wir das alte Regime bisher nächst einmal wenden wir uns prinzipiell gegen die Kandi­ gar nicht zerschlagen können, weil die Strukturen, das datur Ahmed Shafiks bei den Wahlen. (…) Außerdem: Wie Rückgrat der autoritären Herrschaft Mubaraks, nicht auf­ soll es letztlich rechtmäßige Präsidentschaftswahlen geben, gebrochen wurden.“ wenn dabei ein Vertreter des alten Regimes kandidiert, des­ sen Sturz ja das Ziel der Revolution war? Unterstützt wird Auch wenn die Variante, Mursi kritisch bei den Wahlen Shafik doch im Wesentlichen von Kadern der aufgelösten zu unterstützen, nicht richtig war, denn damit wäre Mursi Nationaldemokratischen Partei (NDP) von Ex-Präsident doch irgdnwie als Alternative propagiert, kommt in diesen Mubarak, die vor der Revolution Korruptionsnetzwerke un­ Zitaten von zwei bekannten Repräsentanten doch klar zum terhielt sowie von Offizieren der Staatssicherheit, die nach Ausdruck, dass nicht die Muslimbrüder, sondern das Militär der Revolution abtauchten oder sich zur Ruhe setzten. Ein und der alte Staatsapparat als der Hauptfeind betrachtet Sieg Shafiks wäre das Ende der Revolution. Das muss ver­ wird. Das war zweifelsohne richtig und mit dieser Klarheit hindert werden, denn dieser Mann verkörpert das alte Re­ war es in der Tahrir-Bewegung am Ende der Mursi-Präsi­ gime. Deshalb gibt es auch Forderungen nach einer Wie­ dentschaft ein Jahr später vorbei. Die 52%, die Mursi im derholung der Wahlen unter Ausschluss Shafiks, weil er ei­ zweiten Wahldurchgang, der Stichwahl gegen den Kandida­ gentlich gar nicht als Kandidat zulässig ist. Auf diese Posi­ ten aus der Mubarak-Riege erreichte, war mehr ein Votum tion haben sich die meisten Organisationen der Revoluti­ gegen die Rückkehr zum alten Staat als eines für Mursi, der onsjugend bisher verständigt. Was den anderen Kandida­ im ersten Durchgang 25% der Stimmen bekam. ten, Mohamed Mursi, angeht, so gibt es bisher keine ernst­ haften Verhandlungen oder Gespräche mit den Muslimbrü­ Mursis Präsidentschaft selbst lässt sich in zwei Teile glie­ dern, um eine Einigung zu erreichen oder gemeinsame For­ dern: die Auseinandersetzung gegen den Einfluß des Mili­ derungen aufzustellen. (…) Und viele Kopten und Angehö­ tärs, bei der der neue Präsident einige Punkte gewann, die rige anderer religiöser Minderheiten haben für Shafik ge­ strukturelle Macht der Streitkräfte aber nicht brechen konn­ stimmt, weil sie eine Machtübernahme der Islamisten te und schließlich an ihnen scheiterte. Und zweitens die fürchten, was ja durchaus verständlich ist.“ Das ist ein in­ Agenda, mittels des Staates den Einfluß des Islams auf die teressanter Aspekt, den wir auch im syrischen Bürgerkrieg ägyptische Gesellschaft zu erhöhen. Mit dieser Agenda rief beobachten können. „Starken Rückhalt hat Shafik auch in­ er den anhaltenden Widerstand der demokratischen Bewe­ nerhalb der staatlichen Institutionen, etwa unter den höher gung auf den Plan. Eine Polarisierung, die schließlich das gestellten Polizeibeamten oder im Innenministerium, wo Militär geschickt ausnutzen konnte.

32 http://de.qantara.de/print/4577

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führt, dass am Ende nichts Fortschrittliches dabei heraus­ Mohammed Mursis Präsidentschaft kam. (21.8.2013)

Hier eine Zusammenfassung der Ereignisse33:

Am 30. Juni 2012 legte Mohammed Mursi seinen Amts­ 12. August 2012: Mursi setzt Verfassungszusätze außer eid ab. Die Präsidentschaft begann. Kraft, die seine Macht zugunsten des Militärs einschränken. Damit beginnt eine einjährige Phase, die durch eine wi­ 22. November: Mursi spricht dem Verfassungsgericht die dersprüchliche Entwicklung gekennzeichnet war: Einerseits Kompetenz ab, über die Rechtmäßigkeit des von Islamisten führte die Präsidentschaft Mursi jenen Kampf weiter, der dominierten Verfassungskomitees zu entscheiden. seit Mubaraks Sturz das Thema bestimmte: Den Druck des Militärs, die Revolution zu neutralisieren, zu kanalisieren 29. November: Im Eilverfahren peitscht das Verfas­ und zurückzudrängen - abzufangen. Aber der Präsident sungskomitee seinen Entwurf einer neuen Verfassung führte diesen Kampf nicht auf der Straße, sondern mit den durch. Christen und liberale Ägypter kritisieren den Text. Mitteln und Methoden eines reaktionären Staatsapparates. Die Massenproteste halten an. Vermutlich ist das der Grund, weshalb eine reale Entmach­ tung der Militärs und eine Lösung der Doppelmacht zu­ 8. Dezember: Im Konflikt mit der Opposition gibt Mursi gunsten der Revolution nicht gelingen konnte. Stattdessen nach und annulliert seine Sondervollmachten. "gelang" es Mohammed Mursi innerhalb eines Jahres, sich die Tahrir-Bewegung von einem Verbündeten zum Feind zu 15. Dezember: In zehn Provinzen beginnt die erste Ab­ machen und die Bewegung in die Arme der Armee zu trei­ stimmungsrunde über den Verfassungsentwurf. Die Opposi­ ben, was freilich zu gleichen Teilen wiederum das Versagen tion wirft den Islamisten Manipulation vor. Am 22. Dezem­ der Tahrir-Bewegung deutlich macht, aber anderseits auch ber beginnt die zweite Runde. mit dem reaktionären Gesellschaftsbild der Muslimbrüder zusammenhängt. Unzählig die Berichte von Frauen der De­ 25. Dezember: Laut Wahlkommission stimmten 63,8 mokratiebewegung, die in diesem Jahr auf der Straße ge­ Prozent für die Verfassung. mobbt, belästigt, genötigt oder vergewaltigt wurden. Erst in dieser Konstellation konnte das Militär die Doppelmachtsi­ 25. Jänner 2013: Mindestens 500.000 Ägypter protestie­ tuation endgültig für sich entscheiden und mit dem coup de ren gegen Mursi. etat reüssieren. Objektiv gesehen hat Mursi die Revolution bürgerlich abortiert und der Konterrevolution ausgeliefert. 26. Jänner: In Kairo werden 21 Menschen wegen ihrer Beteiligung an Fußballkrawallen mit 74 Todesopfern in Port Wäre dieses eine Jahr, als die Revolution sich noch in ei­ Said im Februar 2012 zum Tode verurteilt. Nach dem Urteil ner Art labiler Doppelmacht mit dem Militärapparat befand, eskaliert in Port Said die Gewalt. Es gibt Dutzende Tote und von einer Regierung genutzt, die sich auf die Straße und die Hunderte Verletzte. Massen stützt ... es wäre wahrscheinlich die Doppelmacht zugunsten der Revolution ausgegangen. 27./28. Jänner: Mursi verhängt den Ausnahmezustand über Port Said, Sues und Ismailija am Sues-Kanal. Trotz­ dem gehen die Proteste weiter.

Zwei Elemente Mursi´s Präsidentschaft 11. Februar: Am zweiten Jahrestag des Mubarak-Rück­ tritts gehen mehr als zehntausend Ägypter auf die Straße. In In der ersten Phase Mursis Präsidentschaft dominierte mehreren Städten kommt es in den folgenden Wochen im­ der Versuch, mittels der Institutionen, der Modifikation von mer wieder zu gewalttätigen Protesten. Institutionen und der Besetzung wichtiger Verwaltungsposi­ tionen den Einfluss der Militärs zurückzudrängen. In der 8. März: Die Wahlkommission beschließt die Verschie­ zweiten Phase der Präsidentschaft dominierte der Kampf bung der für April geplanten Parlamentswahl. Oppositions­ gegen die Demokratiebewegung. Aber auch der ersterer gruppen rufen zum Boykott auf. Aspekt, wiewohl die Stoßrichtung gegen das Militär pro­ gressiv war, wurde mit solch reaktionären Methoden ge­ 33 http://orf.at/stories/2189465/2189480/ gekürzt.

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2. Juni: Das oberste Verfassungsgericht spricht dem von Initiatoren von Tamarod (Rebellion) sammelten nach eige­ Muslimbrüdern und Salafisten dominierten Oberhaus des nen Angaben über 22 Millionen Unterschriften gegen Mur­ Parlaments die Legitimität ab. si.

7. Juni: Mursi weist Rücktrittsforderungen zurück. 1. Juli: Begleitet von weiteren Protesten fordert der Ar­ meechef und Verteidigungsminister General Abdel Fattah 17. Juni: Mursi macht sieben Muslimbrüder und ein Mit­ al-Sisi, der Konflikt müsse innerhalb von 48 Stunden gelöst glied der ehemaligen Terrorgruppe Gamaa al-Islamija zu werden. Provinzgouverneuren. 2. Juli: Mursi reagiert verärgert auf das Armeeultimatum

28. Juni: Tausende Demonstranten fordern Mursis Rück­ und lehnt einen Rücktritt weiterhin ab. Islamistische Politi­ tritt. Bei Zusammenstößen sterben mindestens drei Men­ ker und Geistliche rufen die Ägypter auf, die legitime Füh­ schen, darunter ein US-Bürger. Tausende Ausländer verlas­ rung im Land zu verteidigen. sen das Land. 3. Juli: Nach Ablauf des Ultimatums setzt das Militär 30 Juni: In Kairo und anderen Städten gehen Hundert­ Mursi ab und kündigt eine vorgezogene Neuwahl an. Der tausende gegen den Präsidenten auf die Straße. Die Mas­ Präsident des Verfassungsgerichts soll vorläufig Staatschef senproteste markieren das Ende einer Unterschriftenkampa­ sein. Auch die von den Islamisten ausgearbeitete Verfas­ gne, mit der er zum Rücktritt gezwungen werden soll. Die sung wird vom Militär aufgehoben.

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Probleme des syrischen Widerstan­ Menschen getötet worden.“36 des (10.6.2012) Kamal al-Labwani erklärt richtigerweise: „Der Annan- Plan basiert auf der Zustimmung des Regimes und ist des­ halb sinnlos. Wenn das Regime heute seine Versprechen bricht, wird es nur mit neuen Friedensinitiativen „bestraft“. Die derzeitige Initiative ist für das Regime eine Lizenz zum Töten und kein Instrument, um den Konflikt zu lösen. Wir brauchen mehr Druck von außen.“.37 Der Syrische Oppositionelle Kamal al-Labwani im Pres­ se-Interview: „Annan-Plan ist Lizenz zum Töten"34 – das ist Wie soll der Druck von außen aber aussehen? Kamal al- ganz richtig formuliert. Der Aufstand in Syrien hatte längst Labwani meinte nicht eine internationale Kampagne der den Punkt überschritten, bis zu dem ein friedlicher Kom­ Arbeiterbewegung gegen das höchst repressive Regime in promiss möglich wäre. Damit bedeutet jeder Friedenplan Damaskus. Stattdessen nimmt er das, was in seinen Augen mit dem Regime nichts anderes, als dieses implizit zu unter­ die effektivste Lösung wäre: Eine militärische Intervention stützen. Bas­ des Westens, har Assad vorerst ge­ konnte Zeit tarnt als UN- gewinnen Mission: und sich for­ „Wir brau­ mieren, so chen eine wie bereits UN-Resoluti­ von 2008 bis on, die klar­ 2011, genutzt stellt, dass in wurden, die Syrien Kapi­ Rüstungsim­ tel VII wirk­ porte aus der sam wird. Russischen Die Beob­ Föderation achtermissi­ um mehr als on muss auf 500% gegen­ 2000 Beob­ über der Vor­ achter ver­ periode zu­ größert wer­ nahm.35 Der den und eine Friedenplan UN-Frieden­ von Kofi An­ struppe muss nan war da­ eingreifen. her von An­ Wir brauchen fang an reak­ jemanden, tionär und der die Gewalt stoppt und die Minderheiten schützen mit dem Blut der syrischen Zivilisten und Aufständischen kann.“38 gedränkt. „Laut Annans Plan sollte ab dem 12. April eine Feuerpause gelten. Diese wurde aber immer wieder ver­ Doch diese „Lösung“ verhindert bekanntlich die russi­ letzt. Die syrische Führung und die Rebellen machen sich sche Föderation im UN-Sicherheitsrat. Ist das gut? Nein, gegenseitig dafür verantwortlich. Annan will dem UNO-Si­ auch eine falsche Antwort auf eine falsche Frage ist falsch. cherheitsrat am Donnerstag Bericht erstatten. Bei dem seit 36 etwa 15 Monaten anhaltenden Aufstand gegen Präsident http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/763252/A Bashar al-Assad sind nach UNO-Angaben mehr als 10.000 nnan-befuerchtet-moeglichen-Buergerkrieg-in-Syrien? from=suche.intern.portal 34 http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/763226/A 37 http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/763226/A nnanPlan-ist-Lizenz-zum-Toeten? nnanPlan-ist-Lizenz-zum-Toeten? from=suche.intern.portal from=suche.intern.portal 35 http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/763083/S 38 http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/763226/A yrien-steigerte-Waffenimporte-um-580-Prozent? nnanPlan-ist-Lizenz-zum-Toeten? from=suche.intern.portal from=suche.intern.portal

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Auch für die Gegner einer Intervention ist die russische Blockade zutiefst reaktionär, wie auch das undemokratische Egypt: Revolution and Conterrevo­ Gebilde UN-Sicherheitsrat als solches. Das russische Kal­ lution (14.12.2012) kül besteht aus zwei Teilen: Einerseits möchte Moskau einen guten Kunden russischer Waffensysteme nicht verlie­ ren – und angesichts der Komplexität der Technologie be­ deutet der Lieferantenstatus eine politische Bindung, eine Machtkonstellation, die der russische Imperialismus sich “Demonstration gegen die Verfassung in Ägypten nicht nehmen lassen möchte, von seinem Mittelmeer-Mari­ 14.12.2012, Wien, 15 Uhr nestützpunkt an der Syrischen Küste ganz zu schweigen. Der zweite Teil des Kalküls teilt Russland mit China: Eine Die Dekrete Mursis und der formell und inhaltlich um­ Einmischung von außen in die inneren Angelegenheiten der strittener Verfassungsentwurf sorgten für eine breite Protest­ Kerkerstaaten soll nicht Mode werden. Das ist eine zutiefst welle in Ägypten. Die Weigerung des Regimes, die von ihm unheilige Allianz zwischen Putin, Assad und Hu, an deren verursachte Polarisierung in der Bevölkerung, sowie die ge­ Händen Blut trieft. walttätigen Übergriffe seiner Anhänger führten zu weiterer Eskalation. Nun protestieren Ägypter und Ägypterinnen Die Assoziation mit der Heiligen Allianz der Restaurati­ überall in Solidarität mit der Bewegung und gegen den Ver­ onsperiode 1815-1830 ist weit hergeholt aber in einem be­ fassungsentwurf und gegen die Abhaltung einer Volksab­ stimmten Punkt ziemlich sinnig: Es wird in andere Staaten stimmung über eine Verfassung, welche das Volk mehr interveniert um sie vor der Fortschritt, der vielleicht in un­ spaltet als vereinigt. Auch in Wien rufen Ägypter zum De­ demokratische Staaten intervenieren könnte, zu bewahren. monstrieren auf. Im folgenden senden wird den Aufruf Darauf lässt sich Russlands Haltung zu Syrien und zum ara­ ägyptischer Aktivisten zu einer Solidaritäts-und Protest­ bischen Frühling reduzieren. kundgebung am kommenden Freitag, 14. Dezember am Wiener Stephansplatz. Die momentane Situation in Ägyp­ Statt sich nun aber mit dem Kampf für demokratische ten sorgt für große Aufruhr, nicht nur im eigenen Land, son­ Rechte in Russland und China zu solidarisieren und ein in­ dern auf der ganzen Welt. Anstatt Fortschritte zu machen, ternationales Bündnis von unten zu schmieden, vertraut die wird das Land langsam wieder in eine Diktatur umgewan­ Syrische Opposition darauf, Russlands Machthabern zu delt. Wir sind mit folgenden Punkten in der neuen Verfas­ verstehen zu geben, sie wäre an keine Änderung des Paktes sung nicht einverstanden: interessiert: „Wir haben den Russen versprochen, dass ihre Interessen in Syrien gewahrt bleiben. Aber bisher fruchtet - Einschränkung der Pressefreiheit (Artikel 49 und 215) das wenig. Auch die internationale Gemeinschaft muss auf - Abschaffung der allgemeinen Gesundheitsversicherung Moskau einwirken. Es muss schnell gehen. Die Zeit vergeht (Artikel 62) und Zeit ist Blut in Syrien. (...) Wenn die internationale Ge­ - Keine Garantie für Inhaftierungen innerhalb eines staatli­ meinschaft der syrischen Bevölkerung aber nicht hilft, dann chen finden al-Qaida und die Salafisten eine Chance, aktiv zu Gefängnisses (Artikel 36) werden. Dann könnten sie versuchen, die Syrer auf ihre Sei­ - Auflösung von Gewerkschaften (Artikel 52) te zu ziehen.“39 - Einschränkung der Frauenrechte (Artikel 10) - Einschränkung der Rechte religiöser Minderheiten (Arti­ In diesem Passus ist absurd, dass die Interessen Russ­ kel 3, 4, 43, 54, lands gewahrt sein sollen. Putins Interessen in Syrien de­ 212) cken sich ja mit jenen Assads. Überhaupt besteht das Dra­ - Immunisierung des Militärs und Rechtfertigung militäri­ ma der syrischen Revolution gerade darin, dass sie immer scher Verfahren mehr der Spielball anderer Mächte wurde. Russland, Groß­ gegen Zivilisten (Artikel 198) britannien samt anderer westlichen Mächte, der Iran nebst der Hisbollah, Israel und die Türkei, Al-Qaida, Katar und Wir sagen NEIN zu dieser ungerechten Verfassung, die die Golfstaaten, Saudi Arabien ... sie alle haben mittlerweile keine Freiheit und keine auf die eine oder andere Art ihre Finger in Syrien und ver­ Gerechtigkeit in Ägypten garantiert. wandeln damit die Revolution in einen Stellvertreterkrieg. Freitag, 14. Dezember 2012 – 15:00 Wien Stephansplatz” Quelle: “Antiimperialistische Koordination” 39 http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/763226/A nnanPlan-ist-Lizenz-zum-Toeten? from=suche.intern.portal

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Während die BIP-Zuwachsraten der arabischen Welt im Economic growth rate and wealth Schnitt seit 1975 größer waren als die der Welt, stagnierten per capita / employed seitdem alle volkswirtschaftliche Wohlstandindikatoren der arabischen Welt, während dieselben im Weltdurchschnitt (7.3.2012) zunahmen.

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weniger Mut, weniger Verzweiflung und somit mit be­ 30 kurze Thesen zum „arabischen schränkteren Zielen. Erst recht trifft das auf die Occupy-Be­ Frühling“ (7.3.2012) wegung zu. 4. Die meisten der alten Regime waren ganz gut in das geopolitische System des Westens integriert, das traf in den letzten Jahrzehnt auch auf Gadaffis Libyen zu. Umso weniger tief waren die Regimes trotz gutdotierten Sicher­ 1. Die umwälzenden Ereignisse in Tunesien, Ägyp­ heitsapparat in ihren Ländern verankert. Es ist eine inter­ ten, Libyen, Syrien, Jemen, Bahrain und anderen Ländern essante Erfahrung, die etwa - bei allen sonstigen Unter­ der Region haben eine gemeinsame Ursache. Ökonomi­ schieden - an die DDR erinnert, dass ein Sicherheitsapparat, scher Abstieg, geringe Beteiligung der Massen an den na­ der das halbe Land wie eine Krake umschlingt, dennoch ei­ tionalen Ressourcen, kombiniert mit einem kleinlichen und gentlich ein Fremdkörper bleiben und dann überraschend repressiven Polizeistaat. Es handelt sich um eine Kombina­ binnen weniger Monate abgeschüttelt werden kann. tion sowohl sozialer als auch politischer Gründe - etwa der Kampf um demokratische Rechte - die zu den Erhebungen 5. In allen betroffenen Ländern der Region entwickel­ der Massen führen. Die Berichte, die zur Verfügung stehen, te sich eine eigene Dynamik: Es begann oft mit kleinen sprechen weniger davon, dass ein wirtschaftlicher Aufstieg Protesten, die sofort übermäßig blutig unterdrückt wurden. zu der Forderung nach mehr Mitsprache und Partizipation Die Begräbnisse der Repressionsopfer wurden wiederum zu führte, sondern der Abstieg. Auch die Verbreitungszunahme bereits größeren Kundgebungen, bei denen wiederum Blut des Internet ist nicht der Motor der Revolution, sondern floss. Doch mit jeden dieser Eskalationsschritten und mit je­ bloß ein nicht unwichtiges Mittel zur Mobilisierung. dem Mehr an Menschenopfern lohnte sich die Umkehr ins Geleis der Normalität immer weniger, denn dann wären ja 2. Sobald die ersten Demonstrationen die gewaltsame die bisherigen Opfer umsonst gewesen. Somit kehren die Reaktion des Regimes auf sich zog, konnte neben dem so­ Massen nicht mehr um und es wird der Punkt erreicht, ab zialen Elend und der politischen Repression ein dritter An­ dem immer mehr Polizisten und Soldaten den Schießbefehl trieb der Revolutionen deutlich werden, der nicht ganz so verweigern und sich eher selbst in Gefahr bringen, als noch leicht in kurze Worte zu fassen ist: Der Unwille, weiterhin mehr unter den eigenen Leuten das Blutbad zu vergrößern. nach vielleicht 30-40 Jahre „gebückt zu gehen“, die Demü­ tigungen weiterhin zu internalisieren, ohne wenigstens ma­ 6. Mit dem Abfall von Truppen von der Regierung teriell davon zu profitieren … ab einem bestimmten Punkt kommt zu den Massendemonstrationen das Element des erscheint die Gefahr, bei Demonstrationen umzukommen Bürgerkrieges hinzu. Aber dies ist bloß die militärische Sei­ als das kleinere Übel als sich selbst weiterhin wegen des te des Konflikts – und der allgemeinen Spin untergeordnet, Sich-Ducken verachten zu müssen. Eine treffende Selbstbe­ es handelt sich dennoch um eine Revolution, nicht um zeichnung machten die Tunesier zu Beginn der ganzen Ent­ einen Bürgerkrieg in dem Sinne, dass zwei Fraktionen der wicklung: Sie sprachen von der „dignity revolution“. Es ist Eliten den Staatsapparat in zwei gegeneinander vorgehende daher bei allen nationalen Besonderheiten gerechtfertigt, Teile getrennt hätten. Der Charakter der Revolution wird von einem gemeinsamen roten Faden zu sprechen. Wer den nicht dadurch geändert, das sich bewaffnete Einheiten der Umsturz etwa in Tunesien begrüßt, müsste dies etwa auch Aufständischen bilden – einzig die Chance auf einen Sieg z.B. in Syrien tun. Es handelt sich um ein politisches Phä­ über das alte Regime wird damit vergrößert. Die Umstürze nomen einer Region, die etwa von Mauretanien im Westen gelingen nur dann, wenn entweder relevante Teile des bis zum Oman in Osten, vom Norden Syriens bis zum Sü­ Staatsapparats - aus welchen Gründen auch immer - die Es­ den Ägyptens reicht. kalation des alten Regimes nicht mehr mittragen oder in­ dem überhaupt neue, halbstaatliche bewaffnete Organe ge­ 3. Der „arabische Frühling“ sendete Wellen um den bildet werden, die militärisch siegen. halben Erdball aus. Nachwirkungen waren abgesehen von China z.B. auch in Russland zu erkennen, wo es zum ersten 7. Um eine Revolution handelt es sich nicht im sozia­ mal seit langem zu Massendemonstrationen gegen die Re­ len Sinne, also in dem Sinne, dass die Produktionsverhält­ gierung kam. Hier stand die demokratische Frage im Vor­ nisse umgewälzt werden. Wir machen die Anwendung des dergrund, während bei der spanischen „Puerta-del-sol-Be­ Begriffs „Revolution“ auch nicht davon abhängig, wer aller wegung“ ökonomische, allerdings auf dem Niveau eines ihn gegenüber den aktuellen Auseinandersetzungen gerade europäischen Landes, im Vordergrund stand. In diesen Fäl­ verwendet oder nicht verwendet. Der Begriff ist angemes­ len strahlte der arabische Frühling aus und gab Inspiration – sen, weil die Staatsmacht von unten, von den Massen her, aber auf einer ganz anderen materiellen Basis und daher mit angegriffen wird. Die Massen wollen oder können sich so

------23 kultur magazin Nr. 5 ------nicht mehr regieren lassen und die Machtapparate können endet die Revolution mit dem Sturz der alten Regimes nicht mehr so weiterregieren wie bisher. Der Unterschied nicht, es ändern sich damit nur die Kampfbedingungen. In zwischen einer Revolution und anderen Formen der Aus­ Tunesien, Ägypten und Libyen schloss an die Flucht Ben einandersetzung liegt aber auch darin, von wem der Impe­ Alis, der Absetzung Mubaraks und der Hinrichtung Gadda­ tus ausgeht. In Nordafrika und Westasien ging die Bewe­ fis eine Phase der Instabilität an: Einerseits wurde der Weg gung von unten aus, vergrößerte sich durch die unverhält­ zu einigen tatsächlichen Reformen, Parlaments- und Präsi­ nismäßige Gewaltanwendung der Regimes und ab einer be­ dentschaftswahlen, einer neuen Verfassung, Parteienzulas­ stimmten Größe zog die Bewegung auch Teile der Eliten, sung, der Formierung neuer Medien aufgestoßen, anderseits der herrschenden Klassen, Honoratioren und deklariert pro- wurde der Elan, das Land von Grund auf zu verändern, auf bürgerliche Kräfte an - wie im Falle des NTC Libyens. die lange Bank geschoben, in institutionelle Kanäle geleitet, bis von der Kraft und Unmittelbarkeit der Straße nur noch 8. Das ist somit die genau gegenteilige Entwicklungs­ wenig übrigbleibt. Und Drittens wurde mit dem Aufräumen dynamik als etwa bei der „Orangenen Revolution“ (Ukraine nur halbe Sache gemacht und Teile des Staatsapparates blei­ 2004), die zu unrecht den Titel „Revolution“ trägt. Hier be­ ben, was und wie sie immer waren. Gegenüber diesem fau­ gann der Konflikt bei dem Aufeinanderprallen zweier Frak­ len Kompromiss formierte sich eine militante Minderheit tionen der herrschenden Klasse, die in weiterer Folge je­ wieder auf der Straße und machte die Erfahrung, dass auch weils auch Massenunterstützung an sich zogen, die dann die neuen Polizisten und Soldaten scharfe Munition parat auch Massenkampfformen (Generalstreik, Demonstratio­ haben und diese auch einzusetzen bereit sind. Die neue, ge­ nen, Sit-Ins) anwendeten. Andererseits hatten die Platzbe­ meinsame Nation aller die gegen das alte Regime auf der setzungen in Spanien vom Mai 2011, die keine Teile der Straße waren, gibt es offensichtlich gar nicht. herrschenden Klassen anzog, weder die Größe, noch den in­ neren „drive“ als Revolution zu gelten. 11. Das alles bedeutet klarerweise nicht, dass die Re­ volution schlecht wäre, dass sich das Blutopfer nicht be­ 9. Es handelt sich beim „arabischen Frühling“ um zahlt gemacht oder gar, dass das alte Regime recht gehabt eine demokratische Revolution. Dieses Hinweis ist zuerst hätte. Das alles bedeutet nur, dass die Revolution objektiv einmal notwendig, weil mancherorts im Westen der Begriff noch nicht abgeschlossen ist. Wie gesagt, haben sich nur die „Revolution“ nur als soziale Revolution gedacht wird. An­ Kampfbedingungen geändert. Nun muss eine Minderheit derseits hatte der Begriff „demokratische Revolution“ in eine mit den neuen Verhältnissen vorerst befriedigte Mehr­ Halbkolonien auch eine unglückliche Tradition, indem das heit dazu gewinnen, demokratische Verhältnisse konsequent Programm der Revolution in einer Art Ablöse von ver­ zu erkämpfen. Das gelingt aber nur, indem der Staatsappa­ meintlichen feudalen Zuständen auf die Entwicklung des rat von einer Formation intransparenter und von der Bevöl­ Kapitalismus beschränkt bleiben sollte. Das war vermutlich kerung separierter Einheiten zu einem transparenten Halb­ bereits während des gesamten 20. Jahrhunderts Unsinn, erst staat wird, in dem die Bevölkerung selbst ihre Leute in die recht im 21. Jahrhundert, wo ein Großteil der Bevölkerung entscheidenden Komitees und Räte beruft und jederzeit als Lohnarbeiter lebt und der Kapitalismus – eingebettet in wieder austauschen kann. Damit einhergehend müssen die die Globalisierung – längst den Grundbesitzer overruled bürgerlichen Kräfte, die nun an einem Schwenk des Landes hat. Somit bekamen die „Werkbank-Länder“ Nordafrikas in die ruhigen Bahnen der parlamentarischen Demokratie die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu spüren, aber arbeiten, von den verantwortlichen Stellen abgezogen wer­ gleichzeitig bei jedem Streik, jeder Kundgebung, ja bei je­ den. Dazu sollten sich die militanten Kämpfer der sozialen dem kritischen Bloggen einen gleichermaßen hochgerüste­ Lage zuwenden, die Forderungen der Verarmten aufgreifen ten wie bornierten Sicherheitsapparat. Der Begriff demo­ und zuspitzen, indem Betriebe und ökonomische Ressour­ kratische Revolution bedeutet weder, dass der Grund für die cen unter Arbeiterkontrolle nationalisiert werden, die Arbeit Revolutionen einzig und allein und losgelöst von der sozia­ auf alle aufgeteilt wird, die Verträge mit dem Westen ge­ len Lage in einem Defizit demokratischer Grundrechte zu kündigt bzw. neu verhandelt werden und die Wirtschaft un­ finden ist. Erst recht bedeutet dieser Begriff nicht, dass das ter einen demokratisch erstellten Wirtschaftsplan gestellt Ziel der Revolution in einer „reinen Demokratie“ liegen wird. Kurzum, die demokratische Revolution muss sich zu kann. Der Begriff „demokratische Revolution“ bedeutet einer sozialen Revolution weiterentwickeln. Dies wird den bloß, dass aktuell um demokratische Forderungen und An­ bewaffneten Widerstand der einheimischen Bourgeoisie liegen gekämpft wird. Aber es wird mit den Methoden des und der Großmächte hervorrufen, wogegen auch Vorberei­ Massenkampfes und zugespitzt um die Staatsmacht ge­ tungen getroffen werden müssen. kämpft – insofern ist der Begriff „Revolution“ ganz tref­ fend. 12. Gelingt es nicht, aus der demokratischen Revoluti­ on eine soziale zu machen, droht früher oder später der 10. Entgegen der Einschätzung in westlicher Medien backslash und die bisherigen Errungenschaften werden zu­

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1815 in Europa. wirtschaftlichen Aufstieg.

17. Damit wird kein gesellschaftlicher Fortschritt er­ 20. Als der arabische Frühling begann, reagierten die zielt werden. Hingegen kann der Kampf gegen den gesell­ westlichen Großmächte zuerst mit einer Mischung aus schaftlichen Einfluss religiöser Strömungen mit Erfolg nur Skepsis, Zurückhaltung und Ablehnung. Der strategische - offen geführt werden. Also nicht in Allianz mit dem staatli­ nicht der taktische - Punkt für den Westen ist die Erhaltung chen Unterdrückungsapparat, sondern indem für ein Pro­ bzw. Wiedererrichtung der politische Stabilität vor Ort. gramm der Lösung der sozialen Missstände gekämpft wird. Noch im Februar 2010 hieß es von Fr. Clinton und Fr. Mer­ Genau diese Perspektive bedeutet aus der demokratischen kl „der Übergang zur Demokratie im arabischen Raum hat Revolution eine soziale machen. Erst wenn die materiellen Risken und ist gefährlich. Stabilität und Sicherheit ist ein Sorgen der Menschen ausgeräumt sind, werden religiöse mindestens genauso zentraler Wert“. Die strategische Kate­ Ideologien überflüssig werden. Nur der europäische Klein­ gorie der Großmächte lautet „Stabilität“ und nicht bürger, der bequem in seinem „Ohrensessel“ (frei nach „Wandel“. Der etwas schwächere Großmächteblock beste­ Thomas Bernhard) sitzt, träumt vom zivilisatorischen Er­ hend aus Russland und China hatte vor Ort etwas weniger folg des aufgeklärten Despotismus in der wilden Halbkolo­ zu verlieren, fürchtete aber im Gegensatz zu dem formell- nien. demokratischen Westen umso mehr das ansteckende Bei­ spiel demokratischer Revolutionen. 18. Freilich leben wir nicht in einer Welt, in der nicht nur die inneren Veränderungen der Länder des arabischen 21. Die taktische Haltung der westlichen Großmächte Frühlings zählen. Auch die Auswirkungen auf der interna­ zu den demokratischen Revolutionen änderte sich erst, als tionalen Ebene spielt eine Rolle bei der Bewertung revolu­ entweder - wie in Tunesien und später Ägypten - die alte tionärer Ereignisse. Erst recht gilt dies für die Region Nord­ Despoten nicht mehr zu halten waren, weil die Gegenseite afrika-Westasien, die für die westlichen Großmächte, aber stärker war oder – wie im Falle Libyens und nun Syriens – auch für den konkurrierende Großmächte wie Russland und die extrem blutige Repression der alten Regimes zu einem China eine bedeutende Rolle spielt. Teilweise sind dies größeren Ausmaß an politischer Instabilität führte als ein Länder der Region Energieproduzenten, teilweise sind sie Sieg von neuen Kräften. Die westlichen Großmächte unter­ verlängerte Werkbanken, wie Tunesien oder Ägyptens Tex­ stützen die demokratischen Revolutionen nicht grundsätz­ tilindustrie. Genauso wichtig ist die militärisch-politische lich, sondern nur, sofern es sich im Interesse der Stabilität Komponente: Ägypten war unter Mubarak verlässlicher nicht vermeiden lässt. Verbündeter Israels und der USA und erhielt dafür jährliche Militärhilfe in Milliardenhöhe. Syrien wiederum war bis­ 22. Freilich ist Stabilität eine relative Sache und der lang treuer Waffenkäufer Russlands und ein lokales Gegen­ Ausgang immer ungewiss. In Ägypten führte die demokra­ gewicht zu dem amerikanischen Einfluss vor Ort sowie tische Revolution zu einer Beschädigung der von der USA Bindeglied zwischen dem Iran der Hisbollah. Libyen wie­ und der EU gewünschten guten Beziehungen zu Israel und derum war zwar auch Importeur russischer Waffensysteme eine ganze Reihe von neuen Spannungen waren die Folge. (abgesehen von westeuropäischen), aber seit zehn Jahren In Libyen führte die NATO-Militärintervention zu einer lokaler Polizist Europas, der die schwarzafrikanischen Im­ Stärkung der Position der USA vor Ort, obwohl Obama migranten vor einen Zuzug nach Europa abhielt – im Ge­ Frankreich und Großbritannien den Vortritt ließ. „Sicher­ genzug investierten die westeuropäischen Länder in die li­ heitspolitisch“ ist Libyen nun stärker westlich orientiert, bysche Infrastruktur und unterhielt Ölförder- und verarbei­ wiewohl auch das Gaddafi-Regime nichts antiimperialisti­ tungsverträge. sches mehr an sich hatte. Was die Ölverträge betrifft, so werden diese von der neuen Regierung neu vergeben und 19. Die Tatsache, dass die demokratischen Revolutio­ jene Länder bevorzugt, die sich an der Militärintervention nen in Ländern mit einer so unterschiedlichen internationa­ beteiligt hatten. len Stellung wie Ägypten, Libyen und Syrien ergriff, de­ monstriert, dass es den Revolutionären nicht um Stärkung 23. Dort, wo die westlichen Großmächte die demokra­ oder Schwächung eines bestimmten internationalen Blocks, tische Revolution gegen die alten Regime unterstützen, ge­ etwa USA-EU vs. Russland / China ging, sondern um ge­ schieht dies mit den Methoden und Mitteln des Westens, nuine Anliegen der Menschen. Sie standen auf gegen das, also auf eine dezitiert bürgerliche Art und Weise. Damit was die alten Regines verbindet, und nicht gegen das, was werden auch Kräfte aufgebaut, die die Verwirklichung der sie unterscheidet – etwa die außenpolitische Orientierung. demokratische Revolution blockieren. Eine echte Demokra­ Das, was die alten Regimes der Region verbindet: ein klein­ tisierung wäre nur möglich, wenn die Revolution in eine so­ licher und bornierter, aber hochgerüsteter Polizeistaat. Täg­ ziale übergeht. Am deutlichsten war dieser Zusammenhang liche Schikanen bei kaum einer Aussicht auf zumindest in Libyen sichtbar: Die lokalen Räte und Komitees waren

------26 kultur magazin Nr. 5 ------zuerst dem TNC noch nicht völlig untergeordnet sondern ließen sich die Bolschewiki von Vorwürfen dieser Art nicht hatten das Potential zu einem proletarischen Staatstyp. beeindrucken. Auch der TNC war vor einem Jahr noch weniger vor den bürgerlichen Kräften dominiert und in Bengasi hin ein 27. Das heutige Russland und China sind Großmächte, Transparent mit dem Slogan „No foreign intervention – Ly­ nicht weniger reaktionär und imperialistisch als der Westen, bien peaope can manage it alone“. Aber synchron mit der bloß ökonomisch, militärisch und politisch zur Zeit schwä­ NATO-Intervention wurde der TNC in seiner führenden cher. Eine Kräfteverlagerung zu diesen zweiten Block ist personellen Zusammensetzung verbürgerlicht und von den genauso wenig ein Fortschritt für die Menschheit wie eine lokalen Strukturen abgehoben. Die Chance die Revolution Stärkung des Westens. Wenn keine anderen Werte dem ent­ durch den Übergang in eine soziale verwirklichen zu lassen, gegenstehen, ist die fortschrittliche Haltung gegenüber ei­ wurde noch kleiner. nes Konflikte zwischen dem Westen und dem zweitmäch­ tigsten imperialistischen Block (Russland und China) der 24. Daher sollte die Intervention der Großmächte be­ Defaitismus. kämpft werden, sei es durch eine Antikriegsbewegung im Westen, die sich auf Methoden des proletarischen Massen­ 28. Zu Ende gedacht bedeutet die Haltung der klein­ kampfes orientiert, sei es durch den militärischen Wider­ bürgerlichen Linken, dass jedes Regime die Massen solan­ stand gegen die Intervention vor Ort. In dieser Hinsicht ist ge blutig unterdrücken darf, wenn es sich nur irgendwie eine Einheitsfront mit den Truppen der alten Regimes ge­ selbst in Frontstellung zu den westlichen Großmächten gen die westliche Intervention angebracht, während gleich­ bringt oder gerät. Nach dieser Logik ist jede Revolution, zeitig die Revolution im Inneren gegen das alte Regime un­ und sei sie von ihren Zielen, Methoden und beteiligten terstützt werden muss. Mit Gaddafi freilich war eine Ein­ Kräften noch so „lupenrein“, bald auf der Abschussliste und heitsfront gegen die NATO-Intervention schon allein des­ ein stillschweigendes Bündnis der Linken mit der Fried­ wegen schwierig, weil er 95% seiner militärischen Kapazi­ hofsruhe der Polizeiherrschaft hergestellt. täten gegen die eigene Zivilbevölkerung und die Revolution einsetzte und nur 5% gegen die NATO! Umso wichtiger in 29. Zugespitzt lautet die Frage folgendermaßen Was ist solch einer Konstellation, an dem inneren Kampf gegen das das höhere Gut für den Fortschritt der Menschheit: die Re­ Regime nicht nachzulassen, sondern im Gegenteil diesen zu volution, auch wenn sie scheitern kann, oder die Aufrecht­ radikalisieren und intensivieren. erhaltung der Freidhofsruhe, wenn damit nur jegliche Inter­ vention der westlichen Großmächte verhindert werden 25. Teile der Linken im Westen änderten mit Beginn kann? Bricht irgendwo eine Revolution aus, sollte man den der NATO-Intervention in Libyen ihre grundsätzliche Hal­ Leuten sagen: „Psst nicht so laut, geht lieber nach Hause, tung zur demokratischen Revolution. Überwog zuvor die ihr provoziert sonst gar noch das sich die NATO in Bewe­ Sympathie, wandelte sich dies zu einer Ablehnung. Die gung setzt!“ ... Mit dieser Haltung freilich haben die Groß­ Umstürze der „nützlichen Idioten“ würden nur dazu beitra­ mächte bereits gewonnen. gen, den Einfluss des Imperialismus in der Region zu stär­ ken, gezielt werde das Menschenrechtsthema in westlichen 30. Die demokratische Revolution des arabischen Medien aufbereitet, um die Stimmung für diplomatische, Frühling ist mit zahlreichen Schwächen und Gefahren be­ wirtschaftliche und sogar militärische Maßnahmen gegen haftet, aber ihr Erfolg würde der ganzen Welt demonstrier­ die Regimes zu mehren. Letztlich sei es die Außenpolitik ten, dass es sich lohnt, gemeinsam aufzustehen und sich zur der Russischen Föderation oder Chinas, die zumindest noch Wehr zu setzen. Diese Lektion wäre die schärfste Waffe ge­ ein letztes Bollwerk gegen eine Intervention darstellt. gen die diversen imperialistischen Lager und den mit ihnen verbundenen Polizeiregimes vor Ort. Freilich kann die de­ 26. Diese Haltung ist reaktionär. Sie kopiert dabei – mokratische Revolution nur gewinnen, wenn sie ihre eige­ vielleicht unbewusst – die politischen Logik der Großmäch­ nen bürgerlichen Führer abschüttelt. Mit welchen Forderun­ te, die da lautet: „der Feind meines Feindes ist mein gen und Mobilisierungen dies am ehesten geschehen kann, Freund“. Diese Haltung ist nicht souverän, sondern immer ist nicht Inhalt dieser Thesen, sondern müsste durch eine abhängig von der aktuellen Haltung des Westens. Es ist ein sorgfältige Analyse vor Ort unternommen werden (doch eindimensionales Verständnis von Geschichte, die keinen scheint die Forderung nach einer verfassungsgebenden Ver­ eigene gesellschaftliche Kraft mehr erkennt. Es handelt sich sammlung mit lokalen Delegierten meist angebracht zu um die hundertsten Aufguss von den Vorwurf, der seit 1917 sein). Diese Auseinandersetzung kann aber nur führen, wer den russischen Revolutionären gemacht worden ist: Die zuerst den Schritt in das Lager der Befürworter der Revolu­ Agenten (ob bezahlt oder unbewusst als „nützliche tion unternommen hat. Alle anderen bleiben Lakaien der al­ Idioten“) des deutschen Imperialismus zu sein, der sich mit ten Ordnung. der Revolution eine Kriegsfront einsparen wollte. Zu recht

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Generalstreik in Syrien (2.3.2012) Ende Februar. Heute wurde ebenfalls von einem Generalstreik berich­ tet, in einer Situation wie in Syrien haben Streiks vermut­ lich weniger den Charakter, die Produktion zu stoppen, son­ dern den Widerstand gegen den staatliche Repression zu or­ Die demokratische Revolution in Syrien organisierte ganisieren.

heute einen Generalstreik. Bereits letztes Jahr wurde am Alle Kampfreportagen von Suleiman aus Syrien: 18.5. und am 11.12. Generalstreiks ausgerufen, letzterer http://www.demotix.com/search/context?filters=uid%3A33626 wurde im Nordwesten, im Süden und Teilen von Damaskus vor allem aber in Daraa und Homs befolgt. Streiks in Syrien umfassen nicht nur Produktionsbetriebe, auch Kleinhändler und Ladenbesitzer spielen dabei eine wichtige Rolle. Der nächste Streik fand am 29. Dezember 2011 statt, daraufhin

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en Machthaber haben einfach die Tradition der Unter­ Cairo: Militär-Kampfgas gegen De­ drückung aus der Mubarak-Ära fortgesetzt. Genau gegen monstranten? (26.11.2011) diese Tradition hatten sich die Demonstrierenden in Kairo so entschieden gewandt,” sagt Henning Franzmeier, Ägyp­ ten-Experte bei Amnesty International.

12.000 Zivilisten wurde in den letzten Monaten vor Mili­ tärgerichten ein unfairer Prozess gemacht. Mindestens 13 Ärzte und Demonstranten berichtet von Symptomen wie von ihnen sind zum Tode verurteilt worden. Die angebli­ Erstickungsanfälle von Patienten der Straßenkämpfe um chen Vorwürfe gegen die Beschuldigten: rücksichtsloses den Tahrir -Platz. Verschiedene Indizien weisen darauf hin, Verhalten, Missachtung der Ausgangssperre, Sachbeschä­ dass das Militär gegen die eigene Bevölkerung ein militäri­ digung oder Beleidigung der Armee. Kritiker des Militärra­ sches Kampfmittel verwendet. z.B.: tes, Demonstranten, Journalisten, Blogger oder Streikende http://www.youtube.com/watch?v=WPZJr4fK0oU werden verfolgt und schonungslos zum Schweigen ge­ bracht. Der gewaltlose politische Häftling Maikel Nabil Sa­ nad ist zum Symbol für diese Politik geworden. Ein Militär­ gericht verurteilte den Blogger im April zu drei Jahren Hier die Zusammenfassung des jüngsten reports über die Haft. Die Anklage: Kritik an der Armee und Verweigerung Menschenrechtsverletzungen der Militärregierung in Egyp­ des Wehrdienstes. Seit August ist Maikel Nabil im Hunger­ ten: streik – notwendige Herzmedikamente verweigern ihm die Machthaber. “Amnesty: Seit dem Sturz Mubaraks sind Menschen­ rechtsverletzungen teils schlimmer geworden Auch Folter gehört zu den Methoden des Militärs: Be­ troffene berichteten Amnesty, dass sie in Armeegewahrsam Ägypten: Neue Machthaber regieren mit Mubaraks Me­ misshandelt wurden. “Das ägyptische Militär darf die Si­ thoden cherheit nicht als Vorwand nutzen, um altbekannte Prakti­ ken, wie wir sie unter Mubarak erlebt haben, einfach fort­ 22. November 2011 – “Der Oberste Militärrat glaubt, zusetzen. Sie sind ihren Versprechen, die Menschenrechte dass Freiheit, Gesetze, Gleichheit, Demokratie…die im Land zu achten, in keiner Weise nachgekommen – ganz Grundlage für die Regierung sein muss, das Land in die im Gegenteil: die Menschenrechtslage ist in einigen Fällen Zukunft zu führen” – das versprach der Militärrat im Fe­ sogar schlechter als früher”, so Henning Franzmeier. bruar dieses Jahres in einer Grundsatzerklärung. Doch die Realität sieht anders aus – das dokumentiert ein heute ver­ ” öffentlichter Bericht von Amnesty International: “Der Oberste Militärrat löst friedliche Proteste regelmäßig ge­ siehe auch: http://www.amnesty.de/presse/2011/11/22/aegyp­ waltsam auf – wie auch an diesem Wochenende. Tausende ten-neue-machthaber-regieren-mit-mubaraks-methoden Zivilisten wurden vor Militärgerichte gestellt und die Not­ standsgesetze sind noch immer nicht aufgehoben. Die neu­

Offenlegung gemäß §25 Mediengesetz 1981 in der Fassung 2007: Medieninhaber ist zu 100% Hr. Martin Seelos, Wien. Grundlegende Richtung (Blattlinien) des Medienw erkes: kultur magazin ist kein Kultur- Veranstaltungskalender, hat nichts mit dem kommerziellen und offiziösen Kunst– und Kulturbetrieb auf dem Hut und ist von politischen Parteien und Vereinens unabhängig. kultur magazin sucht die Kultur im Alltag und bietet Auseinandersetzung mit aktuellen, historischen und strukturellen Aspekten der Gesellschaft.

Impressum: Beiträge, Fragen, Anregungen, Kritik und Mitarbeit an: [email protected] Siehe auch: http://kulturkritik.blogw orld.at ————————————————————— kultur magazin — ein Medienw erk zur Exploration des Zeitgeistes (§50, 4. Mediengesetz 1981, Novelle 2007, kann Anw endung finden); Kostenersatz bei Weitergabe: 2€. Impressum: Medieninhaber, Hersteller, Herausgeber, Redaktion: Martin Seelos; Verlags– und Herstellungsort: Wien

Bildquellennachw eis: Seite 4, 2 und 20: w ikipedia; Foto Seite 28: Suleiman, Demotix (http://w w w.demotix.com/sites/default/files/imagecache/large_652x488_scaled/photos/1085529.jpg); alle anderten: Martin Seelos 2013 ------29 kultur magazin Nr. 5 ------

Irak gefehlt hat. Garner betont auch die Notwendigkeit der Das befreite Libyen und die neue raschen Wiederherstellung von Recht und Ordnung Interventionsgefahr (…)Vielleicht hatte Mark Twain recht und nicht Karl Marx. Twain meinte, die Geschichte wiederholt sich nicht, aber (25.8.2011) sie reimt sich.“40

Dass gerade der Statthalter der USA im Iraq, Jay Garner, als Experte für ein sicheres new libya herangezogen wird, ist nicht wenig kurios. Den der augenscheinliche Unter­ Die Gefahr, dass sich der politische, wirtschaftliche aber schied zwischen dem Iraq nach dem Fall Sadam Hussein auch militärische Einfluss des Westens in Libyen verstärkt, und dem Libyens nach dem Fall Muammar Gaddafis ist diese Gefahr ist seit der Eroberung Tripolis durch die Auf­ doch gerade der, dass der Iraq von den USA besetzt war ständischen eher noch gestiegen anstatt gesunken. und Libyen nicht! Es war die Okkupation des Zweistrom­ landes, die eine ununterbrochene Kette der Gewalt nach Denn nun geht es nicht nur um die Neuverteilung wirt­ sich zog. Es stimmt, dass die Anschläge nicht nur den Be­ schaftlicher Privilegien an die westlichen Konzerne – wobei satzungssoldaten galten. Die Iraqis, die die Besetzung be­ hier vor allem die Interventionsländer Frankreich, die USA kämpften, bekämpften folgerichtig auch die neuen Polizei­ und Großbritannien die Nase vorne haben. Nein, es geht einheiten der Kollaborateure. Wenn man so will, ist dies auch darum, dass die aktiven NATO-Staaten ihren Fuß bei vergleichbar mit dem Gegensatz zwischen der Résistance dem Aufbau von neuen „Sicherheitsstrukturen“ in Libyen und dem Vichy-Frankreich zwischen 1940 und 1944. Nahe­ haben wollen. In der nun anrollenden Vordebatte zu diesem liegenderweise gingen die Résistance-Einheiten auch nicht Thema wird nun auch gerne das Beispiel Iraq herangezo­ zimperlich mit den Vichy-Polizisten um. Ein anderes Bei­ gen, wie dieser Artikel demonstriert: spiel wäre Tschetschenien. Und der Iraq war immerhin von 2003 bis 2010 besetzt. Ja, noch immer sind US-Einheiten „(...) Langsam lichtet sich der Nebel des Krieges, lang­ von 50.000 Mann und Frau ebendort stationiert. Richtig ist, sam werden die Meldungen zuverlässiger. Es ist wie ein dass es im Iraq auch Gewalt und Anschläge zwischen den Déjà-vu. Nur ist es diesmal der Shadid-Platz, nicht der Fir­ unterschiedlichen Konfessionen gab. Aber der Anstoß zur dous-Platz, auf dem der Sieg über den Diktator gefeiert Gewalt ging von den Besatzungstruppen aus – das ist mitt­ wird, es ist Tripolis und nicht Bagdad, und es sind die Por­ lerweile gut dokumentiert, nicht zuletzt durch wikileaks. träts von Oberst Muammar al-Gaddafi und nicht die von Saddam Hussein, die von den Gebäuden gerissen und Und, auch fast schon ein Naturgesetz jeder Besatzung: durch den Dreck gezogen werden. Doch vor acht Jahren Die fremden Soldaten müssen in jedem - auch zivilen - Ein­ war es ein US-Panzer, der die Saddam-Statue vom Sockel heimischen, der nicht extra Loyalität bekundet, einen poten­ gezogen hat, in Tripolis waren es die Libyer selbst, die tiellen Gegner sehen. Auch passive Gegnerschaft, wie das Gaddafi aus seiner Festung Bab Al-Azizia vertrieben ha­ Gewähren von Kost und Logis für Aufständische, ist dem ben.Von Karl Marx stammt das Zitat, dass sich die Ge­ Besatzer brandgefährlich. Genau das erklärt die zahlreichen schichte wiederholt: zuerst als Tragödie, dann als Farce. Menschenrechtsverletzungen der US-Einheiten (von Abu Ob die Siegesfeiern einen Schlusspunkt hinter die Gewalt Ghuraib bis zu dem Abknallen auf Zivilisten von Hub­ der letzten Monate setzen, wird sich zeigen - auch Saddams schraubern aus, wovon es ein ja ein gut bekanntes Video Tod am Strang brachte im Irak kein Ende des Tötens. Die gibt). Ein kluger Mensch hat dies einmal so auf den Punkt neue libysche Führung versucht die Fehler, die 2003 ge­ gebracht: „Besatzung bringt Folter mit sich.“ Und es ist na­ macht wurden, zu vermeiden: Nach dem Sturz Saddam heliegend, dass es darauf eine heftige Gegenreaktion gibt. Husseins wurde die gesamte Armee entlassen, hunderttau­ sende Offiziere und Mannschaften waren ohne Geld, Brot Um auf unser Thema zurück zu kommen: Wenn es den und Zukunft. Aus diesen Reihen rekrutierten Extremisten pro-interventionistischen Kräften darum geht, sich eine erfolgreich jene Kämpfer, die die Besatzungstruppen über neues Mandat in Libyen zu erspielen, und diesmal eines auf Jahre bedrängten und die irakische Bevölkerung terrori­ der Erde und nicht nur in der Luft, so ist das Beispiel Iraq sierten. (…) US-General Jay Garner, der erste Statthalter kein geglückter Griff in die jüngere Geschichte. der USA nach dem Fall Saddams, meinte im Gespräch mit dem britischen Sender BBC, dass es nun darum ginge, Genauso wie der Griff der Zeitung „Die Presse“ in die „Technokraten für die verschiedenen Regierungspositionen Zitatenschatzkiste nicht ganz geglückt ist. Denn Karl Marx zu finden, die akzeptabel sind". Einige Mitglieder des neuen meinte mit seinem berühmten Sager ja gerade nicht, dass Nationalen Übergangsrats waren zuvor Mitglieder des An­ cien Régime Gaddafis - ein Element der Kontinuität, das im 40 Die Presse, 25.8.2011, Seite 1.

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Wiederholungen aus geschichtsbildenden Antrieben heraus denen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradi­ unmöglich seien. Ganz im Gegenteil, gerade der Materialis­ tion aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Ge­ mus legt eine objektive Gesetzlichkeit und Kausalität nahe, hirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt so die Voraussetzungen dieselben blieben. Das bekannte Zi­ scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Da­ tat bezog sich hingegen auf den Nutzen geschichtsbildender gewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolu­ Subjekte, sich mit den Federn vergangener Größen zu tionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der schmücken - gerade wenn sie einen Sprung nach vorne ma­ Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen chen. Zur Farce wird der Federschmuck nur dann, wenn der Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdi­ Sprung nicht weit gelingt; dem Erfolgreichen hingegen gen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neu­ sieht man den „Klassizismus“ gerne nach. Das Zitat lautet en Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich Lu­ original: ther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789-1814 dra­

„Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltge­ pierte sich abwechselnd als römische Republik und als rö­ schichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zwei­ misches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wußte mal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal nichts besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre als Tragödie, das andere Mal als Farce. Caussidière für Überlieferung von 1793-1795 zu parodieren. So übersetzt Danton, Louis Blanc für Robespierre, die Montagne von der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer 1848-1851 für die Montagne von 1793-1795, der Neffe für zurück in seine Muttersprache, aber den Geist der neuen den Onkel. Und dieselbe Karikatur in den Umständen, un­ Sprache hat er sich nur angeeignet, und frei in ihr zu pro­ ter denen die zweite Auflage des achtzehnten Brumaire her­ duzieren vermag er nur, sobald er sich ohne Rückerinne­ ausgegeben wird! Die Menschen machen ihre eigene Ge­ rung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache in ihr schichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht vergißt.“41 unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefun­ 41 Karl Marx, Der Achtzehnte Brumaire des Napoleon

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März 2011 um die Angst des Bourgeois vor einem unbür­ Libyen: Die Stunde Null? gerlichen Staatswesen, sondern einfach um die Verteilung (24.8.2011) des Fells der erlegten Bären. Folgerichtig fordert die bürger­ liche Presse: „Es wäre fatal, wenn der Westen sein Engage­ ment nach der Beseitigung des Diktators einstellt“44. Das ist auch gar nicht vorgesehen: „Der Westen will offenbar keine Zeit verlieren: Montagvormittag, als die libyschen Rebellen „Die Stunde Null hat begonnen“ - hieß es in der SMS gerade erste Viertel der Hauptstadt Tripolis unter ihre Kon­ des Übergangsrates an alle Handybesitzer im Lande. Das trolle gebracht hatten, lud Frankreichs Außenminister Alain war am Sonntag. Heute Dienstag wird noch immer in Tri­ Juppé für kommende Woche bereits zu einem „Transitions- polis gekämpft. Doch nicht wegen des noch ausstehenden Gipfel“ nach Paris ein, bei dem eine Art Fahrplan für die militärischen Sieges kam die SMS-Meldung zur Unzeit. nächsten Wochen und Monate erarbeitet werden soll“45 Be­ Der militärische Sieg ist den Rebellen ja gewiss. Politisch reits zu Beginn seiner diplomatischen Aktivitäten machte gesehen ist die Stunde Null bereits verstrichen. Die Staatss­ der Übergangsrat klar, dass Firmen jener Länder die zur truktur von free libya, das einst aus einer demokratischen Durchsetzung der „Flugverbotszone“ beitrugen, bevorzugt Revolution hervorging, mit einem schweren bürgerlichen, 42 werden. Auch alle Ölförderlizenzen und Handelsverträge konservativen Deckel versehen. können nun neu aufgerollt werden. Der Westen macht nun offensichtlich bald klaren Tisch und stellt dem neuen Liby­ Wenn nun unsere Blätter im Westen genau wie vor der en die Rechnung aus, dafür dass die NATO-Bomber Benga­ NATO-Intervention vor einem Machtvakuum, den archai­ si im März 2011 vor dem militärischen Untergang bewahrt schen Stämmen, einem failed state und vor dem Chaos war­ 43 und im August 2011 den Weg nach Tripolis geebnet hatte. nen , so geht es in Wirklichkeit nun nicht mehr wie im Die Rechnung wird hoch sein, nicht finanziell, aber poli­ tisch. Frankreich, Großbritannien und die USA haben nun Bonaparte, Kapitel 1. ein gewichtiges Wort mitzureden, wenn es um die Neuord­ 42 Vergleiche dazu unsere ausführlich begründete nung der inneren und äußeren Verhältnisse Libyens geht. Es Einschätzung in geht hier zu wie in dem alten Erzählstoff des „Teufelspakts“ http://kulturkritik.blogworld.at/2011/07/21/kultur- bei Chamisso: Um zu Reichtum und Glück zu gelangen magazin-nr-3-arabischen-fruhling/ verkauft der junge Schlehmihl seinen Schatten an den Teu­ 43 „Es gilt also, ein Staatswesen vom Nullpunkt weg neu fel, der diesen später in dessen Seele eintauscht und so dem aufzubauen. Die letzte Verfassung des Landes war bis Protagonisten das Glück und sogar die Existenz abnimmt. 1969 in Kraft, es war die einer konstitutionellen Monarchie. Dann kam Revolutionsführer Gaddafi, der So gesehen wird die Revolution militärisch gegen Gad­ zwar unumschränkt herrschte, aber keine offizielle dafi gewinnen, hat aber bereits politisch gegenüber dem Position bekleidete. Sein wichtigstes Machtinstrument Westen verloren. waren die Öleinnahmen, wichtigste strukturelle Akteure waren die Stämme und ihre Untergruppen. Zum Niedergang des Gaddafi-Regimes trug denn auch nicht unwesentlich bei, dass ihm sukzessive immer mehr Wie die demokratische Revolution vollenden? Stämme die Loyalität aufkündigten.Die herausgehobene Bedeutung der Stämme birgt gleich mehrere Gefahren: Im militärischen Ringen hatte Bengasi im März 2011 die Zum einen die, dass jeder Stamm vor allem seine Orientierung geändert. Im Februar stand noch „No inter­ Partikularinteressen vorantreibt. Schon vor Monaten vention“ auf den Bannern in der Hauptstadt der Cyrenaica. befürchtete eine Studie der Berliner „Stiftung Wissenschaft und Politik“ daher, dass „die zu Unter dem Druck von Gaddafis Kriegsmaschine vollzog erwartenden Auseinandersetzungen über die Gestalt des Bengasi eine Kehrtwendung und warf sich dem Westen in neuen Staates vor allem Verteilungskämpfe sein oder von die Arme. An der Spitze des Übergangsrates wurden – ab­ diesen überlagert werden“. Eine weitere Gefahr ist die, gesehen von Überläufern von Seiten der Bürokratie des al­ dass nicht nur ehemals regimetreue Stämme in den ten Staates – profiliert marktwirtschaftliche und im Westen Hintergrund gedrängt werden und andere an Bedeutung bekannte Figuren gesetzt. Es wäre ja auch anders möglich gewinnen, sondern dass es zu Rache- und gewesen: etwa mit der Übernahme der Betriebe durch die Vergeltungsakten kommt. Erste Anzeichen dafür gibt es bereits, immer wieder kam es in den von den Rebellen Untergrund gehen und einen Guerillakrieg beginnen.“ gehaltenen Gebieten zu Übergriffen gegen Zivilisten, die Die Presse, 23.8.2011, Seite 2. dem „falschen“ Stamm angehörten. Angehörige 44 Die Presse, 23.8.2011, Seite 2. regimetreuer Stämme könnten wiederum in den 45 Die Presse, 23.8.2011, Seite 2.

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Beschäftigten, der Einsetzung eines demokratischen Wirt­ Aus der Entfernung kann dies nur noch konstatiert wer­ schaftsplanes, der Einberufung einer allgemeinen verfas­ den. Was genau vor Ort getan werden müsste, um die de­ sungsgebenden Versammlung, der Kontrolle des nationalen mokratische Revolution vor der Verbürgerlichung zu be­ Übergangsrates durch die lokalen und kommunalen Wider­ wahren … darüber kann nur spekuliert werden. Die Kam­ standskomitees der Aufständischen, die im Februar ja vor pagne für „Übergangsforderungen“ (Terminologie des rus­ dem Übergangsrat das Geschehen bestimmten. Aber so war sischen Revolutionärs Leon Trotzki) ist grundsätzlich ein es nicht, die Entwicklung der Revolution ging in die entge­ erfolgversprechender Weg. gengesetzte Richtung. Vermutlich wird erst in Monaten ir­ gendetwas durch allgemeine Wahlen legitimiert werden, die Sicherheit und Stabilität nach westlichen Interessen geht vor. Und dann wird das, was dann gewählt wird, von den Libyen: Underdog des europäischen Kapitalis­ Massen genauso wenig kontrollierbar sein, wie bei unseren mus Parlamenten.

------33 kultur magazin Nr. 5 ------erwarb. Abbildung 3 zeigt uns den per anni akkumulierten Westen so schwer nachvollziehbar war: Sich Gaddafis oder Stand der FDI-Investitionen von 1980 bis 2010. Hier ist gut Assads Einheiten lieber töten zu lassen, als so weiterzule­ erkennbar, dass sich Libyen erst Anfang der 2000er Jahre ben als bisher. dem westlichen Kapital öffnete aber dann relativ zu dieser Verspätung mehr FDI anziehen konnte. Abbildung 4 zeigt Die sozialen Frage schimmerte auch in einem Interview uns wiederum das Saldo aus inflow stock minus outflow mit einer Aktivistin des Aufstandes in Jemen durch: stock für den selben Zeitraum. Abbildung 5 zeigt uns die „STANDARD: Haben Sie Angst, dass das Land im Chaos FDI Importe pro Kopf: Relativ zur Bevölkerungsanzahl ist versinken könnte? Al-Sakkaf: Das Risiko ist da. Aber die zuletzt Libyen Spitzenreiter des Zustroms gewesen. Abbil­ revolutionären Kräfte haben alle erstaunt - den Westen wie dung 6 zeigt uns den akkumulierten Stand der FDI-Importe auch unsere eigenen Leute. Bisher nahm man an, dass die in Relation zum jeweiligen BIP – auch hier sehen wir einen Zivilgesellschaft schwach und wenig involviert sei. Unser beachtlichen Anstieg im Falle Libyens seit 2004. Letztlich Aufstand ist der längste und am besten organisierte in der hatten die FDI-Importe eine Größenordnung von fast 30 % ganzen Region, die Gestaltung muss in den Händen der des BIP.46 Übrigens muss beachtet werden, dass die Daten Menschen liegen, die diesen Umbruch getragen haben. Es aller Abbildungen nicht Inflationsbereinigt sind. Real gese­ ist das erste Mal, dass die Menschen eine Verbindung zwi­ hen sind die Anstiege weit flacher. Und zweitens müssten schen Politik und dem Brot auf ihren Teller sehen. STAN­ für eine abgerundete Einschätzung auch andere Geldkapi­ DARD: Wie stellen Sie sich die Entwicklung vor? Al-Sak­ talströme, wie etwa Portfolioinvestments berechnet werden. kaf: (…) Es muss Mikrokredite und Kommunalprojekte ge­ ben. (…) STANDARD: Saleh warnt immer wieder, dass Al- An den alles bestimmenden Erlösen der Ölexporte ging Kaida ohne ihn rasch an Boden gewinnen werde. Wie ste­ die breite Masse so gut wie leer aus. Das sicherte nicht nur hen Sie zu dieser These? Al-Sakkaf: Es gibt religiöse Füh­ finanzielle Privilegien für den Despoten in Tripolis, sondern rer, die die Krise nutzen. Aber Terrorismus entsteht aus Ar­ gleichzeitig auch einen niedrigen Einkaufspreis für die mut. Viele junge Menschen im Jemen haben keine Hoffnung westlichen Mineralölkonzerne. Das sind nur einige Beispie­ und wollen Helden sein. Man muss verstehen, dass Terro­ le. Aber sie machen deutlich, dass die Despotie in den Ara­ rismus ein ökonomisches Problem ist, wir müssen über bischen Ländern für den westlichen Kapitalismus nicht Jobs und Perspektiven sprechen, um die Gewalt zu verhin­ ganz unwichtig waren.47 dern. Zwischen der Regierung und Al-Kaida gab es meiner Meinung nach eine organisiertere Beziehung, als sie zuge­ ben. (...)“49 In AL-Sakkaf´s Begeisterung für Mikrokredite sehen wir nicht die großen Sprünge, die soziale Frage zu lö­ Die soziale Frage sen, aber dass dringend etwas geändert werden muss, kommt hier zumindest gut zum Ausdruck. Wer etwas genauer hinguckt, wird bald erkennen, dass überall hinter dem demokratischen Aufbruch die ungelöste soziale Frage durchschimmert und den Menschen erst die Verzweiflung geben, die ein Teil der Mut der Verzweiflung Neue Rollen, alte Rollen ist.48 Dieser Mut der Verzweiflung ist das, was für uns im „Die Stunde Null hat begonnen“ - ja, wenn diese Aussa­ ge tatsächlich nun Sinn machen sollte, dann in einem nicht 46 Abbildung 1- 6: Eigene Berechnungen auf Basis der beabsichtigten Sinne: Dass sich nun die Demokratiebewe­ Daten der UNCTAD. gung gegen … den Übergangsrat stellen muss, wenn die http://unctadstat.unctad.org/TableViewer/tableView.aspx echte Freiheit und soziale Prosperität eine Zukunft haben (24.8.2011) 47 Ergänzen könnte man: Die Despoten sicherten eine Art sollen. Sonst wird es in einem halben Jahr ähnlich wie in von Stabilität wie die Heilige Allianz nach dem Wiener Ägypten heißen: Kongress in Mitteleuropa. Also übersetzt auf heutige Verhältnisse: Migranten wurden per Polizei und Militär an die gestohlene Revolution der Route nach Europa gehindert (Gaddafi), für Israel wurde die Grenze zum Gazastreifen geschlossen (Mubarak). 48 Die „Werkstatt für den Frieden“ entwickelte dazu immer nicht um einen Aufstand handelte, sondern um eine kuriosere Ideen und publizierte unlängst den Verschwörung prowestlicher Organisationen. unglaublichen Satz: „In Libyen hingegen mit seinem http://www.werkstatt.or.at/index.php? relativen hohen Lebensstandard leidet kaum einer option=com_content&task=view&id=490&Itemid=1 materielle Not„, um zu beweisen, dass es sich in Libyen 49 Der Standard, 6.6.2011

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Abbildung 2: FDI Importe minus FDI Exporte, nordafrikanische Länder, in Mio. US-Dollar, zu laufenden Preisen und Wechselkursen, 1970-2010

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Abbildung 3: Stand der FDI Importe, nordafrikanische Länder, in Mio. US-Dollar, zu laufenden Preisen und Wechselkursen, 1980-2010

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Abbildung 4: Stand der FDI Importe minus der FDI Exporte, nordafrikanische Länder, in Mio. US-Dollar, zu laufenden Preisen und Wechselkursen, 1980-2010

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Abbildung 5: FDI Import, nordafrikanische Länder, in Mio. US-Dollar pro Kopf, zu laufenden Preisen und Wechselkursen, 1970-2010

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0 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 3 4 5 6 7 8 9 1 2 4 5 6 7 8 9 0 2 0 3 9 0 0 8 8 8 8 8 8 8 8 8 8 9 9 9 9 9 9 9 9 9 0 0 0 0 0 0 0 0 1 9 0 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2

Abbildung 6: Stand der FDI Importe in Prozent zum BIP, nordafrikanische Länder, in Mio. US-Dollar, zu laufenden Preisen und Wechselkursen, 1980-2010

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14000

12000

10000

8000

Algeria Egypt 6000 Libyan Arab Jamahiriya Morocco Sudan 4000 Tunisia

2000

0

-2000 0 2 4 6 8 0 2 4 6 8 0 2 4 6 8 0 2 4 6 8 0 7 7 9 7 7 7 8 8 8 8 8 9 9 9 9 0 0 0 0 0 1 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 2 2 2 2

Abbildung 1: FDI Import, nordafrikanische Länder, in Mio. US-Dollar, zu laufenden Preisen und Wechselkursen, 1970-2010

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