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MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Bilder, Kisch-Preis, SPIEGEL special, SPIEGEL EXTRA

er Wissenschaftler Rudolf Bahro desavouierte in den siebziger Jahren Dmit einer aufsehenerregenden Streitschrift das sozialistische System seiner DDR-Genossen und kam dafür ins Zuchthaus. Nun zog er im Dia- log mit den SPIEGEL-Redakteuren Ulrich Schwarz und Peter Wensierski vom Hospitalbett aus die Summe seines schwierigen Lebens (Seite 46). Darf man einen Mann, der mit einer bösartigen Krankheit kämpft und da- von sichtlich gezeichnet ist, fotografieren und abbilden? Die Antwort gab Bahro selbst. Er sah die Aufnahmen durch und wählte das Bild aus, das er gedruckt haben wollte. Für gewöhnlich jedoch wird den Verantwortlichen eine solche Entscheidung nicht abgenommen, ist beim Umgang mit Bil- dern Behutsamkeit geboten. Martina K., 15, auf der Titelseite dieses Hefts, trauerte um einen Selbstmörder aus ihrer Passauer Clique – und kam bald danach ebenfalls ums Leben. Ungeklärt blieb, ob das durch Selbstmord geschah oder durch ein bewußt fahrlässiges Verhalten. Ihr Fo- to, fanden die Titelbildgestalter, dokumentiert auf besondere Weise das verzweifelt-leere Lebensgefühl bei einem Teil der jungen Generation.

ehr als 10 000 „Gesetzesverletzungen mit er- Mwiesener oder zu vermutender rechtsextremi- stischer Motivation“ wurden 1993 in Deutschland von den Behörden registriert – Anstoß für SPIE- GEL-Redakteurin Barbara Supp, letztes Jahr am Schicksal der Opfer zu beschreiben, was dieser Drechselsatz so bedeuten kann: Terror gegen ei- nen Blinden jüdischer Herkunft zum Beispiel, zum Krüppel geschlagene Gastarbeiter oder einen mörderischen Brandanschlag auf Asylsuchende. Für ihre Reportage im SPIEGEL 39/1994 erhielt

Barbara Supp jetzt im Egon-Erwin-Kisch-Wettbe- F. SCHUMANN / DER SPIEGEL werb den zweiten Preis. Supp

ernkraftwerke sind zu Hunderten in Betrieb, KDutzende noch im Bau – und doch ist diese Technik nach wie vor nicht vollkommen be- herrschbar, ist die Endlagerung ihres Abfalls völ- lig ungeklärt. Weder Öl noch Kohle kommen er- satzweise in Frage, und so scheint nur ein Aus- weg offen: Hinwendung zu den erneuerbaren Energien – Thema der Juli-Ausgabe von SPIE- GEL special, das vom Dienstag dieser Woche an erhältlich ist.

ie US-Schauspielerin Patricia Arquette ist auf Ddem Wege, eine Legende zu werden. Holly- woods frechem Star ist die Titelgeschichte der Ju- li-Ausgabe von SPIEGEL EXTRA gewidmet. Das neue Kulturmagazin für Abonnenten enthält außerdem Reportagen zu Klassik und Pop sowie rund 280 Hinweise auf Kulturveranstaltungen. Wer kein Abonnent ist, kann SPIEGEL EXTRA unter der Telefonnummer 0130 / 86 30 06 kosten- los anfordern.

DER SPIEGEL 26/1995 3 .

TITEL INHALT Stars, Depression und der Todeskult in der Popmusik ...... 168 Todesserie unter Jugendlichen in Passau ...... 174 Stoiber räumt auf Seite 25 KOMMENTAR Zu Zeiten von Franz Josef : Wahlen? Aber ja doch ...... 29 Strauß sah die Justiz in Bayern meist tatenlos zu, wenn im Dunstkreis DEUTSCHLAND der CSU-Oberen Affären Panorama ...... 16 hochkochten. Seit Ed- Außenpolitik: Mit gemischten Gefühlen mund Stoiber den Amigos in den Balkan-Krieg ...... 22 den Kampf angesagt hat, Uno-Offiziere skeptisch über einen überziehen Staatsanwälte Bosnien-Einsatz der Tornados ...... 23 Christsoziale mit Untersu- Interview mit Tornado-Kommodore chungen und Verfahren – Johann G. Dora über den Bosnien-Einsatz ...... 24 wegen Unterschlagung,

Irrtümer der deutschen Balkan-Politik ...... 38 DARCHINGER Betrug und Falschaussa- CSU: Die Justiz soll die Partei säubern ...... 25 Stoiber ge. Minister: Günter Rexrodt hat abgewirtschaftet ...28 Hauptstadt: Friedensfest am verhüllten Reichstag ...... 30 Grüne: Geheimtreff mit Industriellen ...... 31 Bilanz eines Dissidenten Seite 46 NS-Opfer: Wie viele Mahnmale braucht Berlin? ..42 Dissidenten: SPIEGEL-Gespräch Rudolf Bahro, bekanntester SED-Dissident neben Robert Havemann, mit Rudolf Bahro über Kommunismus, zieht Bilanz: Im SPIEGEL-Gespräch wirft er der PDS „kleinkarierte Bhagwan und seine Krankheit ...... 46 Klientelpolitik“ vor, doch verwahrt er sich dagegen, „die ganze DDR Atomenergie: In Hanau soll russisches bloß unter Unrechtsstaat abzubuchen“. Auch er, bekennt Bahro, pak- Plutonium unschädlich gemacht werden ...... 54 tierte als junger Mann mit der Stasi. Den ostdeutschen Intellektuellen Gegendarstellung ...... 55 bescheinigt er ein übersteigertes Schuldgefühl. Medien: Die ARD will für 35 Millionen Mark bei Filmhändler Leo Kirch einkaufen ...... 69 Berater: Teurer Professor für den Osten ...... 72 Seite 84 Aufbau Ost: Schmu mit Bauland ...... 74 Gerangel hinter Shell-Kulissen Bremen: Der Linke Scherf und der CDU-Banker Nölle – das ungleiche Doppel ...... 78

DEBATTE Günter Verheugen über Rot-Grün und den Wirklichkeitssinn seiner Partei ...... 33

SERIE Der Fall Axel Springer (II) ...... 56

WIRTSCHAFT Trends ...... 80 Shell: Der Ölmulti ist aus dem Tritt geraten ...... 84 Der Sieg der Greenpeace-Aktivisten ...... 87 GREENPEACE Wie Werbeagenturen das Shell-Image Shell-Plattform „Brent Spar“ verbessern würden ...... 88 Fernsehen: Die Privaten verkaufen alles – Der Kampf um die Ölplattform „Brent Spar“ ist beendet, die Krise bei Computer, Häuser, Hundewärmflaschen ...... 90 Shell geht weiter. Niemand weiß, wie der Imageschaden zu beheben ist. Versicherungen: AMB-Chef Kaske Die Konzernmanager überhäufen einander mit Schuldzuweisungen. Die soll Kleinaktionäre und Versicherte Entscheidung, das Gerangel mit Greenpeace zu stoppen, traf der hol- bewußt geschädigt haben ...... 91 ländisch-britische Konzern nicht aus freien Stücken – Prinz Bernhard Gesundheitsreform: Seehofers neue Pläne ...... 96 soll den Spitzenmanagern ein Ultimatum gestellt haben. Zahnärztliche Standesführer rufen zur Meuterei auf ...... 97 Umwelttechnik: Der letzte Hersteller von Solarzellen verläßt Deutschland ...... 103 Speisen mit den Schmuddelkindern Seite 31 GESELLSCHAFT Daimler-Benz Chef Jürgen Schrempp trifft , der Bund Alltag: Der Kampf einer Junger Unternehmer hofiert Krista Sager: Die deutsche Wirtschaft Obdachlosenfamilie um Normalität ...... 106 wirbt um die Grünen, die Schmuddelkinder von einst. Berufe: „Akustik-Designer“ gegen Lärmbelästigung ...... 114

4 DER SPIEGEL 26/1995 .

AUSLAND Rußland: Jelzins Machtkampf mit dem Parlament ...... 118 Bislang nichts bewiesen Seite 136 Christian Neef über das Ende des Geiseldramas von Budjonnowsk ...... 120 Die blutbeschmierten Hand- Interview mit dem Abgeordneten Marytschew schuhe, die der Mann getragen über seinen Pistolero-Auftritt in der Duma ...... 121 haben soll, der Nicole Simpson Panorama Ausland ...... 123 und einen Augenzeugen ermor- Großbritannien: Majors Vabanque-Spiel ...... 124 det hat – passen O. J. Simpson, Polen: Rebellion der Jugendlichen ...... 125 dem Angeklagten, nicht. Er hält Israel: Rabbiner verteidigen die in die Handschuhe gezwäng- religiöse Ehegesetze ...... 127 ten Hände hoch: zu klein, zu USA: Interview mit dem Schriftsteller eng. Für die TV-Kamera ist die Norman Mailer über den Kennedy-Mörder Szene ein Glanzstück. Doch es Oswald, Amerika und die Literatur ...... 128 sagt nur, daß noch immer nichts Frankreich: Triumph der Rechtsextremisten .... 131 bewiesen ist. Denn zwei Tage Strafjustiz: Gerhard Mauz über

DPA später – paßt O. J. Simpson ein den Simpson-Prozeß vor Zweite Handschuhprobe unbenutztes Handschuhpaar. dem 100. Verhandlungstag ...... 136 Völkerfreundschaft: Wie häßlich sind die Deutschen? ...... 140 Schönheit: Ausländer lassen sich Intimporträt des Kennedy-Mörders Seite 128 in Rußland liften ...... 144 „Nicht als Killer, sondern als jungen Mann, der gerade ge- SPORT heiratet hatte“, sah der Tennis: SPIEGEL-Gespräch mit Schriftsteller Norman Mai- French-Open-Sieger Thomas Muster über ler den mutmaßlichen Ken- Wimbledon, Ehrgeiz und Konkurrenzkampf .... 146 nedy-Mörder Lee Harvey Motorsport: Die Macht von Oswald. Auf Spurensuche in Formel-1-Impresario Ecclestone wächst ...... 150 Rußland, wo Oswald fast drei Jahre gelebt hatte, stu- WISSENSCHAFT dierte Mailer KGB-Akten Prisma ...... 152 und sprach mit ehemaligen Kollegen des Attentäters. Evolution: Urbausteine des Lebens „Unsere Recherchen“, so im Labor erzeugt ...... 156 Mailer in einem SPIEGEL- Kernkraft: Atommeiler Obrigheim vor der Stillegung ...... 162

Interview, haben „neues RETNA / STILLS Material zutage gebracht“. Mailer Höhlenmalerei: Die Felszeichnungen aus dem Tal der Arde`che ...... 164 Haustiere: Hirnschwund bei Hund und Schwein ...... 167

Urzeugung im Labor Seite 156 TECHNIK Automobile: General Motors bringt Die Ursuppe simulieren US-Wissenschaftler in einer Spezial-Appara- den Pick-up nach Europa ...... 166 tur. Jetzt sind Forscher dabei, im Zeitraffer die Entstehung des Le- bens im Labor zu wiederholen. Von den Ergebnissen könnten die Ärzte im Kampf gegen Krebs profitieren. KULTUR Werbung: SPIEGEL-Gespräch mit Frank Lowe, Chef der Cannes-Jury, über die Krise der TV-Reklame ...... 180 Szene ...... 186 Sadismus auf Sand Seite 146 Museen: Kölner Bürger-Krieg um das neue Wallraf-Richartz-Museum ...... 190 Keiner rackert auf dem Tennis- Oper: platz so unermüdlich wie Tho- Alfred Schnittkes Faust-„Historia“ in Hamburg uraufgeführt ...... 192 mas Muster. Der Österreicher, der zuletzt in Paris seinen ersten Autoren: Die vergessenen Romane Grand-Slam-Titel gewann, ge- der Ire`ne Ne´mirovsky ...... 193 steht im SPIEGEL-Gespräch Bestseller ...... 194 seinen Hang zum Sadismus, Ausstellungen: Weltkunst und Nippes wenn er dem Gegner überlegen bei der „Configura 2“ in Erfurt ...... 196 sei: „Windet der sich mit Fernseh-Vorausschau ...... 202 Krämpfen“, so der Sandplatz- spezialist, „kommt es vor, daß Briefe ...... 7 ich, statt den Punkt zu machen, Impressum ...... 14

BONGARTS ihn noch zweimal in die Ecken Register ...... 198 Muster laufen lasse.“ Personalien ...... 200 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 206

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BRIEFE Am schnellsten gelernt kommen ist als die Bilanzfälschungen der LPG-Nachfolger. (Nr. 24/1995, Titel: Bauernland in Bon- Soderstorf (Meckl.-Vorpommern) zenhand – Die neuen alten Herren im DR. G. BRONSART V. SCHELLENDORFF Osten)

Es war längst überfällig, daß diese Ver- Bereits die Nazis haben in ihren Anfän- mögensverschiebungen sichtbar ge- gen Kampagnen gegen den Adel und die macht werden. Die getroffenen Hunde „Junker“ geführt, die Stalinisten haben bellen bereits. diese Tradition dankbar wiederbelebt. Baitz (Brandenburg) ERNST JAHN Wieso ausgerechnet der SPIEGEL einen kommunistischen Kampfbegriff der fünf- ziger Jahre aufgreift und wieder gesell- Ihr Bericht ist mir aus dem Herzen ge- schaftsfähig macht, ist mir schleierhaft. sprochen. Genau so geht es in den neu- Rostock ERIKA DUBIEL en Bundesländern mit den entrechteten Bauern zu. Olbersdorf (Sachsen) RAIMUND HOFFMANN Toll, wie die von Bundeskanzler Kohl propagierten „blühenden Landschaften“ geschaffen worden sind. Natürlich wurde die Masse der LPG- Gelsenkirchen URSULA BERNITT Mitglieder jämmerlich betrogen. Aber an wem und woran liegt das wirklich? Den „roten Baronen“ kann ich besten- Der Artikel ist kein Beitrag zur Einigung falls den Vorwurf machen, daß sie am der Menschen in Deutschland. Wer hätte schnellsten vom kapitalistischen System denn die LPG übernehmen sollen, wenn gelernt haben. Ich befürchte als näch- nicht die, die sich auskennen? Und jetzt ste SPIEGEL-Überschrift: „Bonzen- müssen sich diese Leute pauschal noch als land zurück in Junkerhand“. „rote Bonzen“ beschimpfen lassen. Soll- Ribnitz-Damgarten (Meckl.-Vorpommern) ten auch in der Landwirtschaft des ARNDT SCHWARZE Ostens, wie fast überall geschehen, nur Leute aus dem Westen Deutschlands an die Spitze gesetzt werden –obwohl sie die Ihr Artikel läßt die Feststellung vermis- Lage und die Befindlichkeiten der Men- sen, daß zwischen „Junkerland in Bau- schen sowie die Bedingungen nicht ken- ernhand“ und „Bauernland in Bonzen- nen? hand“ noch „Bauernland in Bonner Leipzig RICHARD F. MANSFELD Hand“ steht. Hierzu schreiben Sie, „mit der Wiedervereinigung gingen riesige Ländereien in Bundeseigentum über“. Um dem Druck der Konkurrenz des eu- Nach derzeitigem Erkenntnisstand ge- ropäischen Markts standhalten zu kön- schah dieser „Übergang“ auf dem Wege nen, war ein Arbeitsplätzeabbau in den des Prozeßbetrugs beim Bundesverfas- ehemaligen LPG unausweichlich. Wel- sungsgericht, dessen sogenanntes Bo- che Bank gewährt einem mit durch- denreformurteil vom 23. April 1991 schnittlich drei Millionen Mark Altschul- nicht weniger trickreich zustande ge- den belasteten Betrieb Kredite für drin- T. RAUPACH / ARGUS Getreideernte in Thüringen (1993): Jämmerlich betrogene Bauern Werbeseite

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gend benötigte Technisierung, wenn die und ökologischen Zielsetzungen bei der Personalkosten die Einnahmen bei wei- Wirtschaftsförderung; vielmehr erwies tem überschreiten? sich die SPD eher alsdieStaats- und Wirt- Pritzwalk (Brandenburg) RUTH LAMPE schaftspartei, die Grünen waren eher die BürgerInnen- und Ökologiepartei. Aber das heißt nicht, daß es bei rot-grüner Zu- Die im Bericht geschilderten Vorgänge sammenarbeit nur Fehlanzeigen in der waren keinesfalls auf die ehemaligen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik LPG beschränkt, sondern treffen auch gab. Für Herrn Hintzes gespenstische auf andere Produktionsgenossenschaf- Schlußfolgerung, die Grünen seien ein ten zu. „massiver Hemmschuh für die deutsche Berlin NIELS LAU Wettbewerbsfähigkeit“, gibt unsere Un- tersuchung nichts her, egal ob man dieses „Gespenst“mitSchrecken oder mitHoff- Guter Abgang nung besetzen will. (Nr. 24/1995, Außenpolitik: Henryk M. Berlin PROF. DR. BODO ZEUNER Broder über Helmut Kohls Reise in den DR. JÖRG WISCHERMANN Fachbereich Politische Wissenschaft der Nahen Osten) Freien Universität Berlin Zwar ist es richtig, wie ja auch im SPIE- GEL stand, daß Kanzler Kohl im Nahen Osten die Fettnäpfchen umschifft hat. Rambo aus Hannover Die beigefügte Karikatur aber zeigt, daß (Nr. 24/1995, Hauptstadt: Ministerpräsi- Kohl, um einen guten Abgang bemüht, dent Gerhard Schröder über den halbher- dem deutschen Steuerzahler mal wieder zigen Regierungsumzug nach Berlin) in die Tasche gegriffen hat. Die Bonner Republik ist die erste De- Hamburg DR. THOMAS A. THIEL mokratie, die funktioniert, die zudem nicht zentralistisch, son- dern föderalistisch ist und den breiten Massen der Arbeitnehmer Wohl- stand gebracht hat. Wel- ches „neue Deutschland“ wollen Sie, Herr Schrö- der? Bonn DR. GERHARD GRÖBNER

Der hat vor vier Jahren keineswegs „den Umzug von Regie- rung und Parlament nach Berlin“ beschlossen. Die Entscheidung war we- „Ich glaube, man hat hier inzwischen Stuttgarter Zeitung sentlich differenzierter. ein ganz neues Bild von mir!“ Der Bundestag legte fest: „Zwischen Berlin und Sehr flüchtig Bonn soll eine faire Arbeitsteilung ver- einbart werden“, und zwar so, daß „der (Nr. 24/1995, Parteien: Interview mit größte Teil der Arbeitsplätze“ des Bun- CDU-Generalsekretär über des in Bonn erhalten bleibt. In Ber- die Biedenkopf-Thesen zur Lage der lin solle lediglich der „Kernbereich Union) der Regierungsfunktionen“ angesiedelt Herr Hintze kann unsere Untersuchung werden. über SPD und Grüne in den westdeut- Bonn BÄRBEL DIECKMANN schen Kommunen nur sehr flüchtig gele- Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn sen haben. Keine seiner Aussagen wird von unseren Forschungsergebnissen ge- Wozu noch eine Weltausstellung in Han- deckt. Wir haben nicht 1300 kommunale nover? In Berlin, Herr Schröder, spielt rot-grüne Bündnisse untersucht, son- die Musik – auch für Sie. dern das Verhältnis zwischen beiden Bonn DR. KONRAD HANNESSCHLÄGER Parteien in 1300 Kommunen, und dieses Verhältnis führte nur in jedem achten Fall zu einem Bündnis. Wir fanden in Gerhard Schröder gibt sich in sei- kaum einer Kommune ein von beiden nem SPIEGEL-Plädoyer rücksichtslos, Parteien realisiertes tragfähiges Kon- machthungrig, opportunistisch, zeit- zept zur Integration von ökonomischen geistlich national. Daß dabei Parlaments-

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schaft ab. Es handelt sich also um einen revolvierenden Solidarfonds, in dem Absolventen für Studierende bezahlen. Witten (Nordrh.-Westf.) CHRISTOPH PETZENHAUSER Student an der UW/H und Aufsichtsratsmitglied der StudierendenGesellschaft e.V.

In den Siebzigern gab es ein schönes Graffito: „Wenn Elite, dann für alle!“ Nijmegen (Niederlande) DR. KNUT WALF

ZB / DPA Der Definition, was man unter „Elite“ Modell des Berliner Parlaments- und Regierungsviertels*: Hier spielt die Musik verstehen will, sollte viel Zeit gewidmet werden. Allzuoft – und besonders hier, beschlüsse annulliert und die Sorgen fahren. Sie sind ein Reichtum für jedes in einer der Ivy-League-Universitäten – „vieler Beamter um ihr Häuschen am Land. Nicht eine hochgebildete Elite werden zwar Hochleistungs-Individuen Rhein“ denunziert werden, kennzeich- ist eine Gefahr für die Demokratie, herangezüchtet; sie stellen sicherlich net den Rambo aus Hannover. sondern halbgebildete Besserwisser, vieles, was an deutschen Hochschulen Bonn FRIEDEL DRAUTZBURG die sich für nichts und niemanden ver- zu finden ist, in den Schatten. Aber zu- Ja zu Bonn e.V., Vorstand antwortlich fühlen. gleich fehlt es ihnen leider oft am Blick Ludwigsburg CHRISTINE MANNEL fürs Ganze: eben nicht nur Wissen- schaftler oder Manager zu sein, sondern Wie weit vom Menschen müssen unsere über den Tellerrand hinauszublicken Politiker sein, um immer noch diesen völ- Das Konzept der Elite geht aus zwei und sich der damit verbundenen Verant- lig überflüssigen Berlin-Umzug zu beja- Gründen nicht mehr auf: Erstens wortung bewußt zu sein. hen. Keine bezahlbaren Wohnungen, kommt der Elitegedanke aus einer Stanford, Cal./USA MARC SACHON aber Protzbauten in Berlin! Zeit, in der Überleben an Überlegen- München VERA GÄRTNER heit gebunden war. Zweitens zielt Eli- tenrekrutierung auf Hierarchie, das Aus Erfahrung kann ich versichern, daß Riesige Reservoirs heißt auf eine Struktur, die gerade kei- Studenten an Ivy-League-Universitäten ne angemessene Antwort auf die nicht generell intelligenter sind. Der (Nr. 24/1995, Archäologie: Dürrekata- „komplexen Strukturen“ darstellt, weil Vorteil der Ivy-Studenten gegenüber ih- strophe führte zum Kollaps der Maya- die eben komplex sind und nicht ein- ren Mitstreitern ist lediglich, daß sie auf- Kultur) fach hierarchisch. Was geboten ist, ist grund der Reputation ihrer Bildungsin- Daß im Jahre 922 in Yucata´n eine „Spit- nicht Konzentration von Wissen, son- stitutionen von öffentlichen wie privaten zentrockenheit“ herrschte, mag richtig dern eine effizientere sein. Ebenso die vorangegangene Klima- Verteilung des Wis- veränderung über runde 120 Jahre. Den- sens. noch dürfte dies für die Maya kein Grund Konstanz zum Verlassen ihrer Tempelstädte gewe- TORSTEN SCHÖLL sen sein, denn Yucata´n war von einem gi- gantischen Kanalnetz durchzogen, und alle Maya-Städte verfügten über riesige Es ist wahr: Ab Juni Wasserreservoirs. In den vergangenen dieses Jahres werden Jahrhunderttausenden ereigneten sich auch an der Universi- immer wieder weltweite Temperatur- tät Witten/Herdecke schwankungen. Dies ist ein wissenschaft- (UW/H) die Studie- liches Faktum –bloß nennt uns keiner der renden an den Kosten gescheiten Herren den Grund für die Kli- ihres Studiums betei- maveränderungen. Unser Gegenwarts- ligt. Dank einer stu- dreck kann es nicht gewesen sein. dentischen Initiative Und „Selbstverstümmelungen am Penis“ muß man aber auch in F. ROGNER / NETZHAUT halfen damals sowenig wie rituelle Zukunft nicht reich Elite-Uni in Oestrich-Winkel: Reichtum für jedes Land Geschwindigkeitsbeschränkungen heu- sein, um hier zu studie- te. ren. Entwickelt wurde ein Modell, das Unternehmen oft blind eingestellt wer- unter dem Dach und Namen der Stu- den. Ob dies jedoch wirtschaftliche, po- Beatenberg (Schweiz) ERICH VON DÄNIKEN Schriftsteller dierendenGesellschaft e.V. verwirk- litische und kulturelle Brillanz fördert, licht werden konnte. Oberste Prämis- scheint mehr als fraglich. sen bei allen Überlegungen waren die Bonn MICHAEL HERRMANN Elite für alle Verhinderung sozialer Selektion sowie (Nr. 24/1995, Ideen: Das Comeback der die Wahrung der Qualität des Studi- Elite) ums. Die Studierenden führen nach Der Begriff Elite wurde doch nach 1968 dem Studium acht Prozent ihres Ein- in Europa, besonders aber in Deutsch- Genauso selbstverständlich, wie sport- kommens an die StudierendenGesell- land vor allem von denen verteufelt, bei lich Hochbegabte gefördert werden, denen klar war, daß sie nicht dazugehör- sollten auch intellektuell hochbegabte * Preisgekrönter Entwurf des Architektenteams ten. Menschen eine besondere Förderung er- Krüger, Schuberth und Vandreike. Mittweida (Sachsen) DR. KARL REISSMANN

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BRIEFE MNO Angemessene Aufsässigkeit 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 (Nr. 24/1995, Fußball: Rostocks Aufstieg CompuServe: 74431,736 . Internet: http://www.spiegel.de Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006. Telefax (040) 30072898, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. soll den Ex-Politiker Diestel wieder nach HERAUSGEBER: Rudolf Augstein jiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (00861) 532 3541, Telefax oben bringen) 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) CHEFREDAKTEUR: Stefan Aust 24 22 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glü- Da hat mich der SPIEGEL wieder in sing, Avenida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild (RJ), Tel. (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska meinen ureigensten Absichten erwischt, von Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil- Telefax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, den Ostdeutschen eine angemessene helm Bittorf, Peter Bölke, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 . Aufsässigkeit gegen die allzu platte Ver- Henryk M. Broder, Werner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, Hans-Dieter Degler, Dr. Martin Doerry, Anke Dürr, Adel S. Elias, Tel. (004822) 25 49 96, Telefax 25 84 74 . Washington: Karl- dummung ihrer Interessen, Hoffnungen Nikolaus von Festenberg, Uly Foerster, Dr. Erich Follath, Klaus Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National und Sorgen zu vermitteln. Der Vorwurf, Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Gatterburg, Henry Glass, Jo- Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) hann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Hans Halter, Wer- 347 5222, Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schön- ich redete der „endgültigen Spaltung ner Harenberg, Dietmar Hawranek, Manfred W. Hentschel, Hans brunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax Fußball-Deutschlands“ das Wort, ist je- Hielscher, Wolfgang Höbel, Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim 587 4242 Hoelzgen, Dr. Jürgen Hohmeyer, Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- doch abwegig und kann nur in völligem Rainer Hupe, Ulrich Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Hellmuth Karasek, Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, Unverständnis seine Begründung fin- Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Ralf Klassen, Petra Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Knips, Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- den. Das ostdeutsche Präsidium erfüllt Susanne Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Bernd me, Bettina Janietz, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula Kühnl, Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Hans Leyendecker, Heinz Morschhäuser, Cornelia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Ju- seine Aufgabe bei Hansa Rostock – im P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Hans- lia Saur, Detlev Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank Gegensatz zu altbundesdeutschen Peter Martin, Georg Mascolo, Gerhard Mauz, Gerd Meißner, Frit- Schumann, Rainer Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Wein- jof Meyer, Dr. Werner Meyer-Larsen, Michael Mönninger, Joa- berg, Matthias Welker, Monika Zucht „Möchtegernen“, die zu häufig Sport- chim Mohr, Mathias Müller von Blumencron, Bettina Musall, Dr. Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- strukturen im Osten zerstört haben. Claudia Pai, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Petermann, bine Bodenhagen, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann Potsdam DR. PETER-MICHAEL DIESTEL Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl, Detlef Pypke, Dr. Rolf Rietzler, Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Anuschka Roshani, Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas Präsident des FC Hansa Rostock Karl-H. Schaper, Marie-Luise Scherer, Michaela Schießl, Heiner M. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, Schimmöller, Roland Schleicher, Michael Schmidt-Klingenberg, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ruth Tenhaef, Hans-Jürgen Cordt Schnibben, Hans Joachim Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters Sylvia Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Schümann, Matthias VERANTWORTLICHER REDAKTEUR: dieser Ausgabe für Pan- Schulz, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Claudius Seidl, Dr. Stefan orama, Außenpolitik, Grüne, Debatte, NS-Opfer, Atomenergie, Se- Gekochter Apfel Simons, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf rie: Dr. Gerhard Spörl; für CSU, Dissidenten, Berater, Aufbau Ost, Stampf, Gabor Steingart, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barba- Bremen: Ulrich Schwarz; für Minister, Trends, Shell, Fernsehen, (Nr. 24/1995, Ernährung: Die „Instincto- ra Supp, Dieter G. Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehle- Versicherungen, Gesundheitsreform (S. 96), Umwelttechnik: Ga- Bewegung“ propagiert urzeitliche Roh- wald, Dr. Manfred Weber, Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, bor Steingart; für Medien, Alltag, Berufe, Titelgeschichte, Wer- Marianne Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos Widmann, Erich bung, Szene, Fernseh-Vorausschau: Hans-Dieter Degler; für Ruß- kost) Wiedemann, Christian Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Zolling, Hele- land, Panorama Ausland, Großbritannien, Polen, Israel, USA, ne Zuber Frankreich, Völkerfreundschaft, Schönheit: Dr. Romain Leick; für Tennis, Motorsport: Alfred Weinzierl; für Gesundheitsreform (S. In einer Zeit, in der man sich mit jedem REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- 97), Prisma, Evolution, Kernkraft, Höhlenmalerei, Automobile, Esoterik-Schwachsinn medienwirksam gang Bayer, Petra Bornhöft, Markus Dettmer, Jan Fleischhauer, Haustiere: Jürgen Petermann; für Museen, Bestseller: Dr. Mathi- Uwe Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, as Schreiber; für namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; in Szene setzen kann, wundert mich gar Walter Mayr, Harald Schumann, Michael Sontheimer, Kurfürsten- für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. nichts mehr. Es ist wirklich zum Lachen, straße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax Manfred Weber; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Gestaltung: 25 40 91 10 . Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. Olaf Dietmar Suchalla; für Hausmitteilung: Hans Joachim Schöps; aber langsam tut es auch weh. Ihlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth Nie- Chef vom Dienst: Horst Beckmann (sämtlich Brandstwiete 19, jahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen 20457 Hamburg) Halle (Nordrh.-Westf.) PAUL-G. HOFF Schlamp, Hajo Schumacher, Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Ulrich Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, Tele- Booms, Dr. Helmut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- fax 21 51 10 . Dresden: Sebastian Borger, Christian Habbe, Kö- der, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, Cor- nigsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 567 0271, Te- delia Freiwald, Dr. Andre´ Geicke, Ille von Gerstenbergk-Helldorff, lefax 567 0275 . Düsseldorf: Ulrich Bieger, Georg Bönisch, Ri- Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Wolfgang Henkel, Gesa chard Rickelmann, Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) Höppner, Jürgen Holm, Christa von Holtzapfel, Joachim Immisch, 93 601-01, Telefax 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg Hauke Janssen, Günter Johannes, Angela Köllisch, Sonny Krau- 6, 99084 Erfurt, Tel. (0361) 642 2696, Telefax 566 7459 . spe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Walter Leh- Frankfurt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bittner, Annette Groß- mann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, Sigrid Lüttich, Roderich bongardt, Rüdiger Jungbluth, Ulrich Manz, Oberlindau 80, 60323 Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Mül- Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Telefax 72 17 02 . Hanno- ler, Bernd Musa, Christel Nath, Anneliese Neumann, Werner Niel- ver: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Hannover, Tel. sen, Paul Ostrop, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 . Karlsruhe: Dr. Rolf Lam- Rambow, Dr. Mechthild Ripke, Constanze Sanders, Petra Santos, precht, Amalienstraße 25, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 225 14, Christof Schepers, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Andrea Telefax 276 12 . Mainz: Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, Schumann, Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staudham- 55116 Mainz, Tel. (06131) 23 24 40, Telefax 23 47 68 . Mün- mer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Rainer Szimm, Monika Tänzer, chen: Dinah Deckstein, Annette Ramelsberger, Dr. Joachim Rei- Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris mann, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, Telefax 4180 0425 . Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltor- Dieter Wessendorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt damm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles 56 99 19 . Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Grimm, Kriegsbergstraße AP, dpa, Los Angeles Times/Washing- 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65 NACHRICHTENDIENSTE: ton Post, New York Times, Reuters, sid, Time REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG 283 0475 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 . 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM W. M. WEBER Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne 182,00. Normalpost Europa: sechs Monate DM 184,60, zwölf Münchner „Instincto“-Laden 45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 . Monate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM In der Natur ist kein Irrtum Jerusalem: Jürgen Hogrefe, 29, Hatikva Street, Yemin Moshe, 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. Jerusalem 94103, Tel. (009722) 24 57 55, Telefax 24 05 70 . Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; Wie sagte : „In der Na- Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Tele- Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) fax 336 4057 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, tur ist kein Irrtum –der Irrtum istin Dir.“ Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 . 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 München: Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) Börwang (Bayern) INGO-RAINER PIRR Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Hen- 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (0044171) 379 8550, Tele- 70174 Stuttgart, Tel. 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Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt 4256 1211, Telefax 4256 1972 Peking: Jürgen Kremb, Qi- GESCHÄFTSFÜHRUNG: Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel zu veröffentlichen. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $290.00 per annum. Distributed by German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Second class Der Postauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegt ei- postage is paid at Englewood, NJ 07631 and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: ne Verlegerbeilage SPIEGEL EXTRA bei. DER SPIEGEL, GERMAN LANGUAGE PUBLICATIONS, INC., P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631-1123. Eine Teilauflage enthält eine Beilage des SPIE- GEL-Verlages / Abo, Hamburg.

14 DER SPIEGEL 26/1995 Werbeseite

Werbeseite . PANORAMA

Bundeswehr stoß der FDP. Der freidemokratische Wehrexperte Gün- ther Nolting beruft sich auf Petitionen an den Bundestag und jüngste Erfahrungsberichte: „Mädchen in allen Schu- Frauen ans Gewehr len und Regionen scheinen stark an einem Dienst in den Streitkräften interessiert zu sein – auf freiwilliger Basis, Die Bundeswehr will mehr Frauen zur Truppe rufen. Der auch mit der Waffe“, heißt es in einem Report der Ju- Bonner Führungsstab der Streitkräfte läßt derzeit die „Öff- gendoffiziere. Unterstützung kommt von der Staatssekre- nung weiterer Laufbahnen für Frauen“ untersuchen. Solda- tärin im Verteidigungsministerium, Michaela Geiger tinnen dürfen bisher nur bei Sanitätern und Musikkapellen (CSU): „Mir fehlen langsam die Argumente, warum man dienen, bekommen aber eine kurze Schießausbildung zur das generell ausschließen sollte.“ Bei der Polizei leisteten Selbstverteidigung. Anlaß für den Prüfauftrag ist ein Vor- Frauen ja auch Dienst mit der Waffe. LAIF R. BERMES / Bundeswehr-Soldatinnen bei der Grundausbildung

Mecklenburg-Vorpommern und notwendige Rückstellungen für Schneider spätere Sanierungen längst die Pacht- Ruinöse Müllkippe einnahmen. Um Pleite und Stillegung Sein letztes Hemd desDeponiebetriebs zuverhindern, sol- Die Sondermülldeponie Schönberg len die Landesminister für Umwelt und Pleitier Jürgen Schneider lieferte jetzt, macht dem Land Mecklenburg-Vor- Justiz mit der Veba und Hilmer über ei- wenn auch ungewollt, einen bemer- pommern zu schaffen. In einer Kabi- ne Neuverteilung der Erlöse verhan- kenswerten Beitrag zur Konkursmasse nettsvorlage der Landesregierung vom deln. Der Vertrag war von dem Ex-Um- des zusammengebrochenen Baukon- vergangenen Dienstag heißt es, die De- weltstaatssekretär Peter-Uwe Conrad zerns: seine letzten Kleider. Nach der ponie befinde sich in einer derart „rui- (CDU) und dem FDP-Politiker Wolf- Verhaftung in Miami wurde das Ehe- nösen Situation“, daß die Schönberg- gang Kubicki ausgehandelt worden. paar Schneider auf Staatskosten neu Eigentümerin, eine landes- eingekleidet. Die abgelegten Stücke eigene Abfallentsorgungs- ließ der Häftling an seinen Vater Ri- gesellschaft, schon Ende chard nach Königstein schicken. Der 1996 in Konkurs gehen kön- erboste Alte, seit langem mit dem ne. Schuld sei der Vertrag, Sohn verkracht, leitete das Paket an durch den die privaten Be- den Konkursverwalter weiter. Der treiberfirmen des Düssel- Frankfurter Rechtsanwalt Gerhard dorfer Veba-Konzerns und Walter kann das Zeug zum Wohl der des Bad Schwartauer Müll- Gläubiger nun meistbietend an Tro- maklers Adolf Hilmer Rie- phäenjäger versteigern: neben Unter- sengewinne einstreichen, wäsche samt BH der Gattin Schuhe, T- während das Land fast leer Shirts und Shorts. Außerdem Schnei- ausgehe. Inzwischen über- ders ausgetretene Sandalen, seine bun-

steigen die Kosten für die M. SCHRÖDER / ARGUS te Hose Marke „Campus“ sowie sein Rekultivierung der Anlage Deponie Schönberg letztes Hemd.

16 DER SPIEGEL 26/1995 .

DEUTSCHLAND

Konzerne bislang bekannte Ausmaß hinaus Stel- len abbauen. Rund 200 Daimler-Ma- Harte Zeiten für nager werden schon bald ihren Job verlieren. Zudem werden aus den Be- Daimler-Manager reichen Recht, Dokumentation, Fi- nanz- und Steuerwesen Abteilungen So hatte wohl noch keiner mit ihnen (mit insgesamt 700 Beschäftigten), die geredet. Die Spitzenmanager des künftig als eigene Profit Center ge- Daimler-Benz-Konzerns waren er- führt werden. Sie müssen ihre Dienste kennbar schockiert vom ersten Auftritt den Konzerntöchtern anbieten und des neuen Chefs, Jürgen Schrempp, können ihre Arbeitsplätze nur sichern, 50, Mitte Juni. Als „bullshit castle“ wenn sie zumindest ohne Verlust ar- hatte der Vorstandsvorsitzende die beiten. Zentrale in Stuttgart mit insgesamt Die Daimler-Töchter sollen auch 3400 Beschäftigten einige Zeit vor sei- Fremdfirmen beauftragen können, nem Amtsantritt be- wenn diese billiger oder besser als die zeichnet. Jetzt lieferte Profit Center der Zentrale arbeiten.

er die Begründung Die Konzernmanager müßten sich H. GUTMANN / FORMAT nach. Es könne nicht dem Wettbewerb stellen, fordert Beschlagnahmte Zeichnung sein, sagte Schrempp Schrempp, und dann „gewinnen oder den Führungskräften, mit Anstand verlieren“. Comics daß die Töchter Merce- Einige hundert Führungskräfte wer- des-Benz, AEG, Dasa den wohl verlieren und sich dann Nonne vor Gericht und Debis in den ver- ebenfalls neue Stellen suchen müssen. gangenen vier Jahren Es könne doch nicht sein, sagte Eine unfromme Zeichnung des franzö- „annähernd 80 000 Schrempp den irritierten Managern, sischen Cartoonisten Maester beschäf- Stellen“ einsparen daß Facharbeiter, Ingenieure und Ver- tigt die Juristen mehrerer Gerichtsin- mußten, die Zentrale käufer sich ständig auf dem Markt be- stanzen. Monatelang hatte das Bild von aber immer fülliger haupten müssen und „die Leute der der vollbusigen Nonne, die einer Chri-

ACTION PRESS werde. Schrempp will Zentrale als Zuschauer auf den Rän- stusfigur hinter den Lendenschurz Schrempp deshalb weit über das gen des Wettkampfstadions sitzen“. guckt, unbeanstandet im Schaufenster einer Kölner Galerie gehangen – dann erstattete das Erzbistum Köln Anzeige Justiz wegen „Beschimpfung einer kirchli- chen Einrichtung“. Die Staatsanwalt- schaft beschlagnahmte den Comic, das Richter mit Parteibuch Amtsgericht aber sprach die Galeristen frei. Soviel rheinischer Freisinn ging den Staatsanwälten zuweit: Sie legten In Karlsruhe fehlen Richter. Die Vor- Zahl der Richter mit Parteimitgliedschaft Revision ein. Im Juli muß nun das Ober- sitzenden der beiden wichtigsten Se- CDU/CSU SPD FDP landesgericht Köln entscheiden. nate des Bundesgerichtshofes (BGH) sind in Pension gegangen. So gibt es Vakanzen: im politischen Strafsenat Bundes- 36 Bundestag gerichtshof seit 1. Mai, im für Presserecht und 19 Datenschutz zuständigen VI. Zivil- 123 Stellen Notizen im Tresor senat seit 1. Juni. 4 Zwar hatte BGH-Präsident Walter Geheimniskrämerei behindert die Ar- Odersky seine Personalvorschläge beit des Bonner Plutonium-Untersu- Bundes- 23 fristgerecht nach Bonn gereicht. Aber verwaltungs- chungsausschusses. Vergangene Wo- nun schmoren die Empfehlungen im gericht 15 che ließ der CSU-Ausschußvorsitzende Kabinett. Die Entscheidung verzögert 70 Stellen 3 GerhardFriedrich Akten ausdenAbge- sich, weil Kanzler dar- ordnetenbüros herausholen und in die auf besteht, daß konservative Nach- Geheimschutzstelle des Bundestages folger gefunden werden. Für den Bundes- 25 schaffen. In den konfiszierten Papieren sind die Abhörprotokolle aus dem politischen Strafsenat hatte Odersky finanzhof 15 einen Sozialdemokraten vorgeschla- 62 Stellen Münchner Prozeß gegen drei Plutoni- gen: Heinrich Maul, einen der angese- 1 umschmuggler enthalten. Die Abge- hensten BGH-Richter. Kohl verwei- ordneten dürfen als „geheim“ einge- gerte die Ernennung. Die Union ver- stufte Dokumente nur noch in der Ge- Bundes- 16 heimschutzstelle lesen und müssen ihre weist auf eine angeblich „einmalige arbeitsgericht Selbstbedienung“ der SPD bei der 8 Notizen dort im Panzerschrank zurück- Besetzung von Oberrichterposten im 32 Stellen lassen. Die Aufzeichnungen werden März – zu Unrecht. Seit kurzem kur- nur während der Ausschußsitzung aus- siert im Richterwahlausschuß eine gehändigt. „Mit derartigen Methoden Bundes- 16 Liste, die zeigt, welche Partei in den sozialgericht werden wir stranguliert“, klagt der obersten Gerichtshöfen die meisten 7 SPD-Obmann des Ausschusses, Her- Mitglieder hat: die CDU/CSU. 46 Stellen mann Bachmaier.

DER SPIEGEL 26/1995 17 .

PANORAMA

Sachsen Rot-Grün Kritik an Biedenkopf „In manchen Punkten zu forsch“ Der Wirbel um seinen Innenminister Heinz Eggert bringt dem sächsischen Ministerpräsidenten Der Vorsitzende des Deutschen Wie Hermann Rappe warne ich jedoch (CDU) unerwartete Probleme. Der Gewerkschaftsbundes, Dieter davor, diese Koalition um jeden Preis Datenschutzbeauftragte des Freistaats, Schulte, 55, über große und kleine durchsetzen zu wollen, bloß um ein Si- Thomas Giesen, hält das von Bieden- Koalitionen gnal für einen Machtwechsel in Bonn zu kopf eingeleitete Verfahren zur Prü- schaffen. fung der Vorwürfe für „ungesetzlich SPIEGEL: Sind die Grünen eine SPIEGEL: Welche Risiken sehen Sie? und rechtswidrig“. Vergangenen Frei- „Sammlung von wertkonservativen Schulte: Entscheidend ist, daß der not- tag sprach Christdemokrat Giesen der Blümchenpflückern und linken Funda- wendige Strukturwandel im Interesse Staatsregierung eine „Beanstandung“ mentalisten“, wie IG-Che- der Beschäftigten auch wei- aus, die schärfste im Datenschutzrecht mie-Chef Hermann Rappe terhin ohne Brüche betrie- vorgesehene Rüge. meint? ben wird. Da sind mir die Enge frühere und derzeitige Mitarbei- Schulte: Joschka Fischer Grünen in manchen Punk- ter werfen Eggert sexuelle Belästigung hat sich sein Gewicht sicher ten zu forsch. Falsch fin- vor. Entsprechende Erklärungen lie- nicht nur mit Müsliangefut- de ich ihre Zuspitzung auf gen Biedenkopf seit zehn Wochen vor. tert. In meinen Gesprächen das Braunkohleprojekt in Vergangenen Montag beurlaubte der mit grünen Politikern habe Garzweiler. Auch die Nei- Regierungschef den Minister auf des- ich festgestellt, daß deren gung, die Bio- und Gen- sen Wunsch hin und beauftragte den Verständnis für Wirt- technologie pauschal zu

pensionierten Vizepräsidenten des schaftsfragen und für die MELDEPRESS verdammen, halte ich für Bundesarbeitsgerichts, Dirk Neu- Interessen der Arbeitneh- kontraproduktiv. mann, 72, mit der Klärung der Vor- mer enorm gewachsen ist. SPIEGEL: Wie beurteilen würfe. Die Grünen taugen nicht Sie die Pläne der Bonner

Daß den betroffenen Mitarbeitern von mehr als Schreckgespenst. S. MÜLLER-JÄNSCH / Grünen, Ökosteuern mit der Dresdner Staatskanzlei Vertrau- SPIEGEL: Rappe und an- Schulte einem Volumen von 69Mil- lichkeit zugesichert worden ist, hält dere Gewerkschaftschefs liarden Mark einzuführen? Datenschützer Giesen für „weder warnen vor einer rot-grünen Koalition Schulte: Ich bin überzeugt, daß Energie statthaft noch wirksam“. Solche Zusa- in Nordrhein-Westfalen und fordern ei- teurer werden muß, weil der Preis das gen dürften nur von Personen gemacht ne große Koalition. Sie auch? beste Steuerungsmittel für umweltge- werden, die qua Gesetz zur Vertrau- Schulte: Ich halte grundsätzlich nicht rechtes Verhalten ist. lichkeit verpflichtet seien. Biedenkopf, viel von großen Koalitionen. Die Ge- SPIEGEL: IG-Bergbau-Chef Hans Ber- meint Giesen, hätte Eggert informie- werkschaften brauchen alsPartner auch ger plant einen Protestmarsch mit Tau- ren müssen, denn der Minister habe starke Oppositionsparteien, die sich an senden von Kumpeln, falls die ein „vollständiges Auskunftsrecht“. der Regierung reiben und Alternativen neue Landesregierung das Garzweiler- Die Zusicherung von Diskretion sei aufzeigen. Mir graut vor einer Situati- Projekt kippt. Marschieren Sie daher „eine schwere Dienstpflichtver- on, wo wir Bündnispartner – in Bund mit? letzung des Ministerpräsidenten“. Es oder Land –aus einem politischen Sam- Schulte: Wenn die Ergebnisse der Ko- sei zudem rechtswidrig, daß ein Son- melsurium von Grünen, FDP und PDS alitionsverhandlungen nicht stimmen, derermittler wie Neumann Intim- und suchen müssen. Deshalb bin ich nicht werde ich an der Spitze der Bewegung Personaldaten erhebe. generell gegen Rot-Grünin Düsseldorf. stehen.

Terrorismus München ums Leben gekommen sind. Nach jahrelanger Vorbereitung beginnt an diesem Mittwoch vor dem Landge- Prozeß um Olympia-Opfer richt München ein Mammutprozeß, in dem geklärt werden soll, ob Polizeiführer und Politiker den Tod der Israelis, die 40 Millionen Mark Schadensersatz verlangen die Angehöri- von palästinensischen Terroristen als Geiseln genommen gen der elf israelischen Sportler, die bei der völlig mißglück- worden waren, leichtfertig verursacht haben. Nachdem sie ten Polizeiaktion während der Olympischen Spiele 1972 in Einsicht in die geheimen Akten erhalten haben, behaupten die Kläger, daß dem Krisenstab, dem seinerzeit Innenmini- ster Hans-Dietrich Genscher angehört hatte, ein rascher Fortgang der „heiteren Spiele“ wichtiger gewesen sei als die Rettung der Sportler. Der damalige IOC-Präsident Avery Brundage habe angedeutet, das Geiseldrama sei möglichst schnell zu beenden. Deshalb habe für die Verantwortlichen in Deutschland das Leben der Geiseln „keine Priorität“ mehr gehabt. Zudem werfen die Israelis, die von dem Münchner Rechtsanwalt Christoph Rückel vertreten wer- den, den Polizeiführern schwerstes Versagen vor: Von 19 verfügbaren Scharfschützen seien bei dem Einsatz auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck, bei dem die Israelis befreit

AP werden sollten, nur 2 eingesetzt worden. Beide seien unzu- Mißglückte Geiselbefreiung 1972 in Fürstenfeldbruck reichend ausgebildet gewesen.

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Schwarz-Grün „Keine Einwände“ Die CDU-Spitze steht schwarz-grünen Regierungsbündnissen längst nicht so ablehnend gegenüber, wie der Vorsit- zende Helmut Kohl und sein General- sekretär Peter Hintze nach außen hin vorgeben und wie CSU-Chef mitsamt dem bayerischen Mini- sterpräsidenten Edmund Stoiber es un- ablässig fordern. Hintzes Weisung an die Christdemo- kraten, „nicht öffentlich oder im stil- len“ über Schwarz-Grün nachzuden- ken, widersetzt sich neben Hei- ner Geißler CDU/CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble. Auch CDU-Vor- ständler wie , Rita Süss- muth und Volker Rühe zeigen sich auf- geschlossen gegenüber schwarz-grünen Koalitionen auf Landesebene. Laut Geißler ist die Mehrheit der Landtagsfraktions-Vorsitzenden der Union für Bündnisse mit Joschka Fi- schers Grünen. Sogar der Vorsitzende der CSU-Landtagsfraktion, Alois Glück, hält die von oben verordneten Denkverbote über Schwarz-Grün für einen „Schmarrn“. KARWASZ Schäuble, Fischer

Geißler wie Schäuble werfen in vertrau- lichen Gesprächen Kohl mangelnde Weitsicht vor. Zu lange habe er die Uni- on auf Anti-Grün-Kurs gehalten. Schäuble dagegen habe bereits 1992 schwarz-grüne Experimente für Baden- Württemberg und Bremen empfohlen. Wäre die eigene Anhängerschaft besser auf Schwarz-Grün eingestimmt wor- den, hätte dieCDU heute inNordrhein- Westfalen die Chance, den Ministerprä- sidenten zu stellen. Auch Volker Rühe hätte „keine Ein- wände“, wenn in seiner Heimat Ham- burg demnächst anstelle des zerbröseln- den Bündnisses aus SPD und Statt Par- tei ein schwarz-grüner Senat regieren würde. Kohl-Freund Johannes Gerster, Spit- zenkandidat in Rheinland-Pfalz, ist ebenfalls „grundsätzlich“ bereit, mit den Grünen zu koalieren.

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Denkmal Wodka aus der Kaffeekanne In Leipzig soll eines der letzten Denk- mäler der DDR-Geschichte geschleift werden. Im Herbst werden Bagger das ehemalige Gästehaus des Ministerrats niederreißen, die frühere Residenz des Ost-Berliner Politbüros. Das Gebäude diente den DDR-Oberen zweimal im Jahr für die Zeit der Leipziger Messe als Unterkunft. Anstelle der Honek- ker-Herberge, zuletzt ein Hotel, will der Hamburger Steakhausbetreiber Eugen Block für rund 120 Millionen Mark eine Luxusbleibe mit 600 Betten, Schwimmbad, Restaurants und Konfe-

renzsaal errichten. P. HIRTH / TRANSIT Das zu DDR-Zeiten geheimnisumwo- Strauß-Suite, Strauß bene Haus, durch Volkspolizei und Stasi von den Bürgern abgeschirmt, herr und damalige Ministerpräsident ner, die bevorzugte nutzten auch zahlreiche Westpolitiker Willi Stoph eigens eine Suite einrichten. Biermarke des Gene- als vermeintlich verschwiegenen Ort Das Appartement (Nr. 106), einst vom ralsekretärs. für deutsch-deutsche Gespräche. In Honecker-Vorgänger Walter Ulbricht Außerdem hielten die den Räumen handelte bewohnt, wurde mit weiß und blau ge- 80 Angestellten Bana- der bayerische Mini- strichenen Möbeln ausgestattet. DDR- nen aus Südamerika, sterpräsident Franz Jo- Künstler verzierten Schrankwände mit frische Erdbeeren aus sef Strauß (CSU) An- den Bildern leichtbekleideter Musen. Israel, West-Kosmeti- fang der achtziger Jahre Erst nach der Wende stellte sich heraus, ka, Milka-Schokolade W. M. WEBER / ARGUS das Abkommen über daß nicht nur die Sitzungsräume und und Coca-Cola bereit. „Es gibt nichts, den Milliardenkredit an Gästezimmer, sondern auch die Privat- was es nicht gibt“, lautete die Dienstan- die DDR aus. suiten und Telefone der SED-Spitze weisung. Selbst das im Vergleich zur Für Gespräche mit von Erich Mielkes Stasi abgehört wur- rauhen DDR-Rolle superweiche Klo- Strauß ließ der Haus- den. papier aus der Produktion des Klassen- Ähnlich wie in der Promi- feindes mochte die Nomenklatura nicht nentensiedlung Wandlitz missen.

SIPA bei Berlin wollten die Bevor das Gebäude abgerissen wird, SED-Funktionäre wäh- soll im Juli das Inventar versteigert wer- rend ihres Aufenthaltes den. Unter den Hammer kommen Ob- in Leipzig nicht auf die jekte wie Honeckers Schreibtisch, die Annehmlichkeiten aus Goldfische von Stasi-Chef Mielke sowie dem kapitalistischen Aus- die Kaffeekanne, aus der sich Günter land verzichten. Wenn Mittag angeblich bereits zum Frühstück Staatschef Honecker in Wodka einschenken ließ. Nicht verstei- Leipzig eintraf, lag auf gert wird das Gästebuch, in das sich dem Arbeitstisch seiner nach Aussagen der Mitarbeiter Westpo- persönlichen Suite stets litiker wie mit die neueste Ausgabe der Elogen auf den „großen Staatsmann“ Frankfurter Allgemeinen, Honecker eingetragen haben. Das

P. HIRTH / TRANSIT daneben stand eine ge- Buch war vergangene Woche nicht Honecker-Suite, Honecker kühlte Dose DAB-Pilse- mehr aufzufinden.

Ost-Vermögen tet Betrug oder Untreue zu Lasten des teien umgegangen zu sein. Das Ostver- ehemaligen DDR-Parteienvermögens. mögen unterliegt der Aufsicht der Anzeige gegen Liberale Zu den Beschuldigten gehören der Düs- Treuhand, über die Eigentumsfrage seldorfer FDP-Anwalt Axel Pragal und wird noch gestritten. Große Summen Berliner Staatsanwälte müssen sich mit der ehemalige Bundesgeschäftsführer sollen zu Unrecht verwendet worden dem Finanzgebaren der FDP beschäfti- der Liberalen und jetzige Chef der Par- sein, um Honorare an Pragal für FDP- gen. Die Treuhand-Nachfolgebehörde tei-Stiftung, Rolf Berndt. Außerdem Aufträge zu zahlen. Durch Tricks sei- hat Strafanzeige gegen mehrere Libera- sollen die Ermittler gegen „unbekannte en Flugkosten für FDP-Leute aus den le, darunter Vertraute des Schatzmei- Verantwortliche der FDP“ vorgehen. Ostvermögen beglichen worden. Die sters , erstattet. Die BVS-Beamten werfen den Freide- Staatsanwaltschaft ermittelt inzwi- Die Bundesanstalt für vereinigungsbe- mokraten vor, allzu freizügig mit dem schen, die Beschuldigten bestreiten die dingte Sonderaufgaben (BVS) vermu- Geld ausdem Erbe derDDR-Blockpar- Vorwürfe.

20 DER SPIEGEL 26/1995 Werbeseite

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DEUTSCHLAND

Außenpolitik DABEISEIN IST ALLES Hilfe für die Uno-Blauhelme: In dieser Woche entscheiden Regierung und Parlament über den Bosnien-Einsatz der Bundeswehr. Der praktische Nutzen der Militäraktion ist fragwürdig, selbst Kanzler Helmut Kohl sorgt sich, daß die Deutschen „durch die Hintertür in einen Krieg“ hineingezogen werden.

usnahmsweise sind sich der heimli- Tornado-Kampfjets sollen, so will es daten den Rückzug der Verbündeten si- che Oppositionsführer und der die Bundesregierung, von Juli an Rake- chern. ABundeskanzler einig. Am Freitag tenstellungen der bosnischen Serben in An großen Worten herrscht kein Man- dieser Woche, sagt Joschka Fischer, Schach halten. Transall-Transporter gel. FDP-Außenminister treffe der Bundestag eine „historische werden Nachschub für die schnelle Ein- beschwört den Anspruch der Alliierten Entscheidung“. Es gehe, erklärt Hel- greiftruppe der Uno in Bosnien fliegen, auf „Solidarität“ der Deutschen. „Es ist mut Kohl, um einen „Einschnitt in die Fallschirmjäger ein Lazarett deutscher an der Zeit, Entschlossenheit zu zeigen“, deutsche Außen- und Verteidigungspo- Sanitäter in der kroatischen Hafenstadt tönt Rühe, „man kann Europa nicht nur litik“. Split beschützen. mit Konferenz-Papieren bauen.“ Der deutsche „Soli- darbeitrag“ (Kinkel) zum „Bleibeschutz“ (Rühe) für die Balkan- Truppe kommt zu ei- nem höchst fragwürdi- gen Zeitpunkt: Uno- Generalsekretär Butros Butros Ghali erklärte die Blauhelm-Mission vorige Woche ganz of- fen zum „Mißerfolg“; CDU-Außenpolitiker warnt vor einem „Desaster“ der europäischen Balkan- Politik; und Außenmini- ster Kinkel hält alles für „Stückwerk“, weil nie- mand bereit sei, die Kriegsparteien in Bos- nien mit Waffengewalt zum Frieden zu zwin- gen. Viel publizistisches Getöse begleitete zu- nächst die Eingreiftrup- pe der Franzosen, Bri- ten und Niederländer, die von Nato- und EU- Ministern nach serbi- schen Geiselnahmen be-

REUTERS schlossen worden war. Bosnien-Politiker Kohl, Scharping*: „Lieber ein Wort mehr als zuwenig reden“ „Robust“ werde sie „durchgreifen“, so die Der deutsche Bundestag wird 50 Jah- Das deutsche Aufgebot dient laut Ankündigungen, Korridore für Lebens- re nach dem Ende des Zweiten Welt- Verteidigungsminister Volker Rühe mittelkonvois zu den moslemischen En- kriegs erstmals Soldaten der Bundes- dem „letzten Versuch“, Uno-Blauhelme klaven notfalls freikämpfen, freien Flug wehr zu einem Kampfeinsatz ins Aus- in Bosnien zu halten und mit Verhand- nach Sarajevo garantieren. land schicken. Ihr Einsatzgebiet, der lungen ein „Fenster für den Frieden“ zu Nichts davon wird wahr. Die neue Balkan, könnte heikler nicht sein. öffnen. Gelinge dies nicht binnen sechs Truppe, so beschloß es der Weltsicher- Monaten, drohe der Abzug der Frie- heitsrat, dient nur dazu, die Unprofor- * Am vorigen Donnerstag im Bonner Bundestags- denstruppen und damit „der fast totale Einheiten in Bosnien zu verstärken. Sie restaurant. Krieg“. Dann müssen die deutschen Sol- unterliegt allen Beschränkungen der bis-

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Mission zum Erfolg zu verhel- fen? Ist die Verhältnismäßig- keit zwischen dem erstreb- ten Ziel und den möglicher- weise in Kauf zu nehmenden Zerstörungen gewahrt? Gibt es eindeutige Erfolgskrite- rien und damit eine abseh- bare zeitliche Begrenzung?

Nichts davon kann die Kohl/Kinkel-Koalition bei der Bundestagsdebatte am Freitag mit einem klaren Ja beantworten. Auf ein zeitli- ches Limit für den Einsatz, dessen „Anlaufkosten“ das Rühe-Ressort auf knapp eine halbe Milliarde Mark schätzt, wird sogar ausdrücklich ver- zichtet. Rühe jetzt: „Zeitliche Befristungen machen keinen Sinn.“ In einem Aufwasch soll das Parlament schon jetzt grünes

B. NIMTSCH / MAGMA Licht für deutschen Beistand Bundeswehr-Fahrzeuge für Bosnien-Einsatz: „Entschlossenheit zeigen“ beim Rückzug der Blauhelme geben –obwohl die Uno für ei- herigen Blauhelme. Ihr bleiben die Hän- im ehemaligen Jugoslawien ab. Kinkel im nen Truppenrückzug bislang kein Man- de gebunden. vorigen Oktober: Deutsche Truppen dat erteilt hat. Der Uno-Beauftragte Yasushi Akashi würden „dort ehereskalierend alsberuhi- Die Regierung bittet den Bundestag le- gab es dem bosnisch-serbischen Kriegs- gend wirken“. diglich um Zustimmung zu ihrer Absicht, verbrecher Radovan Karadzˇic´ vorige Vergessen sind die Lehren aus dem So- sich an der „Unterstützung“ der Eingreif- Woche sogar schriftlich: Die Truppe, die malia-Flop. Vor dem nächsten Bundes- truppe zu beteiligen und – falls nötig – zu- die Deutschen unterstützen soll, werde wehr-Einsatz, so Kinkel damals forsch, sätzlich mit „Seestreitkräften“ einen sichstriktneutral verhaltenund den „frie- müßten viele Fragen beantwortet sein: möglichen Abzug der Blauhelme zu un- denbewahrenden Charakter“der Unpro- terstützen. Kein Wort über die Dauer des for-Einheiten in Bosnien „in keiner Wei- Gibt es ein klares Mandat? Ist die militä- Einsatzes, die Truppenstärke, die Ko- se ändern“. rische Aktion in sinnvoller Weise in ein sten, die politische Lösung. Dabeisein ist alles, lautet dennoch die umfassendes politisches Lösungskon- Selbst Kohl ist bange. Er bekräftigte Parole der Deutschen. Mit Sorge beob- zept eingebettet? Sind die verfügbaren vorige Woche im Kabinett die Mahnung, achtet die Kohl-Truppe, so ein Kinkel- Mittel hinreichend, um einer solchen Deutschland dürfe sich nicht „durch die Berater, eine „unheimliche Solidarisie- rung“ der Franzosen und Briten. Die Geiselnahmen in Bosnien schwei- ßen Frankreich und Britannien, sonst in herzlicher Abneigung verbunden, wieder „Es gibt Bessere“ zusammen. Ein britischer Nato-Diplo- Uno-Offiziere über einen Bosnien-Einsatz der Deutschen mat hämte kürzlich, Außenpolitik in Eu- ropa werde „von denen geschrieben, die Unprofor-Offiziere aus mehreren Gut sind die deutschen Tornados den Willen und die Fähigkeit“ zum Han- Staaten trafen sich Mitte Juni in Ko- geeignet für strategische Angriffe wie deln hätten: „Bei diesem Spiel ist penhagen zu einem Erfahrungsaus- zur Vernichtung des serbischen Luft- Deutschland bislang draußen.“ tausch über den Bosnien-Einsatz. abwehrsystems. Dies ist zwar seit lan- Die Deutschen befürchten, abgekop- Thema war auch der Nutzen deut- gem ein bevorzugt angebotenes Ziel pelt zu werden. Deshalb will die Kohl- scher Tornado-Kampfjets. Auszüge der Nato, wird von der Uno aber für Regierung bei der neuen Entente dabei- aus dem internen Gesprächsbe- die Durchsetzung des Mandats als un- sein, auch militärisch. richt: realistisch und für die Mission als kon- Schritt für Schritt gewöhnen Kohl und traproduktiv angesehen. Kinkel die Deutschen seit der Einheit ür Zwecke der Uno (Unterstüt- Für elektronische Gegenmaßnah- wieder an den weltweiten Einsatz der Ar- zung durch „close air support“ men gibt es genügend andere aktive mee: Blauhelm-Sanitäter in Kambo- Fzur Verteidigung der Blauhelme) Systeme. Was die Uno bei Luftunter- dscha, „humanitärer Einsatz“ mit 1700 gibt es aus Sicht von Unprofor besse- stützung durch die Nato bevorzugt, Soldaten in Somalia –und nun Kampfein- re Flugzeuge als die deutschen Tor- sind die Durchsetzung des Flugver- satz in einem Gebiet, das wegen der nados: die britischen Harrier und die bots und der Waffenverbotszonen so- Greueltaten der Hitler-Wehrmacht amerikanischen A-10-Flugzeuge, die wie Beistand in Selbstverteidigung eigentlich als absolut tabu galt (siehe langsamer und viel manövrierfähiger durch „close air support“. Für die- Seite 38). als Tornados fliegen und Einzelziele se Aufgaben sind deutsche Tornados Vergessen ist die Botschaft des Außen- treffen können, die die Uno-Truppen weniger geeignet als andere Flug- ministers an die Nato, Deutschland lehne unmittelbar bedrohen. zeuge. eine Beteiligung an Friedensmissionen

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Hintertürineinen Krieg hineinziehen las- sen“. DabeiistderpraktischeNutzen der Mi- litäraktion höchst zweifelhaft. „Immer eine Chance“ So recherchierten Kinkel-Gehilfen, die Uno habe gar „keinen Bedarf“ für ein Kommodore Johann G. Dora über den Bosnien-Einsatz deutsches Feldhospital in Kroatien. Wo- möglich stehe Bonn in einigen Monaten wie beim vergeblichen Warten auf indi- Dora, 46, ist Chef des Jagdbomber- loten mit dem Schleudersitz über sche Truppen in Somalia vor der Frage: geschwaders 32 in Lechfeld, zu serbischem Gebiet aussteigen muß, „Was machen die Soldaten da eigentlich dem die ECR-Tornados gehören, werden genau die gleichen Spezial- den ganzen Tag?“ die die Nato für einen Einsatz auf einheiten versuchen, ihn da rauszu- Kinkel trug die Zweifel sogar ins Kabi- dem Balkan anfordert. holen. Das schafft Sicherheit. nett: „Was ist, wenn das Lazarett gar SPIEGEL: Haben Sie von den Ameri- nicht gebraucht wird?“ Das sei doch „das SPIEGEL: In dieser Woche will der kanern Informationen über die Ret- Beste, was passieren kann, wenn ein Bundestag über einen Tornado-Ein- tung O’Gradys erhalten? Krankenhaus nicht gebraucht wird“, be- satz beschließen. Fürchten Ihre Pilo- Dora: Das ist gar nicht nötig. Bislang ruhigte der Kanzler seinen Vize: „Dann ten den Tag der Entscheidung? unterscheidet sich die Ausrüstung läuft doch alles gut.“ Dora: Im Gegenteil. Es wird Erleich- noch in Details, doch das wird bis zu Auch bei den Tornado-Jets setzt Kohl terung herrschen, weil klare Ver- einem Einsatz angeglichen. Unseren auf die Hoffnung, daß sie nie fliegen müs- hältnisse geschaffen werden. Bei den Männern wurde vor allem klar, daß sen. Ein eng begrenzter Auftrag soll da- Besatzungen wuchs schon die Unge- wir unser Überlebenstraining nicht bei helfen: An der täglichen Überwa- duld. Sie werden gelassener, wenn sie wissen, wie sie dran sind. Die Crews sind davon überzeugt, daß sie für eine wichtige Sache einstehen. SPIEGEL: Die Tornados sollen zwar eingesetzt werden, aber keine Rake- ten auf serbische Stellungen abschie- ßen dürfen. Recht so? Dora: Wie soll man den Männern klarmachen, daß sie in ein Krisenge- biet müssen, ohne sich verteidigen zu dürfen? So wird Unsicherheit ge- schaffen, die die Crews unnötig ge- fährdet. Die Männer müssen wissen, was sie tun dürfen und was nicht. Nichts ist gefährlicher, als wenn die Crews erst nachfragen müssen. SPIEGEL: Wie sollte die Einsatz-Ent- scheidung denn ausfallen? Dora: Ich wünsche mir, daß ein Kampfeinsatz der ECR-Tornados an die Bedingung gebunden ist, die HAPERON / LASA Schnelle Eingreiftruppe zu unter-

stützen, die ja nur von Fall zu Fall FOTOS: L. C eingesetzt wird. Darauf ließen sich Kommodore Dora (r.), Tornado-Teams: „Bringt es der Mann oder nicht?“ dann alle weiteren Vorbereitungen in Piacenza aufbauen. zum Spaß alle drei Jahre wiederho- chung des Flugverbots über Bosnien SPIEGEL: Das ist der erste Ernstfall len. Vorbildlich war, wie die Ameri- (Nato-Operation „Deny Flight“) dürfen für Sie und Ihre Piloten. Wie werden kaner dichtgehalten haben. Das hat sie ebensowenig teilnehmen wie an Ver- Sie damit fertig? den Mann bis zu seiner Rettung ge- geltungsschlägen im Auftrag der Unpro- Dora: Natürlich kann ich nicht, wie schützt. Ich bin mir nicht sicher, ob for gegen die Kriegsparteien. in Friedenszeiten auf alle Befindlich- das in Deutschland funktioniert hät- Die ECR-Tornados, die Flugabwehr- keiten Rücksicht nehmen. Ich werde te. Ich befürchte, daß ein laufender batterien elektronisch stören und mit Ra- viele harte Entscheidungen treffen Einsatz hier zerredet wird. keten zerstören können, dürfen nur star- müssen, nach ganz klaren Kriterien: SPIEGEL: Weshalb haben Sie Sand- ten, wenn nach einem Angriff auf Blau- Bringt es der Mann, oder bringt er es säcke vor dem Kasernentor auf- helme die Eingreiftruppe zu Hilfe eilt. nicht? Das ist mein Job. schichten lassen? Dann sollen sie die Kampfjets anderer SPIEGEL: Der Abschuß des US-Pilo- Dora: Wir müssen mit allem rech- Länder absichern, die mit ihren Bordwaf- ten Scott O’Grady führte Ihren nen. Ein Reporter hat neulich mit fen Gegner der Eingreiftruppe am Boden Männern vor drei Wochen drastisch faustdicken Lügen versucht, einen bekämpfen. Uno, Nato und ein eigens in die Risiken vor Augen. der Tornado-Piloten, die wir aus gu- die Nato-Kommandozentrale im italieni- Dora: Der Fall O’Grady hat den Be- ten Gründen anonym halten, ausfin- schen Vicenza entsandter deutscher Ge- satzungen Mut gemacht. Jedem ist dig zu machen. Wir haben den Si- neral müssen vorher zustimmen. klargeworden, daß man immer eine cherheitspegel vorsorglich hochge- Dieses Szenario soll den Einsatz höchst Chance hat. Wenn einer unserer Pi- fahren. unwahrscheinlich werden lassen. Aber wenn siedenn fliegen, sind die Deutschen einem besonderen Risiko ausgesetzt. Die

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Verwandte, Parteifreunde und Spezis CSU hält, hat sich im CSU-Reich einiges ver- ändert, vor allem in der Justiz. Zu Zeiten des Ministerpräsidenten Strauß sahen die Staatsanwälte im Frei- So ’ne staat meist tatenlos zu, wenn irgendwo im Dunstkreis des Landesherrn Affären hochkochten. Die bayerische Justiz Nummer stand bundesweit im Ruch, besonders CSU-nah zu sein. Heute stöhnen die Er- Die Parteifreunde in der CSU be- mittler unter der Last der CSU-Bereini- kämpfen sich neuerdings mit Hilfe gungsverfahren. Reihenweise überziehen Staatsanwäl- der Justiz. te prominente Christsoziale und deren Freunderl mit Ermittlungen und Ver- er Rechtsanwalt Max Strauß rea- fahren. In dieser Woche läuft der erste gierte unwirsch, als ihn seine Se- große Prozeß gegen einen aus dem Kreis Dkretärin mitten aus der Franzö- der früheren Strauß-Camarilla an: Jo- sischstunde im Münchner Berlitz-Insti- hannes Zwick, 39, Sohn des ehemaligen tut holte. Dringendst, hörte er, solle er Strauß-Duzfreundes und -Zechkumpans ins Büro kommen. Eduard Zwick, 73, wird der Steuerhin- In der Kanzlei standen vier Vertreter terziehung in einem besonders schweren der Staatsanwaltschaft – und nicht, um Fall bezichtigt. Er soll das Vermögen Minister Rühe dem Sohn des früheren bayerischen Mi- seiner Eltern falsch angegeben haben, „Befristung macht keinen Sinn“ nisterpräsidenten Franz Josef Strauß ih- um zu erreichen, daß die bayerische re Aufwartung zu machen. Die Herren Staatsregierung 71 Millionen väterlicher Tornados würden in vorderster Front im zeigten einen Durchsuchungsbeschluß Steuerschuld streicht. Tiefflug eingesetzt und damit zum leich- und nahmen fünf Aktenordner voller Eingeleitet hat die Wende der Sau- ten Ziel für infrarot-gelenkte Billigrake- Kassenbelege mit. Dann informierten bermann der CSU, Edmund Stoiber. ten oder Fla-Kanonen der Serben. Die sie die Presse: Bei Strauß, dem Kassie- Die Zwick-Affäre brach 1993 auf, als kann ein ECR-Tornado, so Naumann, rer des Münchner CSU-Ortsvereins Per- Stoiber gerade den bayerischen Mini- „nicht ausmachen“. lacher Forst, sei wegen des Verdachts sterpräsidenten Max Streibel gekippt Uno-Offiziere mit Bosnien-Erfahrung der Unterschlagung von Parteigeldern hatte und sich anschickte, den Amigo- meinen ohnehin, daß die deutschen Tor- durch einen Parteifreund gefahndet Sumpf trockenzulegen. Aus Freund nados für den vorgesehenen Einsatz nur worden. ward Feind, Zwick junior wanderte für bedingt tauglich sind (siehe Kasten Seite Das wäre in der Ära von Strauß se- vier Monate in Untersuchungshaft. 23). Sie wenden sich zudem gegen Luft- nior nicht passiert. Sohn Max schäumte: Nun, nach über einem Jahr Ermitt- schläge, weil sie nur eskalierend wirken „So ’ne Nummer hätte sich ein Staatsan- lungen, hat die Staatsanwaltschaft eine und die eigenen Truppen gefährden. walt zu Zeiten meines Vaters dreimal Anklage vorgelegt, die vom großen Ei- Gleichwohl drängten Abgeordnete überlegt.“ Seit der Regent Franz Josef fer der Justiz zeugt. Das Gericht rügte, von Union und FDP vorige Woche, die nicht mehr die schützende Hand über der Zwick zu Last gelegte kriminelle deutschen Kampfflieger sollten ohne Sachverhalt werde „gerade noch genü- Auflagen indie „Deny Flight“-Operation * In seinem Büro, mit Büste seines Vaters. gend“ eingegrenzt, und ließ die Anklage der Nato eingegliedert werden. Kohl und Rühe lehnten ab. Sieglaubten, der einge- schränkte Auftrag werde esden Sozialde- mokraten erleichtern, diese Woche dem Balkan-Einsatz zuzustimmen. Kohl gab die Devise aus, heftig um die Sozialdemokraten zu werben. Er wünscht eine breite Basis im Parlament – aus Furcht, wenn Zinksärge vom Balkan kämen, könnte rasch die Stimmung kip- pen. Mit SPD und Grünen, so Kohls Or- der, sollten Rühe und Kinkel „lieber ein Wort mehr als zuwenig reden“. Nach bitteren internen Konflikten lenkte eine große Mehrheit von SPD und Grünen vorige Woche auf strikten Anti- Regierungskurs ein. Nicht einmal eine Handvoll Grüner, meint Fischer, werde der Regierungsvorlage zustimmen. Beim SPD-Chef holte sich Kohl am Donnerstag nachmittag persönlich eine Abfuhr. Als der Kanzler sich demonstra- tiv im Bundestagsrestaurant mit Schar- ping traf, blieb der beim Nein. Die Ent- sendung der Tornados sei „indiskuta-

bel“, erklärte Scharping brüsk: „Dem ARGUM werden wir nicht zustimmen.“ Y Strauß-Sohn Max*: Besuch von Staatsanwälten

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nur „mit gewissen Beden- Seit fünf Jahren wußten ken“ zu. bayerische Behörden von Die neue Hygiene dem Skandal, doch erst ei- kommt für manchen in nen Tag nachdem der Mi- Bayern zu spät. Rudolf Jä- nisterpräsident informiert ger, bis Herbst 1994 Chef worden war, stand die Ge- des Passauer Finanzamtes, schichte im Merkur. versuchte jahrelang, den Prompt schaltete sich die Zwick-Clan zur Rechen- Staatsanwaltschaft ein. Sie schaft zu ziehen, der Ein- ermittelt gegen Bletscha- satz verhagelte ihm die cher wegen Veruntreuung. Karriere. Der Beamte, Im Mai trat der CSU-Politi- lange als Kandidat für die ker als Chef der Stadtrats- Oberfinanzdirektion in fraktion zurück, verlor sei- München gehandelt, kam nen Posten im CSU-Vor- beruflich plötzlich nicht stand und auch sein Rats- mehr weiter. „Ich war“, mandat. Der Machtkampf erinnert er sich, „offenbar der Parteifreunde hat be- nicht sensibel genug für die gonnen. Derzeit bekriegen Wünsche von oben.“ sich der frühere CSU-Bun- Ein paar pingelige Be- destagsabgeordnete und amte waren jahrzehntelang Freund von Strauß sen., die einzigen, die gegen den , und Strauß- Filz im Strauß-Staat aufbe- Sohn Max. gehrten. Die Justiz schaute Strauß-Spezis Eduard, Johannes Zwick: Vom Freund zum Feind Anonyme Bürger haben meist tatenlos zu. Als vor Max Strauß und seinen Par- 13 Jahren die Parteispendenaffäre auf- mahnt: „Achten Sie darauf, daß der Miß- teifreund Niklas bei der Staatsanwalt- kam, verliefen alle nach München abge- brauch der Rechtspflege für politische schaft angezeigt, sie hätten mit der Par- gebenen Verfahren im Sand. Innerhalb Zwecke nicht überhandnimmt.“ teikasse ihres Ortsverbandes nach Gut- von Monaten stellte die Staatsanwalt- Ein hoher Münchner Jurist: „Die ma- dünken gewirtschaftet. Niklas soll für sei- schaft über 20 Verfahren ein. chen ihre Querelen nur noch über uns ne Werbeagentur 160 000 Mark vom Soviel Verständnis sprach sich herum. aus.“ Ortsverein Perlacher Forst erhalten ha- Bei der Commerzbank in Frankfurt er- Typisch dafür ist der Fall des Gerhard ben. In der Kasse fehlten 1992 genau beuteten die Fahnder einen Vermerk, Bletschacher. Der Vorsitzende der 236 048,26 Mark. der die Verhältnisse auf den Punkt brach- Münchner Stadtratsfraktion wurde in ei- Erich Riedl, vom Münchner CSU- te. „Die Nachbarbanken“, heißt es darin, ner taktisch eindrucksvollen Aktion kur- Chef Peter Gauweiler beauftragt, Ord- „zahlen über Filiale München, weil sie zerhand abserviert. nung zu schaffen, hatte schon 1993 ver- der Meinung sind, daß im Falle der Steu- Der Münchner Merkur, Stoibers Haus- geblich an Niklas appelliert: „Das ist eine erprüfung die Spenden nur einem der blatt, brachte einen Bericht über Blet- Schande! Bitte bringe alle Punkte heute CDU/CSU freundlich gesinnten Steuer- schachers Verfehlung: Der Vorsitzende noch in Ordnung. Das ist doch wirklich beamten bekanntwerden.“ des Vereins „Stille Hilfe Südtirol“ hatte nicht mehr zu vertreten.“ Doch seit der Stoiber-Wende hagelt es 4,8 Millionen Mark aus Spendengeldern Im Februar dieses Jahres forderte Verfahren gegen alte CSU-Größen. Al- abgezweigt, um seine marode Käse- Riedl den Kassierer Strauß ultimativ auf, lein in München laufenderzeit Ermittlun- schachtelfirma über Wasser zu halten. das Minus endlich glaubhaft zu erklären. gen gegen drei CSU-Politiker. Ein Be- Doch beteuerten Niklas und Strauß le- trugsverfahren ist bereits abgeschlossen: diglich, es sei keinerlei Vermögensscha- Der CSU-Landtagsabgeordnete Otto den entstanden, alles sei „völlig in Ord- Lerchenmüller wurde in der ersten In- nung“. „Fast vier Jahre“, klagte der stanz zu einem Jahr auf Bewährung ver- CSU-Landesschatzmeister Ende April in urteilt. Lerchenmüller wurde vorgewor- einem Brief an den Chef der Wirtschafts- fen, als Münchner Stadtrat fast 200 000 prüfungsgesellschaft Control Treuhand, Mark an Entschädigungszahlungen von Erwein von Fürstenberg, sei „die Lan- der Stadt erschwindelt zu haben. desleitung . . . hinter einer geordneten Gegen den CSU-Stadtrat Curt Niklas Buchführung her“. wird wegen Unterschlagung von Spen- Am Montag letzter Woche triumphier- dengeldern ermittelt, gegen den Chef der te zunächst Strauß junior über Riedl – er Jungen Union, Joachim Haedke, wegen besiegte ihn haushoch bei der Wahl zum Auktionsbetrugs. Der frühere Münchner CSU-Kreisvorsitzenden. CSU-Oberbürgermeister Erich Kiesl be- Für Riedl die Rache der Basis, weil er kommt im Herbst seinen Prozeß wegen sich für saubere Verhältnisse eingesetzt des Verdachts der Falschaussage und des hat: „Solche Praktiken habe ich noch nie Betrugs. Vorbei die Zeiten, als der zu- erlebt. Ich bin als Sonderprüfer der Orts- ständige Staatsanwalt Hans-Werner vereinskasse nichts als hinters Licht Wolf über Nacht eine Beförderung er- geführt worden.“ Und dann ein Stoß- hielt und von sofort an sein Zimmer nicht seufzer: „Wie ich Franz Josef Strauß ge- mehr betreten durfte, in dem er die kannt habe, der hätte hier dazwischenge- Ermittlungsakten über Kiesl verwahr- funkt.“

te. J. OBERHEIDE / ARGUM Riedl muß nicht Franz Josef selig anru- Ausgerechnet Kiesl hat den Justizmini- CSU-Stadtrat Niklas fen. Neuerdings reicht ein Anruf bei der ster Hermann Leeb jetzt öffentlich abge- Ruf nach geordneter Buchführung Staatsanwaltschaft. Y

26 DER SPIEGEL 26/1995 Werbeseite

Werbeseite .

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Minister Dummes Geplapper Minister Rexrodt schliddert von ei- ner Peinlichkeit zur nächsten: Der rheinland-pfälzische Liberale Brü- derle steht als Ablösung bereit.

er schmucke Mann auf dem Podi- um ist erkennbar auf dem Öko- DTrip. Er schwärmt von Umwelt- steuern und wirbt für Klimaschutz, er will möglichst schnell in alternative Energiequellen investieren und geißelt

die Pannen des Ölmultis Shell beim F. DARCHINGER Streit um die Nordsee-Ölplattform Minister Rexrodt: „Ich mache hier meine eigene Nummer“ Brent Spar: „Hier ist schlechte Politik gemacht worden.“ Solchen Spott muß Rexrodt in letzter Der Jurist profiliert sich als Anti- Fast 200 Mineralöl-Manager staunen. Zeit häufiger ertragen. Seit dem Main- Rexrodt-Typ: Der Pfälzer mit dem Der da vorn regiert in Bonn, wenn auch zer Parteitag ist der Bonner Wirtschafts- Bernhardinergesicht, der als Teenager nur ein bißchen. Deshalb sind sie zum minister endgültig zum Wackelminister Unterwäsche in Vaters Geschäft ver- Vortrag ins Bonner Maritim-Hotel ge- degradiert. Bei Parteifreunden, aber kaufte, ist schon äußerlich ein Gegen- kommen, doch so haben sie sich den li- auch im eigenen Haus gilt er als Ressort- modell zum zuweilen blasiert wirken- beralen Wirtschaftsminister Günter chef auf Abruf. Kaum jemand rechnet den Bonner Minister mit dem Dress- Rexrodt nicht vorgestellt. Der erzählte damit, daß er ein Scheitern der Libera- man-Image. Gerade bei der für die Li- den Öllobbyisten vergangenen Don- len bei der Berlin-Wahl im Oktober po- beralen wichtigen Mittelständler-Klien- nerstag genau das, was sie nicht hören litisch überlebt. tel kommt der Pfälzer besser an. wollten. Ein Nachfolger steht schon bereit. Als Brüderle am vergangenen Don- Schließlich verlegt sich ein Zuhörer Rainer Brüderle, seit acht Jahren Wirt- nerstag Geburtstag feierte, nahmen die auf Sarkasmus: „Herr Minister“ fragt schaftsminister in Rheinland-Pfalz, will Schmeicheleien der Parteioberen kein er, „glauben Sie, daß Greenpeace Ihnen etwas werden in der Partei, die fast Ende. „Beständigkeit, Ehrlichkeit, In- genehmigt, was Sie für uns Unterneh- nichts mehr ist. Das Rexrodt-Amt traut tegrationskraft“ seien Brüderles Stär- mer planen?“ er sich allemal zu. ken, schwärmte der eigens nach Mainz gereiste Parteichef . Vorgänger Klaus Kinkel sekundierte: „Auf Brüderle ist Verlaß.“ Das mögen viele FDP-Politiker von Rexrodt nicht mehr behaupten. Das neue Umwelt-Engagement des Mini- sters ist vielen Wirtschaftsliberalen ebenso suspekt wie seine Strategiezir- kel mit Unternehmern und Gewerk- schaftern. Solche Klüngelrunden sind für Ordoliberale alter Prägung tabu. Beim Streit um die richtige Berlin- Förderung entschied sich Rexrodt ge- gen eherne FDP-Prinzipien und für platte Klientel-Politik. Ausgerechnet der Chef-Deregulierer der Nation („Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt“) stritt wegen der anstehenden Berlin-Wahl plötzlich für neue Subven- tionen. Im Wirtschaftsausschuß hatte Rexrodt anschließend keinen einzigen Liberalen, sondern bloß die PDS auf seiner Seite. Viele Chancen, sein Image aufzu- päppeln, ließ Rexrodt ungenutzt ver- streichen. Beim Modethema Multime-

M. DARCHINGER dia stiehlt ihm Forschungsminister Jür- FDP-Hoffnungsträger Brüderle: „Auf den ist Verlaß“ gen Rüttgers (CDU) die Schau, das

28 DER SPIEGEL 26/1995 KOMMENTAR

Zukunftsthema Ökologie hat er nach eigenem Bekennen „lange nicht genug beackert“. Daß sein Ministerium seit Monaten einen Mittelstandsbeauftrag- Wahlen? Aber ja doch ten hat, ist keinem aufgefallen. Bei dem Versuch, sich Freunde zu RUDOLF AUGSTEIN machen, gerät der Freidemokrat zu- weilen ins Schlingern. Vergangene Wo- che schloß er sich bei einer Pressekon- s war immer die gute alte Tra- wahlen 1965 gültig werden zu lassen ferenz mit FDP-General Guido We- dition der beiden christlichen (ob er das wirklich gewollt hat? Das sterwelle spontan dessen Erklärung ESchwesterparteien, vom Grün- weiß man bei so einem Mann nie). zum Boykott des Ölmultis Shell an. dervater stetig an- Das Ding scheiterte auf beiden Sei- Drei Stunden später orderte sein Mi- gepeilt, demokratische Grundsätze ten. Nun kann man das Wahlrecht nisterium beim Shell-Konzern Informa- über Bord zu werfen, wenn es um das prinzipiell ändern, wenn man genü- tionsmaterial über dessen umstrittene Wahlrecht für die Parteien ging und gend Unterstützung hat. Man kann es Ölplattform Brent Spar. Genüßlich um bares nacktes Geld. Bisheute sind gewiß nicht, wenn man es schon für hämten Shell-Vertreter anschließend ja die Methoden von CDU und CSU, die demnächst anstehende Wahl und über den ungeschickten Bonner Boy- ihr Geld einzutreiben, derart, daß nur mit Blick auf eine lästige Gruppe kotteur. auch der Privatmann sich ermuntert ändern will, hier, wie jeder ahnen Während der Energiekonsens-Ge- fühlen muß, dem Fiskus Geld vorzu- kann, mit Blick auf die PDS. spräche schlug Rexrodt zum Entsetzen enthalten, wo er nur kann, der – aus 1994 hatte sie 4,4 Prozent der seiner eigenen Beamten lässig vor, dem Griechischen – Idiot. Zweitstimmen, also zuwenig, um Atommüll könne auch im Weltraum Mit dem Geld werden die Parteien über die Fünf-Prozent-Hürde zu ge- entsorgt werden. Auf dem Brüsseler immer Erfolg haben, weil sie da etwas langen, und mit vier Direktmandaten G7-Gipfel zur Zukunft der Informati- zu bieten haben. Mit dem Wahlrecht eines über den Durst. Christliche onsgesellschaft sinnierte er über ISDN- aber hat es bisher, obwohl es mit ein- Nutzanwendung: Man muß die Di- Kabel, die es gar nicht gibt. facher Mehrheit geändert werden rektmandate von drei auf fünf Als „Leichtgewicht“ bezeichnet ihn kann, noch nie geklappt, jeden- erhöhen. Praktisches Christentum inzwischen die wirtschaftsnahe Frank- falls nicht im Bundestag. Das von kann nie schaden. furter Allgemeine. Rexrodts Amtsvor- Adenauer 1956 geplante sogenann- Es wird sich noch erweisen, ob die gänger Jürgen Möllemann hält seinen te „Grabenwahlsystem“, dazu be- FDP bei diesem schändlichen Vorha- Nachfolger gar für „intellektuell stimmt, die FDP zu halbieren, schei- ben auch so praktisch denkt. Sie dumm“. terte, ließ aber trotzdem die Düssel- könnte ja vorschlagen: Lassen wir es Für alle Pannen kennt Rexrodt dorfer CDU aus der Regierung in die bei den drei Mandaten, aber dafür Schuldige, nur eigene Fehler mag er Opposition kippen. muß die Hürde von fünf auf vier Pro- kaum erkennen. Beim Ladenschluß- Bisheute hat man sich das gemerkt, zent der Stimmen gesenkt werden. Thema, das er noch vor der Sommer- aber eben auch nur bis heute. Neuer- Nun, im Ernst, ich glaube nicht, pause wieder aufgreifen will, habe „die dings will man das Wahlrecht für die daß die FDP sich derart blamieren Basis kalte Füße gekriegt“, von Frakti- Wahl des nächsten Bundestags 1998 will. Es steht ja schon jetzt so ziemlich onschef Hermann Otto Solms sei er dergestalt ändern, daß sich die Zahl fest, daß auch dieser „demokratie- „immer wieder zurückgepfiffen wor- der Direktmandate, die nötig ist, um feindliche Manipulationsversuch“ den“. eine Partei, die weniger als fünf Pro- () scheitern wird. Für eine Auf Ex-Parteichef Kinkel ist er zent der Stimmen erreicht hat, den- Partei, die rechtens gewählt worden „immer noch sauer“, weil der nach der noch in den Bundestag zu bringen, ist und die durch Manipula- Bundestagswahl Gerüchte über ein an- von drei auf fünf erhöht. tion ausgeschaltet werden soll, wird gebliches Auswechseln Rexrodts „so Nun mag sich mancher fragen, wie- es Sympathiekundgebungen geben, lange hat laufenlassen“. Hilflos wettert so denn überhaupt diese drei Direkt- wenn nicht eine Kampagne. Was sie er gegen „Nulpen“ und „Latrinenge- mandate, eigentlich systemfremd, ins sonst vielleicht nicht schaffen würde, rüchte“ aus den eigenen Reihen, die er Wahlrecht geraten sind. Schon das die Fünf-Prozent-Hürde, wird sie schlicht „zum Kotzen“ findet. war eine Adenauersche Manipulati- dann ohne und mit Gysi schaffen. Wohlmeinende in der Fraktion sind on. Er wollte eine Landespartei, die Im übrigen ist doch klar, daß eine der Ansicht, Rexrodt habe ein Bonner er für seine Koalition gut brauchen bisher bei 4,4 Prozent stehende Par- Grundprinzip nicht begriffen: Ohne konnte, in den Bundestag hieven, die tei, fiele sie denn aus dem Bundestag Parteiarbeit sei erfolgreiche Facharbeit Deutsche Partei desHeinrichHellwe- heraus, ihre Mandate auf die beiden in der Politik nicht möglich. Justizmini- geund desHans-Christoph Seebohm, bisherigen Lager der Koalition und sterin Sabine Leutheusser-Schnarren- Stammsitz Niedersachsen. der anderen, der Rot-Grün-Parteien berger etwa habe vor dem Parteitag Eine glatte Manipulation des Alten verteilen würde. Den Vorteil in der fleißig Papiere geschrieben, Truppen also, die aber von Erich Ollenhauers Tat hätte dann die Koalition, sollte formiert und so ihre Position gefestigt. SPD gar nicht erst wahrgenommen die FDP die Hürde nehmen. Der Quereinsteiger Rexrodt („Ich wurde. Die Partei wurde damals be- Da sie auf fünf Direktmandate oh- mach’ hier meine eigene Nummer“) stimmt nicht besser geführt als heute. nehin nicht hoffen kann, nicht einmal lasse sich nur selten blicken. Aber sogar , dem auf ein einziges, wäre sie allerdings Diesen Fehler hat der Minister mitt- jafastjedes ihm aus Moskaubekannte erledigt, wollte sie durch Manipulati- lerweile selbst erkannt – die passende Mittel recht war, um die SPD an die on ihre Teilhabe an der Macht und ih- Erklärung hat er sich auch zurecht- Macht zu bringen, wagte den Gedan- re Existenz behaupten. Der schönste gelegt. Seilschaften seien ihm nun ken nicht, das von ihm der Union an- Witz wäre dann: FDP 4,9 Prozent, mal wesensfremd, glaubt der Lambs- gebotene reine Mehrheitswahlrecht PDS 5,1 Prozent. dorff-Schützling, „weil ich immer schon für die nächsten Bundestags- Ergebnis: Kohl weg. überall durch Leistung reingekommen bin“. Y

DER SPIEGEL 26/1995 29 . CHRISTO U. JEANNE-CLAUDE / FOTO W. VOLZ / BILDERBERG Verhüllungsarbeiten am Reichstag: „Wem¯s nicht jefällt, der kann mit sein¯ Arsch zu Hause bleiben“

Hauptstadt „Wieder mal ’n Spektakel“ SPIEGEL-Reporter Walter Mayr über das Friedensfest am verhüllten Reichstag

in Teenager kreuzt radelnd bei Rot Bulgarien geborene Künstler Christo Rentner entfalten ihre Klappstühle und die Tiergartenstraße. Das bleibt sagt – verhüllt. Eine silbrig schimmern- beobachten das Kommen und Gehen. Enicht unbemerkt. Das Volksemp- de Außenhaut hat er dem alten Klotz Fremde werden höflich behandelt, so- finden, verkörpert durch einen Berliner verpassen lassen, mit starken Seilen lange sie zu erkennen geben, daß sie BMW-Piloten, der vor der Ampel war- rundum vertäut. „Kohlroulade“ sagen dem Projekt wohlwollen. tet, rächt den Regelverstoß. Der Mann die Berliner. „Anmut sparet nicht noch Mühe“, reißt die Fahrertür auf, springt auf die Der Namensgeber und Kanzler war heißt es im Text von Brechts Kinder- Sünderin zu und brüllt ihr eine Genital- gegen das Projekt. Viele Berliner, aus hymne, unter dem die Menschen an der Injurie ins Ohr, daß sie vor Scham und Erfahrung empfindlich gegen die Ideen Schreck fast vom Rad fällt. von Menschen osteuropäischer Abstam- Ein schwüler Sommertag, verschärf- mung, reagierten anfangs ähnlich. Der tes Reizklima. Doch die Menschen Nutzwert galt als umstritten, da weder drängt’s hinaus auf die Straßen der die Strahlkraft des fertigen Kunstwerks Hauptstadt. In Kreuzberg bricht ein abzusehen war noch die Kaufkraft der volltrunkener Bauarbeiter samt Schau- Besucher, auch nicht die Anzahl und felbagger durchs Schaufenster einer das Niveau der Bratwurstbuden, Eis- Bäckerei. In Schöneberg haben Jugend- stände und Zapfanlagen. liche einen Hundebesitzer niederge- Jetzt ist alles gerichtet, und seit gut ei- schossen. Eine Mutter springt mit ihrer ner Woche strömt das Volk der Haupt- zwei Monate alten Tochter aus dem stadt zum Woodstock in der Bannmeile. zehnten Stock in den Tod. Am Ufer „Auf deutsch jesagt is’ det wieder mal ’n des Berlin-Spandauer-Schiffahrtskanals Spektakel“, sagt ein Herr aus Treptow, liegt ein toter Türke. Kopfschuß, sagt der Jeans-Shorts trägt und das Gespräch die Polizei. mit Ortsfremden sucht. „Ümma wat los Aus Richtung Reichstag dringen sanf- hier, und wem’s nicht jefällt, der kann te Klänge. Musikfetzen, Lachen, Stim- mit sein’ Arsch zu Hause bleiben.“ mengewirr. Menschen schlendern durch Diesen Rat scheinen die notorischen den Tiergarten. Sie wirken entspannt. Nörgler befolgt zu haben. Rund um den Und doch sind es Berliner. Reichstag herrscht Frieden. Pärchen Zu Tausenden stehen, liegen und sit- turteln, Männer in Glencheck-Sakkos zen sie auf dem Rasen vor dem Reichs- halten auf dem Heimweg vom Büro inne tag, der jetzt „wrapped“ ist, wie der in und starren auf die verfremdete Front, Schaulustige in der Bannmeile: Besinnung

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Ostseite des Reichstags vorbeimarschie- mir kein zweites Projekt vorzustellen ren, „Leidenschaft nicht noch Verstand. vermag, was dies so leisten könnte“. Grüne Daß ein gutes Deutschland blühe, Wie Fast scheint es in diesen Tagen, als ein andres gutes Land.“ könnten Berlins Regierende ihre Freu- Das gute Deutschland hat dieser Tage de schwer in Worte fassen. Die Welt Vollversammlung rund um den Reichs- schaut wieder auf diese Stadt, und Fesch tag. Bürgermeister Das Konzept von Christo und seiner strahlt still im Schatten des bulgari- Frau Jeanne-Claude, mit einem gewalti- schen Meisters, als habe er eine Wild beschuht gen Verfremdungs-Effekt die Menschen card für den Zutritt zur besseren Ge- zum Sehen, Reden und Denken zu brin- sellschaft bekommen. Ein fast konspiratives Abendessen: gen, trägt Früchte. In Grüppchen disku- Kollege Herwig Haase vom Ver- Der BDI traf sich mit echten, leben- tieren sie, andächtig und ernsthaft. Viele kehrsressort wartet in zweiter Reihe, sagen, sie sähen den Bau und seine Ge- bis Formel-1-Weltmeister Michael den Grünen. schichte jetzt bewußter. Das freut den Schumacher seine Powerslides vor dem Künstler und die ausländischen Gäste. Brandenburger Tor beendet hat und ie Sonne scheint, die Luft ist lau. Hätte Christo im Gedenken an Rosa die Herren von Renault dem Senator Doch die Herren von der Großin- Luxemburg ein Stück Landwehrkanal das Wort erteilen. Ddustrie streben aus der Limousi- blutrot gefärbt, es wäre womöglich zu Die Debatte über den künstlerischen ne stracks nach oben in den miefi- ähnlich grünflächendeckender Besin- Wert der „Wrapped Reichstag“-Aktion gen Konferenzraum. Ihre Dinnergäste nung bei Bratwurst und Pilsener gekom- ist karg. Daß es sich um ein „touri- möchten sie lieber nicht, wie sonst men. Die Absolutheit jedenfalls, mit der stisches Spektakel“ handele, das üblich, draußen am Portal empfan- das Werk im Spreebogen von den anwe- als Kunstwerk etwa drei Jahrzehnte gen. senden Einheimischen verteidigt wird, zu spät komme, hat legt den Verdacht nahe, daß es weniger der bürgerlich-konser- um das Objekt als um die erhoffte Auf- vative Berlin-Interpret wertung Berlins im internationalen Ver- Wolf Jobst Siedler be- gleich geht. mängelt. Den von Millionen Besuchern geführ- Über den DDR-ähn- ten Beweis, daß hier ein Spektakel von lichen „Sehnsuchtsan- Weltgeltung stattfindet, läßt man sich fall nach Weltgeltung“ von dahergelaufenen Miesmachern nicht spottet der ehemali- widerlegen. ge Beuys-Sekretär Hei- Der junge Maler, der Tag für Tag Stel- ner Bastian und nennt lung vor dem Reichstag bezieht und auf es eine kleinbürgerli- seiner Weste mitteilt, daß er das Ganze che „Kantinen-Uto- für kein Kunstwerk halte, hat einen pie“, den verhüllten schweren Stand. „Monumentalität“ sei Reichstag zum Vehikel das Gegenteil von Kunst, sagt er sanft. demokratischer „Gene- „Kleinbürgerlich“, rufen die Berliner. sungsvisionen“ erheben

Das ist gemein, aber deutlich. Das zu wollen. G. STOPPEL K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL Loblied, das der Kultursenator auf Chri- Das Volk auf dem Manager Sihler, Grüner Metzger: „Ordentlich angezogen“ sto singt, klingt rätselhafter: Die Verhül- Rasen aber ist anderer lung, sagt Ulrich Roloff-Momin, „fokus- Meinung und plädiert für einen erwei- Wer sind die peinlichen Personen, mit siert den differenzierten Vorgang der terten Kunstbegriff. „Kunst kommt von denen die Spitzen vom Bundesverband Identitätsbildung in einer Weise, wie ich Können“, sagt ein älterer Herr im der Deutschen Industrie (BDI) und er- Freizeithemd, „Besenbinden is ooch lesene Führungskräfte hiesiger Konzer- Kunst.“ ne so ungern gesehen werden wollen? Und dann pfeift Lotti, die Leierka- Shell-Aufsichtsräte? Die Männer von stenfrau mit dem Java-Makaken, noch Daimler-Benz, die in diesem Jahr 13 500 ein Lied. Die Leute geben reichlich. Stellen streichen? Viele tragen das nachtblaue Christo- Viel schlimmer: Die Topmanager Plakat Nummer 7 zu 89 Mark unterm müssen mit grünen Bundestagsabgeord- Arm – es vertrage sich erfahrungsgemäß neten zu Abend essen. am besten mit den heimischen Wänden Während die Funktionäre im ersten und Couch-Garnituren, sagt der Ver- Stock noch konzentriert ihre Diskus- käufer. sionsstrategie durchgehen, ketten die Zusätzlich werden eine Million Textil- Ökoparlamentarier draußen ihre Räder schnipsel, drei Zentimeter im Quadrat, ans Regenrohr. kostenlos unters Volk gestreut. Einer „Die Klischees stimmen schon mal“, pro Familie, sagt die herrische Gattin raunt einer gutgelaunt. Den grünen des Künstlers, „nicht mehr“. Haushaltsfachmann Oswald Metzger Als mikroskopische Überbleibsel ei- dagegen plagt das schlechte Gewissen: ner Illusion werden sie in Schubladen „Wir haben uns gar nicht auf die vorbe- und hinter Bilderrahmen verschwinden reitet.“ – zur Erinnerung an jene Tage, als in- Drei Viertel der 16 Grünen, tröstet nerhalb der Bannmeile des Reichstags sich Metzger, seien „wenigstens ordent- das Volk gefragt war. lich angezogen“. Fraktionsgeschäftsfüh-

D. KONNERTH / LICHTBLICK Und das Volk hatte sich entschlossen, rer Lukas Beckmann ist sogar aus seinen bei Bratwurst und Pilsener zu lächeln. Y Sandalen in ein Paar Halbschuhe ge-

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schlüpft und hat ein fesches schwarzes ken, ihre Interessenvertreter paktierten ausspioniert, erst vorvergangene Woche Hemd übergestreift. plötzlich mit den vermeintlichen Toten- auf einem Hearing der Grünen zur Öko- Soviel Mühe ist fast überflüssig. Seit gräbern der deutschen Wirtschaft. steuer etwa. „Einen ganzen Haufen dem Wahltriumph in Nordrhein-Westfa- Sihler zur Seite stehen Michael Dem- Leute, die dem Marxismus nahestehen“, len will ohnehin jeder Manager mit den mer (Oetker Holding), Jürgen Philipp hat er da entdeckt. Grünen reden. Daimler-Benz-Chef Jür- (Thyssen), Lothar Freitag (Philipp Beweist denn nicht die Geschichte, gen Schrempp traf sich am 1. Juni insge- Holzmann), Hans Joachim Langmann wohin die grünen Pläne führten? Hob- heim mit Fraktionschef Joschka Fischer; (Merck), Klaus Sattler (Nestle´), Man- by-Historiker Willemsen: „Fast alle Re- Parteisprecherin Krista Sager wird vom fred Sappok (Siempelkamp Gießerei) volutionen haben sich an Steuererhö- Bund Junger Unternehmer hofiert und und Wolf-Dieter Zumpfort (Preussag), hungen entzündet.“ von Holsten-Chef Klaus Asche mit char- assistiert von sieben BDI-Funktionären. wird bei den Grünen manten Briefen bedacht; Metzger be- Mit richtigen Konzernbossen hatten „Vulkan“ genannt. Sie kann ohne jede kommt Besuch von Franz Schoser, dem es bisher die wenigsten Grünen zu tun. Vorwarnung explodieren. Als Willem- Hauptgeschäftsführer des Deutschen In- Sie betrachten die Einladung des BDI sen wieder anhebt, ist es soweit. „Was dustrie- und Handelstages. als Sieg des Guten. Die Manager müs- wollen Sie? Was machen Sie? Nichts. Da kann sich der BDI nicht länger auf sen ähnliche Gedanken hegen: Sie tra- Immer nur nein“, blafft sie den Funktio- seine bequeme Position zurückziehen, gen zur Begrüßung Mienen wie einst die när an. „Wir denken wenigstens nach. die Ökopartei sei eine Art Modegag und sowjetischen Unterhändler beim Abrü- Und Sie? Sie nicht!“ werde sich selbst erledigen. stungsgespräch. Die jüngeren BDI-Vertreter versu- Plötzlich spürt auch der mächtigste Als BDI-Geschäftsführer Arnold Wil- chen, mit einem Zwinkern ein Signal deutsche Wirtschaftsverband den lemsen, der das Wort führt, langatmig stillen Beifalls auszusenden. Sollte sich Zwang, mit den einstigen Schmuddel- den Unterschied zwischen BDI und Ar- der ideologische Konflikt weniger an Kategorien wie links und rechts, son- dern vielmehr am Gegensatz modern/ altmodisch entzünden? Befinden sich da einige Herren auf dem Rückzug, deren Weltbild sich seit den frühen siebziger Jahren kaum mehr verändert hat? Als Sihler sagt, Deutschland könne keine ökologische Insel sein, weil das Export und Arbeitsplätze gefährde, ent- gegnet ihm Beckmann: „Sollen wir uns in der Ökologie am Letzten orientieren? Keine Insel – das ist ein Totschlagargu- ment, das zum Nichtstun auffordert.“ Verblüfft schaut der Henkel-Mann auf. „Touche´“, sagt er und gibt den Punkt verloren. Nach einer Stunde hängen die Sakkos über den Stühlen. Zwar kommt man sich bei Themen wie Atomkraft oder Gen- technologie nicht viel näher. Doch das gemeinsame Lästern über die zerfahre- ne SPD fördert die Sympathie. Zeit für erste Zugeständnisse. Von den Grünen seien wieder weder Wunder

DPA noch Katastrophen zu erwarten, räum- Anti-Atom-Aktivist Fischer (1988)*: „Die Klischees stimmen schon mal“ ten sie ein. Die Gestaltungschancen, ge- steht Realo Metzger, bewegten sich kindern ins Gespräch kommen zu müs- beitgeberverband („Die machen die Ta- auch für seine Partei auf einem „sehr sen – aber möglichst so, daß es keiner rifpolitik“) erläutert, kursiert gegenüber schmalen Korridor“. merkt. bei den Grünen das erste Zettelchen: Die Industrievertreter danken mit Eine Bonner Villa schien unauffällig „Halten die uns für Idioten?“ feinsinnigen Komplimenten. Die Streit- genug für den konspirativen Treff am Wohl eher für Masochisten. Genüß- kultur der jungen Partei sei ja bewun- vorigen Dienstag, der als private Soiree lich zitiert Willemsen aus dem Pro- dernswert und auch die Offenheit. Wel- eines CDU-Parlamentariers getarnt ist. gramm der Partei, wo der Raubbau an che Partei ist schon so mutig, ihre Öko- BDI-Chef Hans-Olaf Henkel ist der Zu- der Natur nach alter Tradition den steuer-Pläne als Entwürfe zu bezeich- sammenkunft ferngeblieben, um keine „Profitinteressen des Großkapitals“ an- nen, an denen noch gearbeitet werden unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. gelastet wird. Programm und Politik müsse, und nicht als letztgültige Wahr- Kühl wird ein neugieriger Fotograf ab- klafften nicht nur bei den Grünen aus- heit? gewiesen. einander, entgegnen die Gäste. Selbst Arnold Willemsen drängt auf Der Anführer der Industriellen, der Vorsichtig merkt die Grüne Margare- Rehabilitation. In Workshops, regt der ehemalige Henkel-Manager Helmut ta Wolf („Genauer hinsehen statt Vor- BDI-Funktionär ganz progressiv an, Sihler, 65, will seine heikle Mission urteile hegen“) an, daß es in Hessen ei- könne man doch künftig heikle Themen nicht an die Öffentlichkeit gezerrt ha- ne durchaus positive Zusammenarbeit gemeinsam besprechen. ben. Sonst kommen konservativere gebe, sogar mit dem Chemiekonzern Verdutzt stimmen die Grünen zu, BDI-Mitglieder noch auf den Gedan- Hoechst. auch wenn Oswald Metzger es nicht Das läßt Willemsen kalt. Er weiß, was recht glauben mag: „Wie verunsichert * Bei einer Demonstration vor dem Atomkraft- er „von denen“ zu halten hat. Sorgsam müssen die sein, wenn sie tatsächlich werk Biblis. hat er den Gegner schließlich vorher von uns lernen wollen.“ Y

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SPD Das Großthema heißt Arbeit Günter Verheugen über Rot-Grün und den Wirklichkeitssinn seiner Partei

er Mut zur Wirklichkeit, den Gunsten zu entscheiden. Hans-Ulrich Klose an der SPD so Ohne eine plausible Macht- Dschmerzlich vermißt, ist noch kei- perspektive kann jedenfalls ne Politik, er ist eine fundamentale Vor- eine Volkspartei Wahlen aussetzung für Politik. Immer und über- nicht gewinnen – als eine all gibt es Verbohrte, die Realitäten notwendige, aber noch nicht wahrnehmen können oder wollen, nicht hinreichende Bedin- in der SPD gewiß nicht mehr als anders- gung. wo. Die SPD hat 1994 eine Die eigentlich politische Frage ist Koalitionsaussage zugun- aber, welche Konsequenzen eine Partei sten einer Zusammenarbeit aus ihren Wahrnehmungen zieht. mit den Grünen noch nicht Nimmt sie die „Wirklichkeit“ hin und als eine plausible Machtper- paßt sich ihr an, oder entwickelt sie Ge- spektive betrachtet. Viel- staltungs- und (wo nötig) Veränderungs- leicht hätte die Festlegung willen? auf SPD/Grüne der Kampa- Ich bin entschiedener Anhänger ge- gne für den Wechsel noch nauer Erforschung der gesellschaftli- mehr Schwung gegeben. chen Wirklichkeit, aber nicht, um wie Aber wahrscheinlich ist mit einem Surfbrett auf den Wellen des auch aus heutiger Sicht, daß Zeitgeistes reiten zu können, sondern, mit der Aussage SPD/Grün um zu wissen, ob meine Ziele auf Zu- der links-ökologische Rand stimmung stoßen und wo sie mit Erwar- der SPD zu den Grünen

tungen und Bedürfnissen, vielleicht so- weggekippt wäre, ohne daß L. CHAPERON / LASA gar mit Lebenshaltungen kollidieren. es zur Kompensation in an- SPD-Stratege Verheugen Daß die Deutschen zwar eine bessere deren Wählergruppen ge- „Herkömmliche Lager müssen überwunden werden“ Umwelt wollen, aber für Strom und reicht hätte. Benzin nicht mehr bezahlen wollen, Wer SPD/Grüne will, darf das Selbst- überwölbenden Rot-Grün-Philosophie bringt mich nicht dazu, das Projekt einer verständnis der SPD als einer integrie- aufgegeben werden. Profil entsteht – ökologischen Steuerreform für wirklich- renden linken Volkspartei nicht für ei- nicht nur, aber auch – in der Auseinan- keitsfremd zu erklären. nen Wechselrahmen halten. Die SPD dersetzung mit anderen. Die SPD ist ihrem Selbstverständnis will und muß mit ihren Antworten auf Die SPD-eigene Interpretation ihrer nach eine Grundwerte-Partei. Darin ist die zentralen politischen Fragen erkenn- sozialen, ökonomischen, ökologischen, sie in der Tat konservativ, denn diese bar bleiben, unverwechselbar. Das eige- rechtsstaatlichen und freiheitlichen Ver- Werte haben sich in mehr als 130 Jahren ne Profil kann nicht zugunsten einer antwortung ist kein Verhandlungsob- Geschichte der deutschen Sozialdemo- jekt. Wer SPD/Grüne will, muß akzep- kratie nicht verändert. Ohne eine solche tieren, daß die SPD eine viel breitere Wertorientierung ist eine Partei ein Mut zur Wirklichkeit Bindungswirkung entfalten muß als die grundsatzloser Haufen, der heute so Grünen. Die SPD muß verläßlich und kann und morgen so. empfahl Hans-Ulrich Klose, 58, sei- klar sein, wo es um Arbeit, Wirtschaft Strukturkonservativ ist eine solche nen sozialdemokratischen Partei- und Geld geht. Nur dann kann sie Haltung nicht, denn sie zielt auf Verän- freunden und warnte vor allzuviel Schichten erreichen, die politisch nicht derung von Zuständen, die als unfrei, Hoffnung auf Rot-Grün. Denn ehe oder nicht mehr unverbrüchlich gebun- als ungerecht und als unsolidarisch gese- die SPD die Machtfrage stellen kön- den sind. hen werden. ne, müsse sie ein überzeugendes In diesem Sinne wird in der SPD-in- Die Verbindung von Freiheit und So- Reformprojekt ausarbeiten, monier- ternen Diskussion die These vom Aus- lidarität ist für mich der zukunftsträchti- te Klose vorige Woche im SPIEGEL. greifen in die „Mitte“ vertreten – zu ge linke Politikansatz und zugleich die „Mir scheint, daß Hans-Ulrich Klose Recht. Daß Mitte ein fragwürdiger Be- Grundlage der modernen Volkspartei von den Ideen, die zur Zeit aus der griff ist, weitgehend auch ein Kampfbe- SPD. Dafür kämpft sie um Mehrheiten. sozialdemokratischen Werkstatt griff, sei dahingestellt. Die zentrale Er- Und dazu braucht man Mehrheiten. kommen, nur weniges wahrgenom- kenntnis ist jedenfalls, daß herkömmli- Damit bin ich bei der Machtfrage an- men hat“, entgegnet ihm Günter che „Lager“ überwunden werden müs- gelangt. In der weichgespülten Politik- Verheugen, 51, seit 1993 Bundes- sen. Sonst wird es keine Mehrheit gegen sprache von heute redet man lieber von geschäftsführer der Partei. Die den Stillstand der deutschen Politik ge- der Mehrheitsfähigkeit, aber weiß Gott, Machtfrage stelle sich für die SPD ben. das ist dasselbe. in günstiger Lage: „In einem neuen Die Mehrheit im Lande wird sogar Die SPD hat nun eine Reihe von ge- Drei-Parteien-System hat die SPD den Stillstand einer als unsicher empfun- scheiterten Anläufen hinter sich, die zwei Optionen, die Union nur eine.“ denen wirtschaftlich-finanziellen Per- Mehrheitsfrage wieder einmal zu ihren spektive vorziehen. Dieser strategische

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Werbeseite Werbeseite

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Ansatz der SPD ist von den Grünen Die heutige sozialdemokratische Pro- (und vielen Journalisten) nicht verstan- grammatik will die Interessengegensätze den oder akzeptiert worden. Deshalb aufheben, die sich aus unterschiedlichen wurde und wird denunziatorisch von Lebenslagen ergeben. Es geht um das Großer Koalition geredet. einigende Band, das die traditionellen Heute haben wir gegenüber dem Wählerschichten der SPD und neu zu Herbst 1994 eine erkennbar andere La- erschließende Wählerschichten zusam- ge. Die Enttabuisierung der Grünen ist menführt. Das ist möglich, wie die SPD sehr schnell fortgeschritten. Die Grünen in ihrer erfolgreichsten Nachkriegsphase selber verändern sich. Und dann ist da schon einmal bewiesen hat, nämlich mit noch die FDP, die sich aus ihrer klassi- den richtigen Themen und der Mei- schen Rolle verabschieden muß. nungsführerschaft bei den richtigen In einem neuen Drei-Parteien-System Themen. ohne FDP hat die SPD zwei Koalitions- Politische Meinungsführerschaft ge- optionen, die Union nur eine. Ich glau- winnt eine Partei nur durch ein faszinie- be übrigens, daß die Chancenlosigkeit rendes Projekt. Die SPD hat längst das von Schwarz-Grün sich aus der ganz ein- Fundament dazu gelegt. Das Zusam- deutigen Orientierung der grünen Wäh- menführen von Ökonomie und Ökolo- lerinnen und Wähler ergibt. Einigen der gie, und damit die Vision einer ökologi- Erotik der Macht erstaunlich schnell schen Industriegesellschaft, ist die große verfallenen grünen Leitfiguren wäre Denkleistung der SPD in den letzten auch anderes zuzutrauen, und auf lange zehn Jahren. Das Projekt ist ihre Erfin- Sicht setzen sie es vielleicht auch durch. dung. Es ergänzt die klassische und un- Aber nicht jetzt. verzichtbare Rolle der SPD als Schutz- Jetzt will Joschka Fischer der SPD macht der sozialen Demokratie. Feuer unterm Hintern machen und wie- Ihre ureigene Domäne, die Sozialpo- derholt gebetsmühlenhaft: Springt end- litik, muß die SPD mit Zähnen und lich. Da wird man aber doch noch ein- Klauen verteidigen. Hier spielt sich, von mal nachdenken dürfen. der Öffentlichkeit fast unbemerkt, die Zunächst die Wirklichkeit: Die Er- wirklich fundamentale Auseinanderset- gebnisse der Bundestagswahl zeigen, zung zwischen dem herrschenden Neo- daß die Stimmen für die SPD und die Liberalismus und der Sozialdemokratie Grünen zusammen noch keine Mehrheit ab. ergeben. Der beschwörende Ruf nach Union und FDP wollen im Schlag- Rot-Grün allein vergrößert das Potenti- schatten der Standort-Debatte eine gi- al noch nicht. Ehe das gelingen kann, gantische Neuverteilung der Sozialbei- müssen beide Parteien überzeugend träge durchsetzen. In der gesetzlichen dartun, daß sie zusammen eine ökono- Krankenversicherung, der Pflegeversi- misch und ökologisch machbare Re- cherung und seit neuestem auch in der formpolitik verwirklichen können und Rentenversicherung sollen die Arbeit- so die verbrauchte Regierung Kohl ab- nehmer die Beitragslast immer stärker lösen wollen. alleine tragen. Kein Zweifel, daß inner- SVEN SIMON Sozial-liberale Partner Scheel, Brandt (1972): „Aufpassen muß man da doch!“

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den – vielleicht noch unvollkommenen – Versuch gemacht, au- ßen- und sicherheits- politische Orientierun- gen in der globalen Umbruchphase zu ent- wickeln. Konfliktprävention statt militärischer Kon- fliktlösung, Stärkung kollektiver Systeme statt Rückfall in natio- nale Interessenpolitik, Integration als gesamt- europäische Aufgabe, faire Chancen für die armen Länder – wir Wochenpost sind gut beraten und deuten unsere eigene halb des Systems Modernisierung erfol- sen in ökologischer Orientierung verän- Geschichte richtig, wenn wir nicht mehr gen muß, aber das System als solches ist dert werden. Auch hier liegen die Inter- unsere militärischen Muskeln spielen das Erfolgsmodell schlechthin. An sei- essen des traditionellen SPD-Wählers lassen. ner für die Zukunft gesicherten Lei- nicht anders als die des sogenannten Wir sind nicht die Weltpolizei. Diese stungsfähigkeit sind alle Beschäftigten neuen Arbeitnehmers. Rolle kommt der Uno zu, und so unvoll- interessiert, ob Systemanalytiker oder Dabei geht die moderne deutsche So- kommen sie sein mag, etwas Besseres ist Stahlarbeiter. zialdemokratie unverkrampft mit dem noch nicht erfunden worden. Das nächste Großthema heißt Ar- Thema Individualisierung um. Sie Es ist nicht wahr, daß irgendwer auf beit. Die SPD hat die Auffassung längst glaubt schon lange nicht mehr, daß nur der Welt darauf wartet, daß Deutsch- hinter sich gelassen, daß Arbeit ledig- gut ist, was vom Staat oder von Großor- land endlich wieder Kriege führt. Die lich ein Problem der gerechten Vertei- ganisationen vorgegeben wird. Sie weiß Uno selber tut es nicht, kann es nicht, lung ist. In einer modernen Industriege- schon lange, daß privat nicht gleichbe- will es nicht. Die Uno kann Frieden er- sellschaft darf die Menge der vorhande- deutend mit ausbeuterisch ist (aber auf- halten und humanitär helfen. Daran nen Arbeit nicht als feste Größe ge- passen muß man da doch!). Die Moder- sollten wir mitwirken, nach Prüfung in dacht werden. Wenn das geschieht, füh- nisierung von Strukturen in Staat und jedem Einzelfall, ob wir wirklich hilf- ren Produktivität und internationaler Gesellschaft ist die notwendige Antwort reich sein können und ob das Ziel der Wettbewerb automatisch zu Arbeits- Aktion politisch überzeugend ist. platzverlusten. Die verteilbare Menge Diese Position ist weder isolationi- Arbeit muß vielmehr wachsen. Und „Niemand wartet darauf, stisch noch ein deutscher Sonderweg. Es dann geht es plötzlich um Bildung und daß Deutschland gibt kein kollektives Sicherheitssystem, Ausbildung, um Forschung, Entwick- das in den Konflikten der Welt Frieden lung, Innovationskraft und Investitions- wieder Kriege führt“ mit Waffengewalt erzwingen kann. Es stärke. gibt auch die humanitäre Intervention Hier setzt auch die Ökologie ein. Ein auf den sich verstärkenden Individuali- durch Nationalstaaten nicht. überzeugendes ökonomisch-ökologi- sierungsschub. In Bosnien stellt Deutschland aus gu- sches Reformprojekt wie „Arbeit und Im Umgang mit den individuellen Be- ten Gründen, die nicht entfallen sind, Umwelt“ der SPD entscheidet über dürfnissen der Menschen hat die SPD keine Truppen. Wenn die Bundesregie- neue Mehrheiten, die alte Verteilungs- eine andere Aufgabe als die „liberal- rung wiederum aus Gründen, die wenig debatte jetzt unter „sozialökologischer“ grüne“ Partei mit ihrer relativ homoge- mit der Lage der Menschen im Krieg, Flagge bringt es nicht. nen Anhängerschaft. Ich wüßte ja auch aber viel mit selbst herbeigeredeten Als klassische Umweltpolitik genügt gerne das Patentrezept, wie beim La- Zwängen zu tun haben, die bisherige Ju- Ökologie sich selbst. In Verbindung mit denschluß die Interessen der berufstäti- goslawien-Politik fundamental ändern der Ökonomie kann sie den Moderni- gen Frau mit denen der Verkäuferin will, muß sie dafür gute Gründe liefern. tätsschub bringen, den wir brauchen. versöhnt werden können. Ich kenne vie- Die sehe ich jedenfalls bisher nicht. An- Um eine breite Akzeptanz in der Be- le, die in ihrem Haushalt gerne einen dere übrigens auch nicht. völkerung zu erreichen, muß man aber vollwertigen, voll sozialversicherten Ar- Es ist nicht neu, daß Parteien gerne auch die richtigen Symbole setzen. beitsplatz schaffen und wie alle anderen auf „Bekenntnisthemen“ herumreiten. Das Tempolimit mag zwar für Teile Arbeitsplätze steuerlich geltend machen Das ist einfach und verschafft ein gutes der Öffentlichkeit als Symbol für ökolo- würden – aber wie erkläre ich das all de- Gefühl. Es führt aber nicht weit. Gefor- gische und ökonomische Glaubwürdig- nen, die nicht so viel verdienen, daß sie dert sind intelligente und attraktive Ant- keit taugen – ein Symbol für ökologi- das könnten, ihren Haushalt also selber worten auf neue, sehr komplexe Fragen. sche und ökonomische Modernität ist es managen müssen und dafür von der Politik ist letztlich doch der Wettbewerb sicherlich nicht. Die effizientere und Steuer nichts bekommen? von Ideen. modernere Antwort auf das Problem Ich halte, obwohl ich gerne Außenpo- Mir scheint, daß Hans-Ulrich Klose der Schadstoffbelastung durch unsere litiker bin, die Außen- und Sicherheits- von den Ideen, die zur Zeit aus der sozi- geliebten vierrädrigen Freunde ist das politik nicht für ein Großthema im be- aldemokratischen Werkstatt kommen, andere, im Idealfall das schadstofffreie schriebenen Sinn. Dennoch weise ich nur weniges wahrgenommen hat. Er ar- Auto. darauf hin, daß es für die SPD auf die- gumentiert entlang sehr traditioneller Ins allgemeine gewendet: Die Rah- sem Feld jedenfalls kein Programmdefi- innerparteilicher Streitlinien, die sich menbedingungen für Produktion müs- zit gibt. Vielmehr hat sie als erste Partei gottlob mehr und mehr auflösen. Y

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Außenpolitik „Brennend nach Aktion“ Haben die Deutschen den Balkankrieg angeheizt? Kanzler Helmut Kohl und sein damaliger Außenminister Hans- Dietrich Genscher fühlten sich 1991 als Friedenstifter, als sie die EG zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens trieben. Nur eines wollte damals keiner von beiden: den Einsatz deutscher Soldaten auf dem Balkan.

Berliner Politikprofessor Heinz-Jürgen Axt in einem jüngst erschienenen Sam- melband der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik fest*. Der „Testfall der neuen Rolle des vereinten Deutschland“ sei mißlungen, so Axt, „weil die Logik der Politik zu stark in- nenpolitisch determiniert war“. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der außenpolitische Experte Wolfgang Wagner, 69, langjähriger Herausgeber der Fachzeitschrift Europa-Archiv. Die Anerkennung Kroatiens und Slowe- niens, so sein Fazit, „hatte den Cha- rakter einer Ersatzhandlung, von der man sich weniger eine rasche Einwir- kung auf die Entwicklung im zerfalle- nen Jugoslawien versprach als vielmehr eine Befriedigung des brennenden Ver- langens nach ,Aktion‘“. Sind der Kanzler und sein Außenmi- nister mit ihrem Parforceritt mitschul- dig am Mißerfolg, den blutigen Kon- flikt um den Zusammenbruch des Viel- völkerstaats Jugoslawien zu beenden? Haben die Deutschen den Balkankrieg unfreiwillig angeheizt? Begonnen hatte der Krieg 1990/1991 mit dem Zerfall der jugoslawischen Staatspartei, des Bundes der Kommu- nisten, und dem Unabhängigkeitsstre-

DPA ben Sloweniens und Kroatiens. Gegen Gegner Milosˇevic´, Genscher (1991 in Belgrad): Kettenreaktion ausgelöst Slowenien setzte der damalige Mini- sterpräsident Ante Markovic´, ein er Bundeskanzler schwelgte in ge- Vorwurf leben, daß sie sich 1991 mit Kroate, die jugoslawische Volksarmee fühlvollen Worten. Er sprach neudeutscher Großspurigkeit zu weit in Marsch, die sich nach zehntägigen Dvom „Schicksal der Menschen“, vorgewagt haben. Was immer die erfolglosen Kämpfen, von sloweni- von der „Einheit des Vaterlandes“ und Deutschen den westlichen Partnern an schen Militärs ausmanövriert, Mitte Ju- deutscher Großmut: „Das, was uns in Doppelmoral oder politischem Versa- li 1991 zurückzog. Bilanz: 64 Tote. einer glücklichen Stunde der Geschich- gen vorwerfen mochten – der von ih- In Kroatien, wo im Unterschied zu te geschenkt wurde, wünschen wir rem Kanzler versprochene Großerfolg Slowenien eine starke serbische Min- auch anderen.“ „für die europäische Politik“ erwies derheit lebt, mischten sich – von Bel- Auf dem Dresdner CDU-Parteitag sich als Fehlschlag. grad gesteuerte – Milizionäre und im Dezember 1991 war sich Helmut „Das ungestüme Vorgehen Bonns“, Tschetniks ein, denen die Volksarmee Kohl sicher, daß er gerade wieder Ge- schreibt etwa der Frankfurter Konflikt- den Weg freischoß. Die Präsidenten schichte geschrieben hatte – als Frie- forscher Bruno Schoch, habe alle Be- Franjo Tudjman und Slobodan Milosˇe- denstifter auf dem Balkan. In der mühungen zunichte gemacht, in gedul- vic´, beide frühere Kommunisten, ver- Nacht zuvor hatten sich die Partner in digen Verhandlungen „das Instrument suchten, den aufbrandenden Nationa- der Europäischen Gemeinschaft dem der Anerkennung zur Einflußnahme zu lismus für ihre jeweils eigenen Interes- Bonner Drängen auf völkerrechtliche nutzen“. Statt dessen habe es durch sen zu nutzen. Anerkennung Kroatiens und Slowe- „Auslösen einer Kettenreaktion erheb- Tudjman hatte nach seinem Wahl- niens gefügt. Der Parteitag reagierte lichen Schaden angerichtet“. sieg 1990 die serbische Minderheit pro- mit stehender Ovation. Deutschland habe „zum erstenmal Das war einmal. Mittlerweile müssen seit 1945 in einer wichtigen außenpoli- * Angelika Volle, Wolfgang Wagner (Hrsg.): „Der Krieg auf dem Balkan – Die Hilflosigkeit der Staa- Kohl und sein damaliger Außenmini- tischen Frage die Gemeinsamkeit mit tenwelt“. Verlag für Internationale Politik, Bonn; ster Hans-Dietrich Genscher mit dem den Partnern aufgegeben“, stellt der 272 Seiten; 29,80 Mark.

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An der Fragwürdig- keit änderte sich auch später nichts, wie Ro- land Schönfeld von der Münchner Südosteuro- pa-Gesellschaft resü- miert: „Da die Nato- Mächte aus wohlerwo- genen Gründen auf den Kraftakt einer militäri- schen Intervention ver- zichteten, gab es keine Alternative zur Fort- setzung der Verhand- lungen mit den Kon- fliktparteien.“ Die Schuldzuwei- sung des damaligen EG-Unterhändlers Lord Peter Carrington geht über den Vorwurf der Gedankenlosigkeit hinaus. Carrington, im September 1991 mit der

AFP Vermittlung zwischen Uno-Einsatz in Sarajevo*: „Bestätigung der Eroberungspolitik“ den jugoslawischen Konfliktparteien be- voziert. Er unterließ anfangs jede ver- Nationalismus die größte Schuld an auftragt, hatte die Anerkennung Kroa- söhnliche Geste, obwohl die kroatischen Krieg und Auflösung im ehemaligen Ju- tiens als Druckmittel in den Verhandlun- Serben durch die Massaker und KZ- goslawien. Schärfer als in Deutschland gen einsetzen wollen, um eine neue jugo- Greuel kroatischer Faschisten im Zwei- wurde in anderen Ländern jedoch die slawische Föderation zu erreichen. Er ten Weltkrieg traumatisiert waren – bis Mitverantwortung des einstigen Tito- wollte die Kroaten durch Lockung und zum Ende der Tito-Zeit ein verbotenes Generals Tudjman registriert. die Serben durch Drohung zum Kompro- Thema. „Die Fairness gebietet es festzustel- miß bewegen. Wegen der Unnachgiebig- Tudjman verlangte bedingungslose len“, erinnert sich der damalige Bonner keit der Kriegsparteien rechnete der Bri- Loyalität zum neuen Staat, die Minder- Jugoslawien-Botschafter Hansjörg Eiff, te mit langwierigem Feilschen, ähnlich heitsrechte der Serben wurden zunächst 62, daß vor Tudjmans Wahlsieg „serbi- den Nahost-Verhandlungen. beschnitten. Als dann auch noch, in der sche Destabilisierungsversuche in Kroa- Als Genscher und Kohl schon gut drei Kluft der einstigen faschistischen Usta- tien nicht eigentlich nachweisbar sind“. Monate später die Anerkennung Slowe- scha, bewaffnete kroatische Schwarz- Erst danach prallten hemden in der Krajina und anderen Ser- die „Bedrohtheitshy- bengebieten auftauchten, errichteten sterien“ (Eiff) der die Serben Straßensperren und versorg- Volksgruppen aufein- ten sich bei Überfällen auf Polizeistatio- ander. Die Krajina- nen mit Waffen. Serben wurden den Milosˇevic´, in Serbien vom Sturz be- Milosˇevic´-Leuten in droht, fand ein Ventil für die verbreitete die Arme getrieben, Unzufriedenheit. Im März 1991 starben die Kroaten mit größ- bei einem serbischen Überfall im kroati- ter Brutalität aus den schen Nationalpark Plitvice zwei Men- Serbengebieten ver- schen – die ersten Opfer des Bürger- trieben. kriegs. Zwei Monate später kamen bei Genscher glaubte, Serbenaufständen mindestens 20 Kroa- dem bedrängten ten um. Tudjman helfen zu Nach der Unabhängigkeitserklärung sollen – und zu kön- Kroatiens im Sommer 1991 ließ die nen. Er sei damals, Volksarmee ihre Zerstörungswut an der seit Herbst 1991, Barockstadt Vukovar und der Adria- schlicht davon ausge- Metropole Dubrovnik aus. Milosˇevic´ gangen, konstatiert

verhinderte womöglich Schlimmeres, Balkanforscher Jens F. DARCHINGER als er im Mai 1992 fast 40 Generäle Reuter vom Münch- Unterhändler Tudjman, Kohl: Gefährliches Zauberwort absetzte, darunter Anhänger eines ner Südost-Institut, totalen Krieges mit Flächenbombarde- „daß ein von allen EG-Staaten diploma- niens und Kroatiens in der EG durchge- ments. tisch anerkannter Staat nicht länger Op- setzt hatten, beschwerte sich Carrington, Gleichwohl trägt Milosˇevic´ mit sei- fer einer Aggression bleiben könne“. er habe nun „überhaupt keinen Hebel“ nem kompromißlosen großserbischen Kohl selbst hatte noch Mitte Septem- mehr. Ein halbes Jahr später gab er auf. ber 1991 gezaudert: Die Anerkennung Schwer wiegt die Beschuldigung, Kohl werde wie ein Zauberwort behandelt, und Genscher hätten mit ihrer ethnisch * Französische Blauhelme Mitte April bei der Ber- gung eines von Heckenschützen schwer verletz- ohne daß die Konsequenzen abzusehen gefärbten Anerkennungspolitik den ten Uno-Soldaten. seien. Krieg im Vielvölkergemisch Bosnien-

DER SPIEGEL 26/1995 39 Herzegowinas mit ausgelöst oder doch fahrlässig in Kauf genommen – trotz eindringlicher Warnungen. Vergebens hatte Präsident Alija Izetbegovic´ die beiden Deutschen im November 1991 in Bonn aufgefordert, von der Aner- kennung Kroatiens und Sloweniens ab- zusehen. Botschafter Eiff hatte, besorgt über die Folgen einer Bonner Kehrtwende, Izetbegovic´ geraten, Genscher aus- drücklich auf den Zusammenhang zwi- schen der Anerkennungspolitik und der Kriegsgefahr für Bosnien hinzuwei- sen. Dies habe Izetbegovic´ „unerklärli- cherweise“ nicht getan, berichtet der damalige Washingtoner Jugoslawien- Botschafter Warren Zimmermann. So habe Genscher annehmen müssen, „Izetbegovic´ habe ihm grünes Licht für die Anerkennung gegeben“. Allerdings war Genscher ohnehin von seinen Fachbeamten gewarnt, die, wie Eiff, die Anerkennungspolitik skeptisch beurteilten. Zudem schaltete sich der damalige Uno-Generalsekretär Pe´rez de Cue´llar ein. In einer der schärfsten Interventio- nen seiner Amtszeit plädierte Pe´rez ge- gen eine „frühzeitige, selektive und un- Genscher verwarf alle Mahnungen und Bedenken

koordinierte Anerkennung“ Slowe- niens und Kroatiens. Sie könne, wie der Generalsekretär am 14. Dezember 1991 in einem Schreiben an Genscher erläuterte, zur „Ausweitung des gegen- wärtigen Konflikts führen“. Auch Lord Carrington sagte voraus, die unabge- stimmte Bonner Anerkennungspolitik werde die „Zündschnur“ des Krieges nach Bosnien-Herzegowina verle- gen. Pe´rez de Cue´llar widersprach damals postwendend einem Brief Genschers vom 13. Dezember 1991, der das Aus- maß der Fehleinschätzung verdeutlicht. „Die Verweigerung der Anerkennung jener Republiken, die ihre Unabhän- gigkeit wünschen“, hatte der Außenmi- nister nach New York geschrieben, „müßte zu weiterer Eskalation der Ge- waltanwendung durch die Volksarmee führen, weil sie darin eine Bestätigung ihrer Eroberungspolitik sehen wür- de.“ Die Deutschen erreichten in der EG ihr Ziel. Alsbald hagelte es Vorwürfe gegen Bonn. Die Serben gingen, wie befürchtet, im März 1992 zum Angriff über, als Moslems und Kroaten – ent- sprechend Genschers Anerkennungs- lehre – die Unabhängigkeit Bosnien- Herzegowinas in einer Volksabstim- mung beschlossen.

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stehenden Verhältnisse, also aus dieser Erkenntnis hätte die Bonner der Serbenherrschaft, durch Regierung „nicht unbedingt folgern Vertreibung der Kroaten hin- müssen, daß es geboten sei, die Unab- aus. hängigkeit der beiden nördlichen Re- Milosˇevic´ forderte die Kraji- publiken des zerstörten Staates anzuer- na-Serben ultimativ zur An- kennen“, erläutert der außenpolitische nahme des Waffenstillstands Experte Wagner. auf. Tudjman verlangte nach- Als einziger namhafter Politiker in träglich bei der Mandatsver- Bonn widerrief , 59, au- längerung im März, die Blau- ßenpolitischer Sprecher der CDU/ helme sollten nicht die in- CSU-Bundestagsfraktion, im Septem- neren, sondern die Außen- ber 1991 die Forderung nach der Aner- grenzen Kroatiens kontrollie- kennung Sloweniens und Kroatiens. ren. Nach Gesprächen mit englischen und In Genschers Memoiren, an französischen Kollegen hatte Lamers denen der Doyen der deut- den Widersinn in Genschers Politik er- schen Außenpolitik derzeit kannt. Der Außenminister wollte die schreibt, wird von seiner be- jugoslawischen Einzelrepubliken in die sonderen Verantwortung für internationale Staatengemeinschaft auf- die Anerkennungspolitik und nehmen, schloß aber für den Kriegsfall deren Scheitern keine Rede eine Teilnahme deutscher Soldaten an

N. NORDMANN sein. Nach Genschers Darstel- einer Friedenstruppe kategorisch Kroatien-Besucher Kinkel (1994 in Mostar) lung hat sich der europäische aus. Beim Staatschef abgeblitzt Geleitzug kontinuierlich auf Lamers ging abrupt auf Gegenkurs. die Aufnahme diplomatischer Er empfahl eine „Selbstkritik, die den Genscher habe die „frühzeitige und Beziehungen mit Kroatien und Slowe- Bundestag und die Unionsfraktion ein- völlig konzeptionslose Anerkennung nien zubewegt. schließt“ – zu spät. Die Deutschen ver- Sloweniens und Kroatiens in der EG Den Vorwurf, den Krieg von Kroa- langten fortan („Serbien in die Knie durchgepaukt“, erklärte vor zwei Jah- tien nach Bosnien-Herzegowina expor- zwingen“, so Kinkel) im Zweifelsfall ren Herbert Okun, Stellvertreter von tiert zu haben, weist Genscher zurück. von den Partnern, wovor sie sich sel- Uno-Unterhändler Cyrus Vance, er sei Die völkerrechtliche Anerkennung der ber scheuten. „mitverantwortlich für die inzwischen Nachbarrepublik hätten vor allem die Das scheint dem früheren Jugosla- erfolgte Ausdehnung des Krieges auf USA und die EG betrieben. Das stimmt wien-Botschafter Horst Grabert der Bosnien“. – doch sie erfolgte exakt nach der Logik heimliche Sinn der damaligen Aner- Der vom früheren US-Präsidenten der von ihm proklamierten Anerken- kennungspolitik gewesen zu sein. Gra- Jimmy Carter im Dezember vermittelte nung „jener Republiken, die ihre Unab- bert sarkastisch: „Bonn war bereit, bis Waffenstillstand zwischen den bosni- hängigkeit wünschen“. zum letzten Franzosen zu kämpfen.“ schen Kriegsparteien blieb Episode. Genscher hatte sicherlich in seiner Und nun steht auch noch bevor, was Mittlerweile wurden alle sechs bosni- Einschätzung recht, daß die Einheit Ju- Kohl und Genscher damals unter allen schen Uno-Schutzzonen von den Ser- goslawiens spätestens nach den Angrif- Umständen vermeiden wollten: der ben mit Granaten angegriffen und fen der Serben auf Vukovar und Du- Einsatz deutscher Soldaten auf dem Blauhelme als Geiseln genommen. brovnik nicht mehr zu retten war. Doch Balkan. Y In Kroatien hat Bonn trotz der Vor- reiterrolle an Einfluß verloren. Nur mit Mühe konnten die Europäer und die USA Tudjman zur Verlängerung des Uno-Mandats über den März hin- aus bewegen, nachdem Genscher- Nachfolger Klaus Kinkel bereits bei ihm abgeblitzt war. Die Bonner Balkanpolitik wirkte un- durchdacht und ungeduldig – ein Rückfall in historische Fehler deut- scher Außenpolitik. Genscher hält sich immerhin zugute, mit der von ihm betriebenen Anerken- nungspolitik seinerzeit den Waffenstill- stand in Kroatien zuwege gebracht zu haben. Tatsächlich hatte der Minister zweimal telefonisch bei Tudjman inter- veniert und auch ein Dankschreiben von Uno-Vermittler Vance erhalten. Doch der Waffenstillstand kam Mit- te Januar 1992 durch einen frommen Betrug von Vance zustande, der den Kroaten den Uno-Schutz ihrer Landes- hoheit über die mehrheitlich von Ser- ben bewohnten Gebiete zugesichert

hatte. Statt dessen lief die Blauhelm- GAMMA / STUDIO X Stationierung auf einen Schutz der be- Serben-Angriff auf Vukovar (1991): Einheit zerstört

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lege Wolfgang Nagel noch ein Denk- Reichsinnenminister Frick ließ Sinti NS-Opfer mal: für die im NS-Staat vernichteten und Roma in Baracken internieren, Roma und Sinti. zwei Jahre später wurden sie zur Ver- Wenn alles gelingt, wird das Bran- nichtung in die KZ Oranienburg und denburger Tor – seit der Heimholung Auschwitz deportiert. Als der NS-Staat Eins an der DDR das nationale Symbol 1945 kapitulierte, waren in ganz Europa schlechthin – von Mahnmalen förmlich rund 500 000 Zigeuner ermordet. umzingelt. Für Rechte aller Couleur Sinti-Vorsitzender Rose erhob Pro- jeder Ecke ein Horrorszenario: Das Zentrum des test gegen den neuen Standort. „In Mar- neuen und alten Regierungsviertels wä- zahn verschwände es aus dem Weichbild Streit um Denkmäler für Nazi-Opfer re von steinernen Schuldbekenntnissen und dem Bewußtsein der Stadt“, kriti- in Berlin: Sollen nur die Juden eins durchsäuert. siert auch der Kultursenator Roloff-Mo- So kurz nach dem Erinnerungsmara- min den CDU-Vorschlag. Für ihn offen- bekommen – oder auch die Zigeuner thon und den vollmundigen Schuldbe- bart diese Idee die „emotionalen Berüh- und die Homosexuellen? kenntnissen zum 50. Jahrestag der Be- rungsängste“, die bis heute gegenüber freiung traut sich noch niemand so den Zigeunern existieren. recht, die NS-Opfer zu brüskieren. Diepgen ist inzwischen wieder von ls die Mauer noch Kommunismus Doch in der Berliner CDU regt sich Marzahn abgekommen. Doch sperrt er und Kapitalismus trennte, mähten immer heftiger Widerstand gegen das sich nach wie vor gegen den Standort im ADDR-Grenzsoldaten hier eifrig ih- vielfältige Gedenken und Mahnen. Regierungsviertel. „Um den Reichstag ren Todesstreifen. Inzwischen wuchern Gegen das Projekt der Journalistin herum“, sagt er, „gibt es schon ein sehr Brennesseln mannshoch auf dem Areal Rosh opponierte lediglich der Landes- starkes Nebeneinander von Gedenkstät- südlich des Brandenburger Tores. Zwi- ausschuß der Jungen Union mit dem ten.“ schen Pariser und Potsdamer Platz fin- Slogan „Kein Juden-Denkmal am Pots- Zuviel Erinnerung? Roloff-Momin det sich eine der letzten Berliner Bra- damer Platz“. Die Jungchristen blieben stört die Anhäufung von Mahnmalen chen. erfolglos. („Stein gewordene Aufklärung“) nicht: Wenn sich allerdings die umtriebige Aussichtsreicher ist der Widerstand „Die Gefahr liegt nicht in der Vielfalt Trauerarbeiterin Lea Rosh durchsetzt, gegen das Zigeuner-Denkmal. Zwar und Vielzahl von Mahnmalen“, urteilt der Kultursenator, „son- dern im Vergessen.“ „Wir wollen nicht die ganze Stadt mit Mahnma- len überziehen“, hält der CDU-Abgeordnete Die- ter Hapel gegen. „Wenn wir eins an jeder Ecke ha- ben, artet das doch in Be- liebigkeit aus.“ Vielen Christdemokra- ten war schon die Errich- tung einer Spiegelwand, die seit Anfang dieses Monats im gutbürgerli- chen Steglitz an die er- mordeten jüdischen Mit- bürger erinnert, zuviel des Guten. Die CDU des einzigen Berliner Be- zirks, in dem die NSDAP 1932 das beste Berliner Ergebnis erzielte, leistete

F. HENSEL gemeinsam mit der FDP Enthüllung der Holocaust-Gedenkwand in Steglitz: Erbitterter Widerstand und den Reps so lange er- bitterten Widerstand ge- wird sich auf dem Ödland bald eine zwei hatte die SPD-Bürgermeisterin Christi- gen die Spiegelwand, bis der SPD-Bau- Fußballfelder große Platte aus Beton ne Bergmann dem Chef des Zentralrats senator Nagel das Verfahren an sich gen Osten erheben: das Denkmal für die Deutscher Sinti und Roma, Romani Ro- zog und sie dem rechten Bezirksparla- ermordeten Juden Europas. se, im vergangenen Herbst einen Stand- ment oktroyierte. Auf der anderen Seite der Ebertstra- ort zwischen Reichstag und Branden- Von einem Mahnmal für die im NS- ße sprießt eine ökologisch korrekte burger Tor zugesichert. Aber unlängst Staat ermordeten Schwulen will auch Lang-Gras-Wiese. Wenn es freilich nach scherte Eberhard Diepgen (CDU) aus. Sozialdemokrat Nagel nichts wissen: der „Initiative Schwulen-Denkmal“ Der Regierende Bürgermeister schlug „Das ist absurd“, erregt er sich. Juden, geht, soll hier ebenfalls für die Erinne- vor, das Mahnmal nach Marzahn, an die ebenso Sinti und Roma seien Opfer ei- rung gebaut werden: ein Mahnmal für östliche Peripherie der Hauptstadt, zu nes Genozids geworden, „nicht so die die Homosexuellen, die von den Natio- verlegen. Für den prestigearmen Stand- Homosexuellen“. Die Diskussion um nalsozialisten ermordet wurden. ort bemühte Diepgen die Geschichte: In ein Homo-Denkmal, fürchtet Nagel, Nur 300 Meter gen Norden, unmittel- Marzahn errichteten die Nationalsoziali- „würde die beiden anderen Mahnmale bar am Reichstag, planen der parteilose sten 1936 ein Sammellager, um die wieder in Frage stellen“. Kultursenator Ulrich Roloff-Momin Hauptstadt zur Olympiade „zigeuner- Dafür, daß jetzt die Vertreter von und sein sozialdemokratischer Bau-Kol- frei“ zu präsentieren. drei Opfergruppen jeweils ein eigenes

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Denkmal fordern, ist auch Lea Rosh sämtliche Homosexuellen-Organisatio- verantwortlich. Sie streitet seit 1987 nen auf und schlossen die einschlägigen für ein Mahnmal, das ausschließlich Lokale. an die jüdischen Opfer des National- „Die Verfolgung und Ermordung sozialismus erinnern soll. Bevor Sinti- Schwuler erfolgte nicht mit dem glei- Chef Romani Rose sich um ein eigenes chen Fanatismus und der unerbittlichen Denkmal bemühte, hatte er jahre- Systematik wie die ,Endlösung der Ju- lang für ein gemeinsames Projekt denfrage‘“, räumen Eckert und seine gekämpft. Mitstreiter in einer jetzt veröffentlichten Doch Rose wurde abgewiesen. „Wir Denkschrift ein. Die Nazis hielten wollen einfach verhindern, daß durch ei- schwule Arier zum Teil für umerzieh- ne Pauschalisierung alles in einen Topf bar. Mit Kastration, Hormonbehand- geworfen wird“, erklär- te Roshs Gatte Jakob Schulze-Rohr 1989. Als die Jury des Denkmals für die Ju- den Mitte März dieses Jahres tagte, bat Kul- tursenator Roloff-Mo- min das Gremium, sich mittels einer Resoluti- on für ein Sinti- und Roma-Mahnmal ein- zusetzen. Daraufhin erklärte der Histori- ker und Rosh-Freund Eberhard Jäckel, daß man dann auch gleich

ein Denkmal gegen das A. SCHOELZEL Killen der Wale for- Mahnmal-Initiator Eckert: „Unter Zugzwang“ dern könnte. „Ich unterstütze die Initiative für ein lungen oder hirnchirurgischen Eingrif- Roma- und Sinti-Mahnmal am Reichs- fen versuchten Ärzte sie wieder in He- tag absolut“, sagt hingegen Ignatz Bu- tero-Volksgenossen umzuwandeln. bis, der Vorsitzende des Zentralrats der Doch von den rund 50 000 Männern, Juden in Deutschland. „Ich gehe davon die im NS-Staat nach dem Schwulen- aus, daß es kommen wird.“ Gegen ein Paragraphen 175 verurteilt wurden, ka- gemeinsames Mahnmal ist freilich auch men mehr als 10 000 in Konzentrati- er. onslager. Da die mit einem rosa Win- Im Oktober 1993 hatte Bubis Rose kel auf der Jacke gezeichneten „175er“ nach Israel eingeladen, um mit ihm ge- in der Häftlingshierarchie ganz unten meinsam die Holocaust-Gedenkstätte standen, haben nicht viel mehr als ein Jad Waschem zu besuchen. Der Sinti Drittel von ihnen den Terror in den verbreitete kurz zuvor eine Pressemit- Lagern überlebt. teilung, daß er mit Bubis eine „gestalte- Worauf Eckert und seine Mitstreiter rische Verbindung“ der Mahnmale ver- besonders hinweisen: Im Gegensatz zu einbart habe. Bubis dementierte und anderen Opfergruppen brachte der ließ, als Rose sich empörte, den Besuch Mai 1945 für die Schwulen keine wirk- platzen. liche Befreiung. Der Paragraph 175 Nach dem Zerwürfnis verriet Bubis galt weiterhin; für die überlebenden einem Reporter der israelischen Zeitung KZ-Häftlinge hatten beide deutschen Haaretz den Grund seiner Ablehnung: Staaten weder eine materielle Entschä- „Wenn wir das gemeinsam mit den digung noch eine moralische Rehabili- Zigeunern machen, dann kann dort tierung übrig. kein Rabbiner Kaddisch sagen. Und Auch 50 Jahre später haben Berliner was machen wir, wenn auch die Homo- Politiker Hemmungen im Umgang mit sexuellen kommen und mit dabeisein den Homosexuellen. Die konflikt- wollen?“ scheue SPD-Spitzenkandidatin und So- Nun kommen sie. Albert Eckert, der zialsenatorin Ingrid Stahmer kann sich Kulturpolitische Sprecher der Berli- in ihrem Vorwort zur Denkmalsdenk- ner Bündnisgrünen und einer der In- schrift nicht zu einer eindeutigen Un- itiatoren des Schwulen-Denkmals, terstützung des Schwulen-Mahnmals sieht sich vom Exklusivitätsanspruch der durchringen. Rosh-Initiative „unter Zugzwang ge- Und auch Regierungschef Diepgen setzt“. räumt ein, daß die Politiker der Die Homosexuellen sind tatsächlich Hauptstadt sich im Gedenkjahr ’95 bei in großer Zahl Opfer der Nazis gewor- der Frage, wer wo wessen gedenken den. Schon unmittelbar nach der Macht- soll, schwertun: „Derzeit herrscht ein ergreifung lösten die Nationalsozialisten heilloses Durcheinander.“ Y

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SPIEGEL-Gespräch „Die wollten nur Macht“ Der Philosoph Rudolf Bahro über Kommunismus, Bhagwan und seine Krankheit

SPIEGEL: Herr Bahro, der Ort unseres was meiner grünen Option weniger Bahro: Das gibt es nicht. Mein Kommu- Gesprächs ist ungewöhnlich – ein Zim- denn je widerspricht. nismus ist nicht links, nicht rechts. mer im Berliner St.-Hedwig-Kranken- SPIEGEL: Damit ist die Frage, ob Sie SPIEGEL: Sondern? haus. sich noch immer als Linker fühlen, Bahro: Meine Auffassung von Kommu- Bahro: Ich habe Blutkrebs und liege hier schon beantwortet. nismus schließt materielle Expansion, seit drei Monaten. Ob ich aus der Sack- Bahro: Keineswegs. Ich sehe mich nicht auf der Karl Marx alles aufbaut, aus. gasse herauskomme, weiß ich nicht. mehr links. Deswegen habe ich immer Zoff mit Leu- Operieren können sie mich in diesem SPIEGEL: Bahro, ein rechter Kommu- ten, die sich für links halten. Ich denke, Zustand nicht. Das ist eine ganz schwere nist? daß der Ausgangspunkt von Kommunis- Brustoperation, da reichen die musvonjeher eineWeggemein- Reserven nicht. schaft von Menschen gewesen SPIEGEL: Warum haben Sie ist, die auf der Suche nach Be- sich vier Monate lang nicht be- freiung, nach Selbstbefreiung handeln lassen? sind. Ich glaube, daß in der Bahro: Weil ich dachte, ich fin- gegenwärtigen ökologischen de was Alternatives. Vier Mo- Weltkrise die Überflußproduk- nate habe ich im Nebel gesto- tion die Todesspirale ist, die chert und dem Krebs Zeit gege- letzten Endes zum Untergang ben anzuwachsen. Jetzt läuft der Gesellschaft führt, auch die Chemotherapie. Die ist wenn wir noch eine Weile so sehr aussichtsreich. Mein Zö- weiterleben können. gern macht mir jetzt zu schaf- SPIEGEL: Ist Kommunismus, so fen. Deswegen habe ich auch interpretiert, dann nicht nur meine persönlichen Verhält- noch eine leere nostalgische nisse noch formell geregelt und Worthülse? wieder geheiratet und bin froh Bahro: Nein, meineVorstellung darüber. vom richtigen Weg der Gesell- SPIEGEL: Sie waren neben Ro- schaft schließt Kommunismus bert Havemann der berühmte- als Bedingung ein. Im bisheri- ste Dissident der DDR und wie gen Kommunismus ist Gerech- er ein überzeugter Kommunist. tigkeit mit erweiterter Repro- Was ist davon geblieben? duktion verbunden, und das auf

Bahro: Im Herzensgrunde bin LICHTBLICK einer endlichen Erde, das kann ich noch immer Kommunist, nicht gehen. Kommunismus ist

S. SAUER / zwar nicht mehr mein Aus- Das Gespräch führten die Redakteure Bahro beim SPIEGEL-Gespräch gangspunkt, aber ichhabe nicht Ulrich Schwarz und Peter Wensierski. „Nicht links, nicht rechts“ den geringsten Grund, diesen

Die Abrechnung formpartei und spottete über ihre „Putzarbeiten auf der Tita- nic“. Der Vegetarier Bahro ging eigene Wege, besuchte 1983 mit dem real existierenden Sozialismus, 1977 unter dem Titel den Bhagwan in Oregon, betrieb Öko-Bildungsarbeit in einer „Die Alternative“ im Westen erschienen, machte Rudolf Bahro „Lernwerkstatt“ im Eifeldorf Niederstadtfeld. Unmittelbar zum prominentesten DDR-Kritiker neben Robert Havemann. nach dem Zusammenbruch der DDR im November 1989 kehr- Nachdem der SPIEGEL Teile seiner Analyse veröffentlicht hat- te er nach Ost-Berlin zurück. Bahro wurde vom Obersten Ge- te, wurde Bahro im August 1977 verhaftet und 1978 zu acht richt der DDR rehabilitiert, erhielt an der Humboldt-Universi- Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein Jahr später kam er im Zuge ei- tät ein eigenes „Institut für Sozialökologie“ und initiierte im ner Amnestie frei und siedelte in den Westen über. Bahro, der sächsischen Pommritz eine kommunitäre Basisgruppe, die am 18. November 60 wird, entschied sich schon als 16jähriger alternative Landwirtschaft betreibt. für die SED. Er studierte Philosophie. Seine Karriere als Journa- Das vereinte Deutschland tut sich noch immer schwer, der list endete 1967 abrupt. Die SED nahm dem stellvertretenden Symbolfigur Bahro eine wissenschaftliche Heimat zu geben. Chefredakteur der Studentenzeitschrift Forum den Abdruck ei- Den Vorschlag der Humboldt-Uni, dem Querdenker, „der für nes Theaterstücks von Volker Braun übel, das zarte Sozialis- seine Überzeugung jahrelang in DDR-Gefängnissen saß, in ei- muskritik enthielt. Bahro arbeitete danach im Gummiwerk Ber- nem Akt der Wiedergutmachung“ eine ordentliche Professur lin, tippte dort nach Dienstschluß heimlich an seiner„Alternati- zu verleihen, hat der Berliner Senat bis heute nicht umge- ve“. setzt. Im Ausland findet Bahro mehr Anerkennung: Die New Bei den Grünen im Westen fand Bahro vorübergehend eine poli- Yorker Academy of Sciences wählte ihn jetzt zu ihrem Mit- tische Heimat, doch schon bald distanzierte er sich von der Re- glied.

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ursprünglichen Zugang zur Gesellschaft, über den ich mich hinausgearbeitet habe, irgendwie zu verleugnen. Kommunismus, das wird ein Zeitalter sein, in dem die Menschen, die einander verbunden sind durch gemeinsames In- teresse am Gemeinwohl und in hinge- bungsvoller Arbeit für die Schaffung des Schönen, gemeinsam ihre Zukunft ge- stalten. Dies ist eine Utopie, die nicht un- tergehen kann. Sie kann bloß degenerie- ren oder zeitweiligem Vergessen anheim- fallen. SPIEGEL: Also doch: Sie kommen von Ih- ren Wurzeln nicht los. Bahro: Ja, das ist es wohl. Anfang der sechziger Jahre, nach dem Mauerbau, hatte ichmein Maximum an Zustimmung zu den Verhältnissen hier. Da war ich als Redakteur der Greifswalder Uni-Zei- tung Mitarbeiter der SED-Parteileitung an der Uni Greifswald. Da war alles gut. Das war so gut, daß die Stasi kam und

mich fragte, könnten wir nicht, und ich DPA sagte ja. Das war irgendwann Anfang Übersiedler Bahro, Ehefrau Gundula (1979): „Mann im Futteral“ 1962. SPIEGEL: Was hat die Stasi denn von Ih- Bahro: Nein, erst einmal holte mich die Anfang der zehnten Klasse, und sagte: nen gewollt? Partei wegen guter Arbeit nach Berlin, Warum heuchelt ihr denn so? Ich habe Bahro: Die wollten, daß ich mit ihnen und zwar zur Gewerkschaft Wissen- ihn daraufhin gefragt, warum bei uns zusammenarbeite. Ich weiß jetzt nicht schaft. Da war ich ein paar Jahre Lob- zwar angeblich die Arbeiter herrschen, mehr, ob ich was unterschrieben habe byist für jene, die auch mal gern einen aber in Wahrheit doch nicht. Da hat er oder nicht, es könnte durchaus sein. Die Nobelpreis gekriegt hätten. gesagt, die Arbeiter, das ist eine Interes- wollten mich testen, aber ich habe sie in SPIEGEL: Und wann wurden Sie zum senfrage, und wer sich unter die Kleie den drei Gesprächen, die ich hatte, ent- Oppositionellen? mengt, den fressen die Säue. Wenn Ar- täuscht. Ich erzählte denen nur Sachen Bahro: Meine Wende war der 15. Jah- beiter gegen den Sozialismus angehen, aus der Uni, die ich auch in die Zeitung restag der DDR 1964. Ich zog bei der dann fällt der individuelle Arbeiter mit und Parteileitung brachte. Dort haben Parade am 7. Oktober vormittags an der unter die Unterdrückung. Denkt an die wir sie vertrauensvoll diskutiert. Wir ha- Tribüne vorbei und las die Losung. Nazi-Zeit. ben niemanden in die Pfanne gehauen, „Was des Volkes Hände schaffen, ist Das hatte ich noch nie gehört, daß je- soweit ich weiß jedenfalls. Ich merkte des Volkes Eigen“ stand da. Nachmit- mand so ehrlich antwortete. Und dann aber rasch, die wollten mehr. Beim zwei- ist er in der nächsten Stunde als Ge- ten oder dritten Mal sollte ich etwas über schichtslehrer zu uns gekommen und hat Winfried Weiß erzählen, das war mein „Die Stasi fragte, Leninismus pur gebracht: „Staat und Erster Parteisekretär; da war ich konster- könnten wir nicht, und Revolution“, gerade die machtpolitische niert. Komponente, aber unverhüllt. Das war SPIEGEL: Warum? Die Stasi war doch der ich sagte ja“ eigentlich mein Einstieg in Leninismus. Arm der Partei. SPIEGEL: Als Sie 1972 anfingen, die Bahro: Ja, natürlich, aber zugleich war tags machte es „klick!“. In dem Augen- „Alternative“ zu schreiben, Ihre Ab- die Stasi schon ein spezielles Organ. blick wußte ich, die wollen nicht weiter, rechnung mit dem DDR-Sozialismus, da SPIEGEL: Viele Intellektuelle haben da- die wollen nur Macht und die Rolle der hat die Stasi, wie aus den Akten hervor- mals in den fünfziger und sechziger Jah- Partei stärken, bis zum Sankt-Nimmer- geht, Sie gewähren lassen, obwohl sie ren aus Überzeugung, etwas für die gute leins-Tag. Der Schock hat noch nicht sehr früh davon wußte. Haben Sie eine Sache zu tun, mit der Stasi zusammenge- ganz gereicht. Aber dann kam 1968 der Ahnung, warum? arbeitet, zum Beispiel Robert Havemann Einmarsch in die Cˇ SSR. Der hat mir Bahro: Das ist mir bis heute nicht klar. oder Christa Wolf. endgültig die Augen geöffnet. Ich dachte eine ganze Weile, vielleicht Bahro: Ich habe mich ja auch geehrt ge- SPIEGEL: Welche Träume vom Leben hat Markus Wolf, der damalige Chef der fühlt. Aber alsichmeinen eigenen Partei- im Sozialismus hatten Sie denn, die an Hauptverwaltung Aufklärung, mich ge- sekretär denunzieren sollte, da war ich so einer Losung zerbrachen? deckt, aber da bin ich mir nicht mehr so schockiert. Da ist mir plötzlich aufgegan- Bahro: Ich war 16, als ich mich für die sicher. gen, was mir bis dahin so nicht bewußt Partei entschied. Gewonnen hatte mich SPIEGEL: Haben Sie Wolf mal gefragt? war: daß die Stasi innerhalb der Partei ein Lehrer meiner Oberschule, der spä- Bahro: Nein. spitzelt, daß es um Verrat an Leuten ging, ter da Direktor wurde, und zwar durch SPIEGEL: Warum nicht? nicht um analytische Berichte über die Si- seine Aufrichtigkeit. Der war zuvor ge- Bahro: Ich habe nicht die Initiative er- tuation der DDR. Dazu war ich einfach rade noch ein HJ-Führer gewesen, aber griffen. Wenn er auf mich zugekommen nicht fähig. Das hat der Mann, der mich er war nun echt. wäre, hätte ich. ansprach, wahrgenommen, und dann ha- SPIEGEL: Und was hat Sie so an ihm be- SPIEGEL: Haben Sie denn eine Ahnung, ben sie mich einfach fallenlassen, still- geistert? wer damals die Stasi informiert hat? schweigend. Bahro: Dieser Lehrer, Dieter Behrendt Bahro: Erst mal hat meine damalige SPIEGEL: War das der Anfang des Dissi- hieß er, kam in seine erste Stunde bei Frau Gundula ihrer Chefin am Slawi- denten Bahro? uns rein, es war Ende der neunten oder schen Institut der Humboldt-Universi-

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tät, Edel Mirowa-Florin, davon erzählt, derstadtfeld, wo sie die Lernwerkstatt, Bahro: Ich habe damals vorgeschlagen, daß „der Rudi spinnt“. Die Frau des da- eine ökologische Akademie, gegründet die SED müsse sich auflösen, wenig- maligen Vizeaußenministers Peter Flo- hatte. Mich hat die DDR im Herbst stens für drei Wochen müßten die Ge- rin und Gundula waren halt befreundet. 1989 sofort wieder angezogen, ich war nossen mal allein durch die Dunkelheit Die Mirowa-Florin wiederum war ver- das Machtmäßige an dem Projekt DDR gehen und dann die zusammenholen, traut mit Emmi Wolf. Die gehörte zum viel weniger los, als ich gedacht hatte. die so etwas wie eine Partei der soziali- Clan von Markus und Konrad Wolf und Beatrice blieb mit unserer kleinen Toch- stischen Erneuerung wollen, mit Ökolo- arbeitete ebenfalls am Institut. Das ist ter Hannah zurück. Die war damals ge- gie und all dem. die mögliche erste Ebene. Und dann hat rade ein Jahr und drei Monate alt. Bea- SPIEGEL: Und warum fand Ihr Vor- man mir – es kann Ende 1976 gewesen trice hat das alles nicht verkraftet. schlag keinen Beifall? sein, also mindestens ein Jahr vor Ver- SPIEGEL: Was trieb Sie denn in die un- Bahro: Ein DDR-Schriftsteller, den ich öffentlichung der „Alternative“ – einen tergehende SED-Republik, die Sie zehn aus alten Forum-Zeiten kannte, brachte geschickt, der war deutlich Spitzel. Jahre zuvor verstoßen hatte? die Sache auf den Punkt: Wenn wir uns SPIEGEL: Aber es hat Sie keiner von Ih- Bahro: Na, irgendwie die DDR noch ret- jetzt auflösen, kommen wir nie wieder ren Freunden verpfiffen? ten, obwohl ich es eigentlich besser zusammen, und in der Zwischenzeit er- Bahro: Nein, es war kein Freund. Wahr- wußte. schlagen sie uns. Der Parteitag war für scheinlich habe ich selbst zuviel geredet. SPIEGEL: Auf dem SED-Parteitag im mich die endgültige Zäsur. Da habe ich Ich war ja auch ein bißchen eitel. Dezember 1989 wurden Sie mit ge- begriffen, da ist keine Reformfähigkeit SPIEGEL: Sie haben mal gesagt, die Lie- mischten Gefühlen empfangen. mehr drin. In die PDS wäre ich nie ge- be zu den Frauen sei für Sie ein wesent- Bahro: Ja, ich war dort Gast, habe mir gangen. liches Element Ihrer Biographie. Haben Rederecht erzwungen und meine Ausle- SPIEGEL: Und was ist dann die „DDR in Sie Glück gehabt mit den Frauen? gung von Ökologie und Kommunismus uns“, zu der sich die Ostdeutschen be- Bahro: Ja, sehr viel Glück – und großes gepredigt. kennen sollen? Das haben Sie 1991 ge- Unglück. Ich habe mit wunderbaren SPIEGEL: Wie haben Sie sich gefühlt? fordert. Bahro: Das war etwas sehr Schlichtes. Ich meinte, es sei ein ungeheurer Unfug, die ganze DDR bloß unter Unrechtsstaat abzubuchen. Ich habe jahrzehn- telang meine ganze positive Ener- gie hier eingebracht, ich habe da nichts zu verleugnen. Ich habe auch nicht zu verleugnen, was ich hier selbst zur Repression beige- tragen habe. Das war halt so da- mals, guten Glaubens, und das heißt ja noch nicht, daß es richtig war. SPIEGEL: Die DDR-Elite weigert sich bis heute hartnäckig, ihre ei- gene Rolle beim Scheitern des So- zialismus aufzuarbeiten. Die mei- sten flüchten sich in Schweigen. Bahro: Da gibt es in der Tat eine Verweigerung. Ich glaube, aus zu viel Schuldgefühl. Das ist falsch. SPIEGEL: Wie wär’s denn richtig? Bahro: Ich meine, der Schlüssel ist

R. WOOD die PDS, weil die halt das DDR- Bhagwan-Besucher Bahro (3. v. l.)*: „Ein Energiefeld, das trug“ Gefühl doch irgendwie verwaltet. Aber wie die PDS das macht, das Frauen gelebt. Bloß das war nicht im Bahro: Viele Delegierte waren ein finde ich saublöd: eine kleinkarierte Plan, daß sich eine von ihnen, meine Schock für mich, die waren seelisch vier- Klientelpolitik, die sich nur um Son- zweite Frau Beatrice, von der Siegessäu- schrötiger, als die CDU in der Eifel ist. derinteressen von Underdogs küm- le stürzt. Selbst alte Freunde habe ich da auf ein- mert. Ich sage denen: Ihr habt mal die SPIEGEL: Das war vor zwei Jahren. Wis- mal so wahrgenommen. Andererseits Partei der allgemeinen Emanzipation sen Sie, warum? hatten sich 53 Prozent der Teilnehmer des Menschen sein wollen. Diese Bahro: Ja, sicher, weil es eine Rivalin dafür ausgesprochen, daß ich eine halbe Klientel, die ihr euch hier anhängt, die gab, mit der ich jetzt lebe, und weil sie Stunde reden durfte. ist gewiß euer Schicksal, und ihr könnt damals aufgrund interner Querelen den SPIEGEL: Das muß doch unheimlich ge- dem auch nicht ganz entgehen. Aber Boden des „Lernwerkstatt“-Projekts knistert haben. Da kam einer, den die wenn ihr euch darauf reduziert, dann unter den Füßen verloren hatte, ihrer Partei zehn Jahre zuvor ins Gefängnis könnt ihr behaupten, ihr seid Oppositi- Lebensarbeit. Dieser Selbstmord ist, geworfen hatte und hielt eine Moralpre- on, soviel ihr wollt, ihr seid gar keine. glaube ich, auch eine Ursache meiner digt. SPIEGEL: Ein Journalist hat Sie einen Krankheit jetzt. Aber der Tod von Bea- Bahro: Ja, es hat heftig geknistert, wäh- Reformator genannt. Einverstanden? trice hat auch viel mit der DDR zu tun. rend der ganzen Rede. Als ich bei der Bahro: Ja, ich habe mich selbst mal so Als die Wende kam, lebten wir gerade Landwirtschaft war, da schrien, glaube dargestellt, daß ich hier aufgetreten anderthalb Jahre in dem Eifeldorf Nie- ich, drei Viertel des Saals. bin in der Partei und gegen die Partei SPIEGEL: Warum sind Sie nicht in die wie der Ketzer in seiner und gegen sei- * 1983 in Oregon. PDS gegangen? ne Kirche, also wie Luther. Ich bin

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wohl reformatorisch. Das ist noch et- kaputten Leuten, die die Welt ganz was anderes als reformerisch. machen wollen. Ich habe nur Ausrufe- SPIEGEL: Was ist der Unterschied? zeichen machen können und bloß an Bahro: Reformatorisch ist fundamental, wenigen Stellen Fragezeichen. Der der Reformator will den radikalen Hund ist wirklich intelligent, Bhagwan. Wandel. SPIEGEL: Und wie denken Sie heute SPIEGEL: Ein rot-grüner Luther, wäre darüber? Ist Ihnen etwas geblieben aus das ein Ehrentitel? dieser Zeit? Bahro: Na gut, ein Klischee wird ge- Bahro: Von Bhagwan, ja, viel. Vor al- braucht, wenn’s denn das ist! lem die Erkenntnis, daß Kommunis- SPIEGEL: Die Suche nach Liebe, nicht mus nur zwei Jahre brauchen muß, um nur zu den Frauen, ist ein Zentral- in Despotismus auszuarten, und der punkt Ihres Denkens und Han- Guru merkt es nicht gleich und ver- delns . . . sucht es zu spät zurückzuholen, weil er Bahro: . . . ein Defizitmotiv . . . auch die asiatische Perspektive hat, un- SPIEGEL: . . . ist es diese Suche nach bewußt. Er denkt, das Spiel hat tolle Liebe gewesen, die Sie auf ein paar Regeln, da brauchen wir keine demo- Umwege in Ihrem Leben geführt hat? kratische Vermittlung. Zum Beispiel nach Nordkorea oder SPIEGEL: Also eine negative Erfah-

zum Bhagwan? J. EIS rung. Bahro: Die Suche nach Liebe ist sozu- Bahro-Freund Biedenkopf Bahro: Nicht nur. Diese Atmosphäre sagen meine psychologische Schwach- „Karte zum Geburtstag“ der emotionalen Befriedigung, die stelle, sicher. Die kommunistische Par- wirklich nicht vordergründig auf der tei, vom Volk geliebt, das war mein haupt nicht. Kim Il Sung, der war, soweit Ebene Liebe lag, hat mich angezogen. Ansatz, um mich 1968 mit dem Prager ich das wahrnehmen konnte, echt, ganz Denken Sie doch mal daran, wie ich Frühling zu identifizieren. In den Fäl- im Gegensatz zu diesem Sohn, der jetzt als „Mann im Futteral“ 1979 aus der len Korea und Bhagwan war das vor- regiert. Der Vater hat an seine Lesart DDR herauskam. Bhagwan war mir dergründiger. Bei meinem Besuch in des Kommunismus, die sanfte Despotie, vor allem eine Lockerungsübung. Ich Nordkorea hat Luise Rinser die ent- wirklich geglaubt. In Nordkorea gab es war nicht Sannyasin, ebensowenig wie scheidende Rolle gespielt, eine persön- subtilere Repression, Umerziehung, ich in der PDS bin. Aber ich war in liche Beziehung, als sie 1981 Nordko- aber nicht Gulag, dachte jedenfalls auch dem Bhagwan-Camp im amerikani- rea besuchte. Luise wollte mich dabei- ich. Luise hat das Wohlwollende in die- schen Oregon nicht als distanzierter haben. ser Despotie gesehen, das Despotische Beobachter. Ich habe die Meditation SPIEGEL: Haben Sie diese Eskapade hat sie nicht wahrgenommen. früh und mittags mitgemacht. Meine bereut, später mal? SPIEGEL: Und wie war das mit Bhag- Grunderfahrung war, daß man nach Bahro: Nein, ich muß mir nichts verge- wan? zwei Tagen dort ein bißchen schwebt. ben. Gelitten hat Luise, weil sie nun Bahro: Ja, auch meine Schwärmerei für Es gab da ein Energiefeld, das trug. doch noch wieder anders zu Korea Bhagwan hat mit Liebe zu tun, aber SPIEGEL: Bei den Grünen hat das steht als ich. Ich habe das System ja nicht so platt, wie das oftmals kolportiert Energiefeld nicht gestimmt. Bei denen von innen gekannt und dort dem Mo- worden ist. An Bhagwan bin ich über die haben Sie angefangen, als Sie 1979 in ment asiatische Produktionsweise, das West-Berliner Indologin Dr. Agnete den Westen kamen. Aber die Liaison in meiner „Alternative“ eine große Kutar gekommen; die hatte ihren hat nur knapp sechs Jahre gehalten. Rolle spielt, sozusagen in fünf Minuten Durchlauf links und frauenbewegt, bis Bahro: Die Grünen waren zunächst auf den Grund geguckt. sie erkannte, wir sind lauter kaputte zwar eine Mühe für mich, aber keine SPIEGEL: Was hat die überzeugte Ka- Leute, die die Welt ganz machen wollen. Last. Die wurden das erst, als ich fest- tholikin Luise Rinser dazu gebracht, Als ich rüber kam in den Westen, 1979, stellte, das war auch nicht das, was ich ausgerechnet für Kim Il Sung zu habe ich als erstes Agnete getroffen. gemeint habe. Ich habe es dann zwar schwärmen? Agnete wurde 1980 Sannyasin, sie gab etwas hysterisch auf die Spitze getrie- Bahro: Ach, das paßt sehr zu ihr. Das mir ein Buch von Bhagwan: „Die Intelli- ben, als ich 1984 auf dem Hamburger widerspricht ihrem Katholizismus über- genz des Herzens“. Das befaßte sich mit Parteitag sagte, es hat schon mal eine

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braune Restauration des Kapitalismus SPIEGEL: Und das war der Beginn einer SPIEGEL: Pommritz ist nicht Ihr einziges in Deutschland gegeben, ihr könnt christlich-ökokommunistischen Freund- Aktionsfeld. Sie halten seit 1990 an der auch eine grüne zustande bringen, we- schaft? Humboldt-Universität Vorlesungen. gen der Machtbesessenheit. Bahro: Die begann – lassen wir die Bahro: Gleich nach der Wende konnte SPIEGEL: Und wie sehen Sie die Grü- Schlagworte! – erst richtig im Sommer ich dort schon Vorlesungen über „Die nen heute? 1991. Da hat Biedenkopf im Audimax Alternative“ und „Stalinismus“ halten. Bahro: Na ja, eine Systempartei mehr. der Humboldt-Uni eine Vorlesung ge- Dann bekam ich in der letzten Stunde Ich bin gerade rechtzeitig verschwun- halten und mit mir diskutiert. Dabei ha- der DDR die Berufung zum außeror- den. Die Grünen sind einfach kein ben wir dann dieses Sachsenprojekt, das dentlichen Professor. Die Vorstellung Identifikationsgegenstand mehr für nun in der Gemeinde Pommritz bei damals nach der Wende war, mich zum mich. Bautzen wächst, konzipiert. Ich wollte ordentlichen Professor zu machen mit SPIEGEL: In den letzten Jahren ist es von Biedenkopf lediglich eine Starthilfe, entsprechender Dotierung. Das steht still um Sie geworden. Rudolf Bahro, und die hat er unbürokratisch gegeben. noch immer aus, da gibt es seit langem so der Eindruck, hat sich aus der Poli- Er hat dann nur noch von Fall zu Fall ein Hin und Her, das zermürbt. Derzeit tik entfernt, sitzt da irgendwo in seiner eingegriffen, wenn es Schwierigkeiten sitze ich auf einer Art Oberassistenten- Lernwerkstatt in der Eifel oder irgend- gab. stelle. wo in Sachsen bei den kommunitären SPIEGEL: Und wie läuft das Projekt? SPIEGEL: Wer hört Ihnen eigentlich zu? Gemeinschaften, der kämpft gegen die Bahro: Jetzt leben in Pommritz etwa 50 Bahro: Lange Zeit kamen bis zu 600 industrielle Megamaschine, aber allein Erwachsene und Kinder, ein überaus Leute, dann hat sich das eingependelt auf weiter Flur. auf etwa 300. Es kommen Bahro: Ich empfinde meine Aktion hier viele aus der Stadt, aber auch in Ostdeutschland und davor in der Ei- alles, was bunt ist, also aus fel als alles andere als unpolitisch. den verschiedenen Fakultäten SPIEGEL: Was ist das Politische daran? der Universität – alles Leute, Bahro: In der Eifel haben wir ökologi- die irgendwie ahnen, daß sche Akademie gemacht und geistige Wissenschaft auch ihr eigenes Grundlagen für die politische Erneue- Verhängnis ist, und die etwas rung bearbeitet. Das fällt natürlich ändern wollen. Das Engage- nicht unter den Politikbegriff, den die ment hat zwar nachgelassen, Medien verbreiten. Ich halte das aber seit der „Wende“ ein generel- für Politik. Leute, die mich besser ken- les Problem. Aber meine frei nen, etwa Kurt Biedenkopf, zu dem es gehaltenen Vorlesungen fül- seit 20 Jahren einen geistigen Kontakt len immer noch das Audi- gibt, der wird nie auf den Gedanken max. Ich gehe der Frage kommen, Bahro könnte je unpolitisch nach: Warum zerstört der werden. Mensch sich selbst und die SPIEGEL: Was verbindet Sie denn mit Erde? Welche politische dem Christdemokraten Biedenkopf? Wende ist nötig? Bahro: Ich habe Biedenkopf 1981 zu- Im nächsten Semester werde fällig bei einer Radiosendung getrof- ich an der Landwirtschaftli- fen. Da habe ich mitgekriegt, daß er chen Fakultät, in die ich jetzt meine ganzen Sachen immer gelesen eingegliedert bin, eine zweite hat und daß er Nahrung daraus gezo- Reihe Vorlesungen aufneh- gen hat für seine Auseinandersetzung men. Ich hoffe sehr, die Ge- um Wachstumspolitik. Selbst Heiner sundheit erlaubt es mir. Geißler hat mich in erster Linie als SPIEGEL: Herr Bahro, was Kommunisten angesagt im Westen, glauben Sie, wird von Ihren Biedenkopf hat weder das noch das Anstrengungen, diese Gesell- Gegenteil getan, sondern hat einfach schaft zu verändern, bleiben? gesehen, da denkt jemand aus einem Bahro: Also eine Menge gei-

anderen System heraus über Wachstum A. PACZENSKY / ZENIT stiger Innovation, mehr, als ähnlich, und zwar praktisch, er will es Dozent Bahro (1990 an der Humboldt-Uni) ein normales Professorenle- in seiner Gesellschaft abdrehen. „Warum zerstört der Mensch sich selbst?“ ben hergibt. Das würde ich SPIEGEL: Hat Sie das Interesse des immer sagen. CDU-Mannes an Ihnen verblüfft? spannendes Projekt, das wächst und SPIEGEL: Haben Sie Hoffnung, daß Ihr Bahro: Damals wußte ich noch gar gedeiht. Die haben 70 bis 80 Hektar eigener Pessimismus über den Zustand nicht, worin dieses Interesse eigentlich unter der Hand und sind dort im Sinne dieser Erde und ihren Untergang sich bestand. 1985, nach meinem Austritt des Öko-Landbaus produktiv. Die nicht bewahrheiten wird? bei den Grünen, kriegte ich plötzlich kommunitäre Gemeinschaft ist vor al- Bahro: Ich bin ja nicht pessimistisch. Ich ein handschriftliches Kärtchen von Bie- lem ein soziales Experiment, das dar- sage nur, wenn wir das „Business as denkopf, auf der er mir zum 50. Ge- auf hinauslaufen könnte, aus der Mas- usual“ nicht beenden, dann sind wir ver- burtstag gratuliert und mich beglück- senproduktion weltweit umzuschalten loren. Ich sage, der Mensch, wie er nun wünscht zu meiner geradlinigen Hal- auf einen lokalen Reproduktionspro- mal ist, der ist verloren. Aber der tung. Da habe ich mir dann sein Buch zeß im Nahbereich. Mensch übersteigt unendlich den Men- „Die neue Sicht der Dinge“ über sozi- Das ist ja ein großer Teil der ökologi- schen. So eine Krise wie jetzt hat die alökologische Marktwirtschaft gekauft. schen Katastrophe, dieser wahnsinnige Menschheit noch nicht erlebt. Da muß Bis dahin hatte ich gedacht, das han- Transport, wo ein und dasselbe Zeug was Vereinigendes am Werke sein, ich delt vom Urschleim der Bundesrepu- hunderttausendmal am Tag aneinander spüre es. blik, das mußt du dir nicht unbedingt vorbeigekarrt wird auf den Stras- SPIEGEL: Herr Bahro, wir danken Ihnen antun. sen. für dieses Gespräch. Y

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Kurt-Dieter Grill (CDU) hat immerhin wirtschaft, in eine atomare Abrüstungs- Atomenergie heimliches Nachdenken bemerkt. fabrik umgewandelt würde? „Wenn Union und Atomindustrie es Zu tun gibt es jede Menge. In Rußland schaffen“, gruselt sich denn auch Grü- lagern über 100 Tonnen Waffenplutoni- nen-Vordenker Hubert Kleinert, „das als um, zum Teil als Metall, zum Teil als Kostenlos große Abrüstungstat öffentlich darzu- Oxidpulver, zum Teil als flüssiges Nitrat. stellen, kann es schwierig werden.“ Die Russen können dasTeufelszeug nicht Denn die Geschichte hat eine seltsame selbst vernichten, sie brauchen Hilfe. vernichten Pointe: Eigentlich haben die Erbauer je- Technisch gibt es zwei Möglichkeiten: des Interesse an der Atomfabrik in Ha- Entweder wird das Plutonium gemein- Helfen die Deutschen den Russen nau verloren. Die Elektrizitätsversor- sam mit hochaktivem Atommüllverglast, dabei, Plutonium unschädlich zu gungsunternehmen und Siemens wollen oder es wird zu Mischoxidbrennelemen- die hessische Nuklearschmiede aufge- ten für zivile Kernkraftwerke weiterver- machen? ben, die investierte Milliarde abschrei- arbeitet. In beiden Fällen kann das Pluto- ben und im Juli den Abriß des Neubaus nium nicht mehr isoliert zurückgewon- ill Clinton machte der Bonner Re- beantragen. nen werden, Mißbrauch ist praktisch aus- gierung Mut zu einem heiklen Vor- Die Stromversorger brauchen Hanau geschlossen. Bhaben. Washington wäre erfreut, einfach nicht mehr. Sie wollen künftig ih- Gefahr droht jedoch, solange der Waf- schrieb ein Beauftragter des US-Präsi- re abgebrannten Brennelemente ohne fenstoff in unzureichend gesicherten La- denten an Kanzleramtsminister Fried- Wiederaufarbeitung und Rückgewin- gern im politisch instabilen Rußland her- rich Bohl, wenn russisches Waffenpluto- nung von Plutonium im Salz vergraben. umliegt. Plutoniumpulver kann relativ nium im deutschen Atomdorf Hanau Das bereits vorhandene oder noch anfal- leicht gestohlen werden. Plutoniumnitrat vernichtet würde. Die Deutschen – die lende Plutonium, insgesamt 40 Tonnen, muß in dauernd gekühlten Fässern ver- seit dem Plutoniumdeal des BND eini- rechtfertigt die Inbetriebnahme der Fa- wahrt werden, über deren Qualität die ges wiedergutmachen müssen (SPIE- brik nicht. Darum kümmern sich Unter- West-Fachleute wenig wissen. Ökologi- GEL 15/1995) – könnten so einen be- nehmen im Ausland. sche Katastrophen sind wahrscheinlich. deutenden Beitrag zur Abrüstung lei- Andererseits aber schmerzt es Sie- Oder aber der internationale Deal mit sten. mens, die fast fertige Anlage einfach un- Hanau kommt zustande. In der kleinen Sogleich setzten sich die Staatssekre- genutztabzureißen. Und wäre esnicht für hessischen Stadt ließen sich zumindest täre aus drei Bonner Ministerien zusam- künftige Kontroversen um die deutsche Teile des Russen-Plutoniums kostenlos men. Sie ließen Experten die amerikani- Nuklearenergie hilfreich, wenn Hanau, vernichten. Die Moskauer Atomeigner sche Anregung prüfen. Jetzt liegt der einst Inbegriff der verhaßten Plutonium- könnten sogar noch mit Devisengewin- Bericht vor. Fazit: „Die Verarbeitung nen zum Mitmachen ist technisch möglich und sicherheits- animiert werden. und sicherungstechnisch realisierbar.“ Das geht so: Die be- Die Federführung liegt beim Auswär- reits investierte Milli- tigen Amt. Dessen Staatsminister Wer- arde Mark haben die ner Hoyer will nun für „eine vorbehalt- Stromkonzerne und lose politische Prüfung“ sorgen. Siemens so oder so Als wäre die nicht schon in vollem verloren. Nun müßten Gange. „Ich glaube“, schlug John H. sie sich bereit finden, Gibbons, der Beauftragte Clintons für die Fabrik für eine Wissenschaft und Technologie, vor, symbolische Mark an „daß es nützlich wäre, wenn sich eine einen neuen Eigen- kleine Gruppe von amerikanischen und tümer zu verkaufen. deutschen Regierungsbeamten bald Als Kandidat steht treffen könnte, um Optionen für die si- das Kernforschungs- chere Verwendung des russischen Waf- zentrum Karlsruhe be- fenplutoniums zu prüfen.“ reit. Mitmachen sollte Das Schreiben ging an Ministerialdi- das russische Atommi- rektor Rudolf Dolzer, im Kanzleramt nisterium Minatom, zuständig für die Nichtweiterverbrei- dazu möglichst noch tung von Atomwaffen. ein US-Laboratorium Die Deutschen stiegen gern ein und und die Internationale schickten ihre Emissäre schon mal nach Atomenergiebehörde Moskau. Am 30. Mai sprach Bonns Ab- IAEO. rüstungsbeauftragter Josef Holik mit Die neuen Eigentü- dem stellvertretenden Minister für mer müßten mit Sie- Atomenergie, Nikolai Jegorow, über mens einen Vertrag russisches Plutonium für Hanau. Jego- über das Betreiben der row, so steht es in einem Gesprächspro- Atomfabrik abschlie- tokoll, „zeigt sehr deutlich russisches In- ßen. Die neuen Misch- teresse an einer solchen Möglichkeit“. oxid-Brennelemente, Auch in Bonn ist bereits einiges in Be- die aus dem russischen wegung gekommen. Vertraulich sondie- Plutonium entstehen, ren Unionsabgeordnete bei SPD und kämen zu einem Preis Grünen, die den Plan bislang als beson- zwischen 1600 und

ders bösartige Finte der Atommafia ab- B. BOSTELMANN / ARGUM 2000 Mark pro Kilo lehnen, um die eigentlich überflüssige Brennelementewerk in Hanau Schwermetall auf den Plutoniumfabrik in Hanau zu retten. Klingt ziemlich plausibel Markt. Das ist deutlich

54 DER SPIEGEL 26/1995 billiger als Brennelemente aus Uran oh- ne Plutonium. Für die Kraftwerksbe- treiber bestünde also ein Anreiz, derlei Plutoniumbrennelemente zu kaufen. Was sich Amerikaner und Deutsche ausgedacht haben, klingt ziemlich plau- sibel. Die Russen müssen das Plutoni- um kostenlos liefern; für ihr Uran und die nötigen Hüllrohre bekommen sie Bares. Sie sind also die einzigen, die bei diesem Geschäft verdienen. Mit dem in Deutschland erzielten Gewinn soll Mos- kau später Siemens eine Fabrik nach Hanauer Muster abkaufen und auf eige- nem Territorium am Abbau des Bom- benberges weiterarbeiten. Am Ende soll die russische Regie- rung, ebenso wie die amerikanische, auf jegliche Plutoniumproduktion verzich- ten. Westliche Elektrizitätsunterneh- men sind sogar bereit, in Krasnojarsk ein Gasturbinenkraftwerk vorzufinan- zieren. Erst dann könnten dort die Plu- toniumreaktoren abgeschaltet werden, die heute Fernwärme liefern. Das sind weitreichende Pläne, das Plutonium aus der Welt zu schaffen. Aber sind sie auch politisch durchsetz- bar – zum Beispiel im rot-grün regierten Hessen? Oberrealo Joschka Fischer räumt zwar ein, daß die Vernichtung des Plutoniums hohen Rang habe. Die- sem Ziel aber ausgerechnet durch die Produktion von Brennelementen in Ha- nau zu dienen, die dann in deutschen Kraftwerken verwendet werden, sei sei- nen Anhängern nur schwer zu vermit- teln. Um den Grünen aus der Klemme zu helfen, bieten die Hanau-Befürworter nun listig an, die Brennelemente später nicht in deutschen, sondern in belgi- schen, Schweizer, koreanischen oder ja- panischen Kraftwerken zu verfeuern. Y Gegendarstellung In der Ausgabe von „Der Spiegel“ 17/95 wurde auf Seite 77 ff. unter der Über- schrift „First Flush“ u.a. über das Un- ternehmen Projektwerkstatt Teekampa- gne mbH, Berlin berichtet. Im Zusammenhang mit unserem Unter- nehmen wird dort unter Berufung auf einen Mitarbeiter des Tea Boards of In- dia in Kalkutta behauptet, daß das Baumpflanzenprojekt S.E.R.V.E., das von uns mit „angeblich“ 267.000,-- DM unterstützt worden sei, mangels Mitteln eingestellt worden sei. Diese Behauptung ist falsch. Richtig ist, daß das Projekt S.E.R.V.E. von uns mit bisher 307.000,-- DM finan- ziert wurde. Das Projekt ist auch nicht eingestellt worden, sondern besteht nach wie vor fort. Berlin, den 30. Mai 1995 Projektwerkstatt Teekampagne Die Geschäftsführung Thomas Räuchle

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SERIE Der Erlöser aus Altona Der Fall Axel Springer (II): Bürgersohn, Künstlernatur und Zeitungskönig / Von Michael Jürgs

ines Nachts beschließt Axel Sprin- ger, das Atmen einzustellen, in ERuhe zusterben und dann wieder- geboren aus dem Jenseits als Prediger auf die Erde zurückzukehren. Das war im Jahre des Herrn 1957. Der nächtlichen Todessehnsucht, die naturgemäß nicht zum Ziel führt, folgt beim Frühstück, wie immer Tee und Toast, überraschend die Verkündigung: Siehe, hier steht endlich der so oft schon verheißene Erlöser vor Euch! Dieser Bekanntmachung wider den gesunden Menschenverstand waren in- tensive Gebete in Springers Privatkapel- le vorausgegangen. Sie bestand aus ei- nem langen, dunklen, kaum möblierten Raum in einem Haus am Elbhang- Grundstück in Falkenstein. Auf einem schweren Eichentisch lag, wie auf einem Altar, die aufgeschlagene Bibel zwi- schen zwei Kerzen. An den Wänden hingen das Bildnis des Schmerzensman- nes von Lucas Cranach, ein Porträt von Franz von Assisi und eines des frommen Nikolaus von Flüe. Der Schweizer Einsiedler (1417 bis 1487), unter dem gängigen Namen Bru- der Klaus in seiner Heimat ein National- held und jedem Schulkind ein Begriff, als Retter des Vaterlandes verehrt, wur- de Springers Vorbild bis ans Lebensen- de. Der Bauer und spätere Ratsherr, der weder lesen noch schreiben konnte, hatte nach einer Vision inmitten eines „schmerzhaften hellen Lichts“ seine wahre Berufung erfahren: Gott zu die- nen. Er gehorchte unmenschlich rigoros, verließ seine Frau und seine zehn Kin- der, zog sich in ein finsteres Tal zurück, den Ranft. Der Legende zufolge hat er dort 20 Jahre lang gefastet und bis zu seinem Tod als gottesfürchtiger Eremit in einer dunklen Hütte gelebt. Solchen Männern kann der Tod nichts anhaben, sie leben ewig im Gedächtnis des Volkes, erklärte Springer, und eine solche legendäre Figur wollte er auch werden. Der nach dem Zweiten Weltkrieg hei- liggesprochene Nikolaus hat nichts Schriftliches hinterlassen, er war ja An- alphabet. Aber sein nachgeborener Schüler las alles, was über ihn geschrie- ben war. Eine holzgeschnitzte Statue W. STECHE / VISUM Großverleger Springer (1982): Frühe Visionen mit Blut in den Schuhen © List Verlag, 1995.

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Ehemalige Springer-Villa in Hamburg-Falkenstein: Im Licht von oben die Verkündigung des neuen Messias T. RAUPACH / ARGUS

des Mystikers mit dem schmerzverzerr- fongespräche annahm, mußte der „Assi- Natürlich kennt Springer diese Sätze ten Gesicht stand in Springers Büro. stent des Verlegers“, wie sich Kracht da- und zitiert sie als Beleg dafür, daß er Das Kreuz, das der Verleger nach sei- mals nannte, mehrmals täglich zwischen eben nicht verrückt sei, sondern ganz ner messianischen Erleuchtung symbo- dem Verlagshaus in der Innenstadt und normal seiner visionären Bestimmung lisch für alle tragen will, hängt als Ein- der Villa draußen an der Elbe hin- und folge. Dennoch, daß Jesus in der richti- zelstück groß und schwer überm Bett in herfahren. gen Welt nun Axel heißt, muß geheim- seinem Zimmer im unteren Haus des Visionen, wie Springer sie hatte, müs- gehalten werden – zum Beispiel vor Anwesens am Elbhang. Dorthin ist er sen allerdings nicht unbedingt mit Mutter Ottilie. Die hätte allen Leuten aus der großen Familienvilla gezogen, schweren Störungen zu tun haben. Sol- auch von diesem erneuten Aufstieg ih- nachdem ihn so plötzlich das Licht von che Erscheinungen sind für Tiefenpsy- res Cäsar erzählt. oben getroffen hatte. Er will in diesem chologen nichts Ungewöhnliches. Man Einige wenige an König Axels Tafel- Raum, der sich in einem riesigen Fen- hätte bei C. G. Jung nachschlagen kön- runde sind eingeweiht. Sie sorgen für ei- ster zum breiten Strom öffnet, mit sich nen zum Thema Nikolaus von Flüe: „Ich ne offizielle Lesart, die für die Außen- und seinem Gott allein sein in seiner habe medizinisch an Bruder Klaus über- welt akzeptabel klingt: Der Mann an der neuen Rolle als Erlöser. haupt nichts auszusetzen. Ich betrachte Spitze des Konzerns habe eine vorüber- Ein Psychiater hätte im Sommer 1957 ihn als einen ungewöhnlichen, aber kei- gehende kleine Herzschwäche; außer- nach Springers messianischen Visionen neswegs krankhaften Menschen.“ Seine dem leide er, wie bekannt, seit seiner von Erlösertum und Wiedergeburt wohl Visionen und Halluzinationen seien Jugend an einer Unterfunktion der einen schizophrenen Schub, eine Art re- nicht unbedingt schizophrene Wahn- Schilddrüse und könne deshalb seine ligiöser Wahnvorstellung diagnostiziert, ideen, eher der klassische Ausdruck Geschäfte nur von zu Hause aus führen. in so klassischer Erscheinungsform gera- fortschreitender Selbstfindung. Das wirkte, nach den schweren Jahren dezu ein Fallbeispiel der Seelen- seit 1945 und den Anstrengungen forscher für die medizinische des Aufbaus, nachvollziehbar. Ausbildung ihrer Studenten. Axel Springer wird von denen, Normalerweise hat das, zwecks die ihn ehrlich lieben und vereh- Beobachtung, eine vorüberge- ren, der Wirklichkeit entzogen. hende Einweisung in eine ge- Zufällige Besucher aus der feinen schlossene Abteilung zur Folge. Nachbarschaft schlucken eine ge- Grüß Gott, Jesus, ich bin Napo- wisse Irritation hanseatisch hin- leon. unter, wenn sie zum erstenmal Um Aufsehen zu vermeiden, vom Hausherrn gesegnet wer- hätte es auch ein vertrauliches den, der nur nickt und überhaupt Gespräch etwa mit dem berühm- nicht lacht, als sie ihn scherzend ten Hamburger Psychiater Hans fragen: Axel, was ist, bist du Je- Bürger-Prinz getan. Dem waren sus? solche Fälle aus der Hamburger Wie er den Jesus-Komplex Gesellschaft – vielleicht liegt’s wieder los wurde, erzählte Sprin- am Klima? – nicht fremd. Er ger, in dunklen Andeutungen, pflegte die Patienten zu einer dem Zeit-Spaziergänger Ben Wit- ganz bestimmten Kur in ein ganz ter 1967 in Berlin. Witter zitierte bestimmtes Sanatorium in die Springer: Berge zu schicken. Ehefrau Rosemarie Springer Vor zehn Jahren hatte ich eine und Majordomus Christian Krise. Unter anderem fragte ich Kracht brachten „ganz zufällig“ mich, warum der Zigarettenfa- den berühmten Professor ins brikant Philipp Reemtsma auf Gespräch – vergebens. Springer einen Brief von mir nichts von

blieb bei sich. Da er keine Tele- AKG sich hören ließ. Abends klingel- Schweizer Einsiedler Flüe* te es. Reemtsma stand vor der * Holzschnitt von 1860. Visionär in dunkler Hütte Tür. Wir kamen gar nicht auf den

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SERIE

wenn ihm ein Zettel aufden Bo- mert sich Axel Springer um sie, vergißt den fiel. Dafür hatte er seine die eigenen Ambitionen zu sterben und Bücklinge. sorgt dafür, daß sie bald wieder zu Kräf- Rosemarie Springer, die be- ten kommt. Er erlöst sie von ihren rühmte Dressurreiterin, gibt Schmerzen. dem Wahn Sinn. Sie läßt sich Grenzenlos ist ihre Bewunderung geduldig von Axel erklären, wie nach wie vor für alles, was Axel tut und esdenn wäre, wenn er als Predi- sagt. Nur morgens um sieben, wenn die ger durch die Lande zöge, um Zeitungen an den Frühstückstisch ge- das Wort Gottes zu verkünden. bracht werden, verliert er nach erster Sie drängt sofort die Herren des Lektüre manchmal die Contenance und Verlages, etwa den ehrbaren fängt an zu brüllen – nicht mit ihr, son- Kaufmann Karl Andreas Voß, dern am Telefon. Aber sie muß die Fol- aus dem Zimmer –mit dem Ge- gen solcher Ausbrüche, die schlechten murmel „Schon wieder ein Fie- Launen, ausbaden. Und sie schlägt nie beranfall“ –, wenn der Verleger zurück. mitten im Strategiegespräch Was er nach dem überstandenen vom Marketing übergangslos Schub nicht vergißt, ist die ihm nach sei- zur Mystik umschwenkt und er- ner Überzeugung von Gott gestellte klärt, wie mit seiner und Gottes Aufgabe, die Menschen zu erlösen – Hilfe die Einheit des geliebten oder zumindest den Teil davon, der deutschen Vaterlandes wieder- deutsch spricht. Nicht mehr als Gottes- zugewinnen sei. Oder warum es sohn und wiedergeborenen Wanderpre- nötig sei, in der Bild-Zeitung diger, aber als Auserwählten und einen die Bibel als Serie zu drucken. der wenigen Gerechten sieht er sich, die Sie sorgt dafür, daß er trotz es in der Geschichte der Menschheit im- aller pathetischen Ankündi- mer gegeben hat und die scheinbar Un- gungen, nie mehr essen zu wol- mögliches möglich machten. len wie sein Vorbild Nikolaus Deren von Gott gestellte Aufgabe ist

K. MEHNER von Flüe, nicht an Unterernäh- es, die Welt vor dem Satan zu retten – Mystiker Springer, Ratgeber Kracht (1970) rung stirbt. Der Kühlschrank ist was ja der simplen Philosophie vieler Göttliche Harke für die Russen stets voll, und sie spricht nicht Blätter entspricht, die ihm gehören. darüber, wenn siemorgens fest- In einem Geburtstagsbrief für ein Ju- Brief zu sprechen. Ich traute meinen stellt, daß Jesus in seiner Verkörperung biläum der Frauenzeitschrift Constanze, Ohren nicht. Er sprach von meinen Pro- als Axel nachts doch ganz irdischen die er mitbegründet, deren Anteile er blemen . . . Er ging und nahm meine Hunger gehabt hat. aber bald an den Verlegerfreund John Probleme mit; ich wartete, aber sie ka- Seine Frau hat ihn damals gerettet, Jahr verkauft hat, beschreibt Springer men nicht wieder. Ich war sie los. nicht nur demütig als Maria, die ihm die die „geistige Ecke“, aus der heraus er Füße wäscht und salbt, sondern auch als handelt: Es ist die des Franz von Assisi, Tatsächlich hat Reemtsma ihn be- Magdalena, die gotterge- sucht – auf Bitten von Springers Frau ben vor ihm und dem Rosemarie. Ihr Mann verdankt es Kreuz kniet, bevor sie ihn hauptsächlich ihr, einer gelernten und lieben darf. resoluten Krankenschwester, daß er sei- Eines Tages setzt sie, nach intensiven Gesprä- chen mit dem Arzt, eine „Quatsch, Stigmata – ganz simple Idee, auf die das kommt sie durch Bibellektüre ge- kommen war, in die Tat vom Koffertragen“ um. Jesus, der seinen Nächsten liebte wie sich ne Probleme los wird – oder nicht mehr selbst und eben nicht wie als Probleme empfindet. Axel nur sich selbst als sei- Sie hat nicht den Fehler gemacht, in nen Nächsten, mußte nun Gelächter auszubrechen, als er eines an seine göttliche Bestim- Morgens verkündet, Blut in seinen mung erinnert werden, Schuhen gefunden zu haben, oder sich Menschen selbstlos zu hel- an den Kopf zu fassen, als er mit ver- fen und von allem Übel zu klärtem Seherblick – den er bis ins Alter erlösen. auf allen offiziellen Fotos inszenierte – Sie bricht also vor ihrem seine Handflächen hochhält und auf die Mann auf dem Boden zu- Stigmata hinweist. sammen, windet sich in Seine persönliche Astrologin Ina Het- Krämpfen, hustet zum zel hätte fast ihren einträglichen Job Gotterbarmen und erklärt, verloren, weil sie dem Messias vom Fal- nunmehr sterben zu müs- kenstein bei Gelegenheit trocken erwi- sen. Von Stund an küm- derte: „Quatsch, Stigmata – das kommt * 1957 auf der Stute Thyra beim vom Koffertragen.“ Als ob König Axel AP Sieg in der Dressurprüfung Klas- jemals selbst einen Koffer getragen hät- se S des Internationalen Reittur- Springer-Ehefrau Rosemarie* te. Er hat sich ja nicht mal gebückt, niers in Hamburg-Klein Flottbek. Zusammenbruch vor dem Hausherrn

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„Sohn reicher Eltern“, „Rebell gegen hob. Der lokale Anzeiger von Saanen lä- diktinerklosters im bayerischen Nieder- Sattheit und Trägheit des Herzens“, der sterte, dieser würde Springer „die Mög- alteich, den Springer als damals einfa- sich, wenn er derzeit noch lebte, „mit al- lichkeit geben, mit dem Glöcklein die chen Pater und Herausgeber der „Auf- len Fasern seines Herzens“ um die Er- Bergtiere zur gemeinsamen Andacht zu- richtigen Erzählungen eines russischen haltung des Friedens bemühen und alle sammenzurufen“. Pilgers“ konsultiert. Leute aufrütteln würde, „die vergessen In der Tat betete und meditierte Sprin- Um über das Jesusgebet zu reden: haben, daß noch 17 Millionen Menschen ger in diesem Turm. Er folgte damit der „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, er- in einem anderen Teil Deutschlands le- Überlieferung des Nikolaus: Der habe, barme Dich meiner“, das nach Empfeh- ben, in dem es unmenschlich zugeht“. heißt es da, als 16jähriger einen „Turm an lung des russischen Pilgers viele tau- „Ich bin ein politisch engagierter der Stätte gesehen, wo jetzt sein Häuslein sendmal den ganzen Tag über laut oder Christ“, erklärt der Verleger später in und die Kapelle stehen“. stumm gebetet werden soll, bis es die einem Interview mit Kontinent, dem von Nachdem unbekannte Brandstifter Kraft eines göttlichen Mantra erfüllt, ihm finanzierten Magazin russischer Springers stilles Refugium im Januar fährt Springer im November 1979 mit Dissidenten, „das ist kein Geheimnis. 1975zerstört hatten,ließder Verleger aus gepanzerter Limousine bei Jungclaussen Und ich habe aus dem christlichen Glau- den Mauerresten einen Gedenkstein für im Kloster vor. bensbereich Leitbilder, die mein Leben Nikolaus von Flüe errichten. Auf dem In diesen Zeiten wird der Großverle- und Wirken prägend begleiten.“ Bronzerelief mit dem knorrig-hageren, ger von schwerbewaffneten Sicherheits- beamten begleitet. Die vier Bodyguards und seinen Fahrer beordert Springer trotz aller Proteste in ein Hotel in den Nachbarort: Mit der Pistole, die er bei sich trägt, werde er sich im Notfall schon schützen können. Das beruhigt die Si- cherheitsbeamten nicht, denn sie wissen, daß Springer ein lausiger Schütze ist und sich wahrscheinlich aus Versehen ins Bein schießen würde, an- statt einen Angreifer zu tref- fen. Doch der Verleger setzt sich durch. Er besucht die Gottes- dienste, die nach byzantini- schem Ritus abgehalten wer- den, und spricht mit Emmanu- el Jungclaussen viele Stunden lang über sein Verhältnis zu Gott, über seine Erlebnisse auf Patmos, Insel der apokalypti- schen Johannes-Offenbarung, wo er ein Haus besitzt, vor al- lem aber über die Techniken, das Jesusgebet, auch Herzens- gebet genannt, in seinen Alltag zu integrieren. Die Kirche seiner Kindheit

SCHLEGEL hatte er zehn Jahre zuvor ver- Springer-Chalet in Rougemont (1968): „Mit dem Glöcklein die Bergtiere zur Andacht rufen“ lassen. Da war der Parvenü aus Altona, der einst Hamburg Springers gelegentliche Aufstiege in schmerzverzogenen Bildnis des bärtigen eroberte, längst in die ehemalige Welt- die Schweizer Berge versetzten ihn im- Einsiedlers stehen Flüe-Sätze, die Sprin- stadt Berlin gezogen. Nun wollte er die mer wieder in Verzückungen. Wenn er ger auswendig kannte und in vielen sei- evangelische Landeskirche nicht mehr dort kleine blonde Kinder sah, die er für ner Reden benutzte: „Was die Seele für mit seiner Kirchensteuer finanzieren. Engel hielt, ihm von Gott als Helfer im den Leib, ist Gott für den Staat. Wenn Die Sympathien führender Theologen Kampf gegen das Böse gesandt, brauch- die Seele aus dem Körper weicht, dann wie Helmut Gollwitzer und Kurt te seine Begleitung schon großes Ge- zerfällt er. Wenn Gott aus dem Staat ge- Scharf für die Ziele der Studentenre- schick, um ihn davon abzubringen und trieben wird, ist er dem Untergang ge- bellion, also für die Leute, die immer ihn daran zu hindern, die Eltern zu be- weiht“. „Enteignet Springer“ an die Mauern suchen, um die Engel zu adoptieren. Ausgerechnet im Jahr des Studenten- sprühten und in den Straßen brüllten, In Rougemont, wenige Kilometer von aufruhrs, 1968, antwortet der Prophet förderten nicht seine Zuneigung. Gstaad entfernt, wo er ein Haus besaß, aus Altona auf die Frage, wer denn der Im März 1969 wechselte er zu den ließ er für 130 000 Schweizer Franken beste Chefredakteur für seine Bild-Zei- Alt-Lutheranern in Berlin, gegründet ein Chalet bauen, auf einer einsamen tung wäre, das könne eigentlich nur Je- 1830 in Preußen, deren Geschichte ge- Bergwiese mühsam erreichbar, som- sus sein. prägt ist von Gehorsamkeit – und die mers per Jeep und winters nur per Hub- „Er hielt nichts von irgendwelchen Widerstand gegen den Staat nur er- schrauber. Es unterschied sich von an- modernen theologischen Theorien. Er laubt, wenn dessen Handlungen nicht deren Berghütten durch den kleinen war ein zutiefst gläubiger Mensch“, sagt mit den Gesetzen Gottes übereinstim- Turm, der sich über dem Dachfirst er- Emmanuel Jungclaussen, Abt des Bene- men.

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Springer besuchte regelmäßig den Gottesdienst in Zehlendorf, was ein wenig Unruhe in die Gemeinde brach- te, denn die Herren mit der Knarre ließen ihren Schützling auch im Hause des Herrn nicht allein. Eigentlich war die Gemeinde in Berlin vom damaligen Bischof zur Schließung vorgesehen, weil nicht mehr genügend Geld da war. Bis Gott Springer vorbeischickte. Mit dem politisch geprägten Chri- stentum der sechziger Jahre konnte er nichts anfangen. Als ausgerechnet sein Hamburger Abendblatt Weihnachten 1968 in einer fünfteiligen Serie über

die „Rebellen im Namen Christi“ be- LICHTBLICK richtete, machte er Chefredakteur

Martin Saller mit seinem Gottesbild S. SAUER / vertraut: Kirche der Alt-Lutheraner in Berlin: Mit der Knarre im Haus des Herrn

Altona schon verliebt, als er seinen Gu- der Nation. Er erzählt Springer von Ni- Mit neutralistischem ru im Sommer 1941 auf Sylt zum ersten- kolaus von Flüe, empfiehlt die Schriften Teufelswerk auf mal traf. Bei ihrem ersten gemeinsamen von Mystikern und kann begründen, Spaziergang am Watt sahen die zurück- warum es in bestimmten Zeiten vom die Reise nach Moskau gebliebenen Gefährten durchs Fenster Weltgeist Auserwählter bedarf, um die nur große Gesten des damals 42jährigen Welt zu verändern. Er hat mir die Zu- Ex-Chefredakteurs der nationalrevolu- kunft gedeutet, erzählt Springer später Der Zürcher protestantische Kirchenhi- tionären Zeitschrift Die Tat. über den Mann, den er glühend bewun- storiker Walter Nigg, dessen Bücher dert. mich seit mehr als zehn Jahren beglei- Zehrer, geistiger Mentor des um die Zehrers erster Versuch, die von den ten, schrieb hierzu kürzlich: Die Theolo- Zeitschrift entstandenen Tat-Kreises – Briten gegründete Zeitung Die Welt zu gie wurde im Laufe der Zeit streitsüch- mit Ernst Jünger, Otto Strasser, Ernst leiten, scheiterte am Einspruch der Sozi- tig . . . und in der Gegenwart nahm sie von Salomon, aber auch Theodor Plie- aldemokraten. Wollen wir, fragten die, zuweilen einen auflösenden, sich ver- vier, , Kurt Schuma- eine demokratische Presse mit den To- hängnisvoll auswirkenden Charakter cher –, war in der Weimarer Republik tengräbern der ersten deutschen Demo- an. Deshalb ist es angebracht, der einer der effektivsten Propagandisten kratie aufbauen? Theologie mit einer gewissen Vorsicht einer neuen Ordnung mit alten völki- Zehrer bedrängt seinen Freund Axel, zu begegnen. Eine solche Vorsicht hat schen Mythen, bevor die Nazis ihren sich um dieses Blatt zu kümmern, so et- die Redaktion in der Serie kaum walten Mythos vom tausendjährigen Reich aus- was fehle ihm doch. Springer erwirbt im lassen. riefen. Ihn einen Salon-Nazi zu nennen ist er- September 1953 mit Hilfe des CDU-Po- Der unvorsichtige Mann an der Spitze laubt, obwohl er niemals Mitglied der litikers und mit Unter- des Abendblatts wurde, nicht ganz so NSDAP war. Er hat die Nazis salonfä- stützung Konrad Adenauers, der sich christlich, wenige Monate später abge- hig gemacht, die braunen Schläger ge- ein regierungstreues Blatt verspricht, löst. gen das „verrottete System“ und den für nie dementierte lächerliche 3,7 Mil- Sein Nachfolger druckte zu Springers „undeutschen Liberalismus“ zu Präto- lionen Mark, wovon ein Großteil noch Wohlgefallen Texte aus der Bibel. Als rianern stilisiert. steuersparend über Stiftungen läuft, die er jedoch den Ketzer Daß sie ihm seine Mehrheit an Welt und Welt am Sonntag. Hans Küng zu Wort Zeitschrift wegnahmen Kracht ist in London und berichtet kommen ließ, verlang- und damit seine Kan- Springer jeden Abend über mögliche te der Verleger brief- zel, von der aus er zum neue Entwicklungen bei der Entschei- lich „Schutz für solche intelligenteren Teil des dung. Leser Ihres Blattes, die Volkes sprach, verzieh Zehn Minuten nach der entscheiden- den Weg des Glaubens er ihnen nicht. Ent- den Unterschrift ruft Springer sein bereits gefunden zu ha- täuscht verließ er „Hänschen“ Zehrer an. Los geht’s. Die ben glauben“. die Hauptstadt, ein Restauration braucht ihre Väter. Unter seinen Blatt- Brandstifter ohne Zehrer bestärkt den jungen Verleger machern fühlte er sich Streichhölzer, nun- im Glauben, daß er zu Höherem beru- lange Zeit von Welt- mehr auf der Suche fen sei. In diesem Glauben, mit seinen Chefredakteur Hans nach Religion statt gerade überstandenen Jesus-Visionen, Zehrer am besten ver- nach dem neuen Men- aber auch mit einem detaillierten Horo- standen. Der hatte schen. skop in der Tasche, macht sich Springer auch seine Messias- Auf Sylt redet er zu im Januar 1958 nach Moskau auf, um Verzückungen hautnah Springer bedeutend beim Parteichef Nikita Chruschtschow mitbekommen. über den Tag hinaus, die Wiedervereinigung abzuholen. Zehrer kannte sich über den deutschen In seinem Horoskop von Astrologin aus. In den metaphysi- Menschen an sich. Er Ina Hetzel ist der günstigste Zeitpunkt schen Wortqualm des predigt dem jungen für die Übergabe des Springerschen berühmten Journali- Mann über die not- Wiedervereinigungsplans berechnet.

sten aus Berlin hatte W. M. WEBER wendige Rückbesin- Als Christian Kracht an jenem Tag um sich der 29jährige aus Benediktiner Jungclaussen nung auf ewige Werte 13.50 Uhr im Kreml alles übergeben

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Blick in die unglückliche Vergan- ner Hausastrologin lastet er an, daß er genheit Deutschlands zu werfen. in Moskau so schmählich gescheitert ist. In Zukunft wird er bestimmen, wohin es Abzug der fremden Streitkräfte geht und wie man das in der Welt um- aus beiden Teilen Deutschlands, setzt. Viermächtekontrolle der ge- Zehrer wird kaltgestellt und stirbt samtdeutschen, nicht atomar 1966, postum hoch geehrt wie so man- ausgerüsteten Streitkräfte. cher, den Springer fallenließ. „Der Deutschland verpflichtet sich, Welt-Alltag“, berichtet ein ehemaliger keinerlei Koalitionen oder Mili- Redakteur, „war deshalb besonders tärbündnisse einzugehen, die schlimm, weil wir selbst zu Feiglingen sich gegen irgendeinen Staat wurden und freiwillig in unseren Arti- richten, der mit seinen Streit- keln auf alles verzichteten, wovon wir kräften am Krieg gegen annahmen, daß es nicht durchgehen Deutschland teilgenommen hat. würde.“ Garantie der Unverletzlichkeit Ohne Zehrers Prophezeiungen ergab deutschen Gebietes durch die sich Springer, neben seinem Gottesglau- Regierungen der UdSSR, der USA, Großbritanniens und Frank- reichs. Mit Chruschtschow kommt es

TEUTOPRESS schließlich zur „lautesten politi- Früherer Hör zu-Chef Rhein (1989)* schen Diskussion“, die er je ge- Abscheu vor Horoskopen habt habe, erzählt Springer viele Jahre später; er habe seine Lekti- will, wird er in letzter Minute zurückge- on gelernt. „Chruschtschow hat mir ge- rufen. sagt, daß ein gesamtkommunistisches Springer ist ganz bleich und zittert. Deutschland kommen wird.“ Alles hätte schiefgehen können: Die Die angebotene Sondermaschine, die selbsternannten Unterhändler, die mit ihn und seine Begleitung nach dem völli- Hilfe einer Wahrsagerin den Deutschen gen Fehlschlag zurückbringen soll, lehnt die Einheit bescheren wollen, haben er ab. Kracht muß eine SAS-Maschine den Zeitunterschied zwischen Moskau chartern, Geld spielt keine Rolle. und Deutschland vergessen. Nach seiner Rückkehr in die geteilte Chruschtschow läßt Springer auf sei- Heimat zeigt der verhinderte Erlöser nen Termin warten. Die mitgereiste Ro- seinen Moskauer Gesprächspartnern, semarie Springer leiht sich von ARD- was eine göttliche Harke ist. Er beginnt, Korrespondent Gerd Ruge die Schreib- in seinen Blättern das Reich des bösen maschine aus, und die beiden Deutsch- Chruschtschow zu bekämpfen, wie von

landpolitiker Zehrer und Springer dik- Gott befohlen. Durch diese Reise, er- SÜDD. VERLAG tieren einen Plan in fünf Phasen, wie er zählt Zehrers Patensohn Hans Weimar, Welt-Chefredakteur Zehrer (1965) wenig später von Springers Zeitungen kam es zum Bruch zwischen Zehrer und „Undeutscher Liberalismus“ als Teufelswerk verdammt worden wä- Springer. Der Verleger fühlte sich von re: voll neutralistischen Gedankenguts, seinem Mentor in ein politisches Aben- ben, ganz der Astrologie – im Gegen- mit der DDR ohne Anführungszeichen. teuer gejagt – Zehrer und nicht etwa sei- satz zum Hör zu-Chef Eduard Rhein, Die Hauptthesen: dem schon der Glaube an Gott etwas für „Dumme und Neger“ schien. Einheit und anschließende Entpolitisie- Rhein ließ unter das von Springer ge- rung Berlins. Gleichzeitig Beitritt der wünschte Horoskop in der Hör zu im- Bundesrepublik und der DDR zum kon- mer in Winzigschrift setzen, es erschei- trollierten Atomwaffenfreien Raum, der ne außerhalb der Verantwortung der die beiden Teile Deutschlands, Polen Redaktion. und die Tschechoslowakei umfaßt. Ein- setzung einer gesamtdeutschen Sach- Eine schwarze Kladde, in der Sprin- verständigenkommission zur Vorberei- ger Voraussagen seiner Hausastrologin tung der Zusammenführung beider Tei- Hetzel notiert, trägt er immer bei sich. le auf der Basis eines föderativen Ge- Von den Terminen bei ihr soll nicht samtdeutschlands. mal seine Privatsekretärin erfahren. Er bezahlt Ina Hetzel, eine ungebildete Nach anderthalb Jahren freie Wahlen. dicke alte Frau, so großzügig, daß sie Zulassung von Wahlpropaganda erst allein von diesen Honoraren gut leben zwei Monate vor Abhaltung der Wahlen, könnte. Sie berät auch Zehrer und wobei den Zeitungen zur Pflicht ge- Frau Rosemarie, von der sich Springer macht werden soll, nur die auf die Zu- gerade trennen will. kunft gerichteten konstruktiven Wahl- Auf ihre Art ist die Hetzel bei der programme bekanntzugeben, ohne den Zerschlagung des Broschek-Comebacks mit dem Hamburger Fremdenblatt sehr

SÜDD. VERLAG hilfreich gewesen, weil sie ihrem lieben * Mit seinem – unter dem Pseudonym Hans-Ul- rich Horster erschienenen – Hör zu-Roman „Ein Kreml-Chef Chruschtschow (1959) Herrn Springer immer erzählte, was Herz spielt falsch“. „Gesamtkommunistisches Deutschland“ ein Mandant von der Gegenseite bei

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ihr ausgeplaudert hatte: der Anwalt der An den bevorstehenden Broscheks. Weltuntergang glaubt auch Nach ihrem Tod hat er sich zeitweise Axel Springer. Die Bibel, vom Bild-Astrologen Hans Genuit bera- gesprochen auf Kassetten, ten lassen und später eine andere Astro- hört er in vielen schlaflosen login konsultiert, die auf Sylt lebt. Nächten. In seiner Rede Weil Axel Springer damals an die Ma- bei der siebten Verleihung gie von Rutengängern und Tischerük- des Goldenen Lenkrades kern, Astrologen und Geistheilern 1982 in Berlin verwirrt er glaubte, fiel er auf der Suche nach dem die Autofahrer mit der Jo- Überirdischen natürlich zwangsläufig so hannes-Zahl Sieben: manchem unterirdischen Scharlatan in die Hände. Zu bestimmten Zeiten sei- Die Magie der Zahl hat nes Lebens drapierte er sich auf Befehl mich schon immer inter- eines angeblich weisen Mannes an ver- essiert. Das reicht bis in die Geburtstage hinein. Tag plus Monat meines Zahlen-Magie zur Geburtstages ergeben Verleihung des sieben. Tag minus Monat des Geburtstages meiner Goldenen Lenkrades Frau ergeben ebenfalls sieben. In sieben Tagen

schiedenen Körperstellen mit Blech- hat Gott die Welt erschaf- H. LIST / TRANSGLOBE stücken, aber nur in der Abgeschieden- fen. Und sieben Engel sah Privatmann Springer (1959) heit des Anwesens „Am Falkenstein“, Johannes in seiner Offen- Glaube an Geistheiler und positive Strahlen um die aus Bayern gesendeten positiven barung auf Patmos, die Strahlen des Meisters zu empfangen. die letzten sieben Plagen ertragen Hypotheken auf Springers Namen ein- Bis zu seinem Tod blieb er von Bü- müssen und damit die Endzeit einlei- getragen. Zuvor hat sich ein „Fräulein chern gefesselt, in denen die Welt esote- ten. So rahmt die Zahl Sieben in der Rieverts“ eingeschaltet – gemeint ist risch erklärt wird, Seher wundersame Bibel die ganze Geschichte unserer Springers spätere Frau Friede Rie- Erscheinungen schildern und politische Welt ein. werts. Im Hilton Hotel Athen über- Ereignisse Jahrzehnte im voraus pro- bringt sie einem Strohmann Bargeld phezeien. Springer meditiert auf Patmos mit zum Grundstückskauf – Kosten insge- Auf der griechischen Insel Patmos, den Mönchen im Kloster des Johan- samt: 171 000 Mark. wohin Johannes, der Verkünder der nes, er fastet und übt sich in Enthal- Verkauft wird das Patmos-Grund- Apokalypse, von den Römern verbannt tung. Denn das ist der Weg, den die stück von Athenagoras, dem grie- worden war, baut der Gottsucher Sprin- Mystiker beschrieben haben, der Weg chisch-orthodoxen Erzbischof von ger sein letztes Haus, sein kleinstes. zu Visionen, zu Erleuchtungen, zu in- Thyateira und Großbritannien – einem Hier fasziniert ihn das letzte Buch der neren Stimmen. seltsamen Heiligen, der das Schmieren- Bibel, die Offenbarung des Johannes, in Sein Grundstück auf Patmos kauft theater liebt. Theatralisch hat es auch seiner geheimnisvollen Bildersprache. der Verleger 1974. Später werden zwei Springer gern. 1977 läßt sich der Ver- leger in seinen Blättern feiern, weil er in Berlin das Goldene Thyateira-Groß- kreuz als „Verteidiger des Glaubens und der menschlichen Freiheit“, die höchste Auszeichnung des Erzbistums, erhält. Es wird überreicht von jener Eminenz Athenagoras, die ihm das Patmos-Grundstück verkauft. Aber das steht natürlich nicht in der Zeitung. 1979 droht der geistliche Herr mit dem Verkauf von Grundstück und Haus neben Springer, wofür der Neffe des Bischofs im Namen seines Onkels insgesamt eine Million Mark verlangt – das Grundstück sei schließlich aufteil- bar. Zwar wird er auf 600 000 Mark gedrückt, aber auch das ist noch das Fünffache des tatsächlichen Werts. Der Erzbischof weiß, daß Springer seine Ruhe haben will, und Springer bezahlt teuer dafür.

Im nächsten Heft

Kampfbefehl gegen Jung-Rote und Va- terlandsverräter – Die Peitsche für die

PA / DPA alten Getreuen – Spätes Glück und ver- Erzbischof Athenagoras (mit Krone, 1969): Heiliger mit Vorliebe fürs Schmierentheater spieltes Erbe

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Kritisiert wird die Degeto vor allem Medien auch deshalb, weil sie sehr teuer ein- kauft. So beteiligte sie sich mit 3,5 Millio- nen Mark an dem Streifen „Die Bartho- lomäusnacht“, den die ARD wegen vie- Noch nie ein ler Blut- und Mordszenen aber allenfalls nach 23 Uhr senden kann. Für je 420 000 Mark kaufte Lacksche´- Wohltäter witz alte Gruselstreifen wie „Der Un- sichtbare“ oder „Die Todeskarten des Die ARD versucht, sich mit dem An- Dr. Schreck“ von der englischen Lizenz- kauf eines 35 Millionen Mark teuren firma ADN. Den Film „Die Detektivin“ erwarb er für 445 000 Mark von ADN, Programmpakets die Gunst des obwohl ihn der Produzent vorher für Filmhändlers Leo Kirch zu sichern. rund ein Viertel angeboten hatte. „Die ARD“, kritisiert ein Filmhändler, „ist ei- ne Milchkuh, die gemolken werden olf Feller, 64, geht im Herbst in will.“ Rente. Vorher packt der alte Neuerdings droht dem Unternehmen WCSU-Fahrensmann noch einmal die Gefahr, seine Quellen in den USA zu ein heißes Eisen an: Der Fernsehdirek- verlieren. Das Filmimperium Disney

tor des Bayerischen Rundfunks und ACTION PRESS („Pretty Woman“) löste seinen Exklusiv- Spielfilmchef der ARD kämpft für den TV-Unternehmer Kirch vertrag mit der ARD und band sich an die Ankauf eines dicken Programmpakets „Modernes Bildermedium“ RTL-Mutter Compagnie Luxembour- des Münchner Medienhändlers und geoise de Te´le´diffusion. Produzent Larry CSU-Freundes Leo Kirch, 68. Kern- dig am Markt handelnde ZDF-Tochter- Gershman, der die Degeto mit allerlei stück sind die ersten zehn Episoden ei- firma ZDF Enterprises. TV-Movies belieferte, manövrierte sich ner Serie über das Alte Testament. Die lange überfällige „ARD Enterpri- in finanzielle Engpässe. Der NDR, mit Das „Bibel“-Opus, weltweit eines der ses“ wollte der 1988 angeheuerte Dege- einem Drittel an Gershmans World In- größten TV-Projekte, hat zum Dauer- to-Chef Peter Heimes erst gar nicht ab- ternational Network (Win) beteiligt, zwist in der ARD geführt. Fünf von elf warten. Genervt von der ARD-Büro- mußte in Los Angeles Krisenmanage- Fernsehdirektoren blockten die Investi- kratie und kleinlichen Konflikten mit ment betreiben. „Der Anteilserwerb wä- tion von 35 Millionen Mark für 38 Fern- dem Chef der Filmredaktion, Klaus re besser unterblieben“, sagt Martin Wil- sehstücke aus dem Hause Kirch, das et- Lacksche´witz, wechselte Heimes vori- lich, Chef der NDR-Tochter Studio wa bei dem großen Privatsender Sat 1 gen Herbst zum Sender Super RTL. Hamburg. maßgeblich mitmischt. „Es handelt sich Sein Nachfolger Lacksche´witz löste Größter Programmschatz der ARD hier ja nicht um die Fußballbundesliga, bei den ARD-Oberen wenig Begeiste- sind auf Jahre hinaus 1400 Filme aus den nach der sich alle die Finger lecken“, so rung aus. Besonders am Freitagabend, Beständen des Hollywood-Studios Me- Programmdirektor Günter Struve. dem traditionellen Spielfilmtermin, fällt tro-Goldwyn-Mayer, die der öffentlich- Dennoch dürften die ARD-Intendan- die ARD gegen die Konkurrenz ab. rechtliche Verbund 1984 direkt in den ten, falls kein biblisches Wunder ge- USA gekauft hatte – erstmals schieht, Anfang dieser Woche das Ge- ohne den Zwischenhändler schäft genehmigen. Die meisten von ih- Kirch. nen rechnen damit, in dem sich ver- 1992 jedoch war Kirch bei der schärfenden Fernseh-Wettbewerb auf ARD wieder gut im Geschäft. Kirchs Riesenarchiv mit 15 000 Spielfil- Er wurde 45 Filme zum Stück- men und 50 000 Stunden TV-Programm preis von 690 000 Mark los. Für angewiesen zu sein oder mit ihm koope- Kinoerfolge wie „Tootsie“ kas- rieren zu müssen. sierte Kirch sogar 925 000. Die ARD ist mit 10,2 Milliarden Die Verbreitung der „Bibel“ Mark Jahreseinnahmen der siebtgrößte (Produktionskosten: 200 Mil- Medienkonzern der Welt. Im wichtigen lionen Mark), seit Weihnach- Programmhandel agieren die Deutschen ten 1993im Ausland imEinsatz, zuweilen freilich wie Amateure. liegt dem praktizierenden Ka- Die ARD-Oberen hatten vor Jahren tholiken sehr am Herzen. Aller- die gutgemeinte Idee, daß die Tochter- dings nicht so sehr, daß er sie in gesellschaft Degeto die Filmeinkäufe seinem Haussender Sat 1zeigen zentral erledigen sollte. Doch der Plan möchte. Da stören, so die Be- mißriet. Auf den großen Programm- gründung, die Werbespots das messen kümmern sich heute die Abge- sakrale Programm. Die erhabe- sandten der diversen ARD-Filmfirmen ne „Bibel“-Serie, läßt Kirch wie Telepool, Europool, WDR Interna- verlautbaren, habe einen öf- tional oder NDR International um Ma- fentlich-rechtlichen Charakter. terial – Vielfalt am falschen Platz. Mangels Begeisterung der Im November 1992 regte der damali- Öffentlich-Rechtlichen sank ge ARD-Chef Friedrich Nowottny an, der Preis von drei Millionen den Rechteerwerb zu bündeln. Nichts Mark pro Folge auf knapp geschah. Auch in den vergangenen Mo- 900 000 Mark. Dafür jubelte naten schrieben ARD-Planer eifrig Re- Kirch seinem Kunden neben formkonzepte. Vorbild war die selbstän- Kirch-Film „Tootsie“: Wieder gut im Geschäft der „Bibel“ 28 deutsch-italieni-

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sche Co-Produktionen unter, darunter ternehmen Aqua Treat GmbH. Dierech- die Serien „Die Kinderklinik“ oder „Die Berater neten über400 000MarkHonorar fürden Anwältin“. Ein Großteil der Werke ist Berater einfach in den Grundpreis hin- noch gar nicht fertig. ein. Was Rudolph von dieser Summe er- „Wir kaufen die Katze im Sack“, wet- halten hat, ist unbekannt. tert Rüdiger Hoffmann, Fernsehdirektor Gute Hände Jährlich sollte der Abwasserzweckver- von Radio Bremen. Wenn „Die Bibel“ band rund 6,25 Millionen Mark als Be- ein Erfolg würde, meint WDR-Manager Ein vom Bonner Umweltministerium treiberkosten bezahlen: Umgerechnet Michael Schmid-Ospach, hätte Kirch die gesandter Professor empfahl auf die verbrauchte Wassermenge rund Serie seinen eigenen Sendern angeboten: 14 Mark pro Kubikmeter. „Der war noch nie ein Wohltäter der Ostkommunen überteuerte Klär- Erst alsKontrolleure des Thüringer In- ARD.“ anlagen. nenministeriums sich des Falles annah- Gegen die vielen Bedenken setzte men, reduzierten beide Unternehmen ih- Christdemokrat Henning Röhl, Fernseh- re Forderung. Jetzt muß der Abwasser- direktor des Mitteldeutschen Rundfunks ernd Leube, Bürgermeister im thü- zweckverband noch rund 4,75 Millionen (MDR), seine Erkenntnis, daß in ringischen Kahla, faßte sofort Ver- Mark jährlich berappen. Deutschland, vor allem in den neuen Btrauen. Der Mann aus dem Westen, In einem dritten Rudolph-Fall bemän- der ihn da Anfang 1991 heimsuchte, hatte gelte die Prüfgruppe der Erfurter Lan- beste Referenzen. desregierung, daß „bei der Angebots- Der Besucher trug einen Professoren- auswertung zum Teil Anbieter aus nicht titel und verlangte nicht einmal ein Bera- nachvollziehbaren Gründen ausge- terhonorar – offenbar ein weißer Rabe schlossen“ worden seien und „Ver- unter den zahllosen suspekten Geschäf- gleichsberechnungen fehlen“. Deshalb temachern von drüben, die in den Pio- käme die Kläranlage des Abwasser- niertagen der deutschen Einheit den zweckverbandes Schilfwasser-Leina die Osten mit unseriösen Angeboten über- Betreiber jährlich eine Million Mark teu- schwemmten. rer als nötig. Für den Bau der dringend benötigten Für den Professor ist der Osten ein gu- Kläranlage war Leubes Kommune (8500 tes Geschäft. Am Bau von 34 Abwasser- Einwohner) auf Hilfe von draußen ange- anlagen ist Rudolph inzwischen beteiligt wiesen. Genau die bot der Professor gewesen. „Manchmal wurde Beraten mit Karl-Ulrich Rudolph zu traumhaften Akquirieren verwechselt“, urteilt der Konditionen: Die Kosten für Rudolphs Thüringer Innenminister Richard Dewes Dienst an Kahla, so stand es in einem (SPD). Empfehlungsschreiben des Bonner Um- Berater Rudolph versteht den Ärger weltministeriums, übernehme die Bun- um seine Projekte nicht. Die Anlagen sei- desregierung. Leube: „Da glaubten wir en, beteuert er, „selbstverständlich preis- uns in guten Händen.“ wert erstellt worden“, leider fehle es an Rudolph ist ein Multitalent. An der genügend angeschlossenen Haushalten. Privatuniversität Witten/Herdecke in Um die zu besorgen, schlägt Rudolph Westfalen lehrt er Umweltmanagement, vor, weitere Kanalnetze zu planen und zu

TOBIS nebenher ist er in mehreren Unter- bauen. Die Planer liefert er gleich mit – ARD-Film „Die Bartholomäusnacht“ nehmen alsGeschäftsführer tätig, etwa in Techniker seiner eigenen Ingenieurge- „Milchkuh, die gemolken werden will“ der sächsischen Wohnungsgesellschaft sellschaft Prof. Dr. Dr. Ing. Rudolph + Freital oder der UWH Gesellschaft für Partner mbH. Die hatte der Mann in wei- Ländern, der „Antichrist“ umhergehe thermische Rückstandsbehandlung. ser Voraussicht schon im Juni 1990 zu- und daher die Republik Kirchs „Bibel“ Als Berater für den Osten engagiert sammen mit ein paar DDR-Ingenieuren brauche, wie ihn die Süddeutsche Zeitung hatte den geschäftstüchtigen Professor gegründet. Y zitierte. An die kernige Aussage mag sich die Bundesregierung. Ru- Röhl aber nicht erinnern. Er meint nun dolphs Honorar aus Bonn: eine lediglich, die „Bibel“ stünde der ARD Million Mark. „gut zu Gesicht“. Doch die als Musterprojekt Kirch weiß den Sender offenbar zu geplante Abwasseranlage ge- schätzen: Exklusiv überließ er dem Drit- riet viel zu groß und erwies sich ten Programm des MDR die Spitzenfilme als millionenschwere Fehlinve- „Die Feuerzangenbowle“ und „Der stition. Wenn die Landesregie- Hauptmann von Köpenick“. rung den Abwasserpreis nicht Das von bayerisch-sächsischen Kon- subventionieren würde, müß- servativen angebahnte ARD-Geschäft ten die Bewohner von Kahla mit Kirch kann, im letzten Augenblick, mit bis zu 30 Mark Gebühren wohl nur einer verhindern: der NDR-In- pro Kubikmeter rechnen. tendant und neue Degeto-Aufsichtsrats- Auch den Abwasserzweck- chef Jobst Plog, der sich vorgenommen verband Hörseltal in Thüringen hat, die Schwächen der ARD im Film- hat der quirlige Professor bera- handel zu korrigieren. Dafür aber müßte ten – mit ähnlichem Ergebnis. Plog, ein vehementer Kritiker von Kirchs Vom Zweckverband verlangte Medienmacht, gegen einen Mitarbeiter Rudolph kein Honorar. Den

stimmen, der sich schon zur „Bibel“-Ge- Auftrag für Hörseltal erhielten J. SCHWARTZ meinde bekannt hat: seinen Fernsehdi- wie in Kahla die Firma Wayss & Umweltprofessor Rudolph rektor Jürgen Kellermeier. Y Freytag und deren Tochterun- Manchmal Beraten mit Akquirieren verwechselt

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Die Ausfälle für die öffentlichen Kas- chen zu erwerben, zu Niedrigstpreisen Aufbau Ost sen könnten beträchtlich sein. „Wenn von 1936. nur in jeder zehnten Gemeinde des Lan- Von dieser Möglichkeit machten des ein Schaden in Höhe von zehn Pro- Ostbewohner landauf, landab Ge- zent dessen entstanden ist, was wir in brauch. Doch die Seehofer ließen die Günstige Seehof vorgefunden haben“, so Kassen- günstigen Konditionen stillschweigend prüfer Tanneberg, „sind allein schon in fortgelten. Mecklenburg-Vorpommern zehn Millio- „In jenen Tagen“, rechtfertigt der Geschäfte nen Mark verlorengegangen.“ Seehofer Gemeindevertreter Johannes Doch die Billigverkäufe aufzuspüren Hollnagel, „hat die Treuhandanstalt in Indizien in Mecklenburg legen den ist nicht ganz einfach. Oft herrscht ein Berlin ganze Industriebetriebe für Schluß nahe, daß Ex-DDR-Bürger stillschweigendes Ein- eine symbolische Mark verständnis zwischen an Westkonzerne ver- sich spottbillig mit öffentlichem den Parteien, die Durch- kauft.“ Da hätten die Bauland eindeckten. stechereien zu vertu- Dörfler nicht einsehen schen. In Seehof hat ein können, warum bei ih- Zugereister die Machen- nen der Quadratmeter er Landrat des Kreises Nordwest- schaften aufgedeckt, der Land mehr als zwei mecklenburg Udo Drefahl bekam 1993 aus dem Westen Mark kosten solle. Ddieser Tage unangenehme Post. übergesiedelte Leiter So verwarfen sie sämt- Schwerins Innenminister Rudi Geil des Amtes zur Regelung liche Einwände eines (CDU) verlangt von dem Kommunalpo- offener Vermögensfra- Rechtsberaters – und litiker, er solle Grundstücksverkäufe gen in der Landeshaupt- griffen zu. Da vermehrte rückgängig machen, die vor drei Jahren stadt Schwerin, Bernd die Bürgermeisterin Rit- in dem Örtchen Seehof bei Schwerin ge- Krumm. Der studierte zerow ihren Besitz um tätigt wurden. Jurist war im vergange- 428 Quadratmeter; Ge- Dort hatten Gemeindevertreter im nen Sommer in den See- Landrat Drefahl meinderat Karl-Heinz großen Stil Ländereien aus öffentlichem hofer Gemeinderat ge- Hildebrand (FDP) er- Besitz verkauft, zu Traumpreisen von 2 wählt worden, alsbald stieß er auf die hielt 3000 Quadratmeter, an der Haupt- Mark pro Quadratmeter statt der vor unlauteren Geschäfte. straße in Richtung Schwerin gelegen – den Toren der Landeshauptstadt seiner- Seine Versuche, die öffentlichen wertvolles Bauland in dem aufstreben- zeit üblichen 30 bis 40 Mark. Weil’s so Landverkäufe in der Gemeindever- den Vorort der Landeshauptstadt. günstig war, bedachten sich einige der sammlung zu behandeln, lehnten Unrechtsbewußtsein drückte die Kommunaloberen auch selbst – der Krumms Kollegen im Gemeinderat Dörfler nicht: „Wir dachten, das Gesetz Schaden für die öffentliche Hand be- rundweg ab. Auch die Seehofer Bürger- wird aufgehoben, wenn das alle ma- trägt nach einem Bericht des Landes- meisterin, die PDS-Politikerin Renate chen“, sagt Hollnagel, der sich auch ein rechnungshofs etwa eine Million Mark. Ritzerow, blockte – sie hatte sich selbst Grundstück sicherte. Und Seehof ist möglicherweise kein ein Grundstück gesichert. Daß sich Neubürger Krumm um Auf- Einzelfall. Kommune für Kommune will Nach dem Modrow-Gesetz über den klärung bemühte, stieß auf wenig Ver- der Schweriner Landesrechnungshof Verkauf volkseigenen Bodens war es ständnis. Erst lag eine von ihm verfaßte jetzt die Grundstücksverkäufe im Lande DDR-Bürgern, die auf fremdem Land Beschwerde drei Wochen beim Landrat prüfen. Rechnungshof-Präsident Uwe Eigenheime gebaut hatten, noch bis Drefahl, bevor der das Schreiben wei- Tanneberg erwartet weitere Treffer: zum 3. Oktober 1990 erlaubt, bis zu 500 terleitete. Dann fand der im Landkreis „Die haben alle Bammel.“ Quadratmeter Boden unter ihren Häus- für die Kommunalaufsicht zuständige Mann, ein ehemaliger SED-Bürgermei- ster, nichts Anstößiges an den Geschäf- ten. Und schließlich verschwanden die Seehof-Akten. Krumm ist mittlerweile verschollen. Er ertrank vermutlich beim Badeurlaub im Atlantik, die Leiche wurde jedoch nicht gefunden. Bereits 1993 waren in Rostock ver- gleichbare Grundstücksgeschäfte aufge- flogen. Damals hatte das Oberlandesge- richt Rostock die Verträge für unwirk- sam erklärt, weil der Preis (eine Mark pro Quadratmeter) „einer Schenkung gleich“-käme. Daß nun neben Seehof weitere Gemeinden betroffen sein könnten, nennt Rechnungsprüfer Tan- neberg „wohl unvermeidlich“. Die Kas- senkontrolleure forderten jetzt eine Liste „über sämtliche kommunalen Grundstücksverkäufe“ in Mecklenburg- Vorpommern vom 3. Oktober 1990 bis heute an. Im Fall Seehof hat Innenminister Geil

FOTOS: F. HORMANN / NORDLICHT inzwischen den Staatsanwalt eingeschal- Schweriner Vorort Seehof: „Die haben alle Bammel“ tet. Y

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ze Menge gemeinsam“. Fehle nur noch, Bremen „daß die sich duzen“, sagt CDU-Spre- cher Thomas Diehl. Dabei war (und ist) Scherf, in dessen christlichem Elternhaus während der „Endlich ein Mensch“ Nazi-Zeit jüdische Freunde versteckt wurden, für Bremens Christenunion der Ein SPD-Bürgermeister, der in Nicaragua Kaffee erntete, und ein CDU-Ban- sozialistische Beelzebub schlechthin. Und die Sozialdemokraten, die seit 50 kier, der gern am BMW-Oldtimer bastelt: In Bremen regiert künftig eine ganz Jahren die Städte Bremen und Bremer- große Koalition. haven regieren, können sich nur schwer daran gewöhnen, die Macht jetzt mit „den Schwarzen“ teilen zu müssen. iel Glück, rufen die drei Obdachlo- schen – und er will, bitte sehr, von ihnen Empört beklagten sich Parteifunktio- sen in den Bremer Wallanlagen gemocht werden. So ergreift er auch näre vergangene Woche auf einer Sit- VHenning Scherf, 56, zu. Der künfti- Hände, die gar nicht ausgestreckt wa- zung, in der über den Stand der Koaliti- ge Bürgermeister des Stadtstaates bleibt ren, und schüttelt sie mit Inbrunst. Und onsverhandlungen diskutiert wurde, wie stehen und winkt. Danke, danke, sagt er wenn der Sozialdemokrat, den sie in „dreist“ die CDU Forderungen stelle. und lächelt, als würden ihm die guten Bremen wegen seiner Körpergröße „Leute“, mahnte der zukünftige Bürger- Wünsche der zerlumpten Männer zum „den Langen“ nennen, zu seinen stürmi- meister da, „hört doch mal zu, mal so neuen Amt ganz besonders schmei- schen Umarmungen ansetzt, sieht es ganz cool.“ CDU und SPD seien jetzt im cheln. Den Gemüsehändler am Präsi- manchmal aus, als wolle er sein Gegen- Parlament gleich stark. „Wir können dent-Kennedy-Platz, der findet, daß mit über gleich verschlingen. hier nicht dicke Backen machen.“ dem promovierten Juristen „endlich ein Einen „Harmonisator“ nennt ihn Die Wahl vom 14. Mai hat Bremens Mensch“ Regierungschef wird, umarmt CDU-Mann Ulrich Nölle, 54, und das SPD tief verunsichert. Mit einer Stimme der SPD-Mann stürmisch. Vorstandsmitglied der Bremer Sparkas- Mehrheit hätte es zwar gerade noch für Scherf ist in seinem Element. Einen se, das demnächst Finanzminister in eine rot-grüne Koalition gereicht, und „Schnack“ machen nennt der Zwei-Me- Scherfs Kabinett werden soll, läßt offen, Scherf hatte auch dafür plädiert. Doch ter-Mann das, und davon kann er nicht ob er das als Kompliment meint oder dann entschieden sich die zur Abstim- genug kriegen. Unermüdlich grüßt und eher nicht. Dabei macht sich Scherfs mung aufgerufenen Mitglieder – knapp winkt er, ruft „Tach auch“ nach links charmante Umgarnungsstrategie, in die – für eine Große Koalition mit der CDU und „wie geht’s“ nach rechts. längst auch Christdemokrat Nölle mit und – mit überwältigender Mehrheit – Einen Dienstwagen hat der langjähri- einbezogen ist, in den schwierigen Zei- für Henning Scherf als Bürgermeister ge Senator nie besessen. Statt dessen eilt ten einer Großen Koalition ganz gut. und Tröster. er meist zu Fuß oder mit dem Fahrrad In gemeinsamen Pressekonferenzen Der Auserkorene stürzte sich gleich von Termin zu Termin. Auch als Bür- der neuen Koalitionäre registrieren Lo- mit einer so „scharfen Gangart“ (Nölle) germeister will er die gepanzerte Limou- kaljournalisten erstaunt, daß der smarte in die neue Aufgabe, daß schon Anfang sine seines Vorgängers samt Bewachung christdemokratische Sparkassenmann dieser Woche die Ergebnisse der Koali- abschaffen. mit der Vorliebe für übergroße goldene tionsverhandlungen vorliegen sollen. Scherf, der als Kind Missionar werden Manschettenknöpfe und der dem linken Da gebe es „viele, die mir das nicht zu- wollte und der auch zwei Semester Parteiflügel verbundene Sozialdemokrat trauen“, hat Scherf gemerkt. Denen will Theologie studiert hat, mag die Men- plötzlich wirken, „als hätten die ’ne gan- er es zeigen, das treibt ihn an. Dabei ist der Job nicht eben verlockend. 560 Mil- lionen Mark gilt es in den nächsten vier Jahren im to- tal überschuldeten Bremen einzusparen. Bis zu 500 Stellen sollen im Öffentli- chen Dienst abgebaut wer- den. Da vom Wahlvolk wei- terhin geliebt zu werden ist selbst für einen wie Scherf ein Kunststück. Zumal viele, und nicht nur in der CDU, dem Sozi- aldemokraten vorwerfen, als Senator an der Finanz- misere, die jetzt behoben werden soll, kräftig mitge- wirkt zu haben. Der langjährige Sozial-, Justiz-, Finanz- und Bil- dungssenator findet diesen Vorwurf ungerecht. Bre- men sei doch nicht wegen einer „Spendierhosenpoli-

ACTION PRESS * Am Wahlabend vor dem Bremer CDU-Politiker Nölle, Ehefrau*: Erotisches Verhältnis zu Zahlen Rathaus.

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nanzsenator am liebsten „wie eine Fir- ma“ geführt sehen. „Ich bin jemand, der Politik immer von der Finanzseite be- trachtet“,sagt der gebürtige Dortmunder über sich. Auch sonst bleibt von der zur Schau getragenen Gemeinsamkeit zwischen Scherf und Nölle bei näherem Hinsehen wenig übrig. Während Scherf schon mal quer durch die Wüste fährt, um bei der westsaharischen Befreiungsbewegung Polisario Solidarität zu zeigen oder aus den Niederungen BremerPolitik zur Kaf- fee-Ernte nach Nicaragua aufbricht, ba- stelt Nölle in seiner Freizeit am liebsten an seinem Oldtimer-Cabrio, einem roten BMW 327. „Damit“, sagt er, „kann ich mich so richtigergehen. Da binichinmei- ner Welt.“ Automechaniker hat er als Kind gern werden wollen – wie sein Onkel. In des- sen Haus samt Werkstatt ist er aufge-

FORUM wachsen, nachdem der Vater, ein Arzt, Sozialdemokrat Scherf* im Krieg mit dem Flugzeug abgestürzt Stürmische Umarmungen war. Seine Mutter meldete den Jungen nach der mittleren Reife jedoch lieber zur tik“ des SPD-Senats bankrott, sondern Banklehre an. Neun Jahre später saß der weil der Zwei-Städte-Staat so viele Be- „immer Brave“ (Nölle über Nölle) schon wohner an die Randgemeinden rund- im Sparkassenvorstand. herum verloren habe und damit auch die In die Politik ist der Vater vier erwach- Einnahmen aus deren Einkommensteu- sener Kinder erst 1991 eingestiegen, er, sagt er. „eher zufällig“, wie er meint. Tatsächlich Das ist nur die halbe Wahrheit, wie wurde der Banker, der stolz darauf ist, Scherf auch sonst bittere Einsichten vorher niemals in einer Partei gewesen zu nicht gern so direkt ausspricht, sondern sein, von CDU-Landeschef Bernd Neu- lieber warm verpackt. Etwa als ihn ver- mann geworben. gangene Woche auf dem Bremer Markt Bremens Christdemokraten, die seit zwei Schüler ansprechen. Die neue Re- Jahrzehnten in der Opposition ein ziem- gierung will ihre Schule schließen, ha- lich trostloses Dämmerdasein führten, ben sie gehört. Dagegen wollen sie pro- brauchten dringend ein neues Gesicht. testieren. Vor vier Jahren wurde Nölle Mitglied der Freundlich beugt sich Scherf zu ihnen Union. Kurz darauf war der Polit-Neu- herunter. „Das ist noch nicht entschie- ling schon Bürgermeisterkandidat. den“, sagt er, „das Problem wird klein- Als es mit dem Wechsel in den Regie- gearbeitet.“ Strahlend ziehen die beiden rungssessel nicht klappte, wechselte Nöl- le nicht in die Politik, sondern blieb bei der Sparkasse. Eine Entscheidung, die Eigentlich „bin manche in seiner neuen Partei ihm übel- ich immer noch genommen haben. Er habe sich damals, verteidigt sich der unpolitisch“ Christdemokrat, „aus der vordersten Li- nie herausgenommen“ und damit nicht ab. Er hat ihnen das Gefühl gegeben, „mehr im Feuer gestanden“. Die kriege- bei ihm sei ihr Anliegen gut aufgeho- rische Sprache verrät, wie wenig ihm die ben. In Wahrheit weiß der Sozialdemo- politische Bühne geheuer ist. Eigentlich, krat natürlich auch nicht, was „kleinge- gesteht er, „bin ich immer noch unpoli- arbeitet“ am Ende bedeutet. tisch“. Ein Typ für Blut-Schweiß-und-Trä- Als ihn während der Koalitionsver- nen-Reden ist Scherf nicht. Man müsse handlungen im Bus ein Mann anspricht, mit den Leuten sprechen, sagt er, ohne um zu einer Rede über „diePolitiker“ an- sie zu enttäuschen. Bei leeren Kassen zuheben, wehrt Nölle erschrocken ab: gleicht das der Quadratur des Kreises. „Noch bin ich das nicht.“ In der neuen Regierung soll nun Dennoch wird er die Sparkasse Anfang CDU-Mann Nölle aufs Geld achten. nächsten Monats ohne Rückkehrzusiche- Der hat zu Zahlen ein so erotisches Ver- rung verlassen. In vier Jahren will er Bür- hältnis wie Scherf zum Händeschütteln. germeister werden. „Die Wirtschaft“, Das Land möchte der designierte Fi- sagt er mit unverkennbarem Stolz, als ha- be eine höhere Macht die Hand im Spiel, * Im Hintergrund Bilder von „will, daß Ulrich Nölle sich engagiert.“ und . Karen Andresen

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WIRTSCHAFT TRENDS

Verbände mehr Lohn einbrachte. Mittelständler und große Konzerne wie Mercedes-Benz, Prügel für Hundt Bosch und Porsche wollten nun verhindern, daß Hundt wieder zum Vizepräsidenten Eine „einmalige Unverschämtheit“, so der von Gesamtmetall gewählt wird. Doch die Manager eines Stuttgarter Konzerns, leiste- Verbandsfürsten nahmen keine Rücksicht te sich Dieter Hundt. Der Vorsitzende im auf die Wünsche ihrer Mitgliedsfirmen und Verband der Baden-Württembergischen nutzten die Statuten. Danach wählen die Metallindustrie steht unter schwerem Be- einzelnen Landeschefs ihr Präsidium di- schuß. Der Unternehmer, er ist Inhaber rekt. Sie taten es und verschickten eine la- der Allgaier-Werke in Uhingen, gilt als pidare Mitteilung „an die Geschäftsleitun- Hauptverantwortlicher für den von fast al- gen unserer Mitgliedsfirmen“: Hundt sei

len Firmen kritisierten Tarifabschluß vom T. KLINK „für weitere zwei Jahre als Vizepräsident März, der den Arbeitern gut vier Prozent Hundt von Gesamtmetall“ gewählt worden.

Atom und in neuen Brennstäben für andere Telekom Atommeiler des Stromkonzerns nut- SPD contra zen. Doch das paßt Einert nicht, denn Chance für Atlas dabei wird zwangsläufig auch der Stromkonzern Bombenstoff Plutonium separiert. Die Nach der Unterzeichnung des Joint- NRW-SPD rühmt sich in den Koaliti- ventures von Deutsche Telekom und Der nordrhein-westfälische Wirt- onsverhandlungen mit den Grünen, France Telecom mit der US-Telefon- schaftsminister Günther Einert (SPD) nach dem Ende von Würgassen habe gesellschaft Sprint rechnen sich die drängt den Stromkonzern Preussen- das SPD-Land den Ausstieg aus der Manager in Bonn gute Chancen aus, Elektra zu unökonomischem, aber po- Kernkraft geschafft. Da würde es das daß nun auch das seit langem geplante litisch erwünschtem Verhalten. Preus- Bild trüben, wenn nun Plutonium aus Bündnis der beiden Staatsfirmen von senElektra möchte die meist nur ge- NRW-Brennstäben erzeugt würde. den Kartellbehörden in Brüssel geneh- ring abgenutzten Brennelemente aus Deshalb soll PreussenElektra die migt wird. Bislang wollten die Wettbe- dem vorzeitig abgeschalteten Kern- Brennstäbe ohne Aufarbeitung in das kraftwerk Würgassen zur Wiederauf- Zwischenlager Ahaus schaffen. Doch arbeitung nach La Hague schicken. der Konzern denkt nicht daran, sich Dadurch will PreussenElektra das un- den SPD-Wünschen zu fügen und auf verbrauchte Uran zurückgewinnen den Extraprofit zu verzichten.

kurrierten MTU und BMW/Rolls-Royce bei der Entwicklung eines Trieb- werks für Regionalflugzeu- ge. Nun ist Daimler-Benz

sogar bereit, dem Münch- M. DARCHINGER ner Rivalen eine Mehrheit Sommer an dem neuen Unterneh- men einzuräumen. In den werbshüter der EU die Zusammenar- Konzernzentralen hat sich beit von Deutschen und Franzosen bei die Erkenntnis durchge- der Datenkommunikation ablehnen, setzt, daß der Markt zu weil das unter dem Namen „Atlas“ ge- klein ist für zwei Triebwer- plante Duo im europäischen Maßstab ke. Beide Unternehmen den Markt beherrschen könnte. Den würden zu geringe Stück- Verweis auf die globalen Dimensionen zahlen verkaufen, um die des Telekommunikationsmarktes woll-

ZB / DPA Investitionskosten in Milli- ten die EU-Beamten nicht akzeptie- Triebwerksprüfung bei BMW/Rolls-Royce ardenhöhe zu erwirtschaf- ren, da es mit den Amerikanern über- ten. Gestört werden die haupt keine Verträge gebe. Der neue Luftfahrt Verhandlungen jetzt von einem dritten Telekom-Chef Ron Sommer, erst Triebwerkproduzenten: Pratt & Whit- kürzlich vom japanischen Elektronik- Querschüsse ney, bislang Kooperationspartner von Konzern Sony nach Deutschland ge- MTU, droht mit einer Klage, falls sich wechselt, drängte deshalb bei den aus den USA MTU mit BMW/Rolls-Royce verbün- Amerikanern auf einen schnellen Ab- det. Der amerikanische Hersteller schluß. Um die Zustimmung zu be- Daimler-Benz und BMW kommen sich pocht auf einen Vertrag mit Daimler- schleunigen, teilte Sommer den Brüs- immer näher: Die beiden Konzerne Benz, nach dem er der Partner für alle selern mit, daß das Duo mit „Atlas“ sind sich im Grundsatz darüber einig, Arten von Flugzeugtriebwerken ist. nur außerhalb der Heimatmärkte tätig daß die Triebwerksfirmen BMW/ Daimler prüft jetzt, ob MTU zuerst die werden wolle. Auch die Hamburger Rolls-Royce und die Daimler-Tochter Verbindung mit Pratt & Whitney lösen Info AG, eine Tochter von France Te- MTU in eine Gemeinschaftsfirma ein- muß, bevor die neue Partnerschaft be- lecom, soll nicht mehr in „Atlas“ ein- gebracht werden sollen. Bislang kon- ginnen kann. gebunden werden.

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WIRTSCHAFT

Shell „HERKSTRÖTER ODER MAJOR?“ Hinter den Kulissen des weltgrößten Ölmultis tobte ein erbitterter Kampf um die richtige Taktik: Erst spät erkannte Konzernchef Cornelius Herkströter in Den Haag, wie ernst die Affäre um die Ölplattform „Brent Spar“ den Konzern gefährdete. Sogar das holländische Königshaus riet zum Einlenken.

eter Duncan ist Chef der Deutschen Shell – und ein Schlitzohr ist er Pauch. „Die Deutsche Shell begrüßt die Ent- scheidung ihrer Schwestergesellschaft Shell UK“, die Plattform „Brent Spar“ nicht zu versenken, lobte er am vergan- genen Mittwoch den Rückzieher der Bri- ten. Nach 14tägigem Seekrieg mit der Umweltorganisation Greenpeace habe er „die Nachricht aus Großbritannien er- leichtert aufgenommen“. In Wahrheit wurde Shell UK inner- halb des Konzerns zur Aufgabe gezwun- gen – die Entscheidung fiel in Den Haag, nicht in London. Duncan war dabei. Nicht die Boykotteure, sondern Cor- nelius Herkströter, der Shell-Boß in Holland, mußte die sturen Shell-Mana- ger aus London zum Aufgeben verdon- nern. Sektkorken bei Greenpeace, Ka- ter bei Shell UK. Der weltgrößte Ölmulti, der zu 60 Prozent holländischen Aktionären und zu 40 Prozent britischen Anteilseignern gehört, steht blamabel da – groß, tumb und unsensibel. Das Image vom sozial engagierten Konzern (Werbung: „Wir wollen etwas ändern“) ist gründlich de- moliert. Wer auf sich hielt, fuhr tanken bei der Konkurrenz und fühlte sich, ohne etwas dazu zu bezahlen, als guter Mensch und Umweltschützer. Freudig erregt kom- mentierte Die Woche: „Soviel Aufruhr war nie.“ Die taz jubelte: „Zershellt am Boykott“. Innerhalb des Konzerns ist seit dem PR-Debakel nichts mehr, wie es vorher war. Die einst zwischen Den Haag und London aufgeteilte und im Prinzip har- monische Muschel-Welt (Duncan: „Unser Prinzip ist die Konsensbildung“) wurde bis in die Fundamente erschüt- tert. Die „kulturelle Wasserscheide zwi- schen England und Deutschland“ (Fi- nancial Times) ist nun auch innerhalb der Shell-Gruppe sichtbar geworden. Die Suche nach den Schuldigen hat be- gonnen.

Die sturen Briten sind verantwortlich, S. DOBLINGER / PAPARAZZI sagen die Deutschen. Die Engländer fra- Greenpeace-Crew auf der Shell-Plattform: Vom Volk bejubelt

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gen zurück: Warum seid ihr Mehrmals flog Duncan nach Den so hasenfüßig? „Schlapp- Haag, um die Konzernoberen über die schwänze“ (wimps) fauchte Stimmung in Deutschland zu unterrich- der blamierte englische Pre- ten. „Konsensaufbau“ nennt er das. mier John Major am vergan- Immer wieder versuchte er, den cle- genen Dienstag abend in veren deutschen Greenpeace-Chef Thi- Richtung Den Haag. Er hatte lo Bode telefonisch zu besänftigen. Die bis zum Schluß die Versen- Umweltorganisation solle die Stimmung kungspläne der britischen im Lande nicht noch künstlich aufhei- Shell verteidigt. zen, so Duncan zu Bode. Eine Lösung Doch Konzernboß Corneli- sei greifbar nahe. us Herkströter war am ver- Kreuz und quer telefonierte Duncan gangenen Dienstag, als er sei- am Wochenende über den Kontinent, ne Führungsmannschaft zur warb für einen Stopp der Versenkakti- Entscheidung drängte, kein on, wollte Zeit gewinnen zum Reden Mann freier Entschlüsse und Nachdenken. Nur einmal legte der mehr. Die Durchhalteparolen gestreßte Vorstandschef eine Telefon- des John Major, vorgetragen pause ein, um zwei Stunden Rugby zu gemeinsam mit der britischen schauen. In Südafrika ist Weltmeister- Shell, waren in Holland nicht schaft. mehr vermittelbar – selbst Auch am vergangenen Dienstag, dem dem Königshaus nicht, das historischen Tag der Entscheidung, ist mit rund zwei Prozent an der zunächst von Entwarnung nichts zu spü- Royal Dutch beteiligt ist. ren. Heinz Rothermund, Chef der Shell Auf Herkströters Tisch lag Expro, besucht Duncans Hamburger

zum Wochenanfang ein zorni- AP Hauptquartier und sorgt noch einmal ger Brief aus dem Büro von Englands Shell-Chef Fay: Vom Boß vorgeführt für Zoff. Prinz Bernhard, dem Vater Keine Änderung der Strategie, er- der Königin und Ex-Präsident der nehmensinterne Geheimdiplomatie. klärte der bullige Schweizer dem ent- „World Wide Fund for Nature“-Orga- Sein klares Ziel: „Brent Spar“ darf setzten Duncan. „Brent Spar“ wird ver- nisation. Der Inhalt kam einem Ulti- nicht versenkt werden. Aber die Briten senkt. In Koblenz schließen fünf Päch- matum gleich: Das Drama in der wollen es nicht einsehen. Fast über ter ihre Shell-Tankstellen aus Protest für Nordsee müsse so schnell wie möglich Nacht war die rostige Ölplattform zur 24 Stunden. beendet werden, forderte der besorgte ernsten Bedrohung des drittgrößten In- Am Dienstag abend verschärft sich Prinz. dustriekonzerns der Welt gewor- die Lage weiter. Vor dem Shell-Zentral- Die Pressestelle des holländischen den. bau in Den Haag sorgen acht Kleinlast- Königshauses will das brisante Schrei- Herkströter hat ehrgeizige Pläne mit wagen mit dem Konterfei von Cornelius ben bislang weder bestätigen noch de- Shell. Er will die Kapitalrendite dauer- Herkströter für Krawall. mentieren. Prinz Bernhard halte sich haft ins Zweistellige liften, auf 13 bis Duncan, sein britischer Kollege Chris gänzlich aus der Politik raus, „he is out 14 Prozent. Er will den Rivalen Ex- Fay und der Holländer Jan Slechte er- of politics“. Aber: „Den privaten xon, die Nummer zwei im Ölgeschäft, scheinen zur routinemäßigen Sitzung Schriftverkehr des Königshauses ken- endgültig abhängen. Er will die Kon- des Committee of Managing Directors nen wir nicht.“ zernstruktur, erstarrt durch ein jahr- (CMD), der obersten Leitung des Shell- Die Shell-Spitze, auch in Deutsch- zehntealtes Matrix-System, straf- Konzerns. Vorsitzer Herkströter ist ent- land, hatte die Brisanz der Lage unter- fen. schlossen, dem wirren Treiben im At- schätzt. Im Aufsichtsrat der Deutschen Shell, der am 8. Juni in Hamburg zu- sammentrat, muckten die Arbeitneh- merräte erstmals auf. Der „Brent Spar“-Konflikt beunruhige die Beleg- schaft. Aufsichtsratsvorsitzender Herkströ- ter zuckte mit den Schultern. Er wollte in Urlaub fahren und wischte den Ein- wand weg: Für die deutschen Proble- me seien die Deutschen zuständig. Auch Deutschland-Chef Peter Dun- can ließ die Dinge tatenlos treiben. Die Idee, mit einem millionenschweren Werbefeldzug den Greenpeace-Argu- menten zu widersprechen, wurde ver- worfen. „Ein Fehler“, sagt ein Shell- Manager der Hamburger Zentrale jetzt. Mitte vorletzter Woche kam das er- ste Signal aus Den Haag: Herkströter hatte seinen Urlaub gekippt und er- klärte die Affäre nun zur Chefsache.

Der Konzernherr Herkströter be- HOLLANDSE HOOGTE gann übers Wochenende eine unter- Konzernchef Herkströter: Das Drama schnell beenden

DER SPIEGEL 26/1995 85 Werbeseite

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WIRTSCHAFT

lantik noch an diesem Tag ein Ende zu machen. Einmal wird die Sitzung unterbro- chen. Greenpeacer Bode ist am Tele- fon, will Herkströter sprechen. Draußen auf See geht es um Leben und Tod, seit „Es ist ein Wunder“ die Shell-Schiffe mit Wasserkanonen auf die Besetzer der „Brent Spar“ zielen. Die Greenpeace-Aktivisten konnten ihren Sieg kaum fassen Bode will beim Konzernchef um Mäßi- gung bitten. Doch ans Telefon eilt Duncan. Höf- o schnell hatte man den Mann von zaust, den Überlebensanzug hinter sich lich gibt der Neuseeländer seine Durch- der BBC noch nie gesehen. Wie herzerrend. „Wo sind sie?“ schrie er mit halteparole zum besten: „Warten Sie Swild geworden schoß er am Diens- wildem Blick, in der festen Überzeu- bitte weiter ab. Eine Lösung ist zum tagabend, 18.10 Uhr, aus dem Radio- gung, daß die Polizei gerade im Begriff Greifen nahe.“ raum des Greenpeace-Schiffes „Altair“. sei, das Schiff zu kapern. Die CMD-Sitzung verläuft turbulent. Er raste den schmalen Gang entlang, Szenen, wie fürs Fernsehen gemacht. Die Briten warnen vor Streit mit der hangelte sich die steilen Treppen zur Die drei Kamera-Teams rempelten sich Major-Regierung. Die Anti-Europäer Brücke hinauf, und da stand er nun, zwischen den Feiernden hindurch auf würden Auftrieb erhalten, wenn „Brent atemlos und bleich: „Shell hat aufgege- der Jagd nach dem leidenschaftlichsten Spar“ nun doch nicht versenkt werden ben, sie werden die ,Brent Spar‘ nicht Gefühlsausbruch. Immer wieder: „Es ist darf. Ein Insider: „Plötzlich stand die versenken, es ist vorbei, sie schleppen ein Wunder.“ „Ich kann es nicht glau- Frage: Wer kippt, Herkströter oder Ma- sie an Land, gerade wurde es durchge- ben.“ „Diese verdammten Bastarde, jor?“ geben“, schrie es aus ihm heraus. wenn die uns bloß nicht reinlegen.“ Am Ende votiert das Gremium in al- ter Shell-Tradition doch noch einstim- mig für ein Ende des Dramas. Die Bri- ten hatten nach Stunden erbitterter Re- deschlacht keine andere Wahl, als zuzu- stimmen: „Brent Spar“, das Stahlgerüst mit der Ölschlacke im Bauch, muß nun an Land beerdigt werden. Chris Fay, Chef der Shell UK und Verlierer des Nervenkrieges um „Brent Spar“, tritt schließlich vor die Kameras: „Kulturelle Wasserscheide zwischen England und Deutschland“

Wir haben unsere Meinung nicht geän- dert, sagt er trotzig, aber wir blasen die Aktion ab. Der Ärger für den Konzern ist damit nicht vorbei. Nun schäumt – wie erwar- tet – die britische Regierung. Majors Energieminister kündigte an, längst ver- sprochene Steuerermäßigungen für die

Entsorgung der Shell-Plattform zu kap- DOBLINGER / PAPARAZZI pen. Jubelnde Greenpeace-Mitarbeiter*: „,Altair‘, wir drehen jetzt um“ Wenn die Briten das teure Recycling der „Brent Spar“, wie angedroht, allein Sekundenlang starrten die Regenbo- Greenpeace-Urgestein Harald Zind- bezahlen müssen, geht der Schaden hoch genkrieger den Reporter ungläubig an. ler, 50, schien dem Braten nicht zu trau- in die Millionen. Das technisch riskante- Doch er scherzte nicht, nicht damit, nicht en. „Wir werden die ,Brent Spar‘ bis an re Recycling an Land ist 35 Millionen diesmal – die Kommandobrücke verwan- Land begleiten, damit nicht unterwegs Pfund teurer als die Seeverklappung. delte sich in ein Tollhaus. Jubelnd fielen ein dummer Unfall passiert.“ Außer- Der Imageschaden ist größer. Der sich die Greenpeace-Aktivisten indieAr- dem sei nun auch der britische Premier, Konzern weiß auch Tage nach dem De- me, hoben einander hoch, rauften sich John Major, bis auf die Knochen bla- bakel nicht, wie er nun vor seine Kunden gegenseitig die Haare, schrien: „Wir ha- miert. Und daher unberechenbar. treten soll. Eine neue Werbekampagne? ben gewonnen, wir haben es geschafft, Kapitän Jon Castle schossen die Trä- Oder erst mal stillhalten? Die Akteure wir haben Shell besiegt!“ nen aus den Augen und verfingen sich sind erschöpft, haben sich selbst eine Der Rest der Mannschaft stolperte, im roten Vollbart. Der Mann, der mit Atempause verordnet. vom Triumphgeheul der Schiffssirene seinen kompromißlosen Manövern die „Na, sind Sie jetzt erleichtert?“ wollte alarmiert, aus dem Videoraum, aus den Shell-Schutzarmada zu verbalen Ent- eine Shell-Mitarbeiterin am Mittwoch Kojen, der Lounge. Kevin aus Alaska gleisungen („Ihr haltet euch auch nicht von ihrem Chef Duncan wissen, der zu stürmte die Brücke, verschlafen und zer- an die fucking Abstandsregeln“) getrie- ihr in den Fahrstuhl stieg. Der oberste ben hat, suchte verschämt nach seiner deutsche Shell-Manager drückte auf * Am Dienstag vergangener Woche auf dem Sonnenbrille. Dann griff er zum Funk- Chefetage – und schwieg. Greenpeace-Schiff „Altair“. gerät. Den vier Besetzern auf der Shell-

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„Shell braucht jetzt keine Image-Kampagne, sondern ein klares, nachvollziehbares Bekenntnis“, meint Thomas Feicht, Mitbegründer der Frankfurter Agentur Trust Cor- porate Culture. „Agenturen können und sollten nichts versprechen, was der Kunde nicht halten kann.“ Der Trust- Entwurf variiert das Motto der bisherigen Shell-Kampagne. „UNS wollen wir ändern“, heißt es nun – statt bisher „DAS wollen wir ändern.“ Das Motiv ist als Anfang einer Kampagne gedacht, die „für jeden Shell-Kunden nachvoll- ziehbare Schritte und Infor- mationen“ enthalten soll. Im vergangenen Jahr entwarf Trust zur Bundestagswahl die Kampagne für Bündnis 90 / Die Grünen. Kampagne der Agentur Trust Corporate Culture: „Klares Bekenntnis“

Entwurf eines Werbespots von Grey: Ein sympathischer Herr im Einklang mit der Natur

Als der Kampf um die Versenkung der Ölplattform „Brent ihn zumindest der Entwurf eines Fernsehspots der Werbe- Spar“ dem Shell-Konzern die große Krise bescherte, tauch- gruppe Grey: Freundlich lächelnd bittet Herkströter die te Cornelius Herkströter, der Chef des Unternehmens, ab. Shell-Kunden um Entschuldigung, friedlich rauscht das Nun ist der Niederländer wieder da – ein sympathischer Meer. Die Düsseldorfer Grey-Gruppe, Nummer zwei in grauhaariger Herr im Einklang mit der Natur. So zeichnet Deutschland, beschäftigt 710 Mitarbeiter.

88 DER SPIEGEL 26/1995 Plattform sagte er, daß die Schlacht ge- wonnen sei. In der Kampagne der Agentur DDB Needham Worldwide sollen „die Menschen Gespannt blickte die „Altair“-Besat- zu Wort kommen, die am direktesten von der fatalen Managemententschei- zung hinüber zur „Brent Spar“. Und zum dung betroffen sind – die Tankstellenpächter“, sagt Kreativchef Wolfgang Fet- erstenmal seit zehn Tagen veränderte zer. Er will zeigen, daß es um Existenzen geht, nicht um einen Konzern. Ziel sich die Szenerie, die schon zur Gewohn- der Kampagne sei die Solidarisierung der Bevölkerung mit dem „Kleinen Mann heit geworden war. von der Tankstelle“. Und der sagt in der DDB-Kampagne deutlich, was er vom Die vier Shell-Sicherheitsschiffe dreh- Shell-Management hält. Otto Frings, den Tankstellenpächter, gibt es natürlich ten ab, stellten die Wasserkanonen aus nicht wirklich: Ein Agentur-Mitarbeiter stand Modell. und gaben den Weg zur Plattform frei. Die vier Besetzer, die jetzt den Hub- schrauber-Landeplatz winkend und tan- zend betraten, erhoben die Finger zum Victory-Zeichen. In den Jubel hinein meldete sich der Schlepper „President Hubert“. Den gan- zen Tag schon war die Plattform nur mit halber Kraft voraus gezogen worden, was mit dem hohen Seegang bei Windstärke 8 erklärt wurde. Nun kam die Nachricht: „,Altair‘, wir drehen jetzt um.“ Mit einemmal wurde es still auf der Brücke. Da standen sienun, die Kämpfer für Gerechtigkeit, die von Bild gefeierten Für eine echte Siegesparty waren die Krieger zu müde

„Helden“ der Nation, und hatten keinen Gegner mehr. Auf alles waren sie vorbe- reitet gewesen, nur nicht auf einen Sieg Entwurf der Agentur DDB: „Der Kleine Mann von der Tankstelle“ gegen Shell und die britische Regierung. „Bisher war unser Antrieb nicht der Sieg, Die Shell-Kampagne Der SPIEGEL wollte von den Werbern sondern die Hoffnung“, erklärte Meike, wissen: Kann Shell den Schaden wieder- Greenpeacerin aus Hamburg, die wird in die Geschichte der Werbung gutmachen? Wie sollte der Konzern den Sprachlosigkeit. „Wir haben soviel Rou- eingehen – als ein Flop, wie es ihn Bürgern wieder näherkommen? tine imVerlieren, daß wiruns erst mal ans wohl nie zuvor gegeben hat. 30 Millio- Nur wenige empfahlen, wie Konstantin Gewinnen gewöhnen müssen.“ nen Mark investierte der Mineralölkon- Jacoby von der Hamburger Agentur Kapitän Castle rief das Shell-Schiff zern in eine Image-Kampagne (Motto: Springer & Jacoby, „Gras über die Sa- „Rembas“ und bat höflich („Man muß „Das wollen wir ändern“), um sich als che wachsen zu lassen“. Jung schlägt das dem Verlierer sein Gesicht lassen“) um umweltbewußtes und sozial engagiertes genaue Gegenteil vor: „Ich würde an die sofortige Herausgabe der beiden Ge- Unternehmen zu präsentieren. Dann Shells Stelle nicht klein beigeben, ich fangenen, die am Freitag zuvor bei der kam Greenpeace: Die Aktion der Um- würde groß beigeben – mit einer Inte- „Spar“-Besetzungsaktion in die Hände weltschützer gegen die Versenkung der rimskampagne unter der Headline: ,Wir der Shell-Leute gefallen waren. Kurzdar- Ölplattform „Brent Spar“ entlarvte den haben begriffen.‘“ auf brachte ein Schlauchboot Stefan und Shell-Spruch als hohle Phrase. Green- Drei Agenturen gaben, trotz der Kürze Jos. peace-Chef Bode glaubt, in den Boy- der Zeit, nicht nur ein Statement ab, sie Stefan berichtete von Spannungen zwi- kottaktionen habe sich der ganze Frust machten sich auch sofort an die Arbeit. schen den kommandierenden Shell-Leu- über jene Firmen entladen, die ökolo- Sie hatten nicht einmal zwei Tage zur ten und der „Rembas“-Besatzung, vom gisch reden und am Ende doch nur Verfügung, aber nutzten sie. Die alte Übernachten in einer Dusche und Rund- ökonomisch handeln. Shell habe den Kampagne, von Shell inzwischen abge- um-die-Uhr-Bewachung. Nur die Infor- Verdruß der Kunden durch seine Wer- setzt, inspirierte; die Anspielungen sind mationssperre habe nicht hingehauen: bung selbst provoziert. mal mehr, mal weniger deutlich, aber of- „Die Jungs von der Crew haben unsheim- Viele Werbeagenturen denken jetzt fenkundig. Moritz Hunzinger von der lich auf dem laufenden gehalten.“ neu nach, über den Sinn und Unsinn Moritz Hunzinger Public Relations Für eine echte Siegesparty waren die von Image-Kampagnen und über die GmbH rät, die alte Shell-Position nicht Krieger zu müde. Drei Bierchen, dann Frage, wie weit ein Werbespruch die über Bord zu werfen – trotz alledem. krochen alle in die Kojen, um neue Kraft Realität vernachlässigen darf. „Das Das Eintreten für die Meer-Entsorgung zutanken.Denn inDeutschland plantder Eis, auf dem man sich bewegt, wenn der Ölplattform gewinne zunehmend an angehende Greenpeace-International- man sich zum gesellschaftlichen Vorrei- Glaubwürdigkeit. Ein Gutachten unab- Chef, Thilo Bode, bereits voller Elan ei- ter macht, ist verdammt dünn“, sagt hängiger Fachleute, so der Experte für nen neuen Einsatz. Holger Jung, Mitbegründer der Ham- Krisen-PR, sollte die Shell-Position un- Die „Altair“ soll mitsamt ihren Helden burger Agentur Jung / von Matt. „Shell terstützen: „Vor einer professionellen zum Anfassen auf Sieges-Tournee gehen. hat eben erfahren, wie schnell man ein- Spendensammlertruppe geht ein Kon- Erstes Ziel der Jubelrundfahrt wird Mitte brechen kann.“ zern nicht in die Knie.“ dieser Woche Hamburg sein. Michaela Schießl

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Es ist nichts Neues, daß Fernsehan- Alle machen mit. Kaum eine Sendung, Fernsehen stalten ihre Namen auf allerlei pro- zu der es nicht das Buch, das Video, die grammbegleitende Produkte pappen: CD, das Spiel gibt. Das ZDF vertreibt Bücher, Videos, Spiele und CDs. Die über 300 000mal die „Superhitparade der Sender vergeben Lizenzen an die Her- Volksmusik“, mehr als einemillionmal Dein Sender, steller und Vertriebsfirmen – ein ein- verkaufte RTL die Box-Hymne „Con- trägliches und risikoarmes Geschäft. quest of Paradise“. Jüngst gründete der Doch die Zeiten, da sich die Lizenzge- Sender einen eigenen Musikverlag für die dein Freund ber mit Alf in Plüsch begnügten, sind Produktion und Vermarktung der Se- vorbei. Heute muß es der Computer rienmusiken. Die privaten Fernsehanstalten ver- sein. 24 000mal ging der Sat-1-Video-Best- dienen viel Geld – mit dem Verkauf Klotzen statt kleckern – 30 000 Sat-1- seller, das siebenbändige Star-Trek-Set, PCs, je nach Ausstattung für 2400 bis weg. Merchandiser Schneider nennt sei- von Computern, Reisen und Hunde- rund 3200 Mark, kommen in den Han- nen Sender gar den „erfolgreichsten Vi- wärmflaschen. del. Der Merchandising-Ableger von deovermarkter, den es gibt“. Sat 1, die Berliner New Business Deve- Am heftigsten werfen sich RTL und Sat lopment, kooperiert mit Produzenten 1 ins Zeug. 230 Millionen Mark brachten olf-Tilmann Schneider, Marke- und Vertriebsfirmen, darunter dem PC- die RTL-Produkte im vergangenen Jahr ting-Mann von Sat 1, liebt Super- Hersteller und -Händler Escom. Gewor- an Handelsumsatz (1990 waren es gerade Wlative. „Nicht der Größte, son- ben wird in Sat 1. Einen siebenstelligen mal 48 Millionen), vier bis sechs Prozent dern der Schnellste wird der Erfolg- Gewinn, schätzt Schneider, werde die davon, so Merchandiserin Alexa Gref, reichste sein“, steht an seiner Tür. multimediale Chose bringen. bleiben beim Sender hängen. Natürlich, trommelt Schneider, ist Doch ums schnelle Geld allein geht es Das Baywatch-Mouse-Pad, das Gu- seine Firma „weltweit die erste“, die nicht. Sat 1 will Zuschauer an sich bin- te-Zeiten-schlechte-Zeiten-Kaugummi, der rosa Jeep zur Traum- hochzeit, das TV-Segelboot für schlappe 60 000 Mark. Mit seinem Sender kann der Mensch zu den Lappen rei- sen und in die Mitternachts- sonne gucken oder sich in Brasilien Formel-1-Rennen um die Ohren krachen las- sen. Nichts, wovor die Mer- chandiser zurückzucken. Vom 1. Juli an hat RTL ei- ne „Westerdeich“-Immobi- lie im Angebot. Wohnen mit RTL – 130 Quadratme- ter, fünf Zimmer, 350 000 Mark. Ein Sat-1-Mobiltele- fon wird bald zu kaufen sein – pünktlich zu Beginn be- stimmter Sendungen klin- gelt das Gerät. Demnächst fällt Sat-1- Mann Schneider mit einer Armada von Kommissar-

D. KONNERTH / LICHTBLICK Rex-Artikeln über die deut- Sat-1-Merchandiser Schneider: „Wir sind die Trüffelschweine“ schen Konsumenten her: Der Serienheld, ein Schä- Fernsehen und Computer vereint – im den, über PC und schicke Spiele Jüngere ferhund, als Plüschtier in allen Größen, August bringt die Fernsehanstalt PCs locken. In der Schlacht ums Fernsehvolk als Puzzle, als Kalender. Das Video für und Software mit dem Label von Sat 1 ist das Merchandising zur weiteren Waffe Hundetrainer, der Hundewecker, die auf den Markt. „Wir belegen ein neues geworden – dein Sender, dein Freund. Hundewärmflasche, Kommissar-Rex- Feld“, verkündet Schneider stolz. Mit ihren Produkten rücken die Mer- zungenförmiges Eis. Der Sat-1-Computer ist der jüngste chandiser den Zuschauern immer dichter „Ich muß Masse machen, um meine Fanfarenstoß einer Endlos-Attacke auf auf den Pelz. Fast jeder Sender hat seine Ziele zu erreichen“, sagt Schneider. das Fernsehvolk, die sich Merchandising eigene Vermarktungsfirma. Sogar das Der kettenrauchende Krauskopf, der – zu deutsch: Verwertung des Namens – ehrwürdige ZDF ist seit zwei Jahren da- im Januar unter mißlichen Umständen nennt. Wenn Vater, Mutter, Hosenmatz bei. Immer neue Klubs sollen das Publi- von RTL zu Sat 1 wechselte, will so die neuen Sat-1-CD-Roms in den neuen kum keilen, neben Ansteckern, Mode schnell wie möglich der Erste im Markt „Family PC“ schieben, ist sichergestellt, und Plüsch bietet Pro Sieben zum Bei- der Merchandiser sein. daß sie das Senderlogo stets vor Au- spiel neuerdings seinen Mitgliedern Demnächst will er das Fernsehen so- gen haben: Fußball spielen mit Sat 1, Preisvergünstigungen in Hilton-Hotels gar in die Apotheken bringen. Zwischen Häuschen planen mit Sat 1, Comics und beim Autovermieter Sixt an. „Wir Pillen und Arzneibroschüren, so plant basteln mit Sat 1, Horoskope berühm- sind die Trüffelschweine“, beschreibt Schneider, soll dort ein Gesundheitsrat- ter Persönlichkeiten nachlesen – mit Sat-1-Merchandiser Schneider das Ge- geber mit dem Sender-Logo ausliegen – Sat 1. schäft. Husten mit Sat 1, kostenlos. Y

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scheinbar nichts miteinander zu tun ha- Versicherungen ben. Tatsächlich, so der Verdacht, han- delt es sich bei den Transaktionen um eine trickreich eingefädelte Ausplünde- rung von Kleinaktionären und Versiche- Trickreiche Plünderer rungskunden. Vor anderthalb Jahren kaufte die Aa- Dem Aachener Versicherungskonzern AMB droht Ärger: Vorstandschef chener und Münchener Beteiligungs- AG 25 Prozent der Aktien an der Volks- Wolfgang Kaske soll mit dubiosen Aktiengeschäften Kleinaktionäre und fürsorge. An der Versicherungsgruppe Versicherte der Volksfürsorge geschädigt haben. war die AMB bis dahin schon zu 50 Pro- zent beteiligt, doch AMB-Chef Wolf- gang Kaske („Kaiser von Aachen“) eit Ekkehard Wenger auf den ligungs-AG (AMB), so der Vorwurf wollte die einstige Gewerkschaftsversi- Hauptversammlungen deutscher des Insiders, habe die Hamburger Ver- cherung gern allein beherrschen. SAktiengesellschaften wortgewaltig sicherung 1994 Geschäfte abgeschlos- Verkäufer der Volksfürsorge-Anteile die Interessen von Kleinaktionären ver- sen, durch die Kleinaktionäre und Le- war die Beteiligungsgesellschaft der Ge- tritt, werden ihm des öfteren Informatio- bensversicherte massiv geschädigt wur- werkschaften AG (BGAG). Die Ge- nen aus den Unternehmen zugespielt. den. Die Anschuldigungen decken sich werkschaftsholding brauchte Geld. Des- Manchmal schreiben Spinner. Diesmal mit Erkenntnissen, die Wenger aus in- entpuppte sich der Briefschreiber als inti- ternen Papieren und Gutachten gewon- mer Kenner der Materie. nen hat. Das Schreiben war – „mit Rücksicht Für Zoff auf der Hauptversammlung auf meine persönliche Situation“ – an- am kommenden Mittwoch ist gesorgt. onym an den Würzburger Wirtschafts- Als Kleinaktionär der Volksfürsorge professor gerichtet. Es schildert ein anrü- hat Wenger schon vor Wochen bean- chiges Geschäft, in dessen Zentrum die tragt, dem Vorstand und dem Auf- Aachener und Münchener-Gruppe, mit sichtsrat die Entlastung zu verweigern. Prämieneinnahmen von 16,1 Milliarden In der vergangenen Woche stellte der Mark Deutschlands drittgrößter Versi- Hochschullehrer auch Strafanzeige ge- cherungskonzern, und die von ihr mehr- gen die Manager der Volksfürsorge – heitlich beherrschte Volksfürsorge ste- wegen des Verdachts der Untreue. hen. Unter dem Druck ihres Großaktio- Die Vorwürfe betreffen eine Reihe närs, der Aachener und Münchner Betei- von Aktienkäufen und Verkäufen, die BUSINESS PICTURE Wirtschaftswissenschaftler Wenger „Allenfalls die Hälfte gerechtfertigt“

halb hatte sich BGAG-Chef Hans Matt- höfer entschlossen, das Engagement bei der Volksfürsorge zu beenden. Die AMB offerierte dem Vorstand der Volksfürsorge ein merkwürdiges Gegengeschäft: Die Volksfürsorge soll- te ein Paket von 46 Prozent der Aktien der Central Krankenversicherung und einen Anteil von 10 Prozent an der BfG- Bank erwerben. Beide Firmenpakete gehörten Kaskes AMB. Solche Geschäfte zwischen einer Ge- sellschaft und ihrem Großaktionär sind rechtlich zulässig. Aber nur dann, wenn der Preis für die gehandelten Aktien an- gemessen ist. Gegen einen Kauf des BfG-Pakets hatte Volksfürsorge-Chef Wilko Börner keine Einwände, der Preis von 291 Mil- lionen Mark für zehn Prozent der BfG- Aktien schien fair zu sein.

W. V. BRAUCHITSCH Erst beim gewünschten Kauf einer AMB-Chef Kaske: Eingeschüchterte Vorstände Beteiligung an der Kölner Central Kran-

DER SPIEGEL 26/1995 91 WIRTSCHAFT kenversicherung legte sich der Volks- zent-Anteil an der Volksfürsorge bezah- gemeinen Versicherungs-AG möglichst fürsorge-Vorstandschef quer. Eine Be- len mußte. Die AMB bestreitet, daß es billig abfinden, um das Unternehmen teiligung an dem Krankenversicherer zwischen den beiden Transaktionen ei- der Colonia einverleiben zu können. schien ihm zu riskant. Vor allem aber nen Zusammenhang gegeben habe. In diesem Fall rechneten die KPMG- hielt er den verlangten Preis für viel zu Ein internes Kurzgutachten, das die Wirtschaftsprüfer mit einen Zinssatz hoch. Rechtsabteilung der Volksfürsorge er- von 8,25 Prozent. Entsprechend mager Es kam zum Zerwürfnis zwischen stellte, warnte rechtzeitig vor einer fiel das Abfindungsangebot aus. Inzwi- Börner und seinem Aufsichtsratschef Überschreitung der Gesetze. In dem Pa- schen beschäftigt sich das Kölner Land- Kaske. Börner mußte im Januar 1994 pier mit Datum vom 13. Oktober 1993 gericht mit diesem Fall. gehen, zum Abschied gab es eine Ab- heißt es, bei der Verknüpfung der bei- Die KPMG hat, laut einer Erklärung, findung in Millionenhöhe. Offenbar den Erwerbsvorgänge könne es sich um im Falle der Central nur beraten und eingeschüchtert von der Macht des „ein verbotenes Umgehungsgeschäft“ „im Auftrag der Parteien“ die geringe Großaktionärs AMB stimmten die an- im Sinne von Paragraph 71a des Aktien- Börsenkursrendite von Versicherungs- deren Vorstände der Volksfürsorge der gesetzes handeln. Sollten die geplanten aktien zugrunde gelegt. Bei Nordstern Übernahme der Central-Beteiligung im Verträge dennoch abgeschlossen wer- seien die Wirtschaftsprüfer dagegen als Frühjahr 1994 zu. den, warnten die firmeneigenen Gut- „neutrale Gutachter“ tätig geworden Der vereinbarte Preis für das Paket achter, müsse „strikt auf die Angemes- und hätten entsprechend den Berufs- war hoch: Die Hamburger Versiche- senheit des Kaufpreises“ geachtet wer- grundsätzen mit dem langfristig zu erzie- rung mußte fast 428 Millionen Mark den. Für einen Schaden würden Vor- lenden Kapitalmarktzins gerechnet. für die Central-Anteile an verschiedene stände und Aufsichtsräte „persönlich Bei solchen Rechenkünsten dürfen AMB-Töchter überweisen. haften“. Kleinaktionäre und Versicherungskun- den von Prüfern keinen Flotter Tauschhandel Wie die AMB den Kauf von Volksfürsorge-Anteilen finanzierte Schutz vor Übervortei- lung erwarten. Die an- geblich unabhängigen 1 Die AMB verkauft Experten wollen es sich aus ihrem Besitz 46% 3 Die AMB kauft von mit Firmenvorständen, der Central Kranken- der BGAG 25% der versicherung ... Volksfürsorge... die lukrative Beratungs- aufträge zu vergeben haben, nicht verscher- zen. Wie es bei dieser In- ...und erhält dafür teressenlage um die gut- 428 Millionen Mark. achterlichen Fähigkei- ...und zahlt dafür Beteiligungs- ten der Prüfer bestellt 2 Die AMB ver- 770 Millionen Mark*. kauft 10% der BfG Aachener und gesellschaft der ist, zeigt auch ein ande- Bank AG... Münchener Gruppe Gewerkschaften rer Fall bei der AMB. Deren Lebensversiche- rung kam 1991 an die Börse. Dem Emissions- ...und erhält dafür preis von 1600 Mark pro 291 Millionen Mark. Aktie lag damals eben- *geschätzt falls ein KPMG-Gutach- ten zugrunde. Der anonyme Brief und interne Un- Börner schied aus. Trotz seiner War- Die Bewertung erwies sich im nachhin- terlagen aus der Volksfürsorge legen nungen zahlte die Volksfürsorge fast ei- ein als völlig unrealistisch. Bereits in den jetzt den Schluß nahe, daß bei diesen ne halbe Milliarde Mark für die Central- ersten Monaten nach der Emission fiel Deals gegen Vorschriften des Aktienge- Anteile. „Allenfalls die Hälfte wäre ge- der Aktienkursder AM Leben um30Pro- setzes verstoßen wurde. Das Gesetz un- rechtfertigt gewesen“, sagt Betriebswirt- zent. Derzeit werden die Papiere von der tersagt Firmen den Erwerb eigener Ak- schaftsprofessor Wenger. Börse gerade mit der Hälfte ihres Ausga- tien. Verboten sind auch Umgehungsge- Der Würzburger Ordinarius hat das bepreises bewertet. schäfte, bei denen eine Aktiengesell- interne Gutachten analysiert, in dem die Wenger will jetzt den kleinen Aktionä- schaft einem Dritten ermöglicht, Antei- KPMG Deutsche Treuhand-Gesell- ren der Volksfürsorge zu ihrem Recht le an der eigenen AG zu kaufen. schaft den Wert der Central bestimmt verhelfen. Er hat gegen die Vorstände Genau darum, so behauptet jetzt der hatte. Dessen Inhalt hält er für „aben- der Volksfürsorge Strafanzeige gestellt. gut informierte Briefschreiber, ging es teuerlich“. Die Herren sind heute noch, so eine Er- bei dem Geschäft. Die Volksfürsorge Um den Kaufpreis eines Unterneh- klärung des Volksfürsorge-Vorstands, habe der AMB den Kauf von 25 Prozent mens zu bestimmen, wurde der erwarte- „von der Richtigkeit der damaligen Ent- ihres Kapitals selbst finanziert, „indem te Gewinn der kommenden Jahre auf scheidung überzeugt“. Auch aus dem sie der AMB Pakete von 10 Prozent den Zeitpunkt des Kaufes herunterge- Aufsichtsrat haben die Kleinaktionäre BfG und 46 Prozent Central abnahm“, rechnet, also um Zinsen bereinigt. Im unverhofft Schützenhilfe zu erwarten. schreibt der Anonymus. „Beides zusam- Fall AMB setzten die Wirtschaftsprüfer Auf der Sitzung Ende April verweiger- men machte genau den Betrag aus, den einen ungewöhnlich niedrigen Zinssatz ten Aufsichtsräte der Arbeitnehmerseite AMB an BGAG zu zahlen hatte.“ (2,9 Prozent) an – und kamen so auf ei- dem vorgelegten Jahresabschluß die Zu- Tatsächlich flossen dem Kaske-Kon- nen extrem hohen Kaufpreis. stimmung. Sie wollen die Nichtigkeit der zern durch das Verschieben der beiden Zur gleichen Zeit rechneten die Prü- Bilanz, in der die dubiosen Deals enthal- Pakete an die Volksfürsorge insgesamt fer der KPMG in einem anderen Gut- ten sind, gerichtlich feststellen lassen. 719 Millionen Mark zu. In etwa gleicher achten ganz anders. Im vergangenen Aufsichtsrat und Gewerkschaftsanwalt Höhe bewegte sich auch der Preis, den Jahr wollte Muttergesellschaft Colonia Thomas Schmidt gibt sich kämpferisch: der Allfinanzkonzern für den 25-Pro- die freien Aktionäre der Nordstern All- „Wir ziehen das jetzt durch.“ Y

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aus der Wäsche“. Seehofer indes hat Wenn die Ärzte mehr verordnet hät- Gesundheitsreform sich seine heitere Gemütsverfassung ten, als für Tabletten und Tropfen auf bewahrt: „Aus meiner Sicht kein Bein- dem Kassenkonto war, hätten sie bruch.“ Strafabzüge am Honorar hinnehmen Die Gelassenheit des CSU-Mannes müssen. Größtes Verdienst dieses See- Mit voller ist nicht aufgesetzt. Ob nun das Chaos hoferschen Gewaltaktes: Jetzt ist nach- über das Gesundheitssystem herein- gewiesen, daß im Medizinbetrieb Milli- bricht oder ob „in den nächsten 180 arden eingespart werden können, ohne Strahlkraft Tagen“ (Seehofer) noch eine Wende daß den Kranken die notwendige Be- gelingt – im guten wie im schlechten handlung verweigert wird. Die Kosten explodieren wieder. Jetzt Fall will er in seiner Lieblingsrolle als Von Anfang an hatte Seehofer die sollen nach den Plänen von Minister durchsetzungsstarker Reformer brillie- Budgetierung auf drei Jahre befristet. ren. In diesen 36 Monaten wollte er das Seehofer Kassen, Krankenhäuser Die miesen Zahlen waren Seehofers Konzept für eine grundlegende Reform und Ärzte um Patienten werben. Verbündete von Anfang an. Als die des Systems entwickeln. Die bislang Krankenkassen 1992 einen Schulden- üblichen Kostendämpfungsaktionen, berg von reichlich neun Milliarden die alle paar Jahre fällig werden, soll- n sanftem Ton zog Kostendämpfer Mark angehäuft hatten (siehe Grafik ten der Vergangenheit angehören. harte Bilanz. Seine Seite 100), nutzte der neue Minister Die Notwendigkeit einer solchen Ivielgerühmte Reform, bekannte der die Gunst der Stunde. Er setzte ein „Revolution“ bestreitet kaum jemand. Gesundheitsminister vor einer Handvoll rigoroses Kostendämpfungsprogramm Die bisherige Politik – seit 1977 änder- Spitzenfunktionären aus Kassen und durch, gegen das Ärzte, Zahnärzte und ten die Gesundheitspolitiker 46 größe- Ärzteverbänden, sei dabei, zu scheitern – und zwar planmäßig. Schon 1992 habe er ge- sagt, der gesetzlich verord- nete Ausgabendeckel werde höchstens drei Jahre die Be- gehrlichkeit von Medizinern und Pillenproduzenten zü- geln. Nun breche der Damm schon etwas früher. Seeho- fer zuckte die Achseln. 2,5 Milliarden Mark Defi- zit hätten die gesetzlichen Krankenkassen allein im er- sten Quartal dieses Jahres aufgehäuft. Die Kosten je Mitglied wuchsen in den al- ten Ländern wieder so unge- niert wie vor der Reform: Zahnersatz plus 10 Prozent, Arzneien plus 10 Prozent, Heil- und Hilfsmittel – also Massagen, Brillen, Prothe- sen oder Stützstrümpfe – plus 14 Prozent, Gesund-

heitsförderung plus 25 Pro- ACTION PRESS zent, Kuren plus 16 Pro- Gesundheitspolitiker Seehofer*: „Vorrang für die Selbstverwaltung“ zent. In den neuen Ländern sehen die Zu- Krankenhausfunktionäre vergebens an- re Gesetze und 6800 Einzelbestimmun- wächse noch dramatischer aus. Heraus- rannten. Geschickt hatte Seehofer auch gen – führt offenkundig in die Sackgas- ragendes Exempel: Die Ausgaben für die SPD eingebunden. se. die medizinisch ohnehin umstrittenen Erfolgreichstes Instrument seiner bis- Nach zahlreichen Sitzungen mit Ärz- Kuren explodierten gegenüber dem er- herigen Politik ist die Budgetierung. Er ten, Kassen, Krankenhausfunktionären sten Quartal 1994 um fast 93 Prozent. teilte Ärzten wie Krankenhäusern für und Pharmaherstellern zeichnen sich Wenn 1996 fristgemäß die stramme das Jahr 1993 eine bestimmte Ausga- jetzt die Konturen der Neuordnung ab. Budgetierung der für Ärzte wie Hospi- bensumme zu. Die darf bis Ende 1995 Die „Philosophie“ hat Seehofer einer täler insgesamt bereitstehenden Hono- nur im gleichen Umfang steigen wie die Rede des Bundespräsidenten Roman rarsumme falle, räsonierte der Minister, Grundlohnsumme, der Maßstab für die Herzog entnommen, die dieser schon würde der Fehlbetrag auf über zehn Mil- Beitragseinnahmen der Kassen. Rech- 1992, damals noch Präsident des Bun- liarden Mark anschwellen. Seehofer: nen die Doktoren mehr ab, steigt ihr desverfassungsgerichts, im Bundestag „Dann schlägt der Blitz mit voller Gesamteinkommen in diesem System gehalten hat. Strahlkraft ein.“ Und: „Das finanzielle nicht, sondern die Vergütung für die Die Politik erfülle im Gesundheitssy- Desaster wird größer, als es je war.“ einzelne Leistung sinkt. stem nur eine Moderatorenrolle, analy- Wenn dieser Horror Wirklichkeit Ein Budget setzte Seehofer auch für sierte Herzog damals. Sie verteile eine werde, fürchtete sich Eckard Fiedler, den Verbrauch von Arzneien fest. naturgemäß begrenzte Summe auf die Verbandsgeschäftsführer der Angestell- einzelnen Sektoren des Gesundheitswe- tenkassen, „dann gucken wir alle dumm * Beim Besuch einer Klinik in Magdeburg. sens. Herzogs Vorschlag faßte Seehofer

96 DER SPIEGEL 26/1995 när den zahnärztlichen Stundenlohn mit 5,48 Mark bezifferte. Schlecht behandelt „Damit sie nicht an der Knecht- schaft verzweifeln“, wolle er die Kol- Zahnärztliche Standesführer rufen zur Meuterei auf legen „hinausführen aus der Gefan- genschaft der gesetzlichen Kranken- versicherung“, schwadronierteRalph m ihre Forderung nach mehr die ganze Richtung nicht paßt – be- Gutmann, Chef des Freien Verban- Geld für ihre Klientel durchzu- sonders seit die Zahnärzte gesetzlich des Deutscher Zahnärzte (FVDZ),in Usetzen, planen die Standesver- daran gehindert sind, ihren Hang zum dem seit einigen Jahren dieScharfma- treter der Zahnärzte, das System der Merkantilen allzu freizügig auszule- cher das Regiment führen. kassenärztlichen Versorgung im ben (siehe Grafik): 1994 beispielswei- Infiltriert haben sie auch viele Dentalbereich außer Kraft zu setzen se mußten sie mit einem Gesamtbud- Kassenzahnärztliche Vereinigungen, – Teil einer Langfrist-Strategie, die get von 10,5 Milliarden Mark für kon- die Bundesärztekammer sowie die zum Ziel hat, den Zahnärzten den servierende Behandlungen (Bohren, standespolitisch einflußreiche Kas- direkten Zugriff auf die Barschaft Füllen, Reißen) auskommen. senzahnärztliche Bundesvereini- der Patienten zu ermöglichen. Obwohl die lukrative Arbeit an gung, der Schirbortseit1993 vorsteht. Als Ort des Aufstandes wählten Prothesen, Kronen und Brücken Mal forderten die Betonköpfe vom die Bannerträger des Berufsstandes nicht unter diese „Deckelung“ fällt, FVDZ die Zahnärzte auf, ihre Kas- das Bundesland Niedersachsen, wo ergehen sich die Standesführer in senzulassungen zurückzugeben, um die regionale Kassenzahnärztliche endlosen Jeremiaden über die so das ihnen verhaßte Kassensystem Vereinigung (KZVN) ihre Mitglie- „schleichende Verarmung der Kolle- („brauner Sozialismus“) zu vernich- der letzte Woche dazu drängte, die genschaft“ – als könnten sich ten. Dann wieder, alsder Massen-Ex- Behandlung von Kassenpatienten Deutschlands Zahnärzte nicht mal odus ausblieb, riefen siezum Behand- nur noch privat abzurechnen und da- mehr das Hungertuch leisten, an dem lungsstreik. Letzten Oktober schließ- bei 1,7 Prozent auf den derzeit gülti- sie angeblich nagen. Von 600 000 lich forderte Schirbort die 40 000 gen Honorarsatz aufzuschlagen Mark Jahresumsatz, so rechnen sie deutschen Kassenzahnärzte brieflich „Die Patienten sollen die Rech- sich arm, blieben ihnen monatlich ge- auf,siesolltenbiszumJahresendenur nung des Arztes selbst bezahlen rade 4244 Mark zum Leben; immer- noch Notfallpatienten behandeln, da und sich das Geld von ihrer Kasse hin ein kleiner Fortschritt im Ver- das gedeckelte Jahresbudget vorzei- zurückholen“, proklamierte der gleich zum Jahr 1978, als ein Funktio- tig erschöpft sei. KZVN-Vorsitzende Kollegiale Mißfallensbekundun- Karl Horst Schirbort, Wackelnde Kronen gen über diese Art der Brachialpolitik der zu den führenden Jahreseinkommen der westdeutschen Zahnärzte ahndet die FVDZ-Führung vorzugs- Fundis der Dental-Sze- weise mit dem Ausschluß des reniten- ne zählt. Wer sich nicht ten Mitglieds. „Wir sind ein zentrali- darauf einlasse, be- 250 000 stisch geführter Verband“, erklärte schied er die Zahnkran- Angaben in Mark 230 408 229 923 FVDZ-Direktor Manfred Gilles. ken, der müsse sich vom „Das Ganze bricht doch zusammen, 1. Juli an eben anderswo wenn jeder tut, was er will.“ Das war behandeln lassen. sogar dem früheren FVDZ-Vorsit- „Das ist der Gipfel“, 200 000 zenden Wilfried Schad, wahrlich kein konterte Niedersach- 190 000 Softie, zuviel –er erklärte seinen Aus- sens Sozialminister tritt. Walter Hiller und droh- 179 060 Nach den Vorstellungen von Schir- te, die Dentisten-Orga- bort und seinen Hardlinern sollen die nisation unter Zwangs- durchschnittlicher gesetzlichen Krankenkassen nur verwaltung zu stellen: 150 000 Einnahme-Überschuß noch eine schmale Grundversorgung Ein Staatskommissar je Praxisinhaber bezahlen. Für eine individuell abge- soll dann die Geschäfte stimmte Behandlung löhnt der Zahn- der Kassenzahnärztli- kranke den Preis, den er „in der unge- chen Vereinigung füh- zwungenen privaten Zweierbezie- ren, die als Bindeglied hung von Arzt und Patient“ (Gut- zwischen Arzt und 100 000 mann) mit seinem Doktor ausgehan- Krankenkasse für die delt hat. Verteilung der Honora- 73 600 Nicht einmal diskutieren wollen die re sorgt. zum Vergleich: Durch- Vertreter der Kassenzahnärztlichen Aktueller Anlaß der schnittseinkommen Vereinigung Niedersachsen, wenn aller Erwerbstätigen Meuterei sind die ge- 50 000 sich das Landesschiedsgericht am 28. scheiterten Honorar- Juli mit der strittigen Honorar-Frage 38 600 Verhandlungen zwi- befaßt. schen der KZVN und 42 115 „Der Vorsitzende hat uns beim den Kassen. Doch der letzten Mal schlecht behandelt“, so wahre Grund für den 9100 KZVN-Sprecher Julius Beischer trot- Aufruhr ist, daß den zig. „Deshalb gehen wir da erst gar Dental-Funktionären 1960 65 70 75 80 85 90 93 nicht wieder hin.“

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WIRTSCHAFT

so zusammen: „Könn- Die 7,5 Prozent der Arbeitgeber sol- te man dieses Finanz- Der Patient wird rückfällig len durch Gesetz festgeschrieben wer- volumen mit jährlichen Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen 192,8 den. Den Arbeitnehmeranteil darf die Steigerungsraten den Krankenversicherung Selbstverwaltung der Kassen nur dann Beteiligten nicht ein- in Milliarden Mark anheben, wenn sie zusätzlich Leistun- fach zur Verfügung 184,4 gen anbietet, die über den medizinisch stellen und die Vertei- ausreichenden Pflichtkatalog hinausge- lung den Beteiligten 190,6 hen, wie etwa Sterbegeld oder eine überlassen?“ EINNAHMEN Auslandskrankenversicherung. 176,9 Der Minister beant- AUSGABEN Wichtigstes Ziel für Seehofer ist es, wortet die Fragen mitt- die Stabilität des Beitragssatzes per lerweile mit Ja. Nur 176,4 Gesetz zu garantieren. Diese Grenze so, glaubt er, würden für ihre Ausgaben muß eingehalten sich „die Speere, die werden, die Kassen sollen dann mit sich jetzt auf die Poli- 159,8 Ärzten, Pharmaindustrie, Kurhausbe- tik richten, auf die Be- Beginn der treibern oder Orthopädie-Schuhma- teiligten untereinander 167,8 „Seehofer-Reform“ chern die Verteilung der gegebenen richten“. Das System Mittel ausfechten. Zusätzliche Vertei- steuere sich über das lungsmasse gewinnen sie nur, wenn die Geld selbst. Löhne und damit auch die Beitragsein- In einem „Modell- 147,8 nahmen steigen. versuch“, der am 1. Ju- 154,2 Gewinnt Seehofer Kassen, Ärzte, li 1996 beginnen soll, Pharmaindustrie und Krankenhäuser will Seehofer prüfen, 141,7 für seinen Modellversuch mit dem ob ein sich selbst Motto „Vorrang für die Selbstverwal- steuerndes System in tung“, ist ihm vor der SPD-Blockade- Deutschland funktio- 1990 1991 1992 1993 1994 Mehrheit in der Länderkammer nicht nieren kann. Sein Leit- bange. Gefahr drohe seinem Werk, satz lautet: „Vorrang für die Selbstver- Auf das Prinzip Hoffnung mag Seeho- sagt der CSU-Mann, viel eher von Jür- waltung.“ fer sich nicht verlassen. Deshalb will er gen W. Möllemann, dem gesundheits- Die ersten Schritte, einen Wettbe- wieder mal die Gesetze ändern. politischen Sprecher des Koalitions- werb zwischen den Kassen zu organisie- Seine wichtigste sozialpolitische Vor- partners FDP. ren, sind bereits getan. Vom nächsten gabe: Das gegenwärtige Leistungsange- Der hat Seehofer gleich nach Amts- Jahr an können die Versicherten beim bot der gesetzlichen Krankenkassen soll antritt mitgeteilt, er wolle sich nun auf Ersteintritt frei zwischen den Kassen auch das künftige sein. Das heißt, die dem Felde der Gesundheitspolitik pro- wählen, von 1997 an beliebig zwischen Kassen müssen wie gehabt eine hoch- filieren. Möllemann: „Die Zeiten, in ihnen wechseln. Das Kalkül ist klar: wertige medizinische Versorgung anbie- denen Sie alles allein bestimmen kön- Ein Preiswettbewerb soll entstehen, der ten. Sie dürfen nicht mit niedrigen Bei- nen, sind jetzt vorbei.“ automatisch zu einer Ausschöpfung des trägen Kunden locken, um diesen nur Nach seiner Niederlage bei der Wahl Sparpotentials im Medizinbetrieb führt einen abgemagerten Versicherungs- zum FDP-Vorsitzenden, aber mit Sitz – und damit auch zu sinkenden Bei- schutz zu bieten. im Vorstand, will Möllemann mehr tragssätzen. Die zweite Säule der neuen Seehofer- denn je zeigen, wie er sich den Um- Das ist keineswegs selbstverständ- Reform betrifft die Beiträge von Arbeit- gang mit der Union vorstellt. In der lich. Die Kassen sind gewöhnt, ihren gebern und Arbeitnehmern, die heute je Gesundheitspolitik heißt liberales Pro- bisherigen Scheinwettbewerb durch 50 Prozent des Kassenentgelts zahlen. fil mehr Selbstbeteiligung der Patien- Leistungsausweitung zu führen. Langt Er liegt zur Zeit bei etwa 13 Prozent des ten, rigoroses Zusammenstreichen des das Geld hinterher nicht, wird der Bei- Bruttoeinkommens. Leistungskatalogs der gesetzlichen trag erhöht. Krankenversicherungen auf eine karge Dieses eingeübte Verhalten treibt Grundversorgung. auch gegenwärtig seltsame Blüten. Mit Wer die volle medizinische Leistung Kopfprämien für neue Mitglieder ver- haben wolle, so die liberale Rezep- suchen die Kassenfunktionäre ihre tur, solle private Zusatzversicherungen Ausgangsposition für die Zeit der frei- abschließen. Die Profiteure des me- en Kassenwahl zu verbessern. Beson- dizinisch industriellen Komplexes, bei ders toll treibt es die AOK in Hessen. den Liberalen bestens aufgehoben, wit- Sie zahlt jedem Innendienstmitarbeiter tern bereits neue Verdienstspielräu- 500 Mark, der einen Angestellten unter me. 40 Jahren keilt. Doch Seehofer hat sich festgelegt. Die Kassen versuchen auch, ihre Mit ihm sei all das nicht zu machen. Mitglieder mit Rockkonzerten oder Es sei geradezu lächerlich, das System fragwürdigen medizinischen Sonderan- mit ein paar hundert Millionen Mark geboten am Rande der Legalität an sich Selbstbeteiligung steuern zu wollen. zu binden. Aber solche Aktivitäten Empirisch sei die erzieherische Wir- senken nicht die Kosten, sondern trei- kung von Zuzahlungen noch nie bewie- ben sie in die Höhe. sen worden. Kassenfunktionär Fiedler glaubt je- Mit Möllemann werde er nicht wo- doch: Wenn die Kunden erst die Kran- chenlang über solchen Unfug reden.

kenkasse wechseln könnten, werde sei- S. SCHULZ / RETRO Für Seehofer ist der Ex-Kollege „nur ne Zunft „diese Scherze ganz schnell Seehofer-Kontrahent Möllemann die Reclam-Ausgabe eines spätberufe- einstellen“. Reclam-Ausgabe eines Reformers nen Gesundheitsreformers“. Y

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WIRTSCHAFT

Umwelttechnik Wahnsinn in Wedel Die deutsche Industrie gibt eine weitere Zukunftstechnik auf: Der letzte Hersteller von Solarzellen verläßt das Land.

ichael Dege ist mächtig stolz auf die bläulich glitzernde Scheibe Min seinen Händen. „Wir stellen hier den Mercedes unter den Solarzel- len her“, rühmt der Produktionstechni- ker der Angewandten Solarenergie GmbH (ASE) sich und seine Arbeit.

Seit im schleswig-holsteinischen We- T. RAUPACH / ARGUS del 1987 die Serienfertigung von Solar- Solartechniker Dege: Ohne Staatsknete läuft nahezu nichts zellen aufgenommen wurde, hat sich der Wirkungsgrad der Scheiben um 40 die Sonnenenergie aus. Das Geld kas- Markt wuchs in den vergangenen Jahren Prozent verbessert. „Diesen Dingern“, sieren vor allem Forscher. Wenn die um jeweils 15 bis 20 Prozent. Je höher sagt Dege, „gehört die Zukunft der So- Idee zur Ware wird, versiegen die Zu- die Produktion, desto billiger werden larenergie.“ schüsse. Das deutsche 1000-Dächer- die Zellen. Mag sein. Doch die Zukunft wird oh- Programm, eine Erfindung des ehemali- „Es ist der helle Wahnsinn, aus dem ne Dege und seine Kollegen stattfin- gen Forschungsministers Heinz Riesen- wahrscheinlich größten Markt des näch- den. Die Produktionsmaschinen in We- huber, lief 1994 aus, bis 1998 stehen nur sten Jahrhunderts auszusteigen“, del werden gerade demontiert. noch 5 Millionen Mark an Fördergel- schimpft , Präsident Ende des Jahres gibt die Tochterge- dern zur Verfügung. der europäischen Solarenergievereini- sellschaft der Daimler-Benz Aerospace Die Amerikaner haben das Potential gung Eurosolar. Doch die arrivierten ihre Produktion in Deutschland auf. der regenerativen Energien erkannt. Wirtschaftsverbände, die in Deutsch- Dann hat die letzte deutsche Solarfa- Das Washingtoner Energieministerium land auf Kernkraft und Kohle setzen, brik von Rang das Land verlassen. unterstützt die Entwicklung von Son- schweigen. Wieder geht den Deutschen eine Zu- nenenergieanlagen mit großen Sum- Vor allem die Stromkonzerne haben kunftstechnologie verloren, bei der sie an der Erzeugung von Alternativenergie gute Chancen haben. Die Förderung kein allzu großes Interesse. Ausgerech- von Umwelttechnik in Deutschland, Die Alternativenergie net sie halten in den Solarfirmen ent- das zeigt sich nun, findet vor allem in ist fest im Griff scheidende Anteile. den Programmen der Parteien statt. In Bei der ASE ist neben der Dasa über der Praxis hat der Staat den Umweltfir- der Stromkonzerne die Nukem zur Hälfte der Essener men nicht viel zu bieten – zumindest Stromgigant RWE beteiligt. Das Bay- kaum Geld. men. Rund 1,2 Milliarden Dollar gab ernwerk hat sich bei Siemens Solar 49 Vor vier Jahren gab es noch vier in- das Ministerium in den vergangenen 20 Prozent des Kapitals gesichert. Die ländische Hersteller jener Zellen, die Jahren dafür aus. Energiekonzerne, die beim Durchbruch Sonnenenergie in nutzbare Elektrizität Auch die laufende Produktion wird in der Solartechnik als Verlierer dastün- umwandeln. Ausgerechnet Weltmarkt- Amerika mit Staatsgeld in Schwung ge- den, können so die Konkurrenztechnik führer Siemens, der bereits einen halten. In diesem Jahr bekommen die kontrollieren. Großteil der Siliziumscheiben in den in- und ausländischen Hersteller Sub- Selbst die Lobbyarbeit haben die USA beschichten ließ, hat es den ande- ventionen in Höhe von 83 Millionen Stromkonzerne gut im Griff. Der Bun- ren vorgemacht. Dollar aus dem Washingtoner Etat zu- desverband Solarenergie hat seinen Nun verlagert als letzte große deut- gesteckt. Sitz in der Essener RWE-Zen- sche Solarfirma die ASE ihre Produkti- Ohne Staatsknete läuft in der Solar- trale. Geschäftsführer Ingo Wallner on in eine Kleinstadt in der Nähe von branche nahezu nichts. Gewinne sind arbeitet zugleich für den Stromrie- Boston. Die notwendige Massenferti- mit der Produktion der Siliziumzellen sen – in der Abteilung Kommunikati- gung im Dreischichtbetrieb sei in vorerst nicht zu machen. Die Firma Sie- on. Deutschland zu teuer, klagt Geschäfts- mens Solar, die in der amerikanischen Über die Abwanderung der Solarfir- führer Winfried Hoffmann. Ihn nerven Stadt Camarillo etwa 20 Prozent aller ma ASE kann der merkwürdige Solar- vor allem die üppigen Nachtzuschläge. weltweit hergestellten Zellen produ- Lobbyist sich nicht erregen. Deutsch- Auch die Fördergelder für Solartech- ziert, klagte im vergangenen Geschäfts- land sei nun mal nicht der zentrale Ab- nik fließen in Deutschland nach An- jahr über einen Verlust im zweistelligen satzmarkt für Solartechnik. Generell, so sicht der Branche nur spärlich. Rund Millionenbereich. Wallners Befund, hätten die alternati- 80 Millionen Mark gibt Zukunftsmini- Doch solche Anlaufverluste sind bei ven Energien „den Malus, daß sie zu ster Jürgen Rüttgers in diesem Jahr für einer neuen Technologie normal. Der teuer sind“. Y

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GESELLSCHAFT

Alltag KALNOWSKI, 2. STOCK LINKS Antje Potthoff über vier Jahrzehnte Familienleben im Obdachlosenasyl

Potthoff, 29, lebt als freie Journalistin Herr Kalnowski strich den Zement bewohnbaren Elends zogen Kalnowskis im niedersächsischen Hohenweddrien. mit Salatöl. Dann schwarz, mit Schuh- vier Töchter groß und einen Sohn. Als creme. Salatöl vorweg, damit der Boden tragisch können Kalnowskis das nicht alnowskis also haben entschieden, nicht zuviel Schuhcreme zog. empfinden. was Armut ist: ein Wettstreit. Kal- „Zuletzt Bohnermilch drauf“, sagt Seit 1963 nun in der Obdachlosenun- Knowskis gegen den Mangel – und Herr Kalnowski, „jetzt färbt da nichts terkunft Bahnhofskaserne, Minden, immer wieder tragen sie den Triumph mehr.“ Frau Kalnowski ergänzt: „Ein- Friedrich-Wilhelm-Straße. Eine Back- davon mit ihrer alles bezwingenden Fin- mal die Woche wischen, Bohnermilch steingruft von 1869. Dreiflügelig, kolos- digkeit. drüber, und das glänzt. Bei uns kann sal. Und drinnen dunkle Winkel, von So war es, als Herr Kalnowski den kein Handwerker was verdienen.“ der Ordnungsbehörde ausgegeben als Flurboden strich. 20 Quadratmeter Frau Kalnowski ist jetzt 64, ihr Mann Vierzimmerwohnungen, jede 50 Qua- Flur. Wie das zu bewältigen war, wo das 65 Jahre alt. Im Klassifizierungsdeutsch dratmeter groß. Ehemalige Soldaten- Geld fehlte für Lackfarbe und ihn der der Ordnungsbehörde sind die Eheleute räume sind das, zu Kleinwohnungen Zement so schmerzte, weil der in sei- Kalnowski „obdachlos untergebrachte aufgebauscht, indem man durch jeden nem schmutzfangenden Grau erinnerte Personen“ seit 1955. Notunterkunft, Raum dreiviertelhohe Wände zog. Fen- an die Nachbarflure, mit denen Kal- Behelfsunterkunft, Obdachlosenunter- ster nur in einem Zimmer, an der einzi- nowskis Flur nichts gemein haben sollte. kunft: in den wechselnden Kategorien gen Außenwand, und das einfallende Licht durch die Wände ge- schwächt, bis es in der Tiefe der Wohnung erstirbt. Klo und Du- sche auf dem Flur, zu teilen mit drei weiteren Parteien. Wer damals hier einzog, den hatte die Stadt noch fragen müs- sen, ob er es so aushalten könne. Dem ließ man wenigstens den Glauben, er habe die Wahl. Es ist diese wichtige Winzigkeit, die Kalnowskis Dasein zum Leben erhebt – weit über das der Nach- barn, die, später gekommen und zwangseingewiesen, sich haben fügen müssen in eine ihnen amt- lich auferlegte Daseinsform. Das Ehepaar Kalnowski war nach dem Abriß des von ihm be- wohnten Mietshauses 1955 in ei- ne Holzbaracke eingewiesen worden, fünf auf einem Zimmer, Plumpsklo auf dem Hof. Sieben Jahre und zwei Kinder später die Umquartierung in die Notunter- kunft Mitteldamm, nun vier Räume und auf dem Hof ein Wasserklosett. Dem Ehepaar Kalnowski erschien die beengte Düsternis in der Kaserne wie ein folgerichtiger Schritt des eige- nen, unaufhaltbaren Wiederauf- stiegs.

NETZHAUT Es waren auch Worte gefallen seitens der Ordnungsbeamten wie „Übergangslösung“ und „für drei Monate längstens“. Doch als

FOTOS: F. ROGNER / Kalnowskis auszogen, 1976 end- Ehepaar Kalnowski: „Wenn rauskommt, wo Se wohnen, verlier¯n Se den Arbeitsplatz“ lich, da zogen sie nicht raus aus

106 DER SPIEGEL 26/1995 Treppenhaus in der Mindener Bahnhofskaserne: „Inne Flurtür¯n setzt die Stadt statt Scheiben nur noch Blech“ der Kaserne und weiter nach oben, son- Durchlauferhitzer bleibt eingepackt lie- anvertraut. 17 ist der, doch kommt er dern nur nach nebenan, in die vier Qua- gen. Frau Kalnowskis Wasser wärmt dem Alter im Denken nicht nach. Und dratmeter größere Wohnung auf dem weiter die Waschmaschine. seine stets hastigen Worte stürzen oft Nachbarflur. Es sah aus, als sei der Gip- „Läuft dreimal leer auf Kochwäsche, weg in ein dröhnendes Holpern. Da hin- fel kasernalen Komforts erreicht. und meine Wanne is’ voll.“ 180 Liter in ein bricht Frau Kalnowski mehrfach am Kalnowskis jedoch, einmal angetre- anderthalb Stunden; über den badetags Tag mit dem Ruf: „Ja, is’ gut, schrei ten, „das Beste daraus zu machen“, und verlängerten Ablaufschlauch durch die nich’ so.“ Dann winkt Rene´e kraftlos die jetzt erkennen mußten, daß offenbar Wand in die Wanne. Frau Kalnowski und schweigt. Die lateinischen Verwir- das Beste nicht anders erreichbar sei als sagt: „Nach dem dritten Pumpgang is’ rungen der Ärzte lichtete Frau Kal- mit banaler Gerissenheit, Kalnowskis mein Badewasser noch so heiß, daß ich nowski zu dem ihr greifbaren Bild: schufen für sich „die größte Wohnung mir die Füße verbrenn’. Bei uns kann „Dem seine Gehirnnerven sind vergif- inne ganze Kaserne: 123 Quadratmeter kein Handwerker was verdienen.“ tet.“ für 228 Mark und 60 Pfennige“. Herr In Kalnowskis acht Zimmern lebten Im linken Kasernenflügel, zweiter Kalnowski durchbrach die Wand zur zeitweise zehn Personen. Zum Ehepaar Stock, betreiben Kalnowskis eine ge- Nebenwohnung; die hatte seine Frau zu- Kalnowski und seinen erwachsenen Kin- drängte Behaglichkeit. Erinnerungen vor mit der Tochter belegt. dern gesellten sich wechselnde Schwie- auf goldgefaßten Brokatläufern: par- „Hier darfste natürlich nix verändern, gersöhne und Enkel. Es ist Frau Kal- fümbedeckte bunte Kunstblumensträu- umbaumäßig“, sagt Herr Kalnowski. nowski eine Genugtuung, sagen zu kön- ße; Ziergläser, rot und in Silber gefaßt; Als er den Durchbruch nachträglich ge- nen: „Ich hab’ sie alle hiergehabt.“ Frau Kalnowskis umstrickte Puppen nehmigt bekam, baute Kalnowski schon Geblieben sind die beiden Alten, ihr und Püppchen auf dem Sofarücken, auf an seinem Badezimmer, drei Quadrat- Sohn und ein Enkel, den Frau Kal- Sesseln und Regalen. An den Wänden meter, von der Küche genommen. nowski seinen geduldlosen Eltern nicht Sinnsprüche, in Holz gebrannt, und „Weil“, sagt Frau Kalnowski, „in die Gemeinschaftsduschen geh’ ich nich’, da hol’ ich mir den Syph.“ Für die Ge- Wohnungslos keit sind vor allem alleinerziehende nehmigung, nachträglich, zahlten Kal- Mütter mit ihren Kindern betroffen, die nowskis 450 Mark ans Bauamt. waren 1994 rund 880 000 Menschen über einen längeren Zeitraum bei Ver- „Weil mich der Durchlauferhitzer fürs in Deutschland, davon 34 000 in den wandten oder Freunden unterkommen Badewasser noch mal 300 kostete“, sagt neuen Bundesländern. Häufigster müssen. Schätzungsweise 40 000 bis Frau Kalnowski, „is’ mir der Anschluß Grund für den Verlust der eigenen Woh- 45 000 Menschen leben als Nichtseß- für den jetzt zu teuer. 350 Mark will der nung sind langandauernde Arbeitslo- hafte auf der Straße, die anderen Woh- Elektriker, der spinnt doch, is’ das nich’ sigkeit und Sozialhilfesätze, die gera- nungslosen sind in kommunalen Not-, wahr?“ Frau Kalnowski hat das Geld de für den Lebensunterhalt, nicht aber Behelfs- und Obdachlosenunterkünf- natürlich, „in meiner Spardose mit für die Miete reichen. Von der soge- ten untergebracht. Etwa ein Drittel der Fünfmarkstücke, aber ich geb’ das nich’ nannten verdeckten Wohnungslosig- Wohnungslosen sind Aussiedler. her, nee. Bin ich zu geizig für“. Der

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GESELLSCHAFT

dreidimensionale Andenkenbilder. De- serne; weil, die Familie Soundso, bei Ih- der nach der Polizei, weil der Asbach ren hinter Glas gefaßte Landschaftsan- nen aus dem Haus, ist mit dem Vor- die Mutter wie tot ins Bett gestreckt hat. sichten von Kalnowskis mit den eigenen schuß davon, Lohn im voraus auf zwei Gegen das schäbige Ausmaß trotziger Porträts überklebt. Vor dem Stubenfen- Wochen. So was passiert mir nicht wie- Armut rundum wuchs Frau Kalnowskis ster bauscht sich rosa Tüll, neglige´zart, der. Anspruch auf Ordnung bis in das Flur- zur Gardine gerafft. Und draußen gleich Frau Kalnowski mußte erfahren, daß, stück vor ihrer Wohnung. In die Feuer- die Wildnis. auf einer Skala bürgerlichen Anstands, schutztür, die dieses Stück nach hinten „Seit ’76 wird hier zwangseingewie- ihre eigenen beharrlichen Bemühungen von der Flucht weiterer Wohnungen sen“, sagt Herr Kalnowski, „seitdem ist keine ausschlaggebende Größe sind. trennt, ließen Kalnowskis ein eigenes das ein Loch.“ Achtlos verstreuter Müll Das grenzt Kalnowskis doppelt aus. Im Schloß montieren. Entgegen der Anwei- im Hof, das Treppenhaus urinver- geschlossenen Elend der Kasernenbe- sung der Ordnungsbehörde, die Tür sei schmiert, mit splitterge- als Ausweg für den rahmten Fensterlö- Brandfall stets offen zu chern, durch die der halten, halten Kal- Regen auf die Flure nowskis die Tür Tag schlägt. Was an Schei- und Nacht verschlos- ben neu eingesetzt sen. wird, wird gleich zer- Weil so ihr Flur kein schossen. „Die Gören Durchgang mehr ist, mit ihre Fußbälle“, sagt der vom Treppenhaus Kalnowski, „immer fe- her zu betreten und ste druff, inne Flurtür’n durch die Feuerschutz- setzt die Stadt statt tür wieder zu verlassen Scheiben nur noch wäre, gewann Kal- Blech.“ nowskis Welt noch ein- Frau Kalnowski sagt: mal 20 Quadratmeter. „Hausmeister hat mein Frau Kalnowski sagt: Mann werden soll’n, „Auf meinen Flur

aber wir wollten’s ums NETZHAUT kommt keiner drauf, ih- Verrecken nich’. Daß ren Dreck können die wir denen den Dreck draußen machen.“ wegmachen und die Im Sommer haben es

Lampen heil, und ist die FOTOS: F. ROGNER / Kalnowskis schön auf nächste Birne hin, dann Frührentner Kalnowski: „Karl-Heinz, komm, trink ein¯ mit“ dem Flur. Dann räumt steh’n die da, Herr Kal- Frau Kalnowski den nowski, ham Se mal ’ne Enkeln das Planschbek- neue, nee, ums Verrek- ken raus, und die Er- ken nich’, so leb’ ich ru- wachsenen schwatzen higer.“ bis abends spät um den Für ein schadarmes Tisch unter dem stumm Überstehen des sie um- röhrenden Teppich- fangenden Elends fand hirsch. Das primelver- Frau Kalnowski die schönte Fenster weit ge- Formel: „Ich sach’ hier öffnet. 70 Mark sind jedem guten Tach und weg, sagt Frau Kal- guten Wech, mehr will nowski, wenn im Som- ich mit kei’m zu tun mer die Kästen voll ham.“ Schon weil die sind. Die zwischen den Kaserne und ihre Be- Primeln grüßenden wohner der Mehrheit Gartenzwerge schützt der Mindener Bürger Frau Kalnowski durch ein Begriff sind, auch Vorhängeschlösser am ohne beide erlebt haben Fenstergriff vor den zu müssen; denen recht- Nachbarn. fertigt die Adresse Neben den beiden Bahnhofskaserne eine Sesseln stand auf Kal- Vorstellung von pau- Obdachlosenheim Bahnhofskaserne: „Für mich ist dies das Schlößchen“ nowskis Flur auch mal schaler Verkommen- ein Sofa. „Aber da heit. „Wenn rauskommt, wo Se woh- wohner gilt ihre Flucht ins Oasenhafte schliefen nachts die Penner drauf.“ Als nen“, sagt Herr Kalnowski, „verlier’n als Hochmut. solch ein unwillkommener Schläfer ei- Se gleich den Arbeitsplatz.“ Nur ihrer nächsten Nachbarin gönnt nes Morgens an Kalnowskis Tür um ei- Seinen Töchtern ging das so. Die wa- Frau Kalnowski noch Nachsicht. Der nen Kaffee klingelte, zog Frau Kal- ren beschäftigt in der Keramikabteilung verwahrt sie das Geld, als Schutz gegen nowski das Sofa zurück auf den Dachbo- von Melitta; Kalnowskis Älteste seit die wildernden Kinder, gegen den Ehe- den. zwei Jahren, immer sauber, immer kor- mann und auch gegen die Nachbarin Im Schaltraum für die Zählerkästen, rekt, bis eines Morgens die Kündigung selbst. Wenn die dann kommt und um gegenüber der Wohnung, züchtete Herr kam. Da ist die kleine, gehärtete Frau Zuteilung bittet, mahnt Frau Kalnowski Kalnowski Kanarien, 15 Jahre lang, bis Kalnowski zu Melitta und wollte wissen, erhobenen Fingers: „Aber nicht für As- seiner Frau ein Ausschlag wuchs. warum. Na, hat der Personalchef ge- bach, Lore.“ Lore nickt, kauft ein, und „Gegen nix is’ die allergisch“, sagt Herr sagt, Sie gehören doch auch in die Ka- andertags mittag rufen ihre Kinder wie- Kalnowski, „nur meine Vögel, die muß-

110 DER SPIEGEL 26/1995 ten gleich weg.“ Frau Kalnowski sagt: war die Zeit der schönen Fluchten vor- zum Beispiel eines Nachts seine Freun- „Fünf Käfige hat er hier inne Wohnung bei und Kalnowski der Kaserne dauer- din erschlug. Und Kalnowskis, erwacht gehabt, war alles voll damit und meine haft ausgeliefert. von Gerumpel und Geschrei, mit bele- Arme voller Pickel.“ „Ich krieg’ wieder „Im Frühjahr“, sagt Kalnowski, bendem Schauder gleich Aussicht nah- Vögel“, sagt Herr Kalnowski, „’n Wel- „wenn die Kirmes beginnt, da wach’ ich men auf das Schlimmste. Wie dann der lensittich vielleicht. Die Alarmanlage wieder auf und zieh’ mich an.“ Dann Nachbar Tag für Tag über die Leiche anne Schaltraumtür is’ ja noch da.“ Frau fährt er mit dem Zug nach Herford und stieg, weil die platzraubend im Wohn- Kalnowski ruft: „Dann zieh’ ich aus.“ zeigt den Kollegen, daß er noch lebt. zimmer lag – und Kalnowskis, durch die Im Winter trägt Herr Kalnowski Ba- „Auf der Kirmes“, sagt Kalnowski, offene Tür, hatten Beine sehen können, demantel bis zum Einbruch der Schla- ausgestreckt auf dem Boden. Da hat fenszeit. Und das Haar, schlafstarrend Frau Kalnowski tapfer den Nachbarn grau, ist in keine wache Fasson mehr zu „Über die Kaserne gefragt: „Was ist denn mit deiner Freun- bringen. Ziellos zähe Tage sind das, an könnt’ ich ’n din da?“ Und der Nachbar sagte zur denen der Fernseher läuft, unerhört Antwort: „Nix is’ mit der, die schläft.“ plappernd im Dauerbetrieb, und ruhe- Roman schreiben“ Blieb dabei, eine Woche lang, bis Poli- los schaltet Kalnowski und findet doch zei schließlich die Freundin fand. „Sol- nichts, was ihn bewegen kann. „brauch’ ich keinen Pfennig für Bier.“ che Geschichten“, sagt Herr Kalnowski, Bis endlich nachmittags es soweit ist Er führt die Hand kippend zum Mund „haste hier noch und noch.“ für Kalnowskis Kartoffeln; dieses zeitlos und zitiert: „Karl-Heinz, komm, trink Wenn Herr Kalnowski aus der Kaser- vollbrachte Schälritual vor dem Fern- ein’ mit.“ Das an jeder Bude. ne erzählt, fällt nicht das Wort Obdach- sehgerät. Und die Muße des Vorgangs So kam es, daß eines Frühlings, im losenunterkunft. Kalnowski sagt: „Für hebt auch, daß Kalnowski über dem letzten Zug heim um Viertel vor eins, mich ist dies das Schlößchen.“ Seine Schälen drei kleine Dosen leert, Adels- Herr Kalnowski Minden verschlief. Frau, die denkt noch manchmal an Aus- kronenpils, unter dem Couchtisch zur Fuhr 50 Kilometer über sein Ziel hin- bruch, „wenn sich was Passendes fän- Pyramide gestapelt. aus. Dort muß er dann nachts gesessen de“. Am Stadtrand von Minden, vier Das geht so seit zehn Jahren, seit der sein, im Hauptbahnhof von Hannover, Zimmer, Küche, Bad; das Klo in der ehemalige Schausteller Kalnowski als trunken, vor allem vor Glück, daß er Wohnung. Und keiner von hier wohnte Kohlenschlepper im Winter Spagat derart Erzählenswertes noch einmal hat- dort, Schluß müßte sein mit allem, was machte auf glattem Parkett: Wirbelsäule te erleben dürfen. Kaserne war. Und während sie wagt sich verdreht, Leisten gebrochen, Frührente Kalnowski sagt, hätt’ ich ’ne Schreib- derart zu sehnen, ruft schon Kalnowski mit 55 statt Reisen von Kirmes zu Kir- maschine, über die Kaserne könnt’ ich’n vom Sofa her: „Wenn de ausziehst, El- mes in der gepachteten Losbude. Da Roman schreiben. Wie der Nachbar friede: dann ohne Anhang.“ Y

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GESELLSCHAFT

Berufe Softeis fürs Ohr Mit „Akustischem Design“ will ein Hör-Stylist die Lärmbelästigung in Kneipen und Kaufhäusern übertönen.

er Raum rauscht. Denn die Spar- kasse Westerland auf Sylt ist ein D lärmempfindliches Gebäude. Plap- pert und klappert die Kundschaft im Schalterraumder Bank zulaut, braustdas Haus auf. Wird es stiller, säuselt das Geldinstitut sanft vor sich hin. Selbst Sparer mitempfindlichen Ohren merken kaum, daß die Kasse einem Hör-

Styling unterzogen wurde. Ein System B. HELLGOTH von sechs versteckten Lautsprechern, Beschallte Karstadt-Filiale*: Mit Geräuschen Kundenströme steuern zwei Mikrofonen und einem elektroni- schen Klangfarbenregler reagiert ständig ruhigt mit Hilfe einer wissenschaftlich beln mildern, ohne sie zu übertönen. Sie auf den schwankenden Geräuschpegel im gestützten Methode die akustische würde das manchmal so drückende Raum. „Es ist eine Art akustischer Landschaft. Denn nirgends ist es mehr Schweigen zwischen den Gästen möblie- Trennwand“, sagt Akustik-Designer still. In Restaurants und Hotels dudelt ren. Gleichzeitig würde sie den Straßen- Axel Rudolph, 39, „sie blendet Geklirre es selbst auf dem vermeintlich stillen lärm neutralisieren“. und Gequatsche aus.“ Örtchen. Kaufhäuser, Messehallen oder Alle Versuche, diese Wundermusik Sinn der gesteuerten Beschallung: U-Bahn-Stationen seien klanglich „völ- zu komponieren, schlugen bisher fehl. Durch das Kunstrauschen sind Gesprä- lig außer Kontrolle“, meint Rudolph, Hintergrundmusik-Produzenten wie die che nicht so weit zu hören. InderSparkas- der sich als Kämpfer für den akustischen amerikanische Firma Muzak berieseln se Westerland ist deshalb nie Tag des of- Umweltschutz versteht. Supermarktbesucher mit heimtücki- fenen Ohrs. Rudolph beschallte auch ein Gegen den anwachsenden Schall- schen Gute-Laune-Potpourris und hof- Geldinstitut in Senftenberg. Trotz der er- Schwall schützt sich der lärmgeplagte fen, mit dem Softeis fürs Ohr den Um- zielten Diskretion für den Kunden wirkt Mensch bisher mit Ohropax und Ab- satz zu steigern. Aus den Sprinkleranla- der Raum, vorteilhaft für das Geschäft, schalten. Und das strengt an. Schlecht gen des schlechten Geschmacks plät- optisch offen. besuchte Restaurants „klingen oft zu schert permanent Schmusepop, darge- Design, so galt bisher, ist vor allem vi- leer und erzeugen ein Gefühl der Verlo- boten von drittklassigen elektrifizierten suelle Gestaltung. Der Kölner Hör-Sty- renheit“, sagt Rudolph, „bei einer grö- Streichorchestern. list Rudolph aber versteht unter Design ßeren Besucherzahl sind sie aber schnell Der Wahn, mit Musik gehe alles bes- auch eine hörbare Raumordnung. Er be- mit einer Flut akustischer Reize überla- ser, vor allem das Geschäft, führt aber den und erzeugen Ner- oft nicht zum gewünschten Effekt. Nicht vosität“. Durch gezielt alle Kunden schätzen es, daß Verkaufs- verabreichte Schall- strategen Käseabteilungen und Obst- spritzen will der Aku- stände mit Cover-Versionen großer stik-Profi den allge- Poptitel wie „Careless Whisper“ von genwärtigen Klanghor- George Michael vollschmalzen. Im Ge- ror lindern. genteil: Viele Käufer fühlen sich vom Die Idee, Räume Melodienterror abgeschreckt; Geräu- akustisch aufzupep- sche dagegen können sie gut ertragen. pen, ist eigentlich alt. „Die Leute nehmen Musik wahr, Ge- Japaner bepflanzen ih- räusche aber nicht“, erklärt Rudolph. re Gärten so, daß Bäu- In seiner vor drei Jahren publizierten me, Sträucher und Dissertation über Akustik-Design un- Kieswege gut zusam- tersuchte er die Wirkung von Bremsen- menklingen. Der quietschen, Besteckklappern oder Blät- Komponist Erik Satie terrauschen. Mit Hilfe der Psychoaku- forderte schon 1888 ei- stik und Feldexperimenten kam der ne „Möbelmusik, die Lärmforscher zu dem Ergebnis, daß ein Teil der Geräusche Raumeindrücke nicht nur durch Musik, der Umgebung wäre. sondern auch durch Verstärkung vor- Sie würde den Lärm handener Geräusche harmonisiert wer- der Messer und Ga- den können.

D. HOPPE / NETZHAUT Bei einem Experiment in einem Dort- Akustik-Designer Rudolph: Schall gegen Klanghorror * In Dortmund. munder Selbstbedienungsrestaurant

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Werbeseite GESELLSCHAFT wies Rudolph nach, daß Geräuschver- änderungen oft eine signifikante Wir- kung auf die Kunden haben. Sobald die Cafeteria überfüllt war, vergrößerte ein Lautsprechersystem den Raum aku- stisch – ein Effekt, der auch bei Hör- spielproduktionen eingesetzt wird. Wenn der Computer einen beruhigend rauschenden Tonschleier und sphäri- sche Klänge in den Lärm einspielte, blieben die Gäste auffallend länger sit- zen. Die beschallten Tische waren um 14 Prozent mehr ausgelastet. Selbst ein Stammgast, der seit Jahren denselben Platz aufgesucht hatte, setzte sich um – in eine geräuschmanipulierte Ecke. Rudolph verfolgt mit seinen Hör- Stücken für öffentliche Gebäude vor al- lem kommerzielle Interessen. Mit sei- nen künstlerischen Audio-Wellen will er dagegen zeigen: Das bewußte Ein- schalten des Hörsinns verändert die ge- wohnte Wahrnehmung. Rudolphs aku- stische Ausstellungen mit dem Titel Wellenrauschen und Kindergeschrei im virtuellen Badehaus

„Unsichtbare Environments“ führen die Besucher in die Welt der Blinden. In völliger Dunkelheit baut der Hör- bildner akustische Zauberwelten auf. An der „Unsicht-Bar“ läßt sich der Gast zu einem Glas Sekt nieder, von dem er nur das Britzeln der Kohlensäu- re hört. Für die Photokina in Köln vertonte Rudolph einen „Tag am Strand“ – komplett mit Wind, Wellenrauschen und Kindergeschrei. Und im Archäolo- gischen Park Xanten komponierte er ein virtuelles römisches Badehaus, be- stehend aus dem Plätschern des Was- sers, Fußtritten auf Marmor und dem scharfen Klatschen von Masseurhänden auf nackter Haut. Während es Rudolph als künstleri- schem Geräuschemacher darum geht, „innere Bilder hervorzubringen“, will er mit seinen Klang-Installationen in öf- fentlichen Gebäuden auch den Verkauf mit Hilfe von Akustik begünstigen – Manipulation? „Geräusche können Kundenströme steuern“, gibt der Laut- maler zu. Wie hinterhältig ein schlichtes Brum- men wirken kann, zeigte der Einbau ei- nes „Klangbrunnens“ in eine Dortmun- der Karstadt-Filiale. Rudolph montier- te eine Lautsprecherkette entlang einer Rolltreppe. Bei einer Testreihe mit 20 000 Kunden zeigte sich: Die Mehr- heit der Probanden zog es tief in das Kaufhaus zur Schallquelle hin. Nur we- nige strebten zum Ausgang. Und kaum einer bemerkte die Schallmauer. Wer nicht hören kann, muß kaufen. Y

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AUSLAND

Rußland SIEG ÜBER DIE WELTMACHT Der Terrorakt von Budjonnowsk führt zu einer Wende in der russischen Politik. Statt wie bisher auf Gewalt setzte Premier Tschernomyrdin auf Verhandlungen mit den Tschetschenen. Präsident Jelzin wagt einen neuen Machtkampf mit dem renitenten Parlament, das nach Schuldigen für das Versagen des Militärs sucht. EPA / DPA AP Tote Tschetschenen im Krankenhaus von Budjonnowsk, Oberbefehlshaber Jelzin in Halifax: „Die Entscheidung zum Sturm getroffen“

s regnete in Strömen, als die letzten Die Täter entkamen; sie erreichten miers Jegor Gaidar „Rußlands Wahl“, Geiseln des Tschetschenen Schamil ihr Ziel, eine Waffenruhe und Friedens- widersprachen. Die Mehrheit für das EBassajew am vorigen Mittwoch mit- verhandlungen zu erzwingen. Gleich Votum kam hauptsächlich von den tag in vier Bussen unversehrt nach Bud- nach der blutigen Befriedung Tsche- Kommunisten und Nationalisten – ein jonnowsk zurückkehrten. Irgend je- tscheniens durch die russische Armee parlamentarischer Fortschritt immerhin mand verkündete ihnen und der erreg- hatten sie nicht nur einen spektakulären gegenüber Oktober 1993, als dieselben ten Menge Wartender per Megaphon: Triumph über eine Weltmacht errungen Kräfte im damaligen Obersten Sowjet „Tschetschenien hat über Rußland ei- – sie stürzten auch die Moskauer Füh- nach Jelzins Dekret zur Parlamentsauf- nen Sieg gefeiert.“ rungsspitze in völlige Verwirrung. lösung einen Staatsstreich anzettel- Das Kommandounternehmen hatte – Zur selben Stunde, da in Budjon- ten. nach Partisanenart jenseits jeglichen nowsk die aufgeputschte Menge den Auch diesmal wollten die Abgeord- Kriegsrechts – viel Leid unter Unbetei- Rücktritt des Staatspräsidenten Boris neten eigentlich den Präsidenten stür- ligten verursacht. 121 Menschen kostete Jelzin forderte, sprach die Duma in zen. Beantragt hatte die Abstimmung die Aktion das Leben – aber 200mal Moskau, das Unterhaus des Parlaments, der konservative Demokrat Sergej mehr Opfer forderte vermutlich Ruß- der Regierung ihr Mißtrauen aus. Glasjew, der Vorsitzende des Duma- lands Bombenterror gegen die abtrünni- Nur 72 der 450 Abgeordneten, zu- Wirtschaftsausschusses, noch vor dem ge Kaukasus-Republik. meist von der Partei des früheren Pre- Zwischenfall von Budjonnowsk – we-

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gen des ökonomischen Niedergangs im dienstchef nicht taugen – sie hatten die im Land sein: ein möglicher Konkurrent Lande, der inzwischen so schrecklich Kontrolle über das Geschehen verloren. bei den Präsidentschaftswahlen, die im nicht mehr ist. Für diese „ihm loyal ergebenen nächsten Jahr anstehen. Budjonnowsk lieferte ihm neue Argu- Machtminister“ werde der Präsident sei- Wohl auch um ihn einzubinden, ließ mente: „Ein typisches Beispiel für die nen allzu selbständig agierenden und zu Jelzin den Regierungschef jetzt einen Unverantwortlichkeit unserer Behör- stark gewordenen Premier „opfern“, Kompromiß mit den Tschetschenen aus- den“, klagte Glasjew an. „Heute ist das gab die Iswestija die herrschende Mei- handeln, wonach die Aufständischen ganze Land zur Geisel der inkompeten- nung wieder. Das war ein Irrtum. etappenweise ihre Waffen abliefern und ten Führung und ihres Abenteurertums Jelzin, gesundheitlich keineswegs so die Russen im Gegenzug das Gros ihrer geworden.“ angeschlagen, wie seine Widersacher Truppen abziehen. Die Tschetschenen Der Rechtsextremist Wladimir Schiri- meinten, drehte am Donnerstag den forderten nun nicht mehr die völlige nowski, der sich während des Tsche- Spieß um: Er demonstrierte Einigkeit staatliche Unabhängigkeit, eröffnete As- tschenien-Feldzugs als Alliierter Jelzins mit Tschernomyrdin, dem Spitzenkan- lanbeg Kadijew, ihr Vertreter bei der empfohlen hatte, wandte sich nun gegen didaten des Präsidenten-Wahlblocks EU, der Deutschen Welle. den Präsidenten, der gerade aufdem Gip- „Unser Haus Rußland“: In Halifax und Sie sagten –vermutlich nicht ganz ernst fel der sieben mächtigsten Industriestaa- im Flugzeug habe er ständig mit Tscher- gemeint – sogar zu, den Übeltäter Bassa- ten imkanadischen Halifaxum westliches nomyrdin Kontakt gehalten, „mal jede jew auszuliefern. Geschehe das nicht bin- Wohlwollen buhlte: Die Tragödie hätten halbe Stunde, mal jede Stunde“. nen drei Tagen, drohte Generaloberst Amerikaner, Israelis und Zionisten ar- Der Präsident kündigte an, die Versa- Anatolij Kulikow, Kommandeur der rus- rangiert, um Rußland zu schwächen: ger von der Kriegspartei zu bestrafen. sischen Truppen in Tschetschenien, wer- „Endziel ist ein großer Bürgerkrieg.“ Dann verlangte er vom Parlament sei- de das Feuer sofort wieder eröffnet. Die Auch die demokratische Opposition nerseits ein Vertrauensvotum für Regierung aber sprach Kulikow das unter Grigorij Jawlinski stellte sich gegen Tschernomyrdin, andernfalls unter- Recht zu solchem Ultimatum ab. „Neh- die Regierung, erklärte aber ausdrück- lich, gegen Premier Wiktor Tscherno- myrdin habe sie nichts. Der Regierungs- chef hatte unerwartet von der russischen Tradition simpler Gewaltlösungen Ab- schied genommen, als er – vom Fernse- hen landesweit übertragen – per Telefon mit dem Partisanen Bassajew den friedli- chen Ausgang des Dramas vereinbarte. „Erstmals in der russischen Geschichte hat sich ein ranghoher Staatsmann direkt für Menschen zwischen Leben und Tod engagiert“, pries das Fernsehmagazin Itogi den Ministerpräsidenten. „Zur Tragödie hätte es nicht kommen müssen, wenn alle gemacht hätten, was ihre Aufgabe ist“, umschrieb Tscherno- myrdin die allgemeine Unfähigkeit, das Richtige zu tun. Er selbst hatte Jelzins Straffeldzug in Tschetschenien („Mos- GAMMA / STUDIO X lems verstehen keine andere Sprache“)

nur halbherzig gebilligt. N. CHUCK / Da war noch immer nicht klar, wer den Kampf um das Krankenhaus am 17. Juni: Kontrolle verloren Angriff auf das mit Geiseln brechend vol- leKrankenhaus befohlen, wermithin den schreibe die Duma „ihr eigenes Todesur- men Sie sich vor Provokationen in Tod so vieler Unschuldiger zu verantwor- teil“ – was hieß: Er werde das Parlament acht“, hatte Tschernomyrdin seinen Te- ten hatte (siehe Seite 120). In Halifax hat- auflösen und rasch neu wählen lassen, oh- lefonpartner Bassajew gewarnt. te Jelzin am Tag der gescheiterten Attak- ne Zeit zum Wahlkampf. Auf tschetschenischer Seite verhan- ke emphatisch behauptet: Wiktor Jerin, Reformer Jawlinski will erneut gegen delte in Grosny, wo 200 Meter vom der Innenminister, „und ich haben die die Regierung stimmen. Opponent Glas- Treffpunkt entfernt wieder geschossen Entscheidung zum Sturm getroffen, ehe jewunterstellt Jelzin, ohne Parlament mit wurde, der Truppenbefehlshaber Aslan ich abgereist bin“. Damit wollte der russi- einer vom Westen kontrollierten „Mario- Maschadow. Gedeckt von tschetscheni- sche Präsident – wie in der ganzen Tsche- nettenregierung“ herrschen zu wollen. schen Gardisten hielt Maschadow vori- tschenien-Kampagne – patriotische Ent- Mitglieder der Duma befinden wieder gen Donnerstag mitten in der zer- schlossenheit vorführen, in der irrigen einmal, Jelzin stoße die Gesellschaft in ei- bombten Stadt vor ein paar hundert Annahme, sein Volk erwarte von ihm ei- nen Bürgerkrieg. Schleunigst sammeln Landsleuten eine Rede: Alle Tsche- ne Politik der harten Hand. Ein Regie- die Kommunisten Stimmen für eine An- tschenen seien bereit zu sterben, um zu rungssprecher erklärte dagegen, die Sol- klage gegen Jelzin vor dem Staatsge- verhindern, daß Bassajew auch nur ein daten der Sondertruppe Omon seien ein- richtshof, die eine reuige Parlaments- Haar gekrümmt werde. fach in einer Gefühlsaufwallung losge- mehrheit am Freitag aber verweigerte. Der neue Nationalheld plant angeb- stürmt, als sie Schreie und Schüsse inner- Auch Jelzin kennt die Meinungsumfra- lich schon vier weitere Schläge gegen halb des Gebäudes hörten. gen, wonach – seiner eigenen Erwartung Rußland. Offenbar fühlt er sich der Tra- Mit der Nervenschwäche der Speziali- zuwider – nur 16 Prozent der Russen mit dition seines großen Namenspatrons sten wurde auch offenbar, daß ihre Be- der Gewaltanwendung in Tschetschenien verpflichtet: Der tschetschenische Re- fehlshaber Jerin, Pawel Gratschow und einverstanden sind und 71 Prozent sie bellenführer Schamil hatte im vorigen Sergej Stepaschin für ihre Posten als Poli- verurteilen. Friedensstifter Tscherno- Jahrhundert 27 Jahre lang gegen die rus- zei- und Militärminister sowie Geheim- myrdin dürfte jetzt der populärste Mann sischen Eroberer gefochten. Y

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AUSLAND

Hat Schamil Bassajew, 39, gesiegt, weil er der rus- sischen Armee freies Ge- leit abgetrotzt und Bud- jonnowsk unbehelligt ver- lassen hat? Es war eine Triumphfahrt den schatti- gen Kalinin-Prospekt hin- unter: Schamil lässig in der geöffneten Beifahrer- tür, die Patronengurte kreuzweise über die Brust gespannt, die Maschinen- pistole auf den Knien und die Finger zum Siegeszei- chen gespreizt. „Wir wer- den leben“, schrie einer seiner Mitkämpfer den Tausenden von Schaulu- stigen am Wegesrand zu. Oder gebührt Premier- minister Wiktor Tscherno- myrdin das Verdienst des erfolgreichen Schlichters, der im Fernsehen ausführ- lich seine telefonischen

AP Kompromißangebote an Partisanenbus beim Verlassen Rußlands: Freies Geleit abgetrotzt die Freischärler übertra- gen ließ, während sich Präsident Boris Jelzin wie- Tschetschenien der mal fern aller Realitäten aufzuhal- ten schien? Daß die Truppen von Innenministe- rium und Armee bei der bisher größ- „Wir werden leben“ ten russischen Geiselnahme erneut ver- sagt haben, das immerhin steht für die SPIEGEL-Redakteur Christian Neef über das Ende des Geiseldramas im meisten fest. Selbst in der Stunde des Krankenhaus von Budjonnowsk Abzugs demonstrieren die Soldaten der Spezialeinheit Omon noch einmal ihre Plan- und Kopflosigkeit: Kaum ist ls der letzte rote Bus mit den Frei- Von der wohlgepflegten Kirschbaumga- Schamils Buskolonne am Stadtrand schärlern samt 123 Geiseln in einer lerie aus nahmen die Soldaten das Kran- verschwunden, preschen aus den Sei- AStaubwolke Richtung Tschetsche- kenhaus unter Feuer. tenstraßen Panzer hervor und riegeln nien verschwunden ist, macht sich vor Düster und verlassen liegt der drei- den Kalinin-Prospekt Richtung Kran- dem Haus von Wiktor Istomin eine ei- stöckige Ziegelbau 300 Meter entfernt kenhaus ab. Mehrere Strommasten gentümliche Stille breit. in der Abenddämmerung: die Fassade kippen in die schreiende Menge. Kran- Nur ganz leise dringt das wimmernde von Einschlägen zernarbt, die Fenster kenwagen, die zur Rettung der im La- Flehen der Nachbarin über den weinbe- ausgebrannt. Ein paar verrußte Laken zarett verbliebenen Geiseln heranra- rankten Gartenzaun. Die Frau weiß baumeln an den Mauern herab – selbst- sen, stellen sich vor der Stahlbarriere noch immer nicht, ob Gott ihre fünftägi- gebastelte Rettungsleitern für einige quer. gen Gebete für Tochter Sweta erhört mutige Geiseln, die sich im Wirrwarr „Warum laßt ihr das Volk nicht hat und die 19jährige Krankenschwester abgeseilt hatten. durch?“ empört sich ein Mann, dessen am Leben ist. Nach der „unvorstellbaren Tragödie Frau sich noch im zerschossenen Hos- Istomin, in Ehren pensionierter Poli- dieses Terrorakts“ müßten die Russen pital befindet. „Genossen, bleibt ru- zist, hat in den Tagen der Belagerung jetzt „wie ein Mann zusammenstehen“, hig“, brüllt ein Oberstleutnant durchs von Budjonnowsk seine vaterländische verkündet der Fernseher drinnen im Megaphon zurück. Sämtliche Geiseln Pflicht erfüllt. Kompanieweise hat er Haus: Jetzt sei offensichtlich, „wer in würden geschlossen in die Stadt ge- Soldaten in seinem Hof mit Borschtsch- unserem Land auf welcher Seite steht“. bracht: „Wer Angehörige unter ihnen suppe gespeist und immer wieder kalten Hohles Pathos: Der nebulöse Kommen- hat, kann sich über deren Schicksal auf Tee vors Tor gebracht. Dort lagen in tar bleibt so unverständlich wie vieles, einer Liste am Marktplatz informie- flimmernder Hitze die Scharfschützen, was sich in den vergangenen Tagen in ren.“ das besetzte Spital gegenüber ständig im Budjonnowsk ereignet hat. Noch im letzten Moment wollen Visier. Istomin jedenfalls kann sich nicht er- Rußlands Uniformträger ihre Niederla- Jetzt erinnert nur noch ein bronze- klären, wie es zu dem beispiellosen ge in einen Sieg umwandeln. Fünf dra- schimmernder Teppich aus Maschinen- Überfall kam und wer der Gewinner im matische Tage in Budjonnowsk haben gewehrpatronenhülsen im Vorgarten blutigen Geiselpoker ist, bei dem 50 gereicht, ein weiteres Mal ihren Ruf zu daran, daß Istomins kleines Rentner- Tschetschenenkämpfer tief in Rußland zerstören. Die Kommandeure hatten haus im Kampf der russischen Staats- 1100 Menschen zusammentreiben und ihre Soldaten zweimal frontal gegen macht gegen die kaukasischen Rebellen Moskaus gesamte Führung in Atem hal- das Hospital anrennen lassen, verge- in die vorderste Frontlinie geraten war. ten konnten. bens. Sogar die 30 Elitekämpfer der

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Antiterroreinheit „Alpha“ mußten sich schmählich zurückziehen, nachdem sie 3 Mann verloren hatten. Ihre Demütigung kompensierten die Militärs mit Brutalität, die sich von Tag „In die Knie zwingen“ zu Tag steigerte. Daß es russische Offi- ziere waren, die Schamil und seine SPIEGEL-Interview mit dem Duma-Abgeordneten Marytschew Kämpfer einst während des Abchasien- kriegs als schlagkräftige Guerillatruppe gegen das abtrünnige Georgien ausge- Wjatscheslaw Marytschew, 56, ge- die das eine sagen und stets etwas bildet hatten, weiß keiner der Soldaten. lernter Operetten-Schauspieler und anderes tun. Bei der nächsten Ab- Es würde ihnen erklären, warum sie sich Politologe, zuletzt Leiter des Kul- stimmung über die Regierung am so schwer taten, mit dieser halben Hun- turklubs eines Walzwerkes in St. 1. Juli fallen sie wieder um. So wie dertschaft entschlossener Partisanen Petersburg, gehört zur Fraktion des Clinton Saxophon spielt, sollte viel- fertig zu werden. Ultranationalisten Schirinowski. leicht auch Jelzin in Volkstracht und Ohnehin demonstrieren sie Härte, wo mit russischen Holzlöffeln vor die sie die Stärkeren sind. Draußen, an ei- SPIEGEL: Sie haben letzten Mitt- Abgeordneten treten, um endlich ei- nem der Kontrollposten vor der Stadt, woch, als die Duma der Regierung ne bessere Figur zu machen. starb die Journalistin Natascha Aljakina das Mißtrauen aussprach, Tsche- SPIEGEL: Was soll nach der Geisel- – ein Soldat erschoß sie hinterrücks. tschenen-Kommandeur Schamil nahme von Budjonnowsk mit dieser „Ein Unglücksfall“, erklärt einer der Bassajew imitiert – mit Totenkopf Regierung geschehen? Offiziere, die vor dem Krankenhaus die auf der Brust und Spielzeugpistole in Marytschew: Sie muß weg. Doch die Stellung halten. „Wir haben hier nicht der Hand. Ist das der neue Stil des Initiatoren der Vertrauensfrage in auf Menschen gezielt, nur auf Tiere, wie russischen Parlamentarismus? der Duma hatten eher eine Provoka- die Jäger. Die Tschetschenen, das sind Marytschew: Ich wollte provozieren. tion geplant, um dieses Scheinparla- Tiere.“ So begreifen die Bürger diese jäm- ment mit zu Fall zu bringen. Ich ver- Bevor Journalisten und Bewohner an das Krankenhaus herandürfen, sollen möglichst viele Spuren der schießwüti- gen Belagerer verwischt werden. Der Plan mißlingt. Hunderte von Geiseln lassen sich gar nicht erst in die bereitge- stellten Busse drängen. Schleppenden Schritts, die Frauen mit Tränen im Gesicht, die Kleidung dreck- verschmiert, zieht der Zug der Gepei- nigten die Straße ins Stadtzentrum ent- lang. „Man hat euch nicht die Wahrheit gesagt“, ruft eine Frau in die Menge, „nicht Tschetschenen, sondern russische Soldaten haben viele von uns umge- bracht.“ „Sie haben selbst Frauen und Kinder von draußen abgeknallt“, ruft der Arzt Oleg Serdjukow, nachdem er an der Kette der Omon-Soldaten vorbei ist.

Serdjukow, 32, hatte Sonnabend früh AFP / DPA noch eine Frau operiert, als ohne Vor- Marytschew im Parlament*: „Endlich eine bessere Figur“ warnung der Sturm begann. „Sie dreh- ten Strom und Wasser ab. Das Gerät zur merliche Duma viel besser – wenn stehe auch nicht, warum einige der künstlichen Beatmung brach zusam- aus der Kulisse der aufgeblasenen Minister abgesetzt werden sollen, men, das Stockwerk über uns stand Grauanzüge einer heraustritt und andere aber nicht. Die tragen alle plötzlich in Flammen. Mit Decken und zeigt, was wirklich vor sich geht. Schuld an der Misere. Laken haben wir das Feuer gelöscht.“ SPIEGEL: Und was wollten Sie mit SPIEGEL: Wie wären Sie mit Geisel- Die Geiselnehmer seien fair gewesen, dem T-Shirt signalisieren? nehmer Bassajew umgegangen? berichtet Serdjukow hastig, nicht ge- Marytschew: „Massentod“ stand da Marytschew: Ich hätte ihn und sein walttätig, nie betrunken, keine Verge- drauf, der Zustand, mit dem wir Kommando erst gar nicht nach Ruß- waltigung, keine Mißhandlungen, wie heute in Rußland leben müssen. land durchgelassen, und wenn er im russischen Fernsehen behauptet. SPIEGEL: Wie sollen Rußlands Bür- schon soweit gekommen wäre, hätte Während des Beschusses hätten Tsche- ger das Parlament ernst nehmen, ich ihn mit allen Mitteln in die Knie tschenen sogar geholfen, die Patienten wenn Abgeordnete wie Sie und Ihr zwingen und nicht im Triumphzug in die Keller zu bringen. Chef Schirinowski daraus eine Zir- durchs Land ziehen lassen. Den Angriff auf das Krankenhaus hat kusbühne für Clowns machen? SPIEGEL: Die Regierung fordert der russische Einsatzstab inzwischen in Marytschew: Ich möchte, daß nicht nachträglich seine Auslieferung. bürokratischer Schönfärberei als „Ope- immer nur die Fraktionsführer auf Marytschew: Über die jetzt in Gros- ration zur Schaffung optimaler Ver- dem Bildschirm erscheinen, Leute, ny laufenden Friedensverhandlun- handlungsbedingungen“ ausgegeben. gen muß ich genauso lachen wie un- „Die Sprache verrät sie“, sagt der Arzt. * Mit Spielzeugpistole. ser ganzes Volk. „In dieser Art haben sie 1993 das Weiße Haus in Moskau gestürmt und ein Jahr

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AUSLAND

später das dichtbevölker- die Region am Rande te Grosny.“ Mehrere sei- des Kaukasus keines- ner Kollegen sind als le- wegs sicherer gemacht. bende Schutzschilde in Seit Tschetschenien in den Bussen mit den Frei- Schamil Bassajew einen schärlern nach Tsche- neuen Nationalhelden tschenien unterwegs. hat, regt sich 200 Kilo- Auf Verlangen der russi- meter weiter südlich im schen Seite mußten alle zerstörten Grosny neuer zuvor schriftlich erklä- Widerstandsgeist. ren, sie würden „freiwil- Mehrere hundert lig in die Bande Bassa- Tschetschenen drängten jews“ eintreten. Serdju- sich vorigen Mittwoch kow hat noch eines die- vor dem kleinen Ziegel- ser Papiere in der Hand. haus in der Majakowski- „Unglaublich“, empört Straße Nr. 60, in dem sich der Arzt: „Wie soll der Vermittler der Or- man weiterleben in die- ganisation für Sicherheit sem Land?“ und Zusammenarbeit in Jewgenij Kusnezow, Trauerzug in Budjonnowsk: „Nicht Tschetschenen . . . Europa (OSZE) die von der für den Geiselort Bassajew erzwungenen Budjonnowsk zuständige Friedensgespräche mit Gouverneur der Region den Russen überwacht. Stawropol, weiß es ge- Es scheint gar, als sitze nau. Er hat neben dem der Geiselnehmer selbst Krankenhaus die Rache- mit am Tisch – sein Bru- durstigen um sich ge- der Schirwani, der ihm schart – jene Russen, die verblüffend ähnlich seit sechs Monaten ver- sieht, ist Mitglied der drängen, was südlich von Dudajew-Delegation. Budjonnowsk in ihrer „Besatzer raus“, steht Nachbarrepublik Tsche- auf den Spruchbändern, tschenien passiert. Die und: „Gott ist nicht in noch immer glauben wol- der Gewalt, sondern in len, Grosny sei nicht von der Wahrheit“. Ja, sa- russischen Bomben in gen die Tschetschenen, Schutt und Asche gelegt, in Budjonnowsk hätten sondern von den ver- die Menschen gelitten schlagenen Tschetsche- wie wir. „Doch warum nen selbst in die Luft ge- erregt sich die Welt

sprengt worden. KASSIN über die hundert Toten Jetzt, so fordern sie, dort, nachdem in

müßten die Kaukasier FOTOS: P. Tschetschenien Tausen- aus Rußland ausgesiedelt . . . sondern die Soldaten haben viele umgebracht“: Befreite Geiseln de ermordet worden werden, an den Südgren- sind? Sind wir Schwarze zen solle alle zehn Meter ein Panzer auf- Dem Provinzfürsten kommt die Ohn- und die Mütter in Budjonnowsk Wei- fahren. „Aber nicht unabhängig sollen macht der Moskauer Obrigkeit gerade ße?“ die sein, sondern am besten als Nation recht. Wenn der Staat seine Bürger nicht Schamil habe in seiner Verzweiflung ausgelöscht werden“, hetzt ein biederer schützen könne, müsseman zurSelbsthil- keinen anderen Ausweg gehabt als diese Rentner. fe greifen, tönt er. Kostenlos bekämen al- Geiselnahme in Rußland, glaubt Malita Während Pioniere am geräumten Hos- le Betroffenen von ihm Särge, Kränze Bokujewa, 33. Was hätten die Russen pital Minen sprengen, nutzt der von zwei und Grabsteine. Danach würden schlap- nicht alles in Tschetschenien gemacht: Leibwächtern behütete Provinzfürst pe Funktionäre abgelöst, die den Tsche- mit Granaten Hunderte in den Kel- Kusnezow die Volksempörung fürs eige- tschenen am Ort allzu großzügig Zuzugs- lern getötet, gleich ein ganzes Dorf, ne Image. Nie hätte er sich so wie Tscher- genehmigungen erteilt hätten. Samaschki, ausgelöscht. nomyrdin erniedrigt und vier Tage vor „Wahlen wird es in meiner Region Malitas Bruder sitzt mit Tausenden den Geiselnehmern auf den Knien gele- nicht mehr geben“, verkündet der Gou- anderen Tschetschenen in einem russi- gen, versichert er der Menge: „Ich hätte verneur den Umstehenden, ohne daß Wi- schen Lager bei Mosdok. „Für fünf Mil- 10 000 Soldaten herangeführt und bin- derspruch aufkommt. „Ich setze nur noch lionen Rubel kann man seine Angehöri- nen Stunden alles geklärt.“ Panikmache Vertrauenspersonen in wichtige Ämter gen auslösen, selbst die Leichen müssen habe ihm Tschernomyrdin am Telefon ein.“ Vom Regierungschef habe er be- freigekauft werden. Aber ich bin mit vorgeworfen. „Gut gesagt. Sie sitzen in reits verlangt, künftig „unbürokratisch“ vier Kindern allein und habe kein Moskau, und wir haben den Dreck am Zugriff auf Armee-Einheiten zu bekom- Geld.“ Hals.“ men, „wenn wieder mal wie jetzt Ord- Die Russen hätten Schamil fast die Warum seien weder Jelzin noch der nung zu schaffen ist“. Den Rest sollen gesamte Familie genommen, deswegen Premier hier aufgetaucht? Wenn nur ei- Kosaken erledigen. „So oder so: Ich ga- habe der den Tod riskiert. „Ihn jetzt ner der Verbrecher ungestraft davon- rantiere Ihnen, daß Sie das nächste Jahr- auszuliefern, wie die da drinnen verlan- komme, habe er, der Gouverneur, dem zehnt hier in Sicherheit leben werden.“ gen, ist einfach lachhaft. Wenn sie Scha- Geheimdienstchef Sergej Stepaschin ins Leere Versprechen eines Rattenfän- mil töten, stehen sofort zehn Nachfolger Gesicht gesagt, „dann erschieße ich Sie“. gers. Der Ausgang des Geiseldramas hat bereit.“ Y

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AUSLAND PANORAMA

Ukraine 500 Afrikanischer Einheit in Addis ÄGYPTEN R l o Abeba das Nachbarland Eritrea LIBYEN i Kilometer te N s anklagen: Dort hatten sich kürz- Rebellische Rückkehrer M e lich alle wichtigen sudanesischen e Weil sie sich in der angestammten Hei- r Oppositionsgruppen getroffen. SUDAN mat ausgegrenzt fühlen, belagerten TSCHAD Asmara Dabei erklärten so unterschiedli- Tausende von Krimtataren den Regie- Khartum ERITREA che Baschir-Gegner wie der rungssitz in der Krim-Hauptstadt Sim- christliche südsudanesische Re- feropol. 250 000 Angehörige des 1944 Bürgerkriegs- bellenführer John Garang und nach Mittelasien deportierten Volkes gebiet Vertreter der islamischen Um- sind auf die mehrheitlich von Russen ma-Partei den Sturz des Militär- besiedelte Halbinsel am Schwarzen regimes im Sudan zu ihrem ge- ÄTHIOPIEN Meer zurückgekehrt. Doch viele leben ZENTRAL- meinsamen Ziel. Das von einer in provisorischen Hütten und werden AFRIKANISCHE Linkspartei regierte Eritrea un- nicht als Staatsbürger der Ukraine REPUBLIK Juba terstützt die neue islamisch- anerkannt. Die Hälfte aller volljähri- christliche Oppositionsallianz, gen Rückkehrer war deshalb am ver- ZAIRE UGANDA KENIA weil die Machthaber in Khartum gangenen Wochenende von den Kom- Afrikas jüngsten unabhängigen munalwahlen auf der Krim ausge- Staat mit Fundamentalistenhilfe schlossen; aus Protest boykottierte die Sudan destabilisieren wollen. Für die Gegner Volksgruppe den Urnengang. Bis heu- der sudanesischen Junta ist Eritreas te ist die Minderheit in den lokalen Rä- Front gegen Hilfe gerade jetzt entscheidend: Auf ten nicht vertreten, obwohl ihr Bevöl- einem Treffen in Malawi hatten Ba- kerungsanteil durch Zuzug und hohe Fundamentalisten schir und Ugandas Präsident Yoweri Geburtenraten wächst. Die rebelli- Museveni die Aussöhnung beider Län- schen Neusiedler wollen nun die Aner- Sudans islamistischer Staatschef Gene- der beschlossen. Für die südsudanesi- kennung ihrer Bürgerrechte und Nach- ral Umar Hassan el-Baschir will auf sche Opposition war Uganda bisher wahlen erzwingen. der Gipfelkonferenz der Organisation die wichtigste Operationsbasis.

USA lizen sympathisierten, einige Mitglie- Olympia der verloren. Insgesamt jedoch sei die Bombenerfolg Zahl militanter Gruppen seit Oktober Keine Zeit 1994 dramatisch angestiegen. Vor dem der Milizen Attentat hatte die Liga in 13 US-Bun- für die Frauen desstaaten bewaffnete Selbsthilfegrup- Der Bombenanschlag von Oklahoma pen ausgemacht, inzwischen sind die Das Internationale Olympische Komi- City, bei dem am 19. April 168 Men- militanten Regierungsgegner bereits in tee (IOC) mag sich nicht mit Frauen- schen starben, hat Amerikas Milizen- 40 Staaten aktiv. Allein in Kalifornien fragen befassen. Die Anfang des Jah- bewegung offensichtlich weiteren Zu- operieren etwa 35 Milizen. Der Be- res in Frankreich gegründete Aktions- lauf beschert, statt sie zu diskreditie- richt mit dem Titel „Nach dem An- gruppe „Atlanta plus“ hatte den Her- ren. Zu diesem Ergebnis kommt die schlag – die Bedrohung durch die Mili- ren der Ringe vorge- jüngste Studie der jüdischen Anti-Ver- zen wächst“ schätzt die Zahl organi- worfen, Apartheid leumdungsliga B’nai B’rith. Bereits im sierter Milizionäre auf 15 000. Andere gegen Frauen zu tole- Oktober vorigen Jahres hatte die Liga Experten vermuten gar, daß die Wehr- rieren. Sie fordert vor einer wachsenden Anziehungskraft sportgruppen inzwischen bis zu vier Sanktionen gegen der Haßgruppen gewarnt. Zwar hätten Millionen Anhänger haben. Länder, die Sportle- sie nach dem Anschlag von Oklahoma, Solange die Medien den militanten rinnen die Teilnahme dessen mutmaßliche Täter mit den Mi- Rechten ein Forum zur Selbstdarstel- an Olympischen Spie- lung bieten, werde ihre Popu- len verweigern. 1992 larität noch zunehmen, fürch- waren in Barcelona tet die jüdische Hilfsorganisa- 34 reine Männer- tion. teams angetreten; die

Landesweit hatten amerikani- iranische Mannschaft B. BERNARD / GAMMA / STUDIO X sche Fernsehsender in der konnte durchsetzen, Samaranch vergangenen Woche eine An- bei ihrem Einmarsch hörung von Milizen-Führern ins Stadion nicht von einer Frau ange- vor dem Senat in Washington führt zu werden. Auf der Sitzung des übertragen. Die Liga fordert obersten olympischen Gremiums in nun „die energische Durch- Budapest wurde das Thema jedoch mit setzung bestehender Verbo- keinem Wort erwähnt. Die Tagesord- te paramilitärischer Ausbil- nung sei „zu voll“ gewesen, hieß es. dung“ und die Verabschie- Dennoch fand die Altherrenriege Zeit, dung entsprechender Gesetze die Altersgrenze für Funktionäre von in jenen US-Bundesstaaten, bisher 75 auf 80 Jahre anzuheben. Juan in denen die Bürgerwehren Antonio Samaranch, 74, kann weiter

R. HESTOFT / SABA noch ohne jede Einschrän- über die Sportlerjugend der Welt herr- Bürgerwehr in Michigan kung operieren können. schen.

DER SPIEGEL 26/1995 123 zurück und erzwang so eine Neuwahl Großbritannien des Tory-Vorsitzenden für den 4. Juli – mit ihm als Kandidat. Seine zahlreichen Gegner in der Partei forderte er auf, nicht mehr im Hinterhalt zu lauern, son- Maul halten dern offen gegen ihn anzutreten: „Steht auf gegen mich, oder haltet das Maul!“ Von Partei und Volk mißachtet, Geht sein Kalkül auf, wird die über- pokert Premier Major hoch: Sieg wältigende Mehrheit der 330 Tory-Un- terhausabgeordneten ihn fügsam wie- oder Rücktritt. derwählen. Der Freund und Feind überraschende ur Rettung seines Premiers wählte Ausbruchversuch aus der Verliererecke, Sir Patrick Mayhew, Nordirland- in die seine Kritiker ihn gedrängt hat- ZMinister im Kabinett von John Ma- ten, kam nach einer Serie von Negativ- jor, einen ungewöhnlichen Weg. Nicht rekorden und Flops. Kabinett wie Frak- etwa in einer Parteiversammlung oder tion sind heillos über Großbritanniens Fraktionssitzung, sondern in einem Le- künftigen Kurs in der Europäischen serbrief an die Londoner Times forderte Union zerstritten. Sämtliche Wahlen er seine konservativen Parteifreunde seit Majors überraschendem Sieg bei auf, die Hexenjagd auf den Regierungs- den Parlamentswahlen 1992 verloren die chef endlich einzustellen. Konservativen haushoch. Zahlreiche

The Independent, London

Noch mehr „Aufruhr“ gegen Major Minister und Parlamentarier sind in Be- werde nicht nur auf die Tories zurück- stechungsaffären verwickelt oder gaben fallen, sondern könne auch die Hoff- sich durch Sexeskapaden der Lächer- nungen auf eine Friedenslösung für die lichkeit preis. nordirische Krisenprovinz zunichte ma- Wie keinem Premier in diesem Jahr- chen. hundert versagen Major nach knapp Die Hilfsaktion war gut gemeint, aber fünfjähriger Amtszeit die Tory-generv- für Major nur peinlich: Er stand da als ten Briten die Gefolgschaft: Nur noch ein Mann, der sich seiner Feinde nicht 20 Prozent wollen bei der nächsten mehr selbst zu erwehren weiß und auf Wahl – die spätestens im Frühjahr 1997 die Gnadengesuche barmherziger Für- fällig ist – für die seit 16 Jahren regieren- sprecher angewiesen ist. den Konservativen stimmen. Doch der vermeintliche Schwächling, Der charismatische Labour-Heraus- der seit Monaten nur noch Prügel ein- forderer Tony Blair, 42, liegt nach jüng- steckte, raffte sich zu einem Befreiungs- sten Umfragen bereits 38 Prozentpunkte schlag auf. Wie früher in seiner Lauf- vor dem blassen Amtsinhaber. Major bahn zeigte er sich am kämpferischsten, sei „zwar ein netter Kerl, aber eben ein wenn ihn Partei und Volk schon abge- Verlierer“, höhnte der konservative schrieben hatten. Parlamentarier Tony Marlow. Im Stile eines Verzweifelten trat Ma- Die jüngste Schlappe verpaßte ihm jor vorigen Donnerstag als Parteichef der Ölmulti Shell, der trotz Rückendek-

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Marcus Fox: „Wir ste- hen hinter John Ma- Polen jor.“ Auch die potentiel- len Rivalen Heseltine und Portillo haben En- Geplatzte de vergangener Woche dem Regierungschef ihre Unterstützung zu- Träume gesichert. Ihre Stunde könnte erst kommen, Von der Schule zum Arbeitsamt – Ju- wenn Major im ersten gendliche fühlen sich als Opfer der Wahlgang nur eine dünne Mehrheit erziel- Wende. Eine verlorene Generation te. Dann hätte der sieht keine Chance im Kapitalismus. erfahrene Heseltine die größeren Chancen, rüher war es Scheiße, jetzt ist es Major zu beerben. Der Scheiße“, sagt Mirek, 20, aus dem schwerreiche Politpro- Fschlesischen Wodzistaw. Wenn sei- fi gilt freilich als ausge- ne Freundin nicht ständig auf ihn einre-

AP wiesener Pro-Euro- dete, sich nicht so hängen zu lassen, wä- Premier Major, Vorgängerin Thatcher* päer – in den Augen re er schon völlig versackt. Seit Jahren am Schützling herumgenörgelt der Tory-Rebellen ein Der Maler und Tapezierer mit den ro- ebenso großes Manko sa gefärbten Haaren sucht Zuflucht in kung durch die Londoner Regierung un- wie seine führende Rolle beim Königin- der Punker-Subkultur. Er hat genug ter internationalem Druck auf die Ver- nen-Sturz ihrer Heldin Margaret That- von den Erwachsenen, von Präsident senkung der ausrangierten Ölplattform cher 1990. Lech Wałesa, der „sowieso nur Ferien Brent Spar verzichtete. Wieder einmal Dem Liebling der Euro-Skeptiker, macht“, vor allem aber von den No-fu- stand Major in der Öffentlichkeit bla- Portillo, fehlt dagegen die Ausstrahlung ture-Aussichten, die ihm die ältere Ge- miert da – hatte er doch ahnungslos eine des löwenmähnigen Handelsministers. neration bietet. Stunde vor dem Shell-Rückzieher im Der jugendliche Thatcherist mit spani- Selbst mit Mittelschulabschluß be- Parlament die Entsorgung des verseuch- schem Vater tat sich bislang vor allem als komme er keine Arbeit, „die besser ist, ten Stahlkolosses auf hoher See noch ve- Immigrationsgegner und Leitfigur der als Staub von der Straße zu fegen“, klagt hement verteidigt. Anti-Europäer hervor. Erst kürzlich for- er. So zieht er als Roadie der Punk- Nun erkannte er, daß allein die Flucht derte er, Major müsse Großbritanniens Gruppe „Bunker“ durch die Lande. nach vorn ihn retten könnte. Schatz- Verzicht auf eine gemeinsame Euro- Das Ehepaar Tomasz und Alicja Wit- kanzler Kenneth Clarke, 54, neben Währung ein für allemal festschreiben. kowski aus Posen ist ähnlich bitter. Kei- Handelsminister Michael Heseltine, 62, Für den ersten Wahlgang zeichnete ne Bank leihe ihm das Startkapital, um und Arbeitsminister Michael Portillo, sich Ende vergangener Woche eine sich selbständig zu machen, berichtet 42, aussichtsreichster Kandidat für die Kampfkandidatur des prominenten Au- der arbeitslose Witkowski. Dagegen er- Major-Nachfolge, attestierte seinem ßenseiters und ehemaligen Schatzkanz- mögliche der Staat geschniegelten Kar- Chef zumindest ungewohnte Courage: lers Norman Lamont, 53, ab. Er verfolgt rieremachern, „auf die linke Tour zu „Der Kerl hat Mumm, das muß man den Premier, der ihn 1992 als Verant- viel zuviel Geld zu kommen“. Aus Pro- schon sagen.“ Außenamtschef Douglas wortlichen für den Verfall des britischen Hurd, der bei der kommenden Kabi- Pfunds und den Ausstieg aus dem Euro- nettsumbildung auf eigenen Wunsch päischen Währungssystem gefeuert hat- ausscheiden wird, ist überzeugt, daß te, mit bitterem Haß. Um Major zu scha- Majors Vabanquespiel aufgehen wird: den, hat der eitle Parteirechte im Unter- „Er wird von einer beträchtlichen Mehr- haus schon einmal mit Labour gestimmt. heit wiedergewählt.“ Er wäre ein Gegenkandidat ohne echte Selbst seine Vorgängerin Margaret Wahlchancen. Aber sollte er an die 100 Thatcher, die seit Jahren emsig an ihrem Dissidentenstimmen bekommen, wäre einstigen Schützling herumnörgelt und Major desavouiert. an der Zerrissenheit der Konservativen Die Chancen des Premiers sind nicht viel Schuld trägt, fand anerkennende viel besser als 50 zu 50. Sein größtes Risi- Worte: Sie glaube an Majors Wieder- ko besteht darin, daß zahlreiche Unzu- wahl. Sein Rücktritt zeige, „daß er sich friedene sich im ersten Wahlgang der um unser Land kümmert“. Stimme enthalten könnten. Geschickt hat sich Major vor Be- Doch ganz gleich, ob Major seine Par- kanntgabe seiner Entscheidung die tie gewinnt: An einen Aufschwung der Loyalität des „1922 Committee“ gesi- Konservativen und ein Abflauen der er- chert. In diesem Gremium sitzen die bitterten Flügelkämpfe mag selbst im To- einflußreichen grauen Eminenzen der ry-Hauptquartier kaum jemand glauben. Partei, die traditionell in ihren exklusi- Dort zirkuliert seit kurzem die Unter- ven Herrenklubs das Stimmverhalten suchung einerWerbeagentur über dieAt- der wahlentscheidenden Hinterbänkler traktivität von Markenzeichen: Danach

kontrollieren. Komitee-Vorsitzender Sir rangiert „Tory“ bei den Konsumenten K. WOJCIK weit hinten, noch nach der tschechischen Punker-Familie Witkowski * Nach Majors Amtsübernahme 1990. Billigautomarke Skoda. Y Auswandern, egal wohin

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test haben sich die beiden an den Rand kern ehrliche Ziele ab, und knapp die ehemaligen staatlichen Kulturhäuser, von Polens neuer kapitalistischer Ge- Hälfte aller Befragten befand, es sei ih- Kinos und Bibliotheken haben wegen sellschaft treiben lassen: Er trägt Sprin- nen egal, wenn an der Spitze Polens eine Geldmangels ihr Angebot einge- gerstiefel und ein gelbes T-Shirt mit der „undemokratische Regierung“ stünde – schränkt oder gleich ganz geschlossen. Aufschrift „Nazi-Skinheads raus“. Alic- vielleicht wäre ein autoritäres System so- Da bleibt in vielen Orten außer der ja, Kosmetikerin von Beruf, schmückt gar besser. Kneipe nur die Bushaltestelle als Treff- ihren Hals mit einer Hundekette. Wenn Hauptursache des Frusts ist die Misere punkt. die beiden sich zu dröhnigen Punk-Kon- auf dem Arbeitsmarkt: Von 600 000 Wenn der Staat nicht bald einen zerten aufmachen, ist Baby Marta, 2, Schulabgängern meldete sich im vorigen „nationalen Aktionsplan“ ausarbeite, selbstverständlich im Kinderwagen da- Jahr knapp die Hälfte beim Arbeitsamt, sagt Robert Lipka, Regierungsbeauf- bei. Tomasz Witkowski: „In Polen muß ein Drittel hat auch nach einem Jahr kei- tragter für Frauen und Familie, werde man einfach meutern.“ Deshalb will er ne Stelle gefunden. 35 Prozent der Be- die „Welle der jungen Leute schließlich schon bald auswandern, egal wohin. schäftigungslosen in ganz Polen sind jün- in die Straßen branden“. Die Warschauerin Joanna Rziszalek, ger als 24. Mitschuld an der hohen Jugendar- 22, ist dagegen von solcher Rebellions- Die Folgen sind unübersehbar: 15 Pro- beitslosigkeit ist das veraltete, undurch- bereitschaft weit entfernt. Die Blumen- zent der 14- bis 18jährigen knallen sich lässige Bildungssystem. In den Berufs- binderin verkörpert das traditionelle mit Alkohol regelmäßig so zu, daß die schulen ist der Lehrplan wie zu soziali- Polen und findet ihren Seelenfrieden weitere „psychische und körperliche Ent- stischen Zeiten oft auf die Großbetriebe auf Pilgerfahrten zur Schwarzen Ma- wicklung bedroht“ ist, warnte die staatli- vor Ort zugeschnitten – die aber mittler- donna nach Tschenstochau: „Ich kann che „Agentur gegen den Alkoholismus“. weile entweder Pleite gemacht oder ihre mir gar keinen anderen Urlaub vorstel- Wie in der früheren DDR haben in Po- Produktion modernisiert haben. len.“ len nationalistische Skinheads viel Zu- Agneszka Münch, 24, aus Pruszko´w bei Warschau ist fest entschlossen, nicht unterzugehen. Die Tochter eines pen- sionierten Beamten möchte einmal zur „polnischen Mittelklasse“ gehören. Die gelernte Keramikerin stieg aus ihrem Beruf aus, weil sie sich bei einem Akkordlohn von damals rund drei Mil- lionen Złoty monatlich ausgebeutet fühlte. Per Fernkurs schaffte sie das Abitur. Nun will sie eine private Wer- befachschule besuchen. Um das Studi- um zu finanzieren, jobbt sie derzeit je- den zweiten Tag von 17 Uhr bis 5 Uhr morgens als Hosteß in einer der vielen neuen „Bingo“-Spielhallen Warschaus. „Im Kommunismus war der Job si- cher, heute muß man kämpfen“, sagt sie. „Nur wenn man hart ist und sich durchboxt, kann man optimistisch in die Zukunft blicken.“ Rafal Lis, 24, Student der Finanzwis- senschaften an der Warschauer Univer-

K. WOJCIK sität, besitzt diese Eigenschaften. Er Warschauer Studententreff: „Wir erleben ein Trugbild der Freiheit“ kann den Pessimismus seiner Altersge- nossen nicht verstehen. „Junge Leute, Aber auch die brave Joanna spürt, lauf. Deren schärfste Gegner sind ju- die den Mut haben, ein paar Schritte al- wie die Stimmung unter ihren Altersge- gendliche Anarchisten, die zu kommu- lein zu gehen, dürften keine Probleme nossen umschlägt: Immer mehr Jugend- nistischen Zeiten auf seiten der Solidar- haben.“ liche wenden sich vom Glauben ab. Den nos´c´-Bewegung gegen das KP-Esta- Der Sohn eines Bauunternehmers ist Grund der Sinnkrise sieht Joanna in Po- blishment kämpften. Auch sie sind nun charakteristisch für die kleine Schicht lens Umbruchsituation: „Wir haben es enttäuscht von der neuen Zeit. Ein Mit- erfolgreicher Yuppies, die mit Mobilte- in der heutigen Gesellschaft schwerer glied der anarchistischen Musikgruppe lefon durch Warschaus Straßen eilen als früher. Arbeit zu finden ist nicht „Kanada“: „Wir erleben lediglich ein und am Wochenende in einer der Schik- mehr so einfach.“ Trugbild der Freiheit. Man gibt es uns keria-Diskotheken Entspannung su- In der postkommunistischen Ära zum Konsumieren, damit wir denken, chen. Er fährt einen roten Alfa Romeo wächst eine verlorene Generation her- alles ist toll, aber in Wahrheit ist das nur und verdient „das 10- bis 30fache“ eines an, die mit den neuen Verhältnissen der nächste Schwindel.“ Durchschnittslohns. nicht zurechtkommt. Zahlreiche Ju- Bei denen, die sich auf der Verlierer- Lis hat im ersten Studienjahr die Bör- gendliche zählen sich mittlerweile zu straße wähnen, steigt die Bereitschaft senmaklerprüfung, später das Examen den Verlierern der Wende. Nahezu zwei zur Gewalt. „Eine Zeitbombe“, fürchtet zum Anlageberater bestanden. Die mei- Drittel fühlen sich laut Umfragen mut- die Psychologin Krystyna Skarzyn´ska. ste Zeit verbringt er in einem sterilen los. „Die Träume“, sagt die Warschauer Das traditionelle Rockfestival im west- Büro der Agrarbank BGZ in Warschaus Jugendforscherin Barbara Fatyga, „sind polnischen Jarocin sagten die Stadtväter Stadtmitte. zerplatzt.“ dieses Jahr ab, weil sich Punks und Den Hörsaal betritt er nur noch, weil Nur 12 Prozent der 18- bis 20jährigen, Skins das letzte Mal eine blutige Schlä- er später einen akademischen Grad auf ermittelte die Akademie der Wissen- gerei mit der Polizei geliefert hatten. seine Visitenkarte schreiben will: „Das schaften, glauben noch an beruflichen Zur Resignation trägt die Trostlosig- Studium kann mein Wissen nicht meh- Erfolg. 63 Prozent sprechen den Politi- keit der polnischen Provinz bei. Die ren.“ Y

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kommen nicht in die Versammlung des Herrn aufgenommen werden.“ Der Bann wird durchaus ernst genom- men: Ende vergangenen Jahres löste ein rabbinisches Gericht die Ehe von Scho- schanna Haddad aus Tiberias auf, die zu diesem Zeitpunkt schon zwölf Jahre be- standen hatte. Ein Rabbi hatte heraus- gefunden, daß einer ihrer Vorfahren un- verzeihlich gesündigt hatte: Er hatte als Kohen, als Mitglied der historischen Priestersippe der Juden, eine geschiede- ne Frau geheiratet – vor 100 Jahren. Religionsminister Schitrit erboste die orthodoxen Gralshüter zusätzlich, in- dem er allen abgewiesenen Paaren eine Reise zur Eheschließung ins Ausland auf Regierungskosten in Aussicht stellte. Oft verweigern die Rabbis die Hochzeit, selbst wenn die Liebenden nicht auf der schwarzen Liste stehen. Die Zahl sol- cher Fälle schätzt Schitrit vorsichtig auf

IPPA „mehr als 150 000“. Jüdisches Hochzeitspaar: Keine Chance für die „Schickse“ Für Israelis beispielsweise, die einen Nichtjuden heiraten wollen, ist der Gang Denn Schitrit hat mit seinem Vorstoß zum Rabbi aussichtslos. Die Mischehe Israel eine tragende Säule des jüdischen ist nach orthodoxen Maßstäben nicht zu- Staatsverständnisses ins Wanken ge- lässig. bracht: Israel, die einzige echte Demo- Diese archaische Regel, von vielen als kratie des Nahen Ostens, ist beim Ehe- rassistisch erachtet, ruft bei der Mehr- Letzter Trost recht eher eine Theokratie als ein aufge- heit der Israelis nur noch Unverständnis klärtes Gemeinwesen. Standesämter hervor. Der Journalist Seew Chafets aus Orthodoxe Rabbiner wehren sich sind im Gelobten Land unbekannt, die Jerusalem fand es „entwürdigend“ und gegen eine Reform der biblischen Hoheit über alle Personenstandsgesetze „zutiefst erniedrigend“, daß er außer liegt bei den Religionshütern. Landes gehen mußte, um seine Freundin Ehe- und Scheidungsgesetze. Seit der Staatsgründung 1948 wachen Lisa heiraten zu können. Kein orthodo- orthodoxe Rabbiner darüber, daß in der xer Rabbi hätte ihn mit der „Schickse“, chimon Schitrit wußte genau, was Familie das religiöse Recht gilt. Die Ju- wie der jiddische Ausdruck für nichtjüdi- er heraufbeschwor. „Kein Religi- den müssen zum Rabbiner, wenn es um sche Frauen lautet, vermählt. Sonsminister vor mir“, verkündete Geburt, Hochzeit, Scheidung und Be- Rund 20 Prozent aller jüngeren jüdi- er seinen Mitarbeitern, „hat jemals die gräbnis geht. Doch vielen Gläubigen schen Paare haben mittlerweile profane Oberrabbiner herausgefordert.“ Die wird die Eheschließung verweigert – Eheverträge geschlossen – ohne dadurch Quittung für die Tollkühnheit folgte so- wenn die Rabbis meinen, daß die Ver- den offiziellen Status eines Ehepaares zu fort: Schitrit geriet bei den orthodoxen bindung nicht den religiösen Gesetzen erlangen. Tausende fliegen schon heute Juden in Verruf. entspricht. Danach darf zum Beispiel ei- zur Heirat ins Ausland, Reiseunterneh- „Dieser Mensch zerschlägt, was dem ne Ehebrecherin nach der Scheidung men bieten mit besonders großem Er- jüdischen Volk heilig ist“, erboste sich nicht ihren Liebhaber heiraten. folg Trips nach Zypern zum dortigen der mächtige Rabbi Ovadia Josef. „Er Keine israelische Regierung kam bis- Ringtausch an. 2700 Paare haben ein vergreift sich an Heiligtümern, die ande- her ohne die Zusammenarbeit mit rechtliches Schlupfloch gefunden, indem re, weit größere als er, nicht zu berüh- streng religiösen Parteien aus. Stets sie sich für 500 Dollar ein Heiratszertifi- ren wagen.“ Seine Gefolgsleute im Par- nutzten die Orthodoxen dieses kat in Paraguay kauften. lament wies der Rabbi an, einen Miß- Faustpfand in der Politik – die sie anson- Sehr weit wird der wackere Schitrit trauensantrag gegen die Regierung zu sten meist wenig interessiert –, um der mit seinem Versuch, die biblischen Ehe- stellen. befürchteten „Verweltlichung Israels“ bräuche zu entrümpeln, vermutlich Dabei hatte Schitrit, erst seit vier Mo- entgegenzuarbeiten. nicht kommen. Nachdem er die beiden naten im Amt, nur angekündigt, was Schitrit suchte die Auseinanderset- Oberrabbiner des Landes und zehn rab- fast überall auf der Welt selbstverständ- zung, indem er sich eine „schwarze Li- binische Oberrichter zum Protestbesuch lich ist: Er wolle einen zivilen Standes- ste“ vornahm, deren Existenz erst vor empfangen hatte, gestand er das letzte beamten berufen, der künftig Eheschlie- wenigen Monaten bekanntgeworden Urteil über die Gültigkeit der schwarzen ßungen in Israel genehmigen soll. war. Das umstrittene Dossier enthielt Liste wieder den Orthodoxen zu. Dieses Sakrileg hat mittlerweile das rund 5200 Namen von Juden, denen Gleichwohl will er nun eine Kommission gesamte jüdisch-orthodoxe Establish- nach rabbinischem Verständnis die Hei- aus Rechtsanwälten berufen, die alle ment in Wallung gebracht. Auch nicht- rat verweigert werden muß, weil ihnen verzeichneten Namen und Fälle über- religiöse Juden – die Mehrzahl der Is- ein religiöser Makel anhaftet. prüfen soll. Die Rabbiner tilgten freiwil- raelis – verfolgen gespannt, wie die Auf der geheimen Liste stehen zum lig 1450 Namen von ihrer Liste. Kraftprobe zwischen dem weltlichen Beispiel die Namen von „Mamserim“. Immerhin bleibt allen Unreinen ein Minister und den orthodoxen Glaubens- Ein „Mamser“ ist nach rabbinischem letzter Trost: Der Talmud verspricht, wächtern ausgehen wird. Die Folgen Recht ein „Bastard“, von dem es im daß die Mamserim dereinst von ihrem könnten den Alltag der Israelis drama- 5. Buch Mose 23,3 heißt: „Auch in der Makel befreit werden – wenn der Messi- tisch verändern. zehnten Generation dürfen seine Nach- as kommt. Y

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USA „Amerika hat Angst“ Interview mit dem Schriftsteller Norman Mailer über den Kennedy-Mörder Lee Harvey Oswald

SPIEGEL: Herr Mailer, im bin immer noch nicht restlos da- Schlußkapitel Ihres neuen Bu- von überzeugt, ob Oswald der ches „Oswald’s Tale“ schreiben einzige Täter war. Aber heute Sie, am liebsten hätten Sie es weiß ich, daß es ihm zuzutrauen „Eine amerikanische Tragödie“ war. Das Attentat entsprach sei- genannt*. Was ist an der Ge- nem Charakter – er war in der schichte des Sonderlings und Lage dazu, er hatte das Motiv mutmaßlichen Kennedy-Atten- und die Gelegenheit. täters Lee Harvey Oswald so ty- SPIEGEL: Aber hat er es auch pisch amerikanisch? wirklich getan? Mailer: Oswald war natürlich ei- Mailer: Amerikaner haben eine ne Ausnahme, aber eine für Vorliebe, sich in prozentualen Amerika sehr bezeichnende Wahrscheinlichkeiten auszu- Ausnahme. Vieles in seinem drücken. Für mich steht zu 75 Charakter ist uramerikanisch. Prozent fest, daß er ein Einzel- SPIEGEL: Nämlich? täter war. Aber es bleiben 25 Mailer: Sein maßloser Ehrgeiz, Prozent voller Fragen. sein Glaube an die absolute per- SPIEGEL: Es gibt inzwischen sönliche Freiheit, seine uner- über 2000 Bücher über Oswald schütterliche Überzeugung, es und das Kennedy-Attentat. ganz allein schaffen zu können. Warum fügen Sie diesem Berg Er war ein Linker, hielt aber aus Fakten und Spekulationen nichts von kollektivem Han- FOCUS noch ein über 800 Seiten umfas- deln, sondern setzte ganz auf sendes Werk hinzu? das Individuum. Oswald war ei- Mailer: Geplant war das nicht.

ne äußerst vielschichtige Per- D. OTFINOWSKI / Das Buch entstand, weil Larry sönlichkeit – so komplex, wie Autor Mailer: „Gott schreibt bessere Romane“ Schiller, mit dem ich schon bei die meisten Amerikaner im „Marilyn Monroe“ und „Gna- Lauf ihres Lebens werden, weil sie Mailer: Nicht mein eigenes Ich, das Er- denlos“ zusammengearbeitet habe, an kaum irgendwo fest verwurzelt sind. finden ödet mich an. Alles Erfundene die KGB-Akten über Oswald heran- SPIEGEL: Für Sachbücher mit romanhaf- macht mir angst. In einem Roman muß kam. Er fragte mich, ob ich nicht Lust ten Zügen hat sich in den USA der Be- man dauernd Entscheidungen über den hätte, mit ihm nach Belorußland zu flie- griff „faction“ eingebürgert. Würden Sie Fortgang der Handlung treffen. Ent- gen und ein Buch über Oswald in Minsk auch „Oswald’s Tale“ so bezeichnen? scheidet man sich falsch, kann der Ro- zu schreiben. Ich hatte mich schon im- Mailer: „Faction“ ist ein häßliches Wort. man dadurch zerstört werden. Bei ei- Ich kann diesen Begriff nicht ausstehen. nem Sachbuch dagegen schenkt einem Mein Buch über Oswald hat zwar einige Gott die Handlung. Und Gott schreibt Das Attentat Elemente eines Romans, aber ich zähle bessere Romane als jeder Romancier. es nicht zur Belletristik. Dafür gibt es SPIEGEL: Die Realität übertrifft die Fik- und kein Ende: Mehr als 2000 Bücher zwei Gründe: Erstens enthält es viel tion? gibt es mittlerweile über den Mord an journalistisches Material, das ganz auf Mailer: Angenommen, das Attentat in John F. Kennedy 1963. Norman Mai- Dokumenten beruht – KGB-Akten, In- Dallas wäre nie geschehen und jemand ler, 72, dessen voluminöser CIA-Ro- terviews, dem Bericht der Warren- würde sich einen Roman über Oswald man „Das Epos der geheimen Mächte“ Kommission und so weiter. Und zwei- ausdenken – was für ein großartiger 1991 erschienen ist, hat nun noch tens trete ich in dem Buch selbst auf und Stoff wäre das. Welch außergewöhnli- eins dazugetan. In diesen Tagen ist analysiere wie ein Rechtsanwalt oder che Ahnung der Komplexität würde so bei Random House, Mailers New Yor- Geheimdienstmann die Indizien. Wenn ein Roman vermitteln, wenn man das al- ker Verlag, „Oswald’s Tale. An Ameri- ein Autor sich mit realen Menschen und les erfunden hätte. So aber hat Gott mir can Mystery“ herausgekommen – eine Ereignissen auseinandersetzt und selbst die Handlung vorgegeben oder der Teu- über 800 Seiten starke Lebensbe- im Buch vorkommt, kann er es nicht fel – oder vielleicht beide als Autoren- schreibung Lee Harvey Oswalds. Der mehr Belletristik nennen. team. Altmeister der US-Literatur („Die Nack- SPIEGEL: Früher haben Sie Ihr Interesse SPIEGEL: War für Sie Oswald ein Ein- ten und die Toten“) behandelt in sei- am Sachbuch damit begründet, daß Sie zeltäter oder Handlanger eines großen nem Mammutwerk über den mutmaßli- Ihr eigenes Ich zunehmend anöde. Hat Komplotts? chen Kennedy-Attentäter vor allem Os- Ihr Selbstüberdruß nun nachgelassen? Mailer: Nachdem Oswald erschossen walds Jahre in der Sowjetunion. Der worden war, glaubte ich wie die meisten Autor durfte Einblick in die KGB-Akten Amerikaner, daß er unmöglich auf eige- über Oswald nehmen, und er konnte * Norman Mailer: „Oswald’s Tale. An American Mystery“. Random House, New York; 848 Seiten; ne Faust gehandelt haben konnte. Jetzt ehemalige Freunde und Arbeitskolle- 30 Dollar. habe ich meine Meinung geändert. Ich

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mer für Oswald interessiert. Also sagte melt und 5000 Panzer ich zu und recherchierte mit kurzen Un- der Medien über sie terbrechungen fast ein halbes Jahr in hinwegrollen lassen. Minsk und Moskau. Während dieser Mir erschien es sinn- Zeit gewann ich ein klares Bild von Os- los, hier neue Inter- walds Persönlichkeit. views zu führen. Des- SPIEGEL: Wie sahen Sie ihn? halb habe ich mich auf Mailer: Ich sah ihn nicht als Killer oder die dokumentierten Exzentriker, sondern als jungen Mann, Aussagen gestützt. der gerade geheiratet hatte und nun ver- SPIEGEL: Mit einer suchte, mit seiner Frau auszukommen. Ausnahme: Oswalds Das Material vermittelt ein sehr intimes russischer Ehefrau Porträt von ihm. Deshalb habe ich nach Marina. Mit ihr haben meiner Rückkehr in die USA den Be- Sie in Dallas gespro- richt der Warren-Kommission mit ganz chen. neuen Augen gelesen, denn jetzt kannte Mailer: Marina Os- ich Oswald ja. Es war, als ob man einen wald wurde als Lügne- guten Bekannten, den man lange nicht rin abgestempelt. Tat- gesehen hat, nach zehn Jahren auf einer sächlich hatte sie aber Party trifft: die Veränderungen fallen ei- große Angst, in die So- nem sofort auf. wjetunion deportiert SPIEGEL: Warum haben Sie es nicht bei zu werden – die Leute dem geplanten Buch über Oswalds Jah- vom FBI und den an- re in der Sowjetunion belassen? deren Geheimdien- Mailer: Das Material, das wir in Belo- sten, von denen sie rußland über Oswald gesammelt hatten, vernommen wurde, ließ keinerlei Schluß darüber zu, ob er setzten sie unter Kennedy erschossen hatte oder nicht. Druck. Wenn sie nicht Aber nun wußte ich, was für ein Mensch kooperiere, so wurde Oswald war. Mich interessierte, ob mein ihr damals bedeutet, Charakterbild mit den allgemein be- könne ihr alles mögli- kannten Fakten übereinstimmte. Unse- che zustoßen. Deshalb re Recherchen hatten ganz neues Mate- hat sie gelogen oder rial zutage gebracht. Paradoxerweise vorgegeben, daß sie war dafür ausgerechnet das KGB ver- ihr Gedächtnis im antwortlich. Stich lasse. Aber ich Nach dem Attentat in Dallas hatte der habe festgestellt, daß russische Geheimdienst allen russischen Ehepaar Oswald in Minsk (1961): „Intimes Porträt“ sie im Grunde eine Bekannten Oswalds striktes Redeverbot ehrliche Frau ist, die erteilt. Erst als die Sowjetunion nicht ten gefunden. Ihre Erinnerungen an Os- lieber die Wahrheit sagt, als zu lügen – mehr bestand und Belorußland sich ge- wald wirkten so frisch, als hätten sie ihn auch wenn das mitunter sehr schmerz- öffnet hatte, überwanden diese Men- zuletzt vor einem Jahr und nicht vor haft für sie ist. schen ihre Angst und brachen ihr über 30 Jahren gesehen. In Amerika SPIEGEL: In den sechziger Jahren er- Schweigen. Es war, als hätten wir eine war es dagegen so, als hätte man alle klärten Sie, einen Wandel im Bewußt- versiegelte Kassette mit Zeitdokumen- Augenzeugen auf einem Feld versam- sein Ihrer Zeitgenossen herbeiführen zu wollen. Halten Sie daran fest? Mailer: Das ist heute viel schwieriger ge- worden. Was den epochalen Wandel im Bewußtsein angeht – da habe ich den Mund wohl etwas zu voll genommen. Aber das Bewußtsein Amerikas möchte ich immer noch gern verändern, denn das finde ich nach wie vor zum Kotzen. Wir Amerikaner sind unglaublich dumm, wenn man bedenkt, welche Vor- teile wir haben, wie hoch wir entwickelt sind und wie einfach unsere Geschichte im Vergleich zu der anderer Länder ver- lief. Wir sind unbedarft, dumm und nie-

A. ZAPRUDER / COLORIFIC / FOCUS derträchtig, weil es zur Zeit keinen Kal- Attentat auf Präsident Kennedy am 22. November 1963 in Dallas ten Krieg gibt, der unseren patriotischen Ehrgeiz anspornen könnte. gen interviewen, die den amerikani- Kommission, sparsam durchsetzt mit SPIEGEL: Wer ist dafür verantwortlich? schen Sonderling als Arbeiter in einer Kommentaren aus Mailers eigener Fe- Mailer: Es hat viel mit Gier zu tun, weil Radiofabrik im belorussischen Minsk der. Das minutiöse Psychogramm, eine wir eine so wohlhabende Nation sind. erlebt hatten. „Oswald’s Tale“ ist eine gewaltige Fleißarbeit, schildert Oswald Da wir heute aber im Begriff stehen, Collage aus KGB-Material, Gesprächs- als politischen Wirrkopf, zerfressen von diesen Wohlstandsvorsprung zu verlie- protokollen und Berichtspassagen der Selbstzweifeln, getrieben von maßlo- ren, macht sich überall Angst breit. Ich vom US-Präsidenten berufenen Warren- sem Ehrgeiz. glaube, es gibt eine spezifisch amerika- nische Angst, die besonders charakteri-

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Mailer: Es gibt in Amerika eine starke Tradition des Schriftstel- lers im Elfenbeinturm. Die mei- sten Autoren sind sich für die Politik zu schade. Sie sehen ihr Lebensziel darin, unsterbliche Kunstwerke zu schaffen, und glauben, daß die Politik dieses Streben korrumpiert oder zu- mindest befleckt. SPIEGEL: Verbirgt sich dahinter nicht auch eine gewisse Feig- heit? Mailer: Mich hat Politik stets fasziniert, aber das will ich mir nicht zur Ehre anrechnen – man engagiert sich immer für das, was einen interessiert. Politik ist ein brutales Geschäft, und viele Schriftsteller sind hochsensible Menschen, die einfach davor zu- rückschrecken, eine Tracht Prü- gel zu beziehen. Das ist doch ganz verständlich: Wenn je-

UPI / BETTMANN AP mand so zart besaitet ist, warum sollte er sich dann auf ein so stisch für dieses Land ist. knallhartes Spiel einlassen? Ich Wir sind eine Nation von stamme aus einer robusten Ausgestoßenen und Ver- Familie und denke daher, daß bannten – die Menschen, die ich mich von meiner Konsti- nach Amerika kamen, ha- tution her besser dafür eigne, ben in ihren früheren Hei- auch mal einige Schläge einzu- matländern alle irgendeine stecken. Form der Ablehnung erfah- SPIEGEL: Sie haben immer auch ren. Auch das unterscheidet gern ausgeteilt – etwa in Ihrem uns von anderen Nationen: Buch „Reklame für mich sel- einerseits sind wir unterneh- ber“ . . . mungslustiger, andererseits Mailer: . . . und mußte auf viel- weniger selbstsicher als an- fältige Weise dafür bezahlen. dere Völker. Einmal habe ich zum Beispiel Hinzu kommt ein Phäno- einige abfällige Bemerkungen men, das sich inzwischen auf über Philip Roth gemacht. Das

der ganzen Welt beobachten CAMERA PRESS hat er mir bis auf den heutigen läßt, in Amerika aber beson- Ermordung Oswalds in Dallas*: „Nation von Verbannten“ Tag nicht verziehen. Damals ders kraß zum Vorschein hielt ich es für ehrenhaft, mir tritt: die persönliche Entwurzelung. Die mer bedeutungsloser wird. Ich habe auf einen Schlag einen Haufen Feinde wenigsten Amerikaner können heute manchmal den Eindruck, daß die zu machen. Heute behalte ich meine noch das Haus finden, in dem sie gebo- Schriftsteller meiner Generation die Meinungen über andere Autoren schön ren wurden. Letzten der Mohikaner sind. Nach uns für mich, es sei denn, ich will eine Re- Daher ist die Angst in Amerika größer werden die Bücher vielleicht nur noch zension zu einem bestimmten Buch als anderswo – auch wenn sich das na- von Computern geschrieben. Wir sind schreiben. Aber noch einmal so eine türlich nicht beweisen läßt. Ich vermute, auf dem Rückzug. Breitseite abfeuern? Nein, nie wieder. daß der Durchschnittsamerikaner mehr Wer in den dreißiger, vierziger oder SPIEGEL: Hat Norman Mailer mit 72 die Angst hat als der durchschnittliche fünfziger Jahren zu den wirklich bedeu- Altersmilde ereilt? Franzose, Deutsche oder Brite, obwohl tenden Autoren der Zeit gehörte, ein Mailer: Ein wenig weiser bin ich schon diese Länder auch große Probleme ha- Hemingway, Faulkner oder Steinbeck geworden. Heute besitze ich weniger ben und gewiß mehr zu leiden hatten als war, konnte auf die Kraft seines Na- Talent, dafür aber mehr Weisheit. Was die USA. mens vertrauen. Heute reicht das nicht einem an Feuer fehlt, macht man durch SPIEGEL: Welche Funktion bleibt da mehr – Bücher müssen vermarktet wer- Fleiß wieder wett – so gleichen sich die noch für die Literatur – Trost zu spen- den. Aber Marketing ist der Todfeind Vor- und Nachteile des Alters ungefähr den, ein Gefühl für Geschichte zu ver- der Literatur. aus. Falls ich mich überhaupt weiterent- mitteln? SPIEGEL: Sie zählen zu den wenigen Au- wickelt habe, dann insofern, als ich heu- Mailer: Die Funktion der Literatur ist toren, die gern auch einmal die politi- te einen besseren Charakter habe. Ich immer, die Selbstzufriedenen aufzustö- sche Bühne betreten – 1969 haben Sie habe früher alle möglichen Talente auf ren und den Sinn für die Ironie und Pa- sogar für das Amt des New Yorker Bür- wilde Eskapaden verschwendet, bei de- radoxie des Lebens zu schärfen. Hat germeisters kandidiert. Warum stehen nen unter dem Strich nichts herauskam. man als Autor darüber hinaus eine be- Sie unter Ihren Kollegen mit diesem po- Heute bin ich fast ein Konservativer. Ich sondere persönliche Vision anzubieten – litischen Engagement so allein? gehe sehr sparsam mit meiner Zeit um. um so besser. Das Problem dabei ist Ich bin auch viel langweiliger als früher nur, daß die Literatur in den USA im- * Durch den Nachtklubbesitzer Jack Ruby. – Ehrenwort. Y

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nern Nummer 13 unter den Großstädten Ende des Zweiten Weltkriegs“, konsta- Frankreich der Nation. tierte die Zeitung Le Parisien. Der gaul- Noch vor kurzem hatte Verteidi- listische Parlamentspräsident Philippe gungsminister Charles Millon den Flot- Se´guin, der den Zulauf zum Front natio- tenstützpunkt als „Schaufenster der na- nal bei der Präsidentschaftswahl noch Abstieg in tionalen Marine“ hochgejubelt; nun ist als vorübergehendes „Protestwähler“- die Militärbasis, Heimathafen unter an- Syndrom verharmlost hatte, revidierte derem des Flugzeugträgers „Foch“, sein Urteil: „Das ist eine echte Anhän- die Hölle Schaufenster für Le Pens Rassisten. gerschaft.“ Betreten kamen die Parteistrategen In Dutzenden von Städten, von Rou- Die Rechtsextremisten unter Jean- von Gaullisten und Sozialisten zu einem baix bis Perpignan, von Tourcoing bis Marie Le Pen haben sich mit der für sie schmerzlichen Schluß: Nach den Villefranche an der Saoˆne, rafften die Erfolgen bei den Europawahlen voriges Rechtsradikalen 25 bis 48 Prozent der Eroberung von drei Rathäusern Jahr (10,5 Prozent) und der Präsident- Stimmen zusammen. Landesweit ver- endgültig als dritte Kraft etabliert. schaftswahl im Mai (15 Prozent) hat sich dreifachten die Le-Penisten im Ver- der Front national einen festen Platz als gleich zu den letzten Rathauswahlen dritte Kraft unter den großen politi- die Zahl ihrer Mandate – auf über tau- erächtlich grinsend hebt Mahrod schen Parteien gesichert. Die Drohung send. die rechte Hand zu einem „bras des Tribuns Le Pen, an ihm komme kei- In Städten wie dem elsässischen Mül- Vd’honneur“, einem Stinkefinger. ner mehr vorbei, ist wahr geworden. hausen, Dreux westlich von Paris oder Wenn der neue Bürgermeister von Tou- Dieser Durchbruch markiere „eine Noyon in der Picardie verhinderten lon Ärger suche mit den Immigranten, Wende in der französischen Politik seit sonst rivalisierende Rechte und Linke so der junge Algerier, der in einem Kramladen der südfranzösischen Hafen- stadt jobbt, bekomme er „Zunder wie noch nie“. Im übrigen sei es ihm und seinen Kumpels völlig egal, wer im Rathaus herrsche: „Die waren dort alle immer rassistisch.“ Ein berühmter Sohn der Stadt kann es indes noch nicht fassen, daß mit Jean- Marie Le Chevallier, 58, ein Spitzen- mann des Front national (FN) für die nächsten sechs Jahre im Rathaus thro- nen wird. Der Rutsch nach rechtsaußen sei „der Abstieg in die Hölle, der Unter- gang“, so der Rugby-Nationalheld Da- niel Herrero. Wie ein Erdbeben haben die Kommu- nalwahlen Frankreichs etablierte Politi- kerkaste erschüttert. Zum erstenmal er- oberten die Rechtsradikalen des Polte- rers Jean-Marie Le Pen drei Städte: Ma- rignane bei Marseille, die provenzali-

sche Festspielstadt Orange und als Para- V. MACON / REA / LAIF destück Toulon, mit 170 000 Einwoh- Neuer Toulon-Bürgermeister Le Chevallier: Ehrenwerte Gesellschaft

nur durch „republikanische Fronten“ Siege des FN in der Stichwahl. Jugendli- che, darunter zahlreiche Immigranten- kinder, retteten in Vitrolles am Mittel- meer mit Tür-zu-Tür-Mobilisierung den Sozialisten Jean-Jacques Anglade vor der Ablösung durch den FN-Vize Bruno Me´gret, der nach 43 Prozent im ersten Wahlgang schon einen Fuß im Rathaus hatte. „Gangster des Establishments“ und „Immigrantenbataillone“ hätten demo- kratische Wahlen sabotiert, schäumte der einäugige FN-Führer Le Pen darauf- hin gegen die Bürgerinitiativen. In Paris war das Erschrecken vor der „Generation Le Pen“ (der konservative Figaro) groß. Der neue Staatschef, Jacques Chirac, hatte im Wahlkampf zwar klarsichtig vor den – nunmehr ak-

P. SICCOLI / GAMMA / STUDIO X tenkundigen – Folgen der „gesellschaft- Festnahme von illegalen Immigranten: Erschrecken vor der „Generation Le Pen“ lichen Zerrissenheit“ Frankreichs ge-

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warnt. Aber statt eines Sozialplans de- wie der Chansonnier Charles Aznavour, Zum Beweis seiner Honorigkeit zählt kretierte er als erste große Amtshand- „kulturellen Widerstand vor Ort“ üben. Monsieur le Maire in seinem mit Le- lung lieber die Wiederaufnahme der Im Auge des FN-Orkans sitzt, sicht- Pen-Fotos dekorierten Büro auf, welch Atomwaffenversuche. Nun befahl er lich beglückt über nationale Aufregung ehrenwerte Mitglieder in seiner Rat- seinen Ministern überstürzt, Aktionen und internationale Beachtung, Toulons hausfraktion (der FN hält 41 von 59 zur Erhöhung der Sicherheit, zur Kon- neuer Stadtchef, der Europarlamenta- Mandaten) sitzen: zwei Admirale, Ärz- trolle der illegalen Einwanderung und rier und Le-Pen-Intimus Le Chevallier. te, Rechtsanwälte, Kaufleute, Hand- zur Integration der sozial ausgegrenzten Mit seinem graumelierten Haar, dem werker, Hausfrauen, ein Student. Le Franzosen einzuleiten. dunkelblauen Blazer und der modischen Chevallier: „Wer hat je Bessere ge- Innenminister Jean-Louis Debre´ Krawatte personifiziert der Vater von habt?“ suchte dem FN die Schau zu stehlen, in- vier Kindern und Bewohner eines Aber der FN konnte auch massenhaft dem er in einer landesweiten Razzia auf prächtigen Anwesens den französischen kleine Leute an sich binden – die Rech- radikale Islamisten 140 Verdächtige Bourgeois perfekt. ten sind Frankreichs größte Arbeiter- festnehmen ließ. Politologen sind sich längst einig: partei geworden. Das verdanken sie ei- Le Pen löste auch einen Kulturstreit Nicht mehr der Rabauke Le Pen (letz- nem Rezept, mit dem früher die Kom- aus: Politiker und Künstler zankten ten Donnerstag nannte er den Kulturmi- munisten erfolgreich waren: Während sich, wie die rechtsradikalen Hochbur- nister und Bürgermeister des Wall- die Pariser Eliten sich immer mehr vom gen künftig behandelt werden sollen. fahrtsorts Lourdes, Philippe Douste- Volk entfernten, rackerten die FN- Der sozialistische Ex-Premier Laurent Blazy, einen „Pyrenäen-Kretin“), son- Funktionäre an der Basis. Angesichts von 12,3 Prozent Arbeitslosigkeit, wachsender Kriminalität und Auslän- derfeindlichkeit fielen selbst Primi- tivslogans wie „Ausweisung von fünf Millionen Immigranten bedeutet fünf Millionen Arbeitsplätze für Franzosen“ oft auf fruchtbaren Boden, nicht nur beim sozialen Strandgut. „Es ist eine Schande“, ärgert sich et- wa ein in Toulon wohnender Pilot von Air Inter, „daß in Frankreich eine Mo- schee nach der anderen gebaut wird und ein paar islamische Mädchen we- gen des Kopftuchs das ganze Land in eine Schulkrise stürzen können.“ Und ein junger Lehrer in Vitrolles sagt: „Eigentlich will niemand Le Pen, aber wenn ich ihn höre, muß ich leider sa- gen: Er hat recht.“ Im Pariser Vorort Noisy-le-Grand stürzte Anfang Juni ein junger marok- kanischer Motorraddieb auf der Flucht vor der Polizei zu Tode. In den Näch-

SIPA PRESS ten darauf steckten etwa hundert vor- Anti-Le-Pen-Demonstration: „Wende in Frankreichs Politik“ wiegend farbige Jugendliche vier Schu- len in Brand und rammten einen Bull- Fabius will die FN-infizierten Kommu- dern geschmeidige Managertypen wie dozer in einen Supermarkt. Zehn Tage nen unter Quarantäne stellen; Gaul- Le Chevallier oder Bruno Me´gret, Ab- später machte der lokale FN-Kandidat listen-Generalsekretär Jean-Franc¸ois solvent einer Elite-Akademie, werden Kasse: Er bekam 22,5 Prozent statt der Mancel zieht die politische Auseinan- die nächste FN-Generation repräsentie- 9,3 bei der letzten Wahl. Ein örtlicher dersetzung einer „Diabolisierung“ der ren. Polizist: „Natürlich kann auch ein Le radikalen Rechten vor. Daß Le Pen die Hafenstadt als künfti- Pen die Immigranten nicht wegjagen. Das belgische Lüttich kündigte seine ges „Laboratorium“ für FN-Experimen- Aber die Leute haben derart Angst, Partnerschaft mit Toulon auf. Rastatts te wie die gezielte Diskriminierung von daß sie ihm glauben.“ sozialdemokratischer Oberbürgermei- Ausländern nutzen will, tut Le Cheval- Selbst nordafrikanische Einwanderer ster, Klaus-Eckhard Walker, möchte lier, einst Mitarbeiter des Staatschefs der ersten Generation wählen zuneh- mit dem FN-Amtskollegen der Partner- Vale´ry Giscard d’Estaing, lächelnd ab: mend Front national; als eingebürgerte stadt Orange, Jacques Bompard, nichts Alle seine Vorhaben würden sich Franzosen fürchten sie Konkurrenz zu schaffen haben; Bürgerkontakte will „streng im Rahmen der Legalität“ hal- durch neue – illegale – Nachzügler. er indes weiter pflegen. Der populäre ten; er sei doch nur ein „Gewählter wie Der frisch gewählte FN-Superstar Le Sänger Patrick Bruel – Antisemit Le alle anderen“. Chevallier hält deswegen schon Aus- Pen höhnisch: „Auf Benguigui (so lautet Der Biedermann verspricht weniger schau nach anderen Ufern. Die Rechts- Bruels jüdischer Geburtsname) kann Beton und ein Ende der wuchernden extremisten haben sich in der Region Toulon gern verzichten“ – strich Kon- Korruption in und ums Rathaus. Und Provence-Alpes-Coˆte d’Azur derart zerte in Toulon und Orange. Le Pen wenn künftig 60 mit Pistolen aufgerüste- fest etabliert, daß der Touloner Rat- verhöhnte die Proteste als „Gekläff un- te städtische Polizisten statt der bisher haus-Neuling sich bei Teilwahlen zum gewaschener Welpen“. 20 knüppelbewehrten Ordnungshüter Pariser Senat im September gute Chan- Die farbige Sängerin Barbara Hen- für Sicherheit sorgten in den Immigran- cen auf einen Sitz in der „Haute As- dricks lehnte es dagegen ab, einer neuen tenvierteln, „in die sich abends kein an- semble´e“ ausrechnet. Le Chevallier Gesangsschule in Orange ihren Namen ständiger Mensch mehr traut“, werde hoffnungsvoll: „Ich wäre der erste FN- zu entziehen; die Sopranistin will, genau das „die Touloner begeistern“. Senator in Frankreichs Geschichte.“ Y

132 DER SPIEGEL 26/1995 Werbeseite

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Strafjustiz „Sie sind zu klein . . . zu eng“ Gerhard Mauz über den Simpson-Prozeß in Los Angeles vor dem 100. Sitzungstag

Verteidiger Shapiro: Stach ein Rechts- oder Linkshänder zu?

ren Mandanten zu bela- sten. Die Handschuhe sind also umkämpfte Beweis- stücke ersten Ranges in REUTERS einem Prozeß, in dem es

FOTOS: um Indizien, um mittel- Angeklagter Simpson bare Beweise geht gegen Die „bloody gloves“ überführt einen Angeklagten, der sich für unschuldig er- icole Simpson, die getötete, ge- klärt hat. schiedene Ehefrau des Angeklag- O. J. Simpson streift Nten Orenthal James Simpson, 47, die weißen Schutzhand- genannt „O. J.“, hat am 18. Dezember schuhe über, und dann – 1990 in der Manhattan-Filiale des Kauf- versucht er die Hand- hauses Bloomingdale’s in New York schuhe anzuziehen, die zwei Paar braune Lederhandschuhe, für die Anklage das wich- Größe XL, also extra large, Hersteller tigste Beweismittel ge- Aris Isotoner, gekauft. gen ihn sind. Er zieht und Staatsanwalt Christopher Darden for- zerrt,er zupftund rüttelt, dert den Angeklagten auf, ein von der er muß Kraft anwenden, Anklage beschafftes Paar dieses Hand- viel Kraft, er verzieht schuhmodells, Größe XL, überzuzie- sein Gesicht, so sehr muß hen. Richter Lance A. Ito, 44, läßt das er sich anstrengen. zu, ordnet aber an, daß O. J. Simpson Schließlich hält er die das Handschuhpaar anzieht, das zu den Hände hoch, zur Jury Beweismitteln in diesem Prozeß gehört. hin, deren Mitglieder Vorher muß er sich Schutzhandschuhe sich aufrichten oder weit über die Hände streifen, damit er sich vorbeugen und die Vor- nicht infiziert. führung fasziniert beob- Einer der Handschuhe ist mit Blut- achten. „Sie sind zu spuren am Tatort, vor dem Haus, in klein . . . sie sind zu dem Nicole Simpson wohnte, gefunden eng“, sagt er, und kopf- worden. Der andere, gleichfalls mit schüttelnd, ein wenig Blutspuren, auf dem Grundstück von amüsiert wiederholt er:

O. J. Simpson. Doch die Verteidigung DPA „Zu eng . . . zu eng.“ behauptet, diese Handschuhe seien von Nicole Simpson als Pelz-Model Der ehemalige Natio- der Polizei manipuliert worden, um ih- Einmal die Polizei alarmiert nalheld des American

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Football ist nach seiner Sportkarriere Vor allem aber nimmt der Zuschauer nicht angesichts eines O. J. Simpson, nicht nur ein Star der Werbung gewe- an einer Vorstellung teil, in der nicht wie der offenbar die in die Handschuhe wie sen. Er trat auch in vielen Filmen auf, in bei einer Aufführung von Shakespeares in Schraubstöcke gezwängten Hände Nebenrollen, aber immerhin neben „Hamlet“ feststeht, wie viele Leichen hochhält): Diese Bloody Gloves sind so Männern wie Lee Marvin und Richard zuletzt die Bühne schmücken werden. Es ein beglückender, überwältigender Ein- Burton. ist alles offen. Vom Freispruch bis zum bruch des in jedem Augenblick mögli- O. J. Simpson hat nicht einfach ge- Todesurteil reicht die Spanne, der die chen, unberechenbaren Überraschungs- zeigt, daß ihm die Handschuhe nicht unüberbietbare Spannung entspringt. moments, daß alles davor vorbei, vor- passen. Er hat eine Vorstellung gege- Der Eintönigkeit kann man begegnen: über und zu vergessen ist. Die Hände in ben. Er hat die blutbeschmierten Hand- Ein Verteidiger, zum Beispiel F. Lee den Handschuhen, die O. J. hochreckt schuhe, die „bloody gloves“, überführt. Bailey im Simpson-Prozeß, befragt ei- wie ein Boxer, der über den K.o.-Schlag Die Szene spielte sich am Donnerstag nen zurückhaltenden, arg blassen Zeu- jubelt, den er seinem Gegner eben ver- vorletzter Woche ab. Sie läuft immer gen. Und so konzentriert sich die Kame- setzt hat – das ist es. wieder über die Bildschirme und be- ra auf das Gesicht des Anwalts, auf das Was danach kommt, ist natürlich ge- schäftigt den Rundfunk, die Zeitungen Spiel der Falten in seinem Gesicht, in nauso uninteressant angesichts dieser und Zeitschriften bis zur darauffolgen- dem sich widerspiegelt, worauf er hin- Bilder wie alles davor. Richard Rubin, den Woche. Und die Szene erläutert, auswill und wie nah oder fern er dem früherer Vizepräsident von Aris Isoto- warum sich das Fernsehen, nachdem die Ziel seiner Fragen ist. Auch kann man ner, dem Hersteller der Handschuhe, Seifenopern die Grenze ihres Publikums der Eintönigkeit begegnen, wenn man wird noch einmal in den Zeugenstuhl erreicht hatten und Reality-TV eben nicht gerade einen „Prozeß des Jahrhun- geholt von der Anklage. Die Handschu- doch nur eine inszenierte, nachgestellte derts“ sendet, wie das Verfahren gegen he können schrumpfen, sagt er. Wirklichkeit war, an die Eroberung der O. J. Simpson. Man kann auf einen an- Doch im Kreuzverhör der Verteidi- Gerichtssäle gemacht hat. deren Prozeß irgendwo in den Staaten gung muß er einräumen, daß weniger Die Gerichtsverhandlung – sie ist das umschalten, in dem es spannender zu- Kubikzentimeter Blut in den Handschu- Leben in seiner Unberechenbarkeit und geht. Auch kann man Experten auftre- hen errechnet worden sind als die Ku- seiner Eintönigkeit. Sie liefert Handlun- ten lassen und mit ihrem Streit unterein- bikzentimeter, von denen er gesagt hat, gen, die mehr Spannung und Dramatik ander „action“ machen. daß sie zum Schrumpfen führen können. produzieren, als der beste Autor erfin- Im übrigen macht einen Reiz der Un- Und er muß auch zugestehen, daß diese den kann. Das Rollenverzeichnis der berechenbarkeit ja aus, daß man auf sie Handschuhe für den Osten der Staaten AP Mutter und Schwestern Nicole Simpsons*: Als Angehöriger hat man vor Gericht präsent zu sein

Beteiligten steht fest. Dem Zuschauer wartet. Bricht sie dann herein, so stürzt gedacht, also besonders witterungsbe- ist bekannt, wer was zu tun hat. man sich um so begeisterter auf sie, je ständig sind. Es gibt Regeln, nach denen zu ver- länger man ihrer harren mußte: Da – da Und am Mittwoch vergangener Wo- handeln ist, und diese Regeln lassen sich – da – da – da! che zieht O. J. Simpson ein frisches, un- viel effektvoller diskutieren als etwa die Die Bloody Gloves im Simpson-Pro- benutztes Paar der Handschuhe von Frage, ob sich ein Fußballspieler, der zeß, die nicht auf die Hände des Ange- Aris Isotoner über, Größe XL. Und die eben ein Tor geschossen hat, im Abseits klagten passen (genauer: zu passen passen nach Meinung eines Experten befand oder nicht. Denn die Streitenden scheinen, aber darum geht es jetzt ja gar ausgezeichnet. Es ist also möglich, daß sind Juristen, und die finden für jede die Bloody Gloves tatsächlich um eine Antwort, für die eine, aber auch für die Größe geschrumpft sind. * Am 12. Juni, dem ersten Todestag von Nicole: andere, gegenteilige, überzeugende Be- Schwester Tanya, eine Freundin, Mutter Judi, Doch das zählt nicht, das geht unter. gründungen. Schwester Denise. Das Medium, das nur zu hören ist, und

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te. Die Fotos von ihrem von schwersten Schlägen mißhandel- ten Gesicht sind schrecklich. Spielt vielleicht eine Rolle, daß eine, selbstverständlich bereits ausgeschiedene, Jurorin gesagt hat, die Domestic Violence inter- essiere die Geschworenen gar nicht, das werde ja nur vorge- bracht, um den Charakter von O. J. Simpson zu schwärzen? Nein, dergleichen spielt keine Rolle für die Anklage. Sie ver- sucht keineswegs, sich besser auf die Jury einzustellen. Sie hat kei- ne Nervenkrise.

LTD. Der Prozeß gegen O. J. Simp- son ist eine Katastrophe. Nicole Simpson war eine von jenen unse- ligen Frauen, die sich, wie man in

AP J. SMEAL / GALELLA den Staaten sagt, mit den Män- Hund Kato, Zeuge Kaelin*: Einer sagt nichts, der andere zuviel nern definieren, mit denen sie Sex haben. Sie ist auf diesem Weg das Medium, das gedruckt wird, sie ha- einem Debakel in der veröffentlichten gewesen, ob sie nun am Strand für Pelz- ben im erbitterten Kampf gegen die lau- Meinung. Auch der nächste Zeuge, den moden als Model figurierte oder ob sie fenden Bilder nach- und zugelegt. Von sie auftreten läßt, ist ein Flop, ein Mann mit O. J. Simpson verheiratet war. einem „verheerenden Fehler“ der An- vom FBI. Der kann zwar mitteilen, daß Sie hat, nachdem sie sich aus gerade- klage, die durch die Handschuh-De- die Abdrücke der Schuhe, die man ge- zu überwältigenden, extrem gewalttäti- monstration nichts zu gewinnen und al- funden hat, von Schuhen stammen, die gen Gründen von ihm scheiden ließ, les zu verlieren hatte, ist zu hören und von Bruno Magli hergestellt wurden. nicht von ihm lassen können. Es gibt Fo- zu lesen gewesen und natürlich auch auf Doch diese Mitteilung ist ohne jede Be- tos aus der Zeit danach, die ein Paar zei- dem allmächtigen Bildschirm zu sehen. deutung, wie man auf dem Bildschirm gen, das im Honeymoon seiner Bezie- Davon werde sich die Anklage nicht er- sieht und hört, wie man hört und liest, hung zu stehen scheint. Sie hat nicht von holen. Die Reaktion der Jury, die man denn es hat sich kein Beleg und kein dem Mann lassen mögen, mit dem sich auf dem Bildschirm nicht sehen darf, Zeuge dafür finden lassen, daß O. J. Präsident Nixon schmückte vor den Fo- über die deshalb aber in Ton und Wort Simpson solche Schuhe gekauft und be- tografen und mit dem sich Präsident emsig berichtet wird, lasse keinen Zwei- sessen hat. Clinton beim Golfspiel zeigte. fel. Und so verkürzt denn die Anklage in Nicole Simpson ist grausam getötet Der Alltag eines Strafprozesses ist ein einer Art Nervenkrise das Aufgebot ih- worden. Die Beschreibung der Fotos grauer Alltag, gerade für das Fernse- rer Zeugen: Sie verzichtet auf Zeugen, von den Leichen, die nur die Jury sah, hen, das ihn überträgt. Aber da sind die aussagen sollten, daß O. J. Simpson die aber auch Journalisten gezeigt wur- eben die Glanzlichter, die alles heraus- seine Frau Nicole wiederholt brutal miß- den, sind unsäglich. Und was mit Gold- reißen. handelt hat. man, dem Zufallsopfer, das sich, jung Verteidiger Robert Shapiro, ein Mes- Selbstverständlich, so tönt es, wie zu und kräftig, zu wehren versuchte, ge- ser, das der nicht aufgefundenen Tat- hören und zu lesen ist, verkürzt die An- schah – das war eine Explosion, ein Ab- waffe gleichen soll, von links oben nach klage nicht einer Nervenkrise wegen. schlachten. Es geht um Mord, um rechts schwingend, er verhandelt gerade Sie hat ein Gebirge von überwältigen- mit dem Chef der Pathologie der Staats- dem Belastungsmaterial zusammenge- anwaltschaft von Los Angeles darüber, tragen. Sie ist ihrer Sache sicher. O. J. ob ein Rechts- oder ein Linkshänder zu- Simpson hat seine geschiedene Frau Ni- gestochen hat und ob nicht doch viel- cole, 35, brutal ermordet, weil er sie leicht zwei Täter am Werk gewesen sein weiterhin als seinen eifersüchtig gehüte- können; ein Staatsanwalt, wie ein ten Besitz betrachtete, und es den An- Lamm auf der Schlachtbank, während schein hatte, als wolle sie sich nun end- der hinter ihm stehende Pathologe an gültig von ihm trennen, nachdem man seinem Hals demonstriert, wie der tödli- trotz der Scheidung bis dahin noch stän- che Schnitt geführt wurde nach seiner dig in engem Kontakt geblieben war. Ansicht – das sind Glanzlichter. Auf die Und O. J. Simpson hat, so hält es die konzentriert sich die Kamera, die stehen Anklage für erwiesen, auch Ronald dann im Mittelpunkt der Gespräche au- Goldman, 25, einen Augenzeugen, er- ßerhalb des Saals 103 im neunten Stock mordet, der als Bedienung in einem Re- des Kriminalgerichts. Welche Bedeu- staurant zufällig bei Nicole war, um ihr tung sie tatsächlich haben im grauen die Brille zu bringen, die ihre Mutter in Alltag eines Strafprozesses – das wird dem Lokal vergessen hatte. ignoriert. Nun, die Gewalt in der Ehe, die Die Anklage im Simpson-Prozeß zeigt „domestic violence“, hat für die Ankla- Wirkung nach den Bloody Gloves, nach ge einen erheblichen Stellenwert gehabt

bislang. In der Silvesternacht 1989 hat ACTION PRESS * Links: der Kampfhund Nicole Simpsons; rechts: O. J. Simpson seine Frau so mißhandelt, Simpson-Mutter Eunice mit Rhonda Shear in „Up all Night“. daß sie über Notruf die Polizei alarmier- „Alles die Schuld von Nicole“?

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Mord, um Mord. Und da tritt dann ein ein, es wird begeistert aufgenommen, Denn man lebt schließlich in einem Zeuge wie Brian „Kato“ Kaelin auf, der wie die Goldmans ihren Jammer zu be- Land, in dem es möglich ist, die Raucher auf freundschaftlicher Basis Hausgast herrschen versuchen – sie wirken auf innerhalb von ein paar Jahren zu einer bei O. J. Simpson war – und sagt brillant die Jury. Die Browns nicht. Die haben asozialen Randgruppe zu machen, in so aus, daß er das Fundament für eine nicht begriffen, daß man als Angehöri- dem man sich jedoch mit Rücksicht auf Karriere als Schauspieler legt. Er entla- ger präsent zu sein hat. Das ist ekel- die Pioniere, die das Land gründeten, stet seinen Gastgeber nicht, aber er be- haft den Browns und den Goldmans nicht dazu entschließen mag, den Erwerb lastet ihn auch nicht. gegenüber. Keiner weiß, wie er sich in und Besitz von Schußwaffen auch nur ein Doch danach schreibt er ein Buch, einer solchen Situation verhalten wür- wenig strenger zu handhaben. Die Bom- das auch noch „The Whole Truth“, die de. Den einen hilft es, nicht dabei, die be von Oklahoma City war nicht zuletzt „ganze Wahrheit“ heißt – und sagt dort, anderen brauchen es, anwesend zu ein Protest gegen den Versuch, den Er- bislang und wohl auf ewig straflos, was sein. werb und Besitz von Schußwaffen re- er vor Gericht als Zeuge nicht gesagt Es heißt, daß der Prozeß über die striktiver zu behandeln. Doch das hat hat. Er sagt seinem Ghostwriter, er hal- Schuld oder Unschuld von O. J. Simp- nichts bewirkt. te O. J. für den Mörder. Für ein Hono- son in Wahrheit ein Prozeß über das Der Strafprozeß in den Vereinigten rar von 545 000 Dollar, das er freilich amerikanische Justizwesen schlechthin Staaten, neuerdings mit dem Fernsehen mit dem Ghostwriter zu teilen hat, sagt sei. Das ist falsch und richtig. Richtig aus der Sitzung versehen, isteine Lebens- „Kato“ alles. Er hat einen blendenden, ist, daß die US-Justiz vorgeführt wird hilfe für die Nation. Da mögen die Repu- überwältigenden Eindruck gemacht als Angeklagte. Falsch ist, daß gegen blikaner, Newt Gingrich an der Spitze, während der vielen, vielen Stunden, die sie ein Prozeß stattfindet. Denn ein das Soziale wegsparen – man starrt faszi- niert auf den Simpson-Prozeß und ver- gißt den Rest. Einen Simpson-Prozeß vor Augen, muß man sich nicht damit befassen, daß die Staaten sich hartnäckig weigern, der Uno-Menschenrechtskonvention, der sie 1992 beigetreten sind, auch darin zuzu- stimmen, daß Jugendliche unter 18 Jah- ren nicht mit dem Tode bestraft werden dürfen. Der Rechtsberater des State De- partment brachte vor, die Möglichkeit, 16 und 17 Jahre alte Jugendliche hinzu- richten, entspreche dem demokratisch geäußerten Willen der amerikanischen Bevölkerung. Warum boykottiert man eigentlich nur eine Ölgesellschaft wegen eines Bohrturms? Man muß sich auch nicht der Tatsache stellen (sosehr in dieser Hinsicht der Simpson-Prozeß auch lehrt, daß eine Ju- ry, der schwarze Amerikaner angehören, niemals einen einstimmigen Beschluß ge- gen O. J. Simpson zulassen wird), daß der Graben zwischen den gerade von der Ju- stiz mißachteten und benachteiligten schwarzen Amerikanern und den Wei-

DPA ßen eine unüberbrückbare, fast unheil- Familie des getöteten Ron Goldman: Ein Glanzlicht für die Experten bare Kluft ist. Die US-Justiz steht vor Gericht, aber man ihn auf dem Bildschirm sah. Mit Strafprozeß in den Staaten hat drei mög- es wird kein schuldig oder unschuldig und Rhonda Shear, blond und mächtig bu- liche Resultate: das „schuldig“ oder nicht einmal eine uneinige Jury geben. sig, wird man ihn in „Up all Night“ se- „unschuldig“ der Jury. Oder eine „hung Man wird auseinanderlaufen. Man wird hen können: die Zeugenrolle als Rake- jury“, eine Jury, die sich nicht zu einem von O. J. Simpson sprechen und streiten tenstart in eine Karriere. einstimmigen Urteil entschließen kann. über seine Schuld oder Unschuld. Viel- Da sind die Eltern von Nicole, die Der Prozeß über das Justizwesen der leicht hört man ja noch die Abhörtonbän- Browns, und Nicoles Geschwister; da Staaten wird indessen keines dieser Er- der, auf denen er seiner Mutter Eunice sind die Angehörigen von Ron Gold- gebnisse haben. Er wird damit enden, gesagt haben soll, daß „alles die Schuld man. Die „experts“ haben auch zu ihnen daß man auseinandergeht – und daß von Nicole“ war. In dieser Woche er- eine klare Meinung: Die Browns sind weiterhin nichts geschieht, um Zustände reicht der Prozeß den 100. Sitzungstag. sehr töricht. Sie erscheinen nicht mehr zu ändern, die nicht neu sind, sondern Und vielleicht, warum auch nicht, im Gerichtssaal. Man sieht sie auf Fotos die nur, durch die Mitwirkung des Fern- bringt man noch Kato zum Sprechen, den allenfalls noch am Todestag Nicoles. sehens, in diesem Prozeß so dramatisch Hund von Nicole, den einzigen Zeugen Die Goldmans jedoch sitzen im Saal, vorgeführt wurden, wie das bislang nicht der beiden Morde. Er isteinKampfhund. und wenn sie auch versuchen, ihren möglich war. Warum hat er den Täter nicht angegrif- Schmerz zu verbergen, während sie mit- Das Problem „Jury“ überfüllt die fen? Kannte er ihn? anhören, wie Ron geschlachtet wurde Fachbibliotheken. Daß dieses Relikt aus Kato muß sprechen – oder nein, besser und was er gelitten hat – so sind sie doch der Zeit der Urväter in einer von den nicht: Der Tod von Nicole und Ron hat wenigstens ein Bild; ein Glanzlicht, wie Medien überfluteten Welt nicht mehr ein Rätsel zu bleiben. Sonst ergeht doch O. J. in den geschrumpften Bloody vertretbar ist – das ist nicht neu. Das noch ein Spruch über, und zwar gegen die Gloves. Das Bild von ihnen bricht her- will man nur nicht wahrhaben. US-Justiz. Y

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Völkerfreundschaft Schrecklich belastet Der Bonner Korrespondent der Wa- shington Post hat die Deutschen in einem Buch analysiert – ironisch, unangenehm, aber zutreffend.

ie Geschichte in der angesehenen, nicht gerade zur Völkerhetze nei- Dgenden International Herald Tri- bune trug die Überschrift: „Wer will jetzt noch bei den häßlichen Deutschen einkaufen?“ Der Artikel beschrieb mögliche außenwirtschaftliche Folgen der Neonazi-Anschläge auf Ausländer-

wohnheime; die Titelfrage war, als Zi- T. STODDART / KATZ / FOCUS tat, dem ebenfalls nicht sonderlich rei- Deutsche Neonazis: „Gefangene der Vergangenheit“ ßerischen Denkblatt Die Zeit entnom- men. schlicht „deportations“, selbst wenn die Denn das Land, das Fisher schildert, Als beim Autor, dem Bonner Büro- deutschen Pressewächter noch so ist nicht gerade einladend. „Von dem chef der Washington Post, im Dezem- schmerzhaft das Gesicht verzogen und Augenblick an, in dem das Flugzeug ber 1992 das Telefon läutete, erfüllte „sehr traurig“ waren, daß der Washing- den Boden berührt, empfinde ich eine sich für Marc Fisher der Traum eines toner Journalist partout ihre schönen Bedrückung“, zitiert er einen deut- jeden Auslandskorrespondenten: Seine Umschreibungen wie etwa „retransfer“ schen Freund: „Die gerunzelten Stir- Story zeigte Wirkung. „Das ist anti- vermied. nen, die Vorschriften, die Unfreund- deutsche Propaganda und sonst nichts“, „Deportation“, klagte Henning We- lichkeit der Menschen – das alles empörte sich ein aufgebrachter Beam- gener vom Bundespresseamt in Erinne- nimmt dir deinen Lebensmut.“ ter des Außenministeriums. rung an die Judendeportationen der Na- Zwar staunt der Amerikaner immer In den Ruf, die Deutschen nicht son- zis, sei „durch die Geschichte schreck- wieder, wie gnadenlos viele Deutsche derlich zu mögen, war der heute 36jäh- lich belastet“. mit ihrem eigenen Land ins Gericht ge- Ebenso schmerzlich be- hen, aber er findet auch seinerseits we- rührte Fisher die offiziellen nig Gründe, solch masochistische Pra- Besorgnisträger, als er xis zu beenden. während der Diskussion Seite um Seite wundert sich Fisher, um Sammelunterkünfte für warum die Deutschen nicht von sich Asylbewerber die beab- aus gegen die mehr als 100 000 Vor- sichtigten Quartiere als schriften rebellieren, die ihren Alltag „collection camps“ be- regeln. Das zweite – und düsterste – zeichnete, was bei seinen Kapitel seines Buches trägt als Über- Lesern die Assoziation schrift das deutsche Wort „Verboten“. „concentration camp“ ge- Da erscheint ein Land wie das Reich radezu zwangsläufig her- des Großen Bruders aus Orwells vorrufen mußte. „1984“: Agenten der städtischen Ord- Per Rundschreiben emp- nungsämter (die englische Übersetzung

B. C. MÖLLER / FOCUS fahl das Presseamt Fishers „order offices“ ist nicht gerade dazu Deutsche Ordnungsliebe* Bonner Gesprächspartnern angetan, das Klischee vom autoritäts- 100 000 Vorschriften für den Alltag daraufhin, „besonders vor- ergebenen Teutonen zu korrigieren) sichtig“ im Umgang mit patrouillieren durch die Straßen, um rige Reporter schnell geraten. Er hielt ihm zu sein: Der Reporter sei „sehr etwa zu kontrollieren, ob auf Kinder- sich an keine der empfindsamen kritisch gegenüber Deutschland“. Die spielplätzen Lärmschutzverordnungen Sprachregelungen, die das Bonner halbe Regierung atmete erleichtert auf, eingehalten werden oder Hobbygärtner Presseamt zu gefälligem Gebrauch der als er 1993 in die Zentrale nach Wa- ihren Rasenmäher nicht zur Unzeit an- ausländischen Berichterstatter erson- shington zurückversetzt wurde. werfen. nen hatte. Abschiebungen von Auslän- Nun hat sich der Quälgeist wieder Sogar die öffentlich-rechtlichen Me- dern zum Beispiel hießen bei Fisher gemeldet. In einem Buch hat Fisher dien verfügen über eine eigene Ord- seine Erfahrungen mit dem unheimli- nungsinstanz: „Rundfunkpolizisten“ * Hinweistafel auf einem Campingplatz bei Dah- chen Gastland zusammengefaßt – und nennt Fisher jene strengen Kontrolleu- me an der Ostsee. manisch um ihren Ruf besorgte Deut- re und Gebühreneintreiber, die eines ** Marc Fisher: „After the Wall. Germany, the Germans and the Burdens of History“. Simon & sche haben neuen Grund, sich zu är- Morgens unangemeldet in seinem Büro Schuster, New York; 352 Seiten; 25 Dollar. gern**. erschienen und überprüften, ob Radios

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und Fernsehgeräte ordnungsgemäß an- Deutsche wieder etwas sichtbarer werde gemeldet waren. als zuvor. Überdies sind diese Deutschen ein Besonders intensiv beschreibt Fisher Muffelvolk. Fisher beschreibt die mürri- die Probleme der Deutschen mit der Ge- schen, stummen Käuferschlangen, die schichte der Nazi-Herrschaft. Die Debat- sich wort- und grußlos an den Verkaufs- te um die nationale Frage, das Lavieren tresen der Lebensmittelmärkte vorbei- der Bonner Außenpolitik, die für ihn schieben, ohne daß die Kassiererin sich überraschende Liberalität der Justiz etwa nach dem Wohlbefinden erkundigt, wie gegenüber jugendlichen Schlägern, fast in den USA üblich: „In deutschen Lä- alles erklärt sich für Fisher durch das den ist es sehr viel wahrscheinlicher, daß Trauma jener zwölf Jahre: „Seit dem einem eine grummelnde Dame ihren Zweiten Weltkrieg wird in Deutschland Einkaufswagen in die Hacken rammt, all das als normal definiert, was unter den als freundlich nach den Tagesereignis- Nazis anders herum geregelt war.“ sen gefragt zu werden.“ Die Deutschen, glaubt Fisher, sind – Und mehr noch: Fisher entdeckt bei und bleiben – „Gefangene ihrer Vergan- den Deutschen eine „unendliche Bereit- genheit“:Stellten Bonner Politiker natio- schaft, sogar eine Versessenheit dar- nale Interessen in den Mittelpunkt, wer- auf“, das Verhalten wildfremder Mit- de ihnen das als Nationalismus ausgelegt; menschen zu kontrollieren und zu korri- sollten sie den Forderungen der Alliier- gieren. Einmal zwingt ihn auf der Auto- ten nachkommen und sich an gemeinsa- bahn ein Mercedesfah- rer anzuhalten und ver- langt, ihm zum näch- sten Polizeirevier zu folgen. Dort soll Fisher vor den Beamten be- zeugen, daß ein Audi- fahrer den Mercedes verbotenerweise rechts überholt habe – mehr als eine Ordnungswid- rigkeit, ein schweres Vergehen. Blockwart-Mentali- tät ist keineswegs auf Mitbürger vom Schlag einer Fisher bekannten Hausmeisterhexe be- schränkt. Als der Re- porter vor einem Ge- sprächstermin den Mo- SABA tor seines Wagens noch

laufen läßt, um im Ra- R. BLOOM / dio die Nachrichten zu Autor Fisher: Suche nach dem häßlichen Deutschen Ende zu hören, schlägt eine junge Mutter an die Wagenscheibe: men militärischen Operationen beteili- „Sie verpesten die Luft, die mein Kind gen, werde der Vorwurf eines neuen Mi- atmen muß. Sie töten mein Baby.“ litarismus nicht auf sich warten lassen; Auf der Habenseite solcher Ord- selbst die Hilfe für die notleidenden nungswut entdeckt Fisher allenfalls den Länder Osteuropas werde ihnen als He- hohen Grad gesellschaftlicher Homoge- gemonialbestrebung einer Möchtegern- nität, der es der politischen Klasse in der Großmacht angekreidet. Vergangenheit erlaubt hat, weitgehend Kohl-Helfer wie der ehemalige au- per Konsens zu regieren und Konflikte ßenpolitische Berater Horst Teltschik möglichst zu begrenzen – ein System, waren nur allzu bereit, die Verantwor- das Fisher jetzt bedroht sieht durch tung für solche Zwickmühlen den die Strukturverwerfungen, von denen Bonner Korrespondenten der großen Deutschland seit Beginn der neunziger Auslandszeitungen anzulasten. „Wenn Jahre heimgesucht wird. ihr uns nicht vertraut“, ermahnte er Das Erfolgsrezept, das für den schnel- Fisher und Kollegen, „stärkt ihr nur die len Aufstieg nach dem Zweiten Welt- Radikalen bei uns.“ krieg verantwortlich war, scheint nun Doch solches Vertrauen kann nicht plötzlich zu versagen. Der Streß der die Aufgabe von Journalisten sein. überraschenden Vereinigung, der Ein- Fishers provozierender Bericht gehört wandererstrom, die ungewohnte Kon- zu den ersten amerikanischen Büchern kurrenz durch Billigproduzenten in aller über die Deutschen nach der Wieder- Welt – solche Faktoren macht Fisher da- vereinigung und nach dem Ende des für verantwortlich, daß in dem Land oh- Kalten Kriegs. Bewältigte Vergangen- ne festgefügte Identität der häßliche heit? Noch lange nicht. Y

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werbern zuallererst ein „angenehmes ar. Inzwischen haben westliche Instru- Schönheit Äußeres“ abverlangt (neben ausrei- mente und modernste Implantate Einzug chend Sprach- und Computerkenntnis- gehalten, für eine Kundschaft, die, so Vi- sen), das Fernsehen unablässig Bilder zedirektorin Ljudmila Schtscherbakowa, von diversen Mißwahlen live in jeden ihre Ferien „nur noch auf Zypern, in Niz- Kleine Brust Haushalt überträgt, hat ein neuer Run za oder Miami verbringt“. auf die Schönheitskliniken eingesetzt. Zwar gilt Rußlands Neureichen allein Schönheitsoperationen sind große Plakate im Moskauer Stadtzentrum das Kleid von Pierre Cardin oder das Au- Mode. Auch Ausländer lassen sich preisen Spezialmedikamente „für ein tomobil mit dem Stern als gültige Imitati- absolut reines Hollywood-Gesicht“, on westlichen Lebensstils. Doch in der gern billig liften. Zeitungen definieren die Idealfigur: physischen Verschönerung setzt die neue Empfehlenswert sei, so das hauptstädti- Schickeria wieeinst die Sowjetnomenkla- it 200 Millionen verkauften sche Blatt Argumente und Fakten, ein tura auf heimische Fertigkeiten. Schon Schallplatten ist die Popsängerin Verhältnis zwischen Taille und Hüfte Jekaterina Furzewa, enge Chru- MAlla Pugatschowa Spitzenreiter von 0,67 (wie bei Cindy Crawford). schtschow-Vertraute und Kulturchefin aller russischen Hitparaden und dieses Das Moskauer „Schönheitsinstitut“, im Politbüro, ließ sich in den Salons am Jahr auch Staatspreisträgerin. Ein inzwischen eine GmbH, am Neuen Ar- Arbat verjüngen; Raissa Gorbatschowa, Kreml-Festakt zum Unabhängigkeits- bat beruft sich auf eine 60jährige Tradi- Gattin von Perestroika-Präsident Mi- tag offenbarte aber jüngst einen Mißer- tion. Hier stehen heute 44 Ärzte bereit, chail, vertraute sich einem Chirurgen in folg der übergewichtigen Künstlerin: um die Kundschaft für die neue Zeit zu Jekaterinburg an. Gnadenlos führten die TV-Kameras liften. Über 4000mal pro Jahr setzen sie Firmen schicken mitunter leitende vor, daß die Schönheitsoperation, zu ihr Skalpell zur „Podtjaschka“ an, der weibliche Mitarbeiter auf Betriebskosten der sich Frau Pugatschowa in die gewöhnlichen Gesichtsstraffung. Auf zumChirurgen Kwasnoi,um mitdem Ge- Schweiz begeben hatte, als mißlungen den folgenden Plätzen der Kundenwün- sicht der Kollegin zugleich das Image des gelten muß. sche rangieren: Fett absaugen, Nasen Unternehmens zu glätten – wie jüngst im Der Ausflug ins westliche Lift-Para- korrigieren, Schlupflider beseitigen. Im Fall einer 68jährigen Buchhalterin. Ab- dies hatte das Aussehen des Stars nicht Tilgen von Brand- und Muttermalen gilt iturientinnen lassen flugs noch Augen- zu bessern vermocht, ihr obendrein das Institut als führend. Jährliche Ver- brauen oder Kinn umformen, bevor siein Ärger eingebracht: Komplikationen schönerungsbilanz: 10 000 Operationen. Hamburg oder Rom ihren Traumjob als nach dem Eingriff erforderten eine Rudolf Kwasnoi, 62, „Chirurg-Kos- Model antreten. langwierige Nachbehandlung in einem metologe“ und Nasenspezialist, wundert Der gute Ruf russischer Schönheits- Moskauer Krankenhaus. sich über einen deutlichen Wertewandel chirurgen zieht nun auch Kosmetiktouri- Das Mißgeschick erfüllte die einhei- bei seiner weiblichen Klientel: Entgegen sten aus dem Westen an. Gesichtskorrek- mischen Schönheitschirurgen mit Scha- dem überlieferten russischen Frauen- turen sind in Rußland für zwei Millionen denfreude: Nirgendwo sonst, so Ken- ideal „bestehen die Kundinnen zuneh- Rubel (600 Mark) zu haben – vier durch- ner der Branche, werden derart schnell mend auf einer Verkleinerung ihrer schnittliche Monatslöhne; Westchirur- und preiswert Gesichter geglättet, Na- Brust“. gen nehmen bis zum 30fachen. Selbst die sen korrigiert und Büsten umgeformt An die Sowjetzeiten, als sich jede komplizierteste Nase, beteuert Spezialist wie in den Kliniken von Moskau oder Russin – von der Bolschoi-Balletteuse Kwasnoi, bekomme man bei ihm für ma- St. Petersburg. bis zur Portiersfrau – ein Facelifting für ximal 1500 Mark. Es herrscht absolute Seit Rußlands aufstrebende Kapitali- einen Monatslohn leisten konnte, erin- Verschwiegenheit. Kwasnoi: „Wir ma- stenklasse in ihren Stellenanzeigen Be- nert nur noch das schäbige Klinikmobili- chen am Ohr so feine Längsschnitte, daß hinterher nichts mehr zu erkennen ist.“ Die Prozedur ist einfach. Der Patient wird vor den Risiken der Operation ge- warnt, Regreßansprüche sind ausge- schlossen, da es keine Versicherung gibt. Gegen Silikon-Implantate bestehen kei- ne Bedenken, Komplikationen sind an- geblich unbekannt. Ethische Einwände gibt es selten. „Ich führe jene Operatio- nen durch, vor denen sich die Ärzte im Westen fürchten“, sagt Igor Wulf, der ei- ne Privatabteilung für Kosmetologie im Krankenhaus Nr. 31 betreibt. Wilde Konkurrenz stört mittlerweile auch hier das Geschäft. Überall entste- hen Schönheitsagenturen für jeden er- denklichen Eingriff – ohne die sonst übli- che Beratung oder medizinische Vorun- tersuchung. In den Kleinstkliniken lassen Unterweltbosse ihr Aussehen verändern und entlassene Häftlinge Tätowierungen wegschleifen. „Auch diese Kundschaft kennen wir genau“, sagt Vizedirektorin Schtscherba- kowa von der Arbat-Klinik mit überlege- nem Lächeln: „Wenn der Eingriff schief-

P. KASSIN gegangen ist, kommen sie fast alle zu Moskauer „Schönheitsinstitut“: Feiner Schnitt am Ohr uns.“ Y

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SPIEGEL-Gespräch „GNADENLOS SADISTISCH“ Thomas Muster über Wimbledon, Ehrgeiz und den Konkurrenzkampf unter den Tennisprofis

SPIEGEL: Herr Muster, warum spielen Muster: Mich dort abschießen zu lassen steht bei mir schräg, fast parallel zum Bo- Sie nicht in Wimbledon? wäre sicher keine sinnvolle Aktion. Im den. Auf Rasen, wo die Bälle unheimlich Muster: Ich habe in diesem Frühjahr vorigen Jahr hatte ich da nichts zu ver- flach abspringen, würde ich sie nur noch sechs Sandplatzturniere gespielt, das lieren. Nach meinem Sieg in Paris stün- mit dem Rahmen treffen. Ändere ichden war sehr, sehr viel Tennis. Mit Wimble- de diesmal mein Ruf auf dem Spiel. Griff, bekommen die Bälle weniger Vor- don wäre die Saison zu lang. Denn eines ist klar: Rasen ist für mein wärtsdrall, und ich verliere meine Stärke. SPIEGEL: Ihre Kollegen stellen die ge- Spiel der denkbar schlechteste Boden. SPIEGEL: Kann es wegen dieser Speziali- samte Planung auf Wimbledon ab. SPIEGEL: Andere Profis reizt gerade der sierung jemals noch einen Grand-Slam- Muster: Für mich sind die Sandplatztur- Wechsel zwischen den Belägen – Andre Sieger geben, der auf allen Böden siegt? niere Gstaad und Stuttgart-Weissenhof Agassi immerhin so sehr, daß er gegen Muster: Du kannst wie Pete Sampras bedeutender. Sicherlich hätte ich als alle Prognosen in Wimbledon gewann. oder Agassi in Melbourne, Wimbledon Nummer vier der Welt eine gewisse Muster: Ich bin auf Sand aufgewachsen. und New York auf schnellen Böden ge- Verantwortung, in Wimbledon zu spie- Ich müßte mein auf diesen Boden auto- winnen – und Paris bleibt die Ausnahme, len, aber ich habe vor allem eine Ver- matisiertes Spiel komplett umstellen. wo du es nie schaffst. Aber wer weiß: antwortung meinem Körper gegenüber. SPIEGEL: Was macht die Umstellung so Vielleicht schafft es ja einer aus der neuen SPIEGEL: Die Tradition, die in diesem schwer? Generation. Yewgeny Kafelnikow oder Mekka des Tennis gepflegt wird, ist Muster: Es fängt mit meiner extremen Andrej Medwedew sind echte Allround- kein Wert an sich? Griffhaltung an: Die Schlägerfläche spieler. Muster: Wimbledon ist an- SPIEGEL: Was haben die, ders, weil die größten Stars was Ihnen fehlt? sich den Bräuchen unter- Muster: Ich bin mit Boris ordnen: Alle Spieler müs- Becker der älteste Spieler sen sich weiß kleiden – und in den Top ten. Wir haben alle tun es. Aber ganz so unser Handwerk vor elf, verklärt sehe ich es auch zwölf Jahren gelernt, und wieder nicht. Rasentennis wir stehen manchmal stau- ist doch erbärmlich anzu- nend vor den Jungen: Die schauen. Ein Aufschlag, ein spielen auf jedem Belag al- Volley, drei Sätze werden les oder nichts, sie wachsen da glatt in 80 Minuten her- mit Material auf, mit dem untergebogen. Man muß ich nicht mehr spielen nicht viel laufen, schwitzen, kann. Diese neuen Breit- kämpfen – Wimbledon ist rahmenschläger beschleu- nicht anstrengend. Ich frage nigen so stark, daß mir die mich: Was ist wirkliches Bälle ins Aus segeln. Tennis? SPIEGEL: Das wahre Ten- SPIEGEL: Nämlich? nis wird für Sie mit Holz- Muster: Alle Facetten aus- schlägern und auf roter zureizen, die das Spiel bie- Asche gespielt? tet. 34 Asse zu schlagen Muster: Jedenfalls haben kann es jedenfalls nicht dort Zuschauer mehr Freu- sein. Selbst in Wimbledon de. Das Problem ist nur, scheint man das inzwischen daß die Spieler-Vereini- ja ähnlich zu sehen; sonst gung, die ATP, nichts un- hätten sie dort nicht ternimmt, um das Sand- die Bälle langsamer ge- platztennis zu forcieren. In macht. Europa verdient die ATP SPIEGEL: Vielleicht meiden das Geld, doch in Amerika Sie Wimbledon aus Angst gibt sie es aus. Dort entste- vor einer Blamage. Dort ha- hen überall Hartplatztur- ben Sie noch nie ein Match niere, die keiner sehen gewonnen. will. SPIEGEL: Denkt die ATP amerikanisch, weil die bei- Das Gespräch führten die Redak-

teure Klaus Brinkbäumer und Al- P. CARON / SYGMA den Besten, Sampras und fred Weinzierl. French-Open-Sieger Muster: „Ich bin ein einfacher Mann“ Agassi, Amerikaner sind?

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Horizont meiner Karriere, pas- siert ist. Ich weiß diesen Erfolg zu verkraften. Ich war in den elf Jahren viermal in den Top ten, aber auch schon Nummer 120. Aber ich bin sowieso kein Me- gastar wie Agassi. SPIEGEL: Was trennt Sie von ihm? Muster: Ich kann mich nicht ge- ben wie eine Diva. Ich kann nicht jeden Tag der Öffentlich- keit einen Film vorspielen. Ich bin ein einfacher Mann, für den sich nichts ändert. Der Titel von Paris hat für mich nur eine sport- liche Wertigkeit. SPIEGEL: Fast jeder Sportler verspricht nach Siegen, er wolle der alte bleiben – kaum einem gelingt es. Ihre Autogramm- stunden müssen bereits wegen Überfüllung abgebrochen wer- den.

T. EXLER Muster: Ja und? Dann gehe ich Rekonvaleszent Muster (1989): „In Grenzen nahe der Bewußtlosigkeit vorstoßen“ wieder nach Hause. Da bin ich emotionslos. Muster: DasistdasProblem.Und weildie lang über irgendwelche Kanäle flimmer- SPIEGEL: Ihre Hand- und Fußabdrücke beiden in Europa indiesem Jahr fürchter- ten. mußten Sie in der Straße der Sieger in lich auf Sand gespielt haben, gibt es dem- SPIEGEL: Sie reden der Zweiklassenge- Wien hinterlassen, wo sich Idole wie nächst vielleicht noch weniger Sandplatz- sellschaft das Wort. Junge Spielerbleiben Niki Lauda, Arnold Schwarzenegger turniere. Deshalb müssen wir uns fragen, außen vor. oder Franz Klammer verewigt haben. ob wir nicht eine eigenständige europäi- Muster: Die können sich in kleineren Muster: Ich bin trotzdem kein National- sche Tour ins Leben rufen – nach dem Turnieren nach oben spielen. Ich bin frü- held. Wenn ich jetzt mit Ohr- oder Na- Vorbild der Golfer. her auch nach Lagos gefahren; wo ich ge- senring auftreten würde, würden die SPIEGEL: Die ATP wurde 1971 als Ge- wohnt habe, schwammen jeden Tag fünf Leute sagen: Es ist vorbei mit ihm, diese werkschaft gegründet. Siefühlen sich von Leichen vorbei. 1500 Profis können wir Stufe hat er nicht mehr geschafft. ihr nicht mehr vertreten? nicht auf Dauer ernähren. Wir sind ein SPIEGEL: Bislang konnten Sie es sich im- Muster: Siewar einmal eine Vereinigung, beinharter Profisport und kein Sozialsy- merhin leisten, auch mal auf den Davis- die gegen den Weltverband antrat. Inzwi- stem für gescheiterte Tennisspieler. Cup zu verzichten. Künftig würde schen ist sie eine eigene Firma, die Spie- SPIEGEL: Sie sind mit Ihrem Sieg bei den Österreich das als Landesverrat empfin- lerinteressen nicht mehr gegenüber Drit- French Open im Olymp des Tennis ange- den. ten vertritt. Es ist unser Problem, daß wir kommen. Passen Sie in die Welt von Muster: Wenn mir die Bedingungen uns auf Tennis konzentrieren. Deswegen Agassi und Becker? nicht passen, sage ich wieder nein. Da istessoeinfach fürdie ATP-Funktionäre, Muster: In Paris ist ja nicht ein 17jähriges bin ich kompromißlos. Ich lebe ja nicht mit den Spielern zu hantieren. Die ma- Wunderkind geboren worden. Mein Vor- einmal in diesem Lande. Ich bin kein chen mit uns, was sie wollen. teil ist, daß mir das mit fast 28 Jahren, am nationales Eigentum. SPIEGEL: Wieso brauchenJung-Millionä- SPIEGEL: Patriotische Gefühle sind Ih- re denn eine Gewerkschaft? nen fremd? Muster: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In Thomas Muster Muster: Das Gerede vom Nationalstolz Deutschland zahlen wir von den Preisgel- wird doch nur hineingetragen, um mehr dern 17,8 Prozent Steuern, in Österreich aus Leibnitz (Österreich) wurde mit Kohle zu verdienen. Letztlich geht es 20. Jetzt gibt es in Frankreich ein neues 16 Jahren Tennisprofi. Seitdem wird für den Verband wie für die Spieler vor Gesetz, wonach wir 56 Prozent Steuern er von dem ehemaligen Medizinstu- allem um Anteile am Gewinn. zahlen müssen – rückwirkend für drei denten und Eiskunstläufer Ronald SPIEGEL: Herr Muster, woher rührt Ihr Jahre. Nun muß Sergi Bruguera eine Mil- Leitgeb trainiert, der zugleich sein Ehrgeiz? lion Dollar nachzahlen und ich etwa Manager ist. Muster, 27, gewann Muster: Ich hasse es einfach, zu verlie- 600 000 Mark – einfach so, ab in den bis zur vergangenen Woche sechs ren. Ich bin ein Steher. Ich kann in Lei- Briefkasten damit. Da hätte die ATP Wi- Sandplatzturniere in Folge; vor zwei stungsgrenzen in meinem Körper vor- derstand organisieren und mit der Absa- Wochen gelang ihm in Paris sein er- stoßen, die nahe an die Bewußtlosigkeit ge aller Turniere in Frankreich drohen ster Erfolg bei einem Grand-Slam- herangehen. Diese Dimensionen errei- müssen. Turnier. Zuschauern fällt der in chen wohl nur wenige. SPIEGEL: Was halten Sievon der jüngsten Monte Carlo lebende Profi immer SPIEGEL: Sie haben 1989 schon drei Wo- Kreation der ATP, den Super-9-Turnie- wieder durch seine Stöhnlaute auf. chen nach einem schweren Verkehrsun- ren, bei denen es zum Showdown der „Ich finde es grausam, seit ich mich fall wieder trainiert. Sind Sie getrieben Weltbesten kommen soll? so auf Videos gesehen habe“, sagt von Versagensängsten? Muster: Diese Formel 1 des Tennis bietet Muster, „aber ich kann es nicht än- Muster: Die hat jeder Sportler. Aus die- eine Ballung der Besten. Ein Grundübel dern. Sobald ich auf dem Platz ste- sen Negativimpulsen ziehen wir unsere war zuletzt doch, daß alle Katastrophen- he, geht es wieder los.“ Energien. Wer ohne Zweifel antritt und matches von Provinzturnieren stunden- sagt: „Ich bin stark“, der verliert.

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SPORT

SPIEGEL: Viele Sportler entwickeln ihre SPIEGEL: Ist Becker ein schlechter Ver- Motivation aus einem Minderwertig- lierer? keitskomplex. Muster: Alle Topspieler sind schlechte Muster: Die meisten Stars kommen aus Verlierer. Aber Becker zeigt es öffent- ärmlichen Verhältnissen. Der Sport lich, wenn er sich nach seinem Aus in nimmt ihnen die Existenzangst. Paris darüber aufregt, daß auch Spitzen- SPIEGEL: Das gilt auch für Sie? spieler abends um halb acht und bei Nie- Muster: Sicherlich. Ich kam mit 15 für selregen auf den Court müssen. Da hät- drei Jahre auf ein Internat in der Wiener te er gleich verlangen können, daß man Südstadt. Das war für mich der größte die Stars immer gewinnen läßt. Frust meines Lebens. Ich war der Klein- SPIEGEL: Hassen Sie Gegner wie ihn? ste, und ich kam aus einer Gegend, wo Muster: Ich hasse nicht. Da stellt mir je- die Sprache in einen Dialekt ausartet. mand eine Aufgabe, und ich versuche, SPIEGEL: Der Bub aus der Steiermark das Rätsel zu lösen. Mein Sadismus ist war in der Wiener Stadtjugend ein Au- Strategie. Haß wäre Emotion, und ßenseiter? Emotionen siegen nie. Muster: Absolut. Dazu hatte ich noch SPIEGEL: Sind Sie der Beweis, daß man den Ruf, der Streber zu sein. Da war je- mit wenig Talent und penibler Arbeit

H. RAUCHENSTEINER de Trainingsstunde eine Befreiung: Ich Grand-Slam-Turniere gewinnen kann? Niki Lauda konnte beweisen, daß ich besser war. Muster: Arbeiten ist ein Talent. Die Fä- SPIEGEL: Gnadenlose Jugendliche ha- higkeit, konstant 70 Prozent meiner ben Sie also bis zum French-Open-Sieg Trainingsleistungen im Match umzuset- getrieben? zen, ist ein Talent. Und einer, der mit Muster: Oh, ich bin im Internat auch X-Füßen von der Straße dahergekom- gnadenlos geworden. Da habe ich meine men ist, bin ich auch nicht gerade. Härte gegenüber anderen entwickelt. SPIEGEL: Dennoch gelten Sie als ein SPIEGEL: Wer Sie auf dem Platz rackern Profi, der sich nicht auf seinen Genius sieht, hat den Eindruck, daß es für Sie verlassen kann, sondern nach wissen- ein Lustgewinn ist, sich zu verausgaben. schaftlichen Erkenntnissen arbeitet. Muster: Ich bin an sich ein fauler Muster: Ich wollte noch einmal nach Mensch. Aber wenn ich auf dem Platz ganz oben. Seitdem mache ich Bluttests, stehe, macht irgend etwas Klick – und die mir sagen, welche Mineralstoffe feh- dann ist es für meinen Trainer leicht, len. Und ich esse nicht mehr, was mir mich zu quälen. Ich verändere dort mein schmeckt, sondern was der Körper Wesen, ich werde aggressiver. Am mei- braucht. Diese totale Konsequenz un- sten Spaß macht es zu sehen, daß ich terscheidet mich von den meisten Profis. dem Gegner körperlich überlegen bin. SPIEGEL: Sie sehen sich als Nachfolger Wenn der sich mit Krämpfen windet, des Tennis-Asketen Ivan Lendl? kommt es vor, daß ich, statt den Punkt Muster: Als Typus schon. Lendl, aber zu machen, ihn noch zweimal in die Ek- auch Martina Navratilova, haben ge- ken laufen lasse. zeigt, wie man sein Leben dem Tennis SPIEGEL: Vor Wochen in Monte Carlo unterordnet, um das Optimum heraus- konnten Sie diese sadistische Neigung zuholen. an Boris Becker ausleben. SPIEGEL: Lendl und Navratilova mach- Muster: Das ist das Schönste, was es ten in ihrer Verbissenheit allerdings nie gibt: im fünften Satz zu sehen, daß der den Eindruck, glücklich zu sein . . . andere nicht mehr kann. Das ist toll, ich Muster: . . . und ich habe Tennis auch Arnold Schwarzenegger schaue mir das gern an. lange als Zwang gesehen, der mir keine SPIEGEL: Becker kom- Freude erlaubte. Ich bin 1991 sogar aus- mentierte Ihr Durch- gebrochen, habe nächtelang Alkohol haltevermögen mit getrunken, eine Schachtel Marlboro am den Worten, er glaube Tag geraucht – und stürzte in der Rang- nicht an Wunder. Die liste ab. Mein Aufwärmprogramm war ATP hat ihn dafür mit plötzlich meine Leistungsgrenze. Doch einer Geldstrafe von dann habe ich mit einem Psychologen, 20 000 Dollar be- dem Vater meines Trainers, meine Mo- legt. tivationsprobleme gelöst. Muster: Es war an der SPIEGEL: Wie? Zeit. Becker hat nicht Muster: In einer Gesprächstherapie ka- zum erstenmal ohne men verschüttete Dinge zutage; etwa, Beweis Dopingver- daß ich leichter Legastheniker bin. dächtigungen ausge- Wenn man weiß, woher Probleme kom- sprochen. Die 20 000 men, kann man besser mit ihnen leben. Dollar tun Herrn Bek- SPIEGEL: Auf der Couch überstanden ker nicht weh, aber Sie die Midlife-crisis eines Profis? die ATP hat ein Zei- Muster: Ich habe gelernt, Tennis als chen gesetzt, daß man schönen Beruf zu verstehen und nicht

H. RAUCHENSTEINER bei diesem gefährli- mehr als Vergewaltigung. Franz Klammer chen Thema nicht so SPIEGEL: Herr Muster, wir danken Ih- Österreichische Idole: „Kein nationales Eigentum“ daherplaudert. nen für dieses Gespräch. Y

148 DER SPIEGEL 26/1995 Werbeseite

Werbeseite Motorsport Langsam zerquetschen Die Autokonzerne haben Rennen mit Tourenwagen zum Spektakel gemacht. Jetzt springt Formel-1- Makler Ecclestone aufs Trittbrett.

ist du Kaufmann“, pflegt Charles Bernard Ecclestone, 64, zu philo- Bsophieren, „bestimmt allein das Bankkonto deine Qualitäten.“ Nach dieser Maxime hat der Motorsport-Im- presario die Formel 1 zu einem hochren- tablen Wirtschaftsunternehmen ge- formt. Respekt wird ihm sogar von den Managern konkurrierender Sportarten entgegengebracht: „Ecclestone ist der einzige Mann“, sagt Tennis-Promoter Ion Tiriac, „der seinen gesamten Sport kontrolliert: die Industrie, die Teams, die Fahrer, die Veranstalter.“ Jetzt bastelt der schmächtige Englän- der eifrig an Konzepten, seine Geschäf- te um einen profitablen Zweig zu erwei- tern: Er möchte auch die Macht in der prosperierenden Tourenwagen-Rennse- rie an sich reißen – bisher haben hier die beteiligten Autokonzerne Opel, Alfa Romeo und Mercedes-Benz das Sagen. Ecclestones Interesse für Tourenwa- gen ist neu. Jahrelang verhöhnte er das auf Deutschland beschränkte Champio- nat als „gute PR-Übung für Hersteller, die sich nicht in die Formel 1 trauen“ – für ihn war die Deutsche Tourenwagen- Meisterschaft (DTM) „kein ernst zu nehmender Motorsport“. Doch gerade die Zwitterstellung der DTM, einer Mischung aus Sportshow und Verkaufsveranstaltung, kommt bei den Autofans gut an; die Zuschauertri- bünen sind – wie am vergangenen Wo- chenende am Norisring – meist ausver- kauft. Auch für die mediale Unterstüt- zung ist gesorgt: Beim Zweiten Deut- schen Fernsehen sicherten sich die Au- tohersteller öffentlich-rechtliche Sende- zeit und gefällige Kommentierung. Da die Leistung der Tourenwagen mit Handikap-Gewichten nivelliert wird, liefern sich die Fahrer ständig heftige Duelle. Und weil bei den Werksautos die Ersatzteilbeschaffung für demolierte Motorhauben oder abgerissene Kotflü- gel kein Problem darstellt, gehören Rempler, Schubser und Crashs zum Rennalltag. Um das gefährliche Spekta- kel mit Prominenz auf Niveau zu brin- gen, locken die Konzerne ehemalige Formel-1-Fahrer mit fürstlichen Gagen

150 DER SPIEGEL 26/1995 .

SPORT

– in diesem Jahr geben in der der ITC Autohersteller fah- DTM neun ausgemusterte ren zu lassen, die an der deut- Grand-Prix-Piloten Gas. schen Serie kein Interesse ha- Doch der Erfolg kommt teu- ben. Und er kann die attrakti- er: Über die Jahre rüsteten die ven Termine seinen Rennen Werke ihre Rennwagen zu vorbehalten. High-Tech-Monstern auf, die Erste Zugeständnisse wer- mit den Serienautos nur noch den diskutiert. So hält es die Karosserie-Silhouette ge- Opel-Sportchef Walter Tre- mein haben. Damit sich die auf ser für kaum denkbar, auch 50 bis 70 Millionen Mark im kommenden Jahr die gestiegenen Jahresbudgets Spannung dadurch künstlich werblich amortisieren, forder- hochzuhalten, daß die Sieger- ten die Werksvorstände eine autos des vorausgegangenen Ausweitung der DTM auf die Laufes beim nächsten Ren- europäischen Märkte. nen mit Bleigewichten starten

Was in diesem Jahr bereits FOTOS: WIGE-GROUP müssen: „So was widerspricht mit sechs Auslandsgastspielen den Gepflogenheiten der von Helsinki bis Estoril ge- Fia.“ probt wird, soll 1996 in zwei se- Am gefährlichsten aber parate Rennserien münden: könnte Ecclestones einneh- die alte DTM mit sechs Läufen mendes Wesen werden. Wo auf deutschen Strecken und immer der Makler in Aktion die neue International Tou- trat, explodierten die Ein- ring Car Series (ITC) mit acht trittspreise. Könnte der Brite internationalen Veranstaltun- auch diesmal nicht widerste- gen, davon sechs in Europa hen, würde das den „volks- und zwei gar in Übersee. tümlichen Charakter“ (Haug) Da internationale Rennen der DTM zerstören. aber unter der Hoheit des Mo- Denn ihre Attraktivität be- torsport-Weltverbandes (Fia) zieht die Rennserie vor allem stehen, sind die DTM-Teil- aus ihrer Politik der offenen nehmer nun gezwungen, sich Tür. Wer das entsprechende mit dem Fia-Promoter Eccle- Ticket löst, kann in den Pau- stone ins Bett zu legen. „Der sen den Heroen am Volant Nukleus bleibt die DTM“, ver- auf die Schulter klopfen oder spricht Mercedes-Sportchef den Mechanikern beim Rei- Norbert Haug, da seien sich fenwechsel mit der Pocketka- die Partner „in allen Belan- mera auflauern. Während gen“ einig. Doch so unver- Haug diese Kundennähe zu brüchlich, wie die Vertreter den „elementaren Merkma- der Autoindustrie glauben len“ zählt, kann sich Eccle- machen wollen, ist die neue stone die Fanflut in Fahrerla- Allianz keineswegs. Zwar soll, ger und Boxengasse nicht wenn der World Council der vorstellen: „Wir werden von Fia die Expansionspläne ge- der DTM nur das Gute über- nehmigt, die Interessenvertre- nehmen, die schlechten Din- tung der Autohersteller für ge nicht.“ Organisation und Vermark- Auch längst nicht alle tung der deutschen Serie zu- Sponsoren, die auf den ständig sein. Doch tatsächlich Werksautos werben, sind von sitzt Ecclestone, dem die Re- Massenkarambolage beim DTM-Lauf auf der Berliner Avus der ITC-Idee begeistert. gie der internationalen Serie „Kein ernst zu nehmender Motorsport“ Denn was einer Firma wie obliegt, am längeren Hebel. Hoffmann Sonax, die ihre Ecclestones Einfluß auf das Touren- schon Angst breit, „daß Ecclestone sei- Autopflegemittel europaweit verkauft, wagengeschäft wäre so groß, daß er ne Hand nur schützend über die DTM genehm ist, paßt der national operieren- schon bald als Geisterfahrer im deut- legt, um sie langsam zu zerquetschen“. den Hi-Fi-Handelskette ProMarkt nicht schen Championat auftauchen könnte. Die ersten Anzeichen dafür gibt es ins Marketingkonzept. Deren Ge- Immer wieder läßt der Brite durch- bereits. Hatte DTM-Chef Hans Werner schäftsführer Hans-Joachim Ziems mag blicken, daß sich sein Interesse einsei- Aufrecht bislang geglaubt, Ecclestone die Meinung, daß die ITC „ein aufge- tig auf die internationalen Rennen werde den neuen Serien sofort ein „offi- wertetes Produkt ist, überhaupt nicht richtet: „Für mich existiert die DTM zielles Prädikat“, etwa den Titel Welt- teilen“. nicht.“ meisterschaft, verleihen, so will der Bri- Ecclestone kümmern derlei Vorbe- Macht Ecclestone seine Vision wahr, te diesen Status erst bewilligen, wenn halte kaum. Der Brite geht kein Risiko die ITC „zu einer echten Weltmeister- zehn bis zwölf internationale Rennen ein: Wird die ITC ein Erfolg, verdient er schaft“ auf Formel-1-Niveau zu entwik- gefahren werden – das aber würde wohl an ihrer Vermarktung. Flopt die neue keln, droht die DTM an den eigenen das Aus für die DTM bedeuten. Serie, nützt ihm der direkte Draht zu Expansionsgelüsten zu ersticken. Unter Schon über die acht vereinbarten den Sponsoren – dann kann er sie leich- den Beteiligten, so hat das Fachmagazin ITC-Rennen kann Ecclestone die DTM ter davon überzeugen, ihr Geld in seine Rallye racing beobachtet, mache sich langsam aushöhlen. Er hat das Recht, in Formel 1 umzuleiten. Y

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WISSENSCHAFT PRISMA

Genetik ren beide Großmütter von Henri de Tou- louse-Lautrec Schwestern. Dies macht ei- Zwergwuchs ererbt? nen angeborenen Gendefekt wahrschein- lich. Unter der Leitung des Genetikers Seit der französische Maler und Karika- Bruce D. Gelb analysierten die New Yor- turist Henri de Toulouse-Lautrec im ker Forscher zwei Familien, deren Mitglie- Jahre 1901 starb, rätseln die Wissen- der häufig einen ähnlichen Typ von Zwerg- schaftler, welche Krankheit wohl sei- wuchs (Pyknodysostose) aufweisen wie nen Zwergwuchs verursacht haben Toulouse-Lautrec. Die Genanalyse ergab mag. Jetzt scheint einem Forscherteam Hinweise darauf, daß das zwergwuchsver- der Mount Sinai School of Medicine, ursachende Gen auf dem Chromosom 1lo- New York, die Lösung des Rätsels ge- kalisiert ist. Da die Analyse von Fotos des lungen zu sein. Der gerade 152 Zenti- Künstlers nicht eindeutig beweist, daß meter große Künstler stammte aus ei- Toulouse-Lautrec alle für die Pykno- ner Adelsfamilie, deren Wurzeln sich dysostose typischen Symptome aufweist, bis in die Zeit Karls des Großen zu- hoffen die Wissenschaftler nun darauf, daß rückverfolgen lassen. Wie im Hochadel sich die noch lebenden Nachfahren des be-

üblich, kam es immer wieder zu Hoch- ROGER-VIOLLET rühmten Malers zu einer Genanalyse be- zeiten unter engen Verwandten. So wa- Toulouse-Lautrec (1894 in seinem Atelier) reit finden.

Elektronik Fox einzuführen, die regelmäßig über Medizin die Spiele der nationalen US-Eishok- Chip-Pflicht für Katzen keyliga berichtet. Damit soll die un- Schlummerstoff im Hirn scheinbare schwarze Scheibe auf dem Auf der Suche nach immer neuen Fernsehschirm besser zu sehen sein: Wer ein Beruhigungsmittel wie Valium Chip-Anwendungen sind amerikani- Der Puck sendet elektronische Signa- schluckt, fällt in einen traumlosen, we- sche Firmen auf die Idee gekommen, le an die TV-Kameras und erscheint nig erholsamen Kunst-Schlaf. Bislang künftig auch Katzen und Eishockey- dann auf den Bildschirmen als leuch- hat es die Pharmaindustrie nicht ge- pucks mit den digitalen Bausteinen tender Punkt, der bei besonders bril- schafft, einen Stoff herzustellen, der auszurüsten. So wird es demnächst in lanten Torschüssen einen Kometen- natürlichen Schlaf hervorruft. Doch der kalifornischen Kleinstadt Novato schweif hinter sich herziehen kann. jetzt haben US-Forscher vom Scripps für jeden Katzenbesitzer Pflicht, seine Chips, die Stockschläge von Eishok- Research Institute in La Jolla ein Mo- Mieze mit einem Chip zu markieren, keyprofis aushalten können, gibt es damit sie notfalls identifiziert und an bereits im Programm der Firma Intel, ihren Besitzer zurückgegeben werden die solche widerstandsfähigen Elek- kann. Den intelligenten Puck erwägt tronikbauteile an die Schwerindustrie die amerikanische Fernsehgesellschaft liefert.

Vulkane Eiskristalle aus dem Feuerspucker Vulkane schleudern nicht nur Schwefel und Asche in die Atmo- sphäre. In der Eruptionswolke des Vulkans Rabaul in Papua-Neugui- H. CHRISTOPH / DAS FOTOARCHIV nea entdeckten jetzt amerikanische Forschung im Schlaflabor Forscher, was niemand dort erwartet hatte: Eis. Mehr als zwei Tonnen lekül in der Hirnflüssigkeit von Katzen Eiskristalle fanden sich in der Staub- entdeckt, das sich als Wirkstoff für ei- wolke des Rabaul. Die Wissen- nen derartigen Schlummertrunk eig- schaftler vermuten, daß sie sich aus nen könnte. Nachdem die Tiere stun- Seewasser gebildet haben, das in die denlang durch eine Tretmühle ge- Magmakanäle des Berges drang. scheucht und durch diese Tortur müde Das Eis beschleunigt das Ausfällen gemacht worden waren, stieg die Kon- der Vulkanasche aus der Atmosphä- zentration einer bestimmten Fettsäure- re. Auf diese Weise verringert sich verbindung in ihrer Hirnflüssigkeit die Menge der klimaverändernden stark an. Dieses Schlafmittel syntheti- Aerosole, die in die Stratosphäre sierten die Pharmakologen daraufhin dringen. Zugleich warnen die For- im Labor und spritzten es Versuchsrat- scher Piloten vor dem vereisten ten. Innerhalb von vier Minuten, so Staub, der eine Gefahr für die Trieb- berichten die Forscher in der Wissen- werke ist: Durch einen Eispanzer ge- schaftszeitschrift Science, seien die tarnt sind die Partikel von den Tiere eingenickt. Traum- und Tief-

AP Warnsystemen an Bord kaum zu er- schlafphasen hätten sich bei den Rat- Ausbruch des Vulkans Rabaul kennen. ten auf natürliche Weise abgewechselt.

152 DER SPIEGEL 26/1995 Werbeseite

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WISSENSCHAFT

Evolution START IN DER URSUPPE Wie und wann entstand Leben auf der Erde? Was waren die Urbausteine des Lebendigen, und wie wurden sie zu belebter Materie? Molekularbiologen haben begonnen, die Chemie der Urzeugung und die ersten Schritte der Evolution im Labor zu ergründen. Von den Ergebnissen könnte auch die Medizin profitieren.

400 Jahrmillionen habe demnach die Entwicklung der kleinen Wun- derwerke gedauert – vielleicht, so mutmaßt der Molekularbiologe vom Howard Hughes Medical In- stitute in Boulder (Colorado) sei die Evolution der Einzeller noch viel schneller abgelaufen. „Nur 10 Millionen Jahre“, schätzt US-Chemiker Stanley Mil- ler, habe es gedauert vom „Anfang in der präbiotischen Ursuppe bis zu den Vorläufern der Cyanobakte- rien“, deren versteinerte Überreste in den 3,5 Milliarden Jahre alten Sedimenten in Australien aufge- funden wurden. „Alle chemischen Prozesse, die wir kennen“, doziert der Forschungspionier, „sind schnell“; auch der Vorgang der Ur- zeugung, meint der Chemieprofes- sor von der University of Califor- nia in San Diego, sei im Eiltempo vonstatten gegangen. Nur allmählich bringen die Ex- perten Licht in den dunklen Ur- sprung des Lebendigen, aus dem die ganze Formenvielfalt von Fau- na und Flora hervorgegangen ist. AKG Schöpfungsdarstellung: Myriaden von Einzellern wimmelten in den Weltmeeren Seit kurzem kommen vor allem aus amerikanischen Forschungslabors tockfinster war es, als die Erde ge- sphäre. Erst Jahrmillionen später entfal- in immer schnellerer Folge neue For- boren wurde. Kein Lichtstrahl tete sich Leben in den irdischen Urmee- schungsresultate, die anzeigen, wie die Sdurchdrang die dichte Wolke aus ren: Myriaden von Einzellern, womög- ersten Biomoleküle entstanden sein Gas und kosmischem Staub, die in ra- lich Vorfahren der heutigen Blaualgen, könnten und wie sich die ersten leben- sender Geschwindigkeit um die Sonne wimmelten in den trüben Gewässern. den Zellen geformt haben. rotierte. Wie lange lag der Schöpfungstag, das Mit ausgeklügelten molekularbiologi- Tief im Inneren dieses Mahlstroms Datum der Urzeugung, damals schon schen Verfahren simulieren amerikani- nahm die Erde vor gut viereinhalb Milli- zurück? Welche chemischen Reaktio- sche, aber auch deutsche Forscher der- arden Jahren ihre kugelförmige Gestalt nen spielten sich in der „Ursuppe“ des zeit die präbiotische Evolution der er- an – eine wüste, von mächtigen Vulkan- Planeten ab, als aus toter Materie Leben sten Biomoleküle – jenen Prozeß, in ausbrüchen gebeutelte Welt, auf die ein entstand und die Evolution in Gang dessen Verlauf sich die Bausteine des pausenloser Hagel von Gesteinstrüm- kam? Lebens zusammenfügten. In ihren Rea- mern niederging. Schon vor 3,5 Milliarden Jahren, so- genzgläsern wollen die Forscher die Einige hundert Millionen Jahre krei- viel ergibt sich aus dem Alter von Fossi- Entstehung des Lebens gleichsam im ste der Planet, gehüllt in heiße Dämpfe, lienfunden in Australien und Afrika, Zeitraffer wiederholen. durch die Dunkelheit. Dann begann sich hatte die Natur die ersten Zellen hervor- Im Mittelpunkt dieses Forschungsvor- das Chaos zu lichten. Über der Erde gebracht – in den urigen Mikroorganis- habens steht eine Klasse von Molekü- ging die Sonne auf. men gab es bereits ein komplexes Zu- len, die gleichsam den Motor aller Le- Sie beleuchtete einen Planeten, der sammenspiel von Erbmolekülen, Stoff- bensvorgänge darstellen – die Ribo- kahl und keimfrei seine Bahn zog. wechselkreisläufen und Enzymen. nukleinsäuren (RNS). Bei diesen Nichts Lebendiges rührte sich in seiner „Wirklich erstaunlich“ findet das der Schlüsselsubstanzen handelt es sich um von Dauergewittern durchtosten Atmo- US-Forscher Thomas Cech: Höchstens die Kopien von Erbinformationen, die

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wir, daß Ribonukleinsäuren beides sein meint der US-Astrophysiker Carl Sa- können: Gen und Enzym.“ gan, „war ein solches, sich selbst nach- Seit der Entdeckung von Cech und bildendes, katalytisches RNS-Molekül Altman, die dafür 1989 den Chemie-No- das erste lebendige Ding in den alten belpreis erhielten, arbeiten die Evolu- Ozeanen vor etwa vier Milliarden Jah- tionsforscher an einem Szenario der ren“. Schöpfung. Als Ausgangspunkt dient ih- In mehreren Labors arbeiten derzeit nen noch immer ein simples Experiment amerikanische Moleküldesigner am aus dem Jahr 1952, mit dem der Che- Nachbau von Urwelt-Ribozymen. Sie miestudent Stanley Miller damals welt- lassen dabei die Gesetze von Mutation weites Aufsehen erregte. und Auslese walten. In automatisierten Millers Lehrer, der Nobelpreisträger Genretorten komponieren sie aus den Harold Urey aus Chicago, pflegte seine Genbausteinen, den Nukleotiden, nach Schüler in der Chemievorlesung mit ei- dem Zufallsprinzip RNS-Ketten in be- nem Exkurs über den Ursprung des Le- liebiger Zusammensetzung. Diese Pro- bens zu traktieren. Student Miller be- totypen durchlaufen in mehreren Run- schloß, die Theorie des Professors im den eine Vervielfältigungsreaktion, bei Labor zu überprüfen. der es immer wieder zu Fehlern kommt, Der Chemiker, damals 22, mischte zu Mutationen, wie sie auch die Natur aus Ammoniak, Wasserdampf, Methan hervorbringt. Zwischendurch wird die und Wasserstoff jene Uratmosphäre, in auf Hunderte von Billionen anschwel- der nach Ureys Vorstellung vor rund lende Molekülpopulation auf eine be- vier Milliarden Jahren das Leben auf stimmte Enzymaktivität getestet; nur der Erde seinen Anfang genommen hat. leistungsfähige Varianten werden aus- Sodann setzte er zwei Elektroden in der sortiert und dürfen weiter mutieren –

K. ABBOTT / UNIVERSITY OF COLORADO Mixtur unter Strom und ließ das Gebräu Darwinismus im Reagenzglas. Evolutionsforscher Cech einige Tage köcheln. Inzwischen haben sich die Evolutions- Dilemma von Henne und Ei „Irgendwann im Oktober oder No- maschinen als effektvolle Werkzeuge vember 1952“, erinnert sich Miller, „hat beim Moleküldesign erwiesen. „Damit im Gencode, der strickleiterförmigen es funktioniert.“ In seiner Versuchsap- können wir das gleiche tun“, behauptet DNS im Zellkern, gespeichert sind. paratur waren gleichsam über Nacht der Ribozym-Experte Gerald Joyce, Die RNS-Matrizen dienen in den Zel- Aminosäuren und einige andere Biomo- „was die Natur in vier Milliarden Jahren len als Konstruktionspläne für den Auf- leküle entstanden, die allen Lebewesen Evolution geleistet hat.“ bau von Proteinen; zu ihnen zählen auch als Grundbausteine für Proteine oder als Dem US-Forscher Michael Yarus und die Enzyme, die vielerlei Stoffwechsel- Zwischenprodukte im Stoffwechsel die- seinen Kollegen bescherte die neue Mo- vorgänge vorantreiben und steuern. nen. lekülbautechnik ein Ribozym, das sich Auch bei der Herstellung von RNS- Nach den Vorstellungen der Evoluti- mit der Aminosäure Phenylalanin be- Kopien wirken Enzyme mit – für die onsforscher entstanden aus Purinen und stückt. Nobelpreisträger Cech fand dazu Evolutionsforscher, so der US-Bioche- ihren chemischen Verwandten, den Py- einen Gegenspieler – ein Ribozym, das miker Thomas Cech, ein „Henne-Ei-Di- rimidinen, zunächst jene vier Bausteine die Eiweißbausteine wieder abspaltet. lemma“: Was war in der molekularen der Nukleinsäuren, die im verschlüssel- Beide Vorgänge sind wichtige Schritte Entwicklung des Lebens zuerst da, die ten Text der Erbinformation als Buch- bei der Proteinsynthese an den Riboso- RNS oder das Enzym, das nach dem staben dienen. Aus diesen vier Baustei- men, den Eiweißfabriken aller lebenden RNS-Plan aufgebaut wird? nen, vermuten die Forscher, entstanden Zellen. Der Ribozym-Designer Jack Die Rätselfrage blieb für die Gelehr- die ersten RNS-Kettenmole- ten zunächst unlösbar: Offensichtlich küle. Manche dieser archai- waren alle Lebensformen von Beginn an schen Genschnipsel besaßen auf beides angewiesen – auf die RNS-In- enzymartige Fähigkeiten und formationsträger und die für sie zustän- begannen, sich selbst zu ver- digen Enzyme. „Wie konnte das Leben vielfältigen – womöglich, 3 5 starten ohne RNS-Molekül, das die Information für das Enzym bereithält?“ fragte Erbmoleküle gegen Krebs sich Cech. Tumor-Behandlung mit Ribozymen 1982 fand der Gelehrte ei- ne Antwort. Er entdeckte, 4 daß RNS-Moleküle in der 1 Chemie des Lebens eine Schädliche Boten-RNS Doppelrolle spielen können: In dem Einzeller Tetrahyme- na hatte er ein sogenanntes Zellkern Ribozym- Ribozym aufgespürt – Teil ei- 2 Moleküle nes RNS-Moleküls, das zu- gleich die Eigenschaften ei- Retorten-Gen nes Enzyms besaß. Wenig später fand Cechs Kollege 1 Ribozym-Moleküle werden in 3 Die Ribozym-Moleküle heften sich 5 Die zerstückelte RNS Sidney Altman ein weiteres die kranke Zelle eingeschleust an die Boten-RNS von Krebsgenen kann nicht in Krebspro- natürliches Ribozym im 2 oder von zuvor eingesetzten Re- 4 und zerschneiden die schädlichen teine übersetzt werden Darmbakterium Escherichia torten-Genen im Zellkern produziert. Botenmoleküle. und bleibt unwirksam. coli. Cech: „Seither wissen

DER SPIEGEL 26/1995 157 Werbeseite

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WISSENSCHAFT

Szostak hat ein Ribozym entwickelt, das Nach gleichem Muster wollen die US- zwei RNS-Schnipsel selbsttätig zusam- Forscher Flossie Wong-Staal und Ar- menflicken kann. nold Hampel künftig die Virusvermeh- Was die Forscher sich erträumen, wä- rung im Blut von HIV-Infizierten be- ren RNS-Enzyme aus der Retorte, die kämpfen. Die Wissenschaftler haben ei- sich unbegrenzt selbständig vervielfälti- ne RNS-Genschere entwickelt, die das gen können – solche Moleküle, meint HIV-Erbgut in ungefährliche Fetzen Ribozym-Forscher Joyce, müßten be- zerlegen kann. In Laborversuchen reits „als biochemisches Leben“ einge- konnten die Forscher die HIV-Vermeh- stuft werden. rung nahezu vollständig blockieren. Mittlerweile wollen sich auch die Me- Noch werden die Ribozym-Pharma- diziner der im Labor erzeugten Ribozy- zeuten von technischen Schwierigkeiten me bedienen. Aus dem Molekülarsenal gebremst; ihre RNS-Medikamente sind der Vorzeit, so haben sie erkannt, lie- allzu labil. Vor allem RNS-abbauende ßen sich schlagkräftige Waffen gegen Zell-Enzyme, befürchten kritische das RNS-Erbgut von Aids- und Hepati- Fachleute, könnten die Ribozym-Ge- tisviren sowie anderer Erreger schmie- schosse vernichten, bevor sie ihre Wir- den. Auch taugen die RNS-Enzyme wo- kung entfaltet haben. möglich zur Krebsbehandlung (siehe Doch diese Hürde wollen die Mole- Grafik Seite 157). küldesigner überwinden: Auch die weit- K. WALSH Chemiker Miller*: Urzeugung im Eiltempo

Krebsmetastasen seiner Patienten will aus stabilere Erbsubstanz DNS, haben der Berliner Tumormediziner Fried- sie erkannt, kann die Aufgabe eines En- helm Herrmann mit einem Ribozym be- zyms erfüllen. kämpfen, das gegen das sogenann- Vorletzte Woche meldete US-For- te Multidrug-Resistance-Gen (MDR-1- scher Szostak vom Massachusetts Gene- Gen) angeht. Es ist in Tumorzellen, die ral Hospital in Boston im Fachblatt Na- bisher jeder Chemotherapie hartnäckig ture, seine Evolutionsmaschinen hätten widerstehen, besonders aktiv. ein künstliches DNS-Enzym ausge- Herrmanns Medizinerteam plant, den spuckt, das zerschnittene DNS-Stücke Krebskranken künftig ein Anti-MDR- wieder zusammenfügt. Ribozym zu verabreichen. Die RNS- Wenige Monate zuvor hatten For- Scheren sollen sich an die Boten-RNS scher vom Scripps Research Institute in des MDR-Gens heften und sie zerstük- Kalifornien verkündet, es sei ihnen ge- keln. lungen, DNS, das Genmaterial aller Die zerteilte Botschaft des MDR- Pflanzen, Tiere und Menschen, als En- Gens bliebe für die Eiweißfabriken der zymschere gegen das Erbgut der RNS- Krebszellen unleserlich; der Tumor, sei- Viren oder schädliche Boten-RNS ein- nes Schutzschilds beraubt, so das Kalkül zusetzen. der Berliner Mediziner, wäre wehrlos Michael Riordan, Präsident einer dem Gifttod aus Pharmazeutenhand Gentechfirma in Kalifornien, sieht eine preisgegeben. neue Medizinära heraufdämmern – sie werde, schwärmt er, „Nukleinsäuren, * Mit der Nachbildung einer Apparatur zur Simu- die Ursprungsmoleküle des Lebens, als lation der Entstehung von Aminosäuren. Medikamente nutzen“. Y Werbeseite

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WISSENSCHAFT

daß der mächtige Stahlbehälter, der den Kernkraft Reaktorkern umschließt, nach einem schweren Störfall nicht wie Porzellan zersplittert. Schon fast drei Jahre, maul- te Schäfer, warte er auf den von ihm im Irre schwer Oktober 1992 verlangten Sicherheits- nachweis. Die Situation sei „nicht länger Seit Jahren fehlt der Sicherheits- hinnehmbar“. nachweis für das Atomkraftwerk Die Kraftwerksspitze konterte den ministeriellen Rüffel in bewährter Ma- Obrigheim. Jetzt sind die Tage des nier: Sie hielt Schäfer hin. Telefonisch Altmeilers gezählt. informierten die Betreiber die Stuttgar- ter Aufsichtsbehörde, der Meiler werde nun nicht, wie bisher vorgesehen, Ende lsHarald Schäfer (SPD) Ende April Juni zwecks Revision vom Netz genom- Betreiber und Gutachter des Atom- men, sondern erst Anfang August. Die Akraftwerks Obrigheim nach einer Verschiebung sei nötig, um die von Krisensitzung entließ, herrschte über ei- Schäfer vorgeschlagenen „ergänzenden nen Punkt Konsens: Falls der „Spröd- zerstörungsfreien Prüfungen“ am Reak- bruchsicherheitsnachweis“ für den tordruckbehälter vorzubereiten. Druckbehälter des 27 Jahre alten Reak- Was anderswo als Routinevorgang tors mit technischen Prüfungen partout durchgehen könnte, bedeutet im Fall nicht mehr zu führen sei, müsse eben er- Obrigheim die weitere Verlängerung ei- satzweise gerechnet werden – und zwar nes unhaltbaren Zustands. Im Oktober auf der Grundlage der in den USA gülti- 1992, 24 Jahre nach dem Start des Reak- gen und bewährten Regularien („NRC- tors, erteilte das Wirtschaftsministerium Regulatory Guide 1.99“). Der Vertreter mit Unterstützung Schäfers die Dauer- des AKW-Betreibers nickte. betriebsgenehmigung und garnierte sie Vier Tage später folgte der Rückzie- mit Nachweisauflagen über den Sicher- her. Eine Berechnung nach US-Regeln heitszustand. Erfüllt sind sie bis heute komme nicht in Frage, ließen die Kraft- nicht, obwohl die von der Aufsichtsbe- werksbetreiber den Stuttgarter Umwelt- hörde gesetzte Frist bereits Ende 1993 minister wissen. Den Kraftwerkern war auslief. aufgegangen, daß dieser Weg das schlag- Im April dieses Jahres kassierte der artige Aus ihres schwer strahlenversprö- baden-württembergische Verwaltungs- deten, östlich von Heidelberg gelegenen gerichtshof in Mannheim Schäfers späte Meilers bedeuten würde. Genehmigung. Vor dem endgültigen Der bekennende Atomkraftgegner Nachweis der Sicherheit hätte der Reak- Schäfer, wegen seiner Engelsgeduld in tor, so die Richter, nicht ans Netz ge- Sachen Obrigheim seit Jahren im Feuer, durft – eine Ohrfeige für den Minister. reagierte: Erstmals drohte er den Betrei- Innerparteilich geriet Schäfer nach bern schriftlich, das Kraftwerk stillzule- dem Urteil und seiner umgehend ange- gen, bis zweifelsfrei nachgewiesen sei, kündigten Revision beim Bundesver- P. FRISCHMUTH / ARGUS Atomkraftwerk Obrigheim: Festigkeit des Druckbehälters überschätzt

162 DER SPIEGEL 26/1995 .

keitsberechnung der „kernnahen“ Schweißnaht offenbar mit gezinkten Karten spielten. Dabei werden, weil der tatsächliche Zustand der Verbindung nicht bekannt ist, bestimmte Fehler – genauer: Risse bestimmter Ausdehnung – vorsichtshalber unterstellt. Der angenommene „Referenzriß“, behaupteten die Betreiber, ende noch in jenem handgeschweißten Bereich der Schweißnaht, der wegen einer günstigen Materialzusammensetzung relativ un- empfindlich auf das Neutronenbombar- dement reagiert. Auf dieser Basis ermit- telten sie für kritische Reaktorzustände ausreichende Restfestigkeiten. Die skeptisch gewordenen Gutachter gruben daraufhin tief in historischem Aktenmaterial – und wurden fündig.

GRAFFITI Aus einem Schriftwechsel zwischen Re- aktorhersteller Siemens und dem Kes- selbauer Klöckner aus dem Jahr 1965

J. RÖTTGERS / geht hervor, daß die nur moderat ver- Umweltminister Schäfer sprödete Handschweißnaht nicht 40 Mil- „Frage der Glaubwürdigkeit“ limeter, wie in den Betreiber-Berech- nungen unterstellt, sondern nur 25 bis waltungsgericht heftig mit Ulrich Mau- 30 Millimeter dick sein kann. Das be- rer, dem SPD-Chef im Ländle, aneinan- deutet: Die bisherigen Berechnungen der. Der fürchtet den „politischen überschätzen an einem zentralen Punkt Selbstmord“ der Sozis, sollte die Obrig- die Festigkeit des Druckbehälters. heimer Hängepartie über die Sommer- „Die Sicherheitsrelevanz der Nach- pause weitergehen. weisdefizite“ habe sich mit der Entdek- Bereits im vergangenen Dezember kung „nochmals verschärft“, notierte waren das Darmstädter Öko-Institut das Öko-Institut. Angesichts dieser Er- und die Bundesanstalt für Materialprü- fahrungen, schrieb Gutachter Lothar fung und -forschung (BAM) in Berlin zu Hahn an Atomaufseher Schäfer, stelle dem Ergebnis gelangt, daß der „Spröd- sich generell „die Frage der Glaubwür- bruchsicherheitsnachweis für den Reak- digkeit der Nachweisunterlagen“. tordruckbehälter nicht erbracht“ sei. Im Stuttgarter Umweltministerium In ungewohnter Einigkeit bekräftig- verschwanden die Hinweise auf Mani- ten Öko-Institut und BAM während ei- pulationen der Sicherheitsnachweise in ner ganzen Serie von Gutachterdiskus- der Schublade. Erst letzten Donnerstag sionen ihre übereinstimmende Einschät- trat Schäfer die Flucht nach vorn an und zung. Vergangene Woche lieferte die veröffentlichte den Fall. BAM, auf der Basis nachgereichter Un- „Irre, irre schwer“, klagt der Minister terlagen der Betreiber, eine erweiterte immer wieder, gestalte sich eine ge- Fassung ihrer Expertise in Stuttgart ab. richtsfeste Stillegung des maroden Mei- Das Ergebnis war wieder das gleiche. lers am Neckar – Schäfer denkt dabei Sorge bereitet den Experten eine nicht nur an mögliche Entschädigungs- Schweißverbindung, die den aus Seg- klagen der Betreiber. Die Stillegung menten bestehenden Druckbehälter in würde im Vorfeld der 1996 anstehenden unmittelbarer Umgebung des Kerns zu- Landtagswahlen die große Koalition in sammenhält. Weil der Zustand des Be- Stuttgart einer Zerreißprobe aussetzen. hälters bei Betrieb des Meilers nicht di- Dennoch scheint Schäfer nun endlich rekt beobachtet werden kann, wird ein entschlossen, Obrigheim nach der Revi- Trick angewandt: In den Reaktor einge- sion nicht mehr ans Netz zu lassen. Die hängte Proben werden „mitbestrahlt“, Stillegungsdrohung rief Anfang Juni von Zeit zu Zeit entnommen und unter- Bundesumweltministerin Angela Mer- sucht. kel auf den Plan. Sie forderte die Reak- In Obrigheim allerdings stimmt die torsicherheitskommission (RSK), ein Materialbeschaffenheit der Probe nicht Beratergremium der Bundesregierung, mit der Schweißnaht überein. Die Probe zur Stellungnahme auf. ist damit praktisch wertlos. Monatelang Am Mittwoch trifft sich der RSK- wollten Betreiber und TÜV-Gutachter Ausschuß „Druckführende Komponen- nicht zugeben, daß beim Schweißen der ten“ in Köln zur Beratung. Dem Gremi- Probe eine günstiger zusammengesetzte um gehören nicht nur die leitenden Ob- Schweißelektrode verwendet wurde als righeim-Gutachter des TÜV Südwest bei der Behälterfertigung. und der Berliner BAM an. Auch Ernst Anfang des Monats stellte sich zudem Pickel, Technischer Geschäftsführer des heraus, daß die Betreiber bei der Festig- Altmeilers, ist mit von der Partie. Y

DER SPIEGEL 26/1995 163 WISSENSCHAFT

100 km Lyon Grenoble

Rhone Grotte Chauvet Ardèche Hillaire vor dem Panneau der Pferde

Marseille Toulouse Panneau der Löwen Steinblock mit Bärenschädel

Panneau der Pferde

Panneau der Handnegative Gravierter Uhu

Grundriß der Höhle

Einstieg

20 Meter

Pferdepanneau (Detail) Steinblock mit Bärenschädel

164 DER SPIEGEL 26/1995 Wänden der 490 Meter langen Tropf- Höhlenmalerei steinhöhle, und weitere werden sie sicher noch finden: Mammuts, kämpfende Rhi- nozerosse, Büffel-, Pferde- und Rentier- herden – ein einzigartiger Einblick in die Alte Meister Großtierfauna der eiszeitlichen Savannen in Europa. Ein Bildband zeigt die einzigartigen Inzwischen sind die kunstgeschichtli- Tierdarstellungen in der französi- chen Schätze in der Grotte Chauvet durch eine Stahltür, ein Alarmsystem und schen Grotte Chauvet. eine Videoüberwachung vor Neugierigen geschützt. Nur in einem jetzt erschiene- in Rudel Löwen stürzt hinter einer nen Bildband können die kraftvollen Felswand hervor. Büffel, Wisente Darstellungen bewundert werden*. E und Nashörner flüchten vor den Gleich nach der Entdeckung erkannten heranspringenden Raubkatzen. die eilig herbeigerufenen Experten, daß Mitten in der trampelnden Herde stolpert sie in der Grotte Chauvet ein prähistori- ein tolpatschiges Mammutbaby. sches Museum vor sich hatten, das einzig Wollte der Künstler, der die eiszeitliche mit den berühmten Bilderhöhlen von Szene festgehalten hat, die Kraft der Lascaux und Altamira zu vergleichen Raubtiere beschwören? Wurde das Pferd war. Dann sorgte das Ergebnis der Alters- verehrt, das wie in einer sakralen Nische bestimmung für eine weitere Sensation: hinter der Jagdszene abgebildet ist? Oder Anhand von Pigmentproben von acht deutet der Bärenschädel, der auf einem Gemälden fanden die Prähistoriker her- Steinblock wie auf einem Altar postiert aus, daß die Tierdarstellungen aus dem Gravierter Uhu ist, auf einen Bärenkult hin? Ardèche-Tal fast doppelt so alt sind wie Die Bedeutung der Gemälde auf den die Malereien in Lascaux, die vor etwa Kalkwänden der Chauvet-Grotte ist nicht 17 000 Jahren entstanden. bekannt. Sicher ist nur, daß die drei fran- Bisher galt ein 27 000 Jahre alter zösischen Hobby-Höhlenforscher Jean- Handumriß in der Höhle Cosquer bei Marie Chauvet, Eliette Brunel Des- Marseille als älteste Spur menschlicher champs und Christian Hillaire am Abend Malversuche. Jetzt erwiesen sich die des 18. Dezember 1994 im Ardèche-Tal Funde an der Ardèche als 3000 oder so- auf eine Bilderhöhle stießen, die inzwi- gar 5000 Jahre älter. Und sie zeigen den schen als vielleicht bedeutendstes Doku- Steinzeitmenschen bereits als ausgereif- ment der Steinzeitkultur gilt. Insgesamt ten Künstler. 267 Tiere zählten die Entdecker auf den Die Maler steigerten die Plastizität der anatomisch präzise dargestellten Tierkör- Handnegativ per, indem sie die roten und schwarzen Pigmente auf der Felswand verwischten. Um Bewegung auszudrücken, versahen sie zum Beispiel einen Wisent mit acht Beinen. Und sogar die Perspektive hat- ten sie bereits entdeckt – so erzeugten sie den Eindruck ganzer Rudel und Herden. Einmalig in der Steinzeitkunst sind die Panoramen („Panneaus“) ganzer Jagd-, Kampf- oder Weideszenen. Erstmals fanden die Forscher auch die Porträts einer Hyäne, eines Panthers und einen in den Fels gravierten Uhu. Jetzt hat die detaillierte Erforschung der Grotte begonnen. Vor allem auf dem Boden hoffen die Wissenschaftler auf Spuren zu stoßen, die Rückschlüsse auf den Alltag, die kultischen Bräuche oder die Denkwelt der eiszeitlichen Künstler erlauben könnten. Gewiß ist bisher nur, wer nach den Steinzeitmenschen in der Grotte Chau- vet einzog: Kratzspuren auf den Gemäl- den und Knochen in den Bodenmulden lassen darauf schließen, daß Bären hier ihr Winterquartier hatten.

* Jean-Marie Chauvet, Eliette Brunel Des-

FOTOS: SYGMA/THORBECKE champs, Christian Hillaire: „Grotte Chauvet. Altsteinzeitliche Höhlenkunst im Tal der Ardèche“. Löwenpanneau Thorbecke Verlag, Sigmaringen; 120 Seiten; 92 Farbtafeln; 68 Mark.

DER SPIEGEL 26/1995 165 .

TECHNIK

GM macht keinen Automobile Hehl daraus, daß die durstigen Pritschenwa- gen im modernen Amerika meist ein Mit dem sinnentleertes Laster- leben fristen. „Die Fahrzeuge“, heißt es in Laster leben einer Presseerklärung, „werden in den wenig- Verlangt der europäische Freizeit- sten Fällen zum Trans- port von Gütern einge- mensch nach dem kleinen Lkw? setzt.“ Gesteuert von General Motors bringt den ersten Versicherungsmaklern und Scheidungsanwäl- Pickup nach Deutschland. ten, Buchhaltern und Süßwarenvertretern, ie gute Nachricht von den Ameri- sind die blechernen

kanern an die Deutschen verkün- Tragtiere nur noch WERKFOTO GM Ddete vergangene Woche ein Brite. fahrende Erinnerun- Neuer Chevrolet S 10 Pickup: „Wahnsinnig große Vorliebe“ Mike Yarrow, Chef beim deutschen gen an die Pionierzeit Importeur von General Motors, ver- der ruralen Massenmotorisierung Ame- allem Japaner, die auch in Deutschland sprach „allen, die es wollen, einen völ- rikas, als Autos noch Werkzeuge waren. schon seit Jahren Pickups anbieten, ka- lig neuen Lebensstil“. „Zaumzeug, Karren, Säer, kleine men bis heute nicht auf nennenswerte Dieser soll mit dem Erwerb des Bündel von Hacken. Hol sie raus. Absatzzahlen. Marktforscher vermuten Chevrolet S 10 einhergehen, eines Au- Schmeiß sie in den Hof. Lad sie auf den hinter solchen Mißerfolgen unter ande- tomobils, dem vier elementare Nach- Wagen. Fahr sie in die Stadt“, bellt es rem Standesdünkel bei der Kundschaft. teile innewohnen: Es ist relativ teuer aus dem Agrar-Epos „Früchte des Autos mit allzu offensichtlichem (je nach Ausstattung 29 800 bis 65 000 Zorns“, in dem John Steinbeck das Nutzfahrzeugcharakter sehen nach Ar- Mark), ziemlich langsam (160 km/h), Elend der Landarbeiter im Oklahoma beit aus – und das stört manch potentiel- bietet nur zwei Personen bequem Platz der dreißiger Jahre beschrieb. len Kunden. Solche Theorien verkünde- und verbraucht deutlich mehr als zehn Mit klapprigen Pritschenwagen flie- ten einige Hersteller bereits in den spä- Liter Benzin auf 100 Kilometer. hen die „Okies“ vor Ausbeutern und ten Achtzigern, als Kombi-Limousinen Der Chevrolet S 10 ist ein Lastwa- Bodenerosion ins gelobte Kalifornien – zunehmend auch außerhalb der Hand- gen – der erste Pickup, den General schon sie auf der Suche nach neuem Le- werkerzunft populär wurden. Motors (GM) nach Deutschland expor- bensstil: „Viel Arbeit und alles schön Der Hochpreis-Anbieter BMW sah tiert. Er soll deutsche Kunden für eine und grün und kleine weiße Häuser und sich damals in eine peinliche Diskussion Fahrzeuggattung gewinnen, die in den überall Orangen.“ verstrickt, als die heimliche Befürchtung USA seit Jahrzehnten den Stellenwert Von solchen Gütern lassen sich neu- der Münchner Vertriebsfachleute veröf- eines Volkswagens hat. Die beiden zeitliche Pickup-Piloten schon lange fentlicht wurde, daß Metzger, Maler- meistverkauften Automobile waren nicht mehr locken. Sie haben Orangen meister oder Landwirte einen BMW- dort im vergangenen Jahr Pickup- satt. „Die Ladekapazität ihrer Autos“, Kombi „mit Farbkübeln, Schweinsha- Trucks von Ford und GM. Insgesamt ermittelte die GM-Marktforschung, xen oder Kartoffelsäcken entweihen wurden 1994 über 2,3 Millionen sol- „nutzen sie zum Transport von Surfbret- könnten“. cher Wagen verkauft – das entspricht tern, Tauchausrüstungen, Mountain- Der Hauptverband des Deutschen ungefähr der weltweiten Jahresproduk- bikes und Moto-Cross-Maschinen.“ Maler- und Lackiererhandwerks ging tion des Fiat-Konzerns. Früchte des industriellen Wohlstands prompt auf die Palme. In Rundschrei- zumeist, mit Halterie- ben an 33 000 Malerbetriebe rieten die men gut verzurrt, da- Verbandsoberen vom Kauf des „ge- mit sie unterwegs kei- weihten“ BMW ab. ne Dellen in die hoch- Firmensprecher Richard Gaul besänf- glanzlackierten Bord- tigte die gekränkten Handwerker wände wummern. schließlich mit einem öffentlichen Be- „Diese Vehikel“, kenntnis zur Toleranz gegenüber nicht- sagt GM-Statthalter intellektuellen Käufern: „Es ist uns Yarrow, „sind wirklich wirklich egal, was unsere Kunden in ih- für alles zu gebrau- rem Kofferraum transportieren.“ chen.“ Gleichwohl Dünkel und gesellschaftliche Aus- ahnt er, „daß diese grenzungen sind jedoch auch den Ame- wahnsinnig große ame- rikanern nicht fremd. Schon die bäuerli- rikanische Vorliebe für chen Pickup-Pioniere in Steinbecks Ro- den Pickup noch nicht man stoßen auf vehemente Intoleranz und höchstwahrschein- im ersehnten Kalifornien. lich nie in demselben Endlich angekommen, finden die fah- Maße nach Europa renden Einwanderer aus Oklahoma überschwappen wird“. auch im Westen keine Arbeit. Entkräf- Andere Hersteller, vor tet beenden sie ihre Pritschenwagen- Odyssee in einer gewaltigen Über-

KINOARCHIV ENGELMEIER * Szene aus „Früchte des schwemmung. Der wackere Laster säuft Pickup-Pioniere im Film*: „Alles schön und grün“ Zorns“. ab. Y

166 DER SPIEGEL 26/1995 .

WISSENSCHAFT

geschaltet wurden. Solche und ähnliche Züchtung bestimmter Merkmale: mehr Haustiere Versuchsanordnungen führten die Milch, mehr Koteletts, mehr Eier. Je Hamburger Zoologen zu einem Erklä- größer die Erträge, je zielstrebiger die rungsmodell, bei dem neurologische Züchtung, um so unkontrollierter rei- Erkenntnisse und die von Darwin ent- chern sich unvorteilhaft mutierte Gene Verarmte deckten Gesetze der natürlichen im Organismus an. Viele Haustiere ha- Zuchtwahl miteinander in Einklang ben ihre Lebenstüchtigkeit schon soweit stehen. eingebüßt, daß sie sich in freier Natur Genossen Im anhaltenden Dunkel der Höhlen kaum mehr behaupten können. bieten Sehorgane den Fischen keinen Störungen der Organfunktionen se- Bei Haustieren ist das Hirn stark ge- Vorteil mehr im Überlebenskampf. hen Tiermediziner bei Haustieren schon schrumpft – schuld ist der Mensch Zufällige, meist nachteilige Mutationen seit langem. Die Milch-, Woll- und Eier- im Gensystem, das für die Augenbil- produzenten leiden an Herz- und Kreis- mit seiner Fürsorge. dung zuständig ist, werden deshalb bei laufschwächen, Störungen der Hormon- der Weitergabe des Erbguts an die drüsen sowie an Leber- und Nieren- ie Anrede „Sie blöde Kuh“ oder Nachkommen nicht mehr durch natür- schwäche. Auch die Sinnesorgane sind „Du dummes Schwein“ ruft – au- liche Auslese beseitigt. In den nachfol- beeinträchtigt. Die Augen von Haus- Dßer dem gegnerischen Anwalt – ge- genden Generationen reichern sich schweinen wiegen ein Drittel weniger wöhnlich auch die Front beleidigter derartige Mutationen in der DNS an als die von Wildschweinen. Tierschützer auf den Plan. Für die biolo- und bewirken „gleichsam automatisch Doch auch deutliche Verhaltensun- gische Richtigkeit der Wortfügungen eine Rückbildung der Augen“ (Peters). terschiede sind im Vergleich zu den aber ließe sich der Hamburger Zoologe Nicolaus Peters als Kronzeuge anrufen. Der Professor kann belegen, was häu- fig die Lebenserfahrung lehrt: Bei Bello und bei Gonzos Hühnern, beim Esel und beim Rindvieh handelt es sich „um im Kopf minderbemittelte Vertreter ih- rer Art“ (Peters). Verglichen mit den entsprechenden Stamm- und Wildfor- men, weisen Haustiere ein um bis zu 35 Gewichtsprozent verkleinertes Gehirn auf. Besonders drastisch ist das Phäno- men bei den schlauesten und ältesten, seit rund 10 000 Jahren domestizierten Hausgenossen des Menschen – bei Hund und Schwein. Daß der Hirnschwund mittlerweile erblich ist, wurde durch Auswilderungs- versuche an zahmen Tieren belegt. Ihr

Gehirn wurde, auch wenn sie über meh- M. SCHRÖDER / ARGUS rere Generationen in freier Wildbahn Zoologe Peters, Höhlenfische: Verkümmerte Augen lebten, kaum wieder größer. Auch Kreuzungen zwischen Haustier und Andererseits führt, wenn die Augen Wildformen bei vielen Haustieren zu Stammform zeigen, daß der Verlust an verkümmern, der Mangel an „nervösen bemerken: Sie sind antriebsschwach und grauen Zellen erblich ist. Inputs“ unweigerlich zum Kümmern des zeigen geringere Neigung zur Flucht. Peters und seine Mitarbeiter am Zoo- Sehhirns. Die zuständige Hirnregion Diese Verhaltensarmut steht mit der logischen Institut der Universität Ham- empfängt vom degenerierten Auge kei- Hirnrückbildung im Zusammenhang burg fahndeten nach den Ursachen die- ne Reize mehr und schrumpft dahin. und ist bereits im Erbgut verankert. ses schon seit längerem gesicherten Tat- Bei den Haustieren, so folgert Peters Nur in einem sind die von Menschen bestands. Dabei kam ihnen ein exoti- weiter, war es der Mensch, der den verwöhnten Haustiere im allgemeinen scher Wissenschaftszweig zu Hilfe: die Hirnschwund herbeiführte, indem er die besser drauf als ihre wildlebenden Ge- Höhlentierforschung. natürliche Zuchtwahl außer Kraft setz- vattern. Bei Tieren in freier Wildbahn Beweiskräftige Befunde lieferte den te. Nicht nur Schoßhunde und Mast- ist die geschlechtliche Fortpflanzung, Hamburgern ein Fisch namens Astya- schweine, sondern auch Herdentiere entsprechend den Erfordernissen ihres nax mexicanus. Diese Fischart ist so- und Federvieh mußten an Hirnsubstanz Lebensraumes, normalerweise auf kur- wohl in unterirdischen wie in Oberflä- einbüßen, weil es ihnen zu gut ging: Der ze Brunftzeiten und Brutperioden be- chengewässern anzutreffen. Die Höh- Mensch hält ihnen ihre natürlichen grenzt. Wurfgröße und Eizahl sind opti- lenfische weisen verkümmerte und un- Feinde fern, besorgt ihnen Futter und mal bemessen. Dafür sorgen bestimmte vollständige Augen auf, die meisten Tie- Obdach gegen Wind und Wetter, ku- Erbfaktoren, sogenannte Modifikator- re sind völlig blind. Gleichzeitig ist ihr riert ihre Krankheiten und unternimmt gene, die sich, wie Peters ausführt, der Sehhirn, das sogenannte Mittelhirn- die kuriosesten Veranstaltungen, um ih- tief verankerten Fortpflanzungspotenz dach, gegenüber den Artgenossen, die nen bei der Fortpflanzung zu helfen. „sozusagen überlagern“. im Lichte leben, deutlich verkleinert. So werden die schlechten Gene über Im Erbniedergang der Haustiere blie- Verirren sich sehende Exemplare in Generationen angehäuft: Nicht mehr ben die Modifikatorgene offenbar auf Höhlengewässer, erblinden sie mit der die Lebenstüchtigkeit entscheidet über der Strecke. „Mit Regelmäßigkeit“, so Zeit. Die Rückbildung des Mittelhirns die Weitergabe der Erbanlangen, son- Peters, seien die Haustiere, verglichen konnten die Forscher auch experimen- dern weitgehend der Mensch. mit ihren in der freien Natur lebenden tell bei Flußfischen herbeiführen, bei Verschärft wird dieser widernatürli- Stammformen, „sexuell deutlich aktiver denen im Larvenstadium die Augen aus- che Erbgang noch durch die gezielte und meistens auch fruchtbarer“. Y

DER SPIEGEL 26/1995 167 . AKG A. WHEELER / RETNA Selbstmörder-Vorbilder Werther, Cobain, Grab von Jim Morrison: Depression und Tod sind zu Leitmotiven der populären „JIMMY, WIR KOMMEN!“ Die Zahl der Selbstmordversuche unter Kindern und Jugendlichen steigt – Folge von Todessehnsucht und Kokettieren mit dem Suizid in der Popkultur? Mit neuen Strategien versuchen Psychologen, dem Freitod von Stars wie dem Rocksänger Kurt Cobain die gefährliche Faszination zu nehmen.

r war ein kräftiger Bursche, jung ihrem Abschiedsbrief hieß es, sie seien viele Interpreten, er habe einen ursäch- und sehr klug, der auf den bürgerli- nach dem Freitod des Rocksängers Kurt lichen Zusammenhang hergestellt zwi- Echen Anstand spuckte. Seine Klei- Cobain „in Depressionen verfallen“. schen vermeintlich verderblichen Vor- dung war bunt und großkotzig und skan- „Folgeselbstmorde“ nannte der So- bildern und den Taten der Nachahmer. dalös. Er hielt wenig von guten Manie- ziologe Emile Durkheim solche Selbst- Schon Goethe sah sich wegen des an- ren, und deshalb brüllte oder weinte er tötungen, als er Ende des 19. Jahrhun- geblich schädigenden Einflusses seines in der Öffentlichkeit, wann immer ihm derts die erste systematische Schrift zur „Werthers“ attackiert von Kirchenmän- danach war. Für die Strebsamkeit der Suizidforschung vorlegte – und wenn- nern und Aufklärern; Behörden verur- kleinen Leute hatte er nichts als Hohn gleich die Klassifikation keineswegs teilten das Buch als „hochgefährlich“, in übrig: „Das bißchen, das ihnen von wertend gemeint war, schlossen doch Leipzig wurde der Verkauf verboten. Freiheit übrigbleibt, ängstigt sie so, daß Und die Kritiker des deut- sie alle Mittel aufsuchen, um es loszu- schen Klassikers fanden im werden.“ Todessehnsucht Jahr 1990 späte Gleichgesinnte Am Ende, als sich der Mann eine Ku- Gescheiterte Suizid-Versuche 600 in den Eltern zweier toter US- gel in die Stirn gejagt hatte („Das Ge- pro 100000 Jugendliche Jugendlichen, die eine Platten- hirn war herausgetrieben“, notierte der im Alter von 15 bis 19 Jahren firma verklagten, weil der Protokollant), war er in halb Europa ei- 500 Selbstmord ihrer Söhne durch ne Art Popstar seiner Zeit – und seine die todessüchtigen Songs Fans kleideten sich nicht nur wie er in Quelle: Universitäts- der Heavy-Metal-Band Judas klinik Würzburg Stulpenstiefel zu blauem Frack und gel- Priest ausgelöst worden seien. ber Weste, sondern setzten ihrem Leben 400 Warum junge Menschen sich gleich dutzendweise ein ähnliches Ende: umbringen, das haben bis heu- Goethes „junger Werther“ aus dem Jahr te weder Mediziner noch Psy- 1774 gilt als erster Begründer eines 300 chologen genau ergründen Selbstmordkults in der neueren Kultur- können. Auch junge Autoren, geschichte. die ihre Generation kennen, 1986 bis 1988 Die Muster gleichen sich bis heute, ob keine Erhebungen 200 haben allenfalls vage Theorien man 1778 das Fräulein Christel von Laß- MÄDCHEN parat. berg unweit von Goethes Weimarer Gerade junge Erwachsene, Garten aus dem Flüßchen Ilm zog, eine 100 eigentlich im Alter für schöne durchnäßte „Werther“-Ausgabe in ihrer Zukunftshoffnungen, schreibt Tasche; oder ob sich im Oktober 1994 JUNGEN beispielsweise die amerikani- im kanadischen Langley drei halbwüch- 0 sche Autorin Elizabeth Wurt- sige junge Männer umbrachten, indem 19841989 1991 1993 zel („Verdammte schöne sie Auspuffgase in ihr Auto leiteten – in Welt“), bildeten eine Genera-

168 DER SPIEGEL 26/1995 . STILLS / STUDIO X Kultur geworden

tion von Depressiven – zu traurig, um ben nahmen, wird be- sich auf morgen zu freuen, zu müde, um richtet. am Heute Spaß zu haben. Die „Twenty- Nach dem Unfall- somethings“ hat Wurtzel deshalb umbe- tod James Deans, der nannt in „Twentynothings“: jung, intel- am 30. September ligent und hoffnungslos. 1955 mit seinem sil- Tod und Depression sind zu Leitmoti- berfarbenen Porsche ven der populären Kultur geworden. Spyder in der kalifor- Pop-Zeitschriften veröffentlichen Bilder nischen Wüste gegen des Fotografen und Videokünstlers ein anderes Auto ra- Jean-Baptiste Mondino, der Modege- ste und nach Meinung schichten mit blutverschmierten Model- vieler Bewunderer da- len inszeniert – sie scheinen sich umzu- mit seinem Leben ab- bringen oder liegen wie tot da. Der kali- sichtlich ein Ende fornische Rockstar Beck sang in seinem setzte, wurde allein in 1994er Hit: „Ich bin ein Verlierer, also den folgenden Mona- bring mich doch um.“ Und die deutsche ten rund ein Dut-

Punkrock-Band „Normahl“ fragt in ih- zend Suizide von MONDINO rem Song „Wie stirbt man spektakulär“: Dean-Fans gezählt. In Selbstmord-Inszenierung als Mode-Motiv „Soll man sich verbrennen, oder setzt Deutschland machte „Wie stirbt man spektakulär?“ man sich den goldenen Schuß? Oder vor allem der Doppel- macht man mit ’ner Überdosis Schlafta- selbstmord zweier weiblicher Teenager noch mehr Folgesuizide (siehe Seite bletten Schluß?“ Schlagzeilen, die sich 1959 in Hamburg 174). Es mag schon stimmen, daß Hoff- mit dem Ruf „Jimmy, wir kommen!“ Die Berichterstattung der Medien nungsarmut und Depression zu den be- aus dem Fenster stürzten. spielt offenbar eine Rolle, wenn Le- zeichnenden Merkmalen der „Generati- Als sich Marilyn Monroe am 6. Au- bensmüde den Entschluß fassen, ihrem on X“ gehören, wie sie der Erfolgs- gust 1962 mit einer Überdosis Schlafta- Leben ein Ende zu setzen. Eine Selbst- schriftsteller Douglas Coupland getauft bletten das Leben genommen hatte, ver- mordmeldung auf der ersten Seite der hat. Sicher ist, andererseits, daß die zeichneten die Statistiker in den folgen- New York Times, fanden Soziologen Kulturgeschichte, noch mehr aber die den acht Wochen allein in den USA und heraus, führe zu einem signifikanten Geschichte der populären Kultur des 20. in England rund 350 Selbsttötungen Anstieg der Suizidquote in New York Jahrhunderts reich ist an Selbstmord- mehr als in einem solchen Zeitraum und und Umgebung während der vier dar- wellen, die dem Ableben eines Idols zu dieser Jahreszeit üblich. auffolgenden Wochen. folgten. Die Prominenz eines Idols ist offen- Psychologen wie der Selbstmordfor- Im Wien der ersten Jahrhundertdeka- bar nicht das Wichtigste. Labile Jugend- scher Armin Schmidtke von der Univer- de entstand ein merkwürdiger Todes- liche sind auch bereit, sich lokale Grö- sitätsklinik Würzburg sprechen ge- kult um den wirr antisemitischen, von ßen zum Vorbild zu nehmen. schichtsbewußt vom „Werther-Effekt“. Frauenhaß besessenen Philosophen Ot- Als sich Ende April der Punker und Dramatische Darstellungen von Selbst- to Weininger: Mit einem Schuß in die „Normahl“-Fan Daniel H., genannt mörder-Schicksalen, bewies Schmidtke Brust hatte sich der 23jährige am 4. Ok- „Hölli“, vom Dach einer Passauer Ein- gemeinsam mit dem Psychiater Heinz tober 1903, wenige Monate nach Ab- kaufspassage in den Tod stürzte, war die Häfner anhand der Fernsehserie „Tod schluß seines monströsen Hauptwerks örtliche Punkszene erschüttert. Die Pas- eines Schülers“, zögen bei jungen Leu- „Geschlecht und Charakter“, getötet – sauer Neue Presse berichtete ausgiebig ten zusätzliche Selbsttötungen nach der Lebensmüde mietete sich ausge- über den Fall. Einen Monat danach sich. rechnet in Beethovens Sterbehaus in der brachte sich einer seiner Freunde per Die Suizidforscher nutzten die 1981 Wiener Schwarzspanierstraße 15 ein. Kopfschuß um, bei zwei weiteren To- erstmals ausgestrahlte, 1982 wiederholte Von diversen jungen Männern, die sich desfällen kann die Polizei Selbsttötun- Serie über einen Abiturienten, der aus nach dem Vorbild Weiningers das Le- gen nicht ausschließen und befürchtet der „scheißpragmatischen“ Welt der Er-

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wachsenen in den Tod auf den Schienen bewältigen, nicht mehr nur schwarz- 1986 (348 Tote) auf 2125 im vergange- flüchtet, als „natürliches Experiment“: weiß zu denken.“ nen Jahr. Der Jugendkriminologe Ar- Die Studie, welche die Zahlen der Ei- Der Psychologe setzt auf Hilfsangebo- thur Kreuzer schätzt, daß bis zu 36 Pro- senbahn-Selbstmorde in vergleichbaren te wie Telefonberatung, Gruppen- und zent dieser Opfer „versteckte“ Selbst- Zeiträumen vor, während und nach der Gesprächstherapie für gefährdete Ju- mörder seien. „Häufiger, als man Sendung erfaßte, bestätigte deutlich die gendliche, um die Suizidrate unter jun- denkt“ (Schmidtke), seien auch unter Suggestivwirkung des Fernsehfilms – ein gen Leuten zwischen 15 und 19 Jahren den meist männlichen Disco-Besuchern, Ergebnis, das amerikanische Wissen- zu senken: „Selbstmord ist nicht mehr die am Wochenende auf der Heimfahrt schaftler auch für dramatisch aufge- wie früher ein Tabu, die Jugendlichen tödlich verunglücken, Selbstmörder – machte Nachrichten über Selbstmorde trauen sich eher, um Rat zu fragen.“ „weil die Freundin weg ist“. ermittelten: „Die Darstellung von Suizi- Offenkundig ist die Selbstmordrate Und die Zahl der Selbstmordversuche den“, so Schmidtke, „kann tödliche abhängig vom Alter. Bei Kindern unter unter Jugendlichen steigt an: Waren Wirkung haben: Je positiver das Mo- 10 Jahren sind Selbsttötungen, wie 1990 noch 300 von 100 000 Teenagern dell, desto gefährlicher ist es.“ Schmidtke im Auftrag der WHO her- lebensmüde, so versuchten 1993 insge- Diese Erkenntnis wurde im Fall des ausfand, äußerst selten. Bei 10- bis samt dreimal so viele 15- bis 19jährige, Rocksängers Cobain erfolgreich für vor- 14jährigen kamen 1993 in den alten sich umzubringen. beugende Strategien genutzt, wie sie Ob ein Selbstmord ge- von der Internationalen Suizid-Verhü- lingt oder nicht, ist oft tungsgesellschaft empfohlen werden. reiner Zufall. So wurden Der 27jährige Musiker hatte sich im ver- die 14jährige Ilka und ihr gangenen Jahr mit einer Schrotflinte in Freund Peter im letzten den Mund geschossen. Augenblick gerettet. Die „Um Imitationswellen abzufangen“ beiden, Mitglieder einer (Schmidtke), taten sich in den USA Me- Clique im mittelfränki- dien, Hilfsorganisationen und Behörden schen Forchheim, die zusammen. In Talkshows, Interviews von der Wirklichkeit in mit der Witwe und in Gesprächen mit Jenseits-Phantasien ratsuchenden Jugendlichen wurden ab- flüchteten und sich Sa- schreckende Details geschildert: Co- tanskulte ausdachten, bains Gesicht war derart entstellt, daß wollten sich mit Auspuff- er anhand von Fingerabdrücken identifi- gasen umbringen – ge- ziert werden mußte. Es gelang, dem nauso, wie ihre Freunde Markus, 18, und Tho- mas, 15, nur Tage zuvor „Versteckte“ Suizide aus dem Leben geschie- unter Drogentoten den waren. Doch nach wenigen Minuten ging und Unfallopfern der Motor aus, die bei- den überlebten. Die Sui- Selbstmord des Stars das Verlockende zu zidarten haben sich geän- nehmen. dert: Ähnliche präventive Wirkung erreich- Viel häufiger als frü- te der Wiener Psychiater Gernot Sonneck her wenden vor allem in Zusammenarbeit mit den Medien, als junge Männer zwischen in den achtziger Jahren die Rate der Ju- 15 und 19 Jahren harte gendlichen-Selbstmorde in der U-Bahn Methoden an: Fast jeder stetig anstieg. zweite Selbstmörder die- Sonneck fand heraus, daß es eine spe- ser Altersgruppe erhängt zielle Art der Berichterstattung ist, die sich, viele erschießen suizidgefährdete Jugendliche beeinflußt: sich oder bringen sich Gefährlich sei, wenn der „Ausweg des mit Explosionsstoffen,

Suizids“ so dargestellt werde, daß er „mit MAGNUM / FOCUS etwa Granaten, ums Le- ,Erleichterung‘ auch beschritten“ wer- Pop-Idol Dean ben. Und zehn Prozent den könne. Besonders, „wenn die Hal- Traum vom Aufleuchten und Verglühen aller jugendlichen Le- tung des Suizidanten als bewunderns- bensmüden suchen den wert, heroisch oder mitBilligung (,In die- Bundesländern Suizide insgesamt 45mal Tod auf den Schienen. In Hanisberg, ei- ser Situation war es eigentlich nur klar, vor; von den jungen Selbstmördern wa- ner Kleinstadt bei Dresden, warfen sich daß‘) dargestellt“ werde, wecke dies die ren 34 Jungen, 11 Mädchen. innerhalb von zwei Wochen drei Heran- Aufmerksamkeit der Risikogruppe. Danach jedoch, so Schmidtke, „ steigt wachsende vor einen Zug. Begonnen Nachdem die Wiener Zeitungen einge- die Zahl rapide an“: 181 Jungen und 56 hatte der 18jährige Mario, seine Freun- willigt hatten, weniger reißerisch über die Mädchen im Alter von 15 bis 19 Jahren de Lutz und Kai, denen nach seinem Todesfälle zu berichten, verzeichnete nahmen sich 1993 in der Bundesrepublik Tod alle Probleme plötzlich übermäch- Sonneck ein „deutliches Absinken“ der das Leben. Damit ist Selbstmord in die- tig erschienen, brachten sich am selben U-Bahn-Suizide. ser Altersgruppe nach Autounfällen die Ort auf dieselbe Art um. Um die Krise, in der junge Selbstmord- häufigste Todesursache. Zu Gift, oft in Form von Tabletten, kandidaten stecken, auf Dauer zu lösen, Allerdings: Die Dunkelziffer ist hoch. greifen die Mädchen wesentlich häufi- wendet der Würzburger Psychologe Weitere jugendliche Selbstmörder ver- ger. Viel öfter als bei jungen Männern Schmidtke an seiner Universitätsklinik muten Wissenschaftler unter den Dro- kommen bei den 15- bis 19jährigen jun- „langfristige Strategien“ an: „Die jungen gentoten, deren Zahl enorm angestie- gen Frauen Selbstmordversuche mit sol- Männer und Mädchen lernen, Streß zu gen ist – in den alten Bundesländern seit chen weichen Methoden vor, die nicht

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tödlich enden. Schmidtke: „Nicht alle Möglicherweise also handelt es sich wollen wirklich sterben, oft geht es dar- bei der vermuteten suizidfördernden um, einen verlorenen Partner zurückzu- Wirkung von Rockmusik um ein Miß- gewinnen.“ verständnis, genährt aus dem Authenti- Bei den gleichaltrigen jungen Män- zitätswahn der Künstler, die ihre Bot- nern waren es hingegen meist Schwierig- schaft mit dem realen Leben in Dek- keiten in Schule und Beruf oder allge- kung zu bringen versuchen – und durch meine Konflikte mit Autoritäten, die (in die Bereitschaft zur absoluten Hingabe 118 Fällen pro 100 000 Einwohner) zum bis in den Tod bei den jugendlichen Selbstmordversuch verleiteten. Fans. Welche tatsächlichen Motive Jugend- Kaum jemand verkörperte dieses liche auch für ihre Selbsttötung haben Mißverständnis so exemplarisch wie mögen – es sind besonders die Helden James Douglas Morrison. Den Erfolg, der Rockmusik, denen gern ein verderb- den er als Sänger der „Doors“ hatte, licher, lebensverneinender Einfluß auf haßte er – und erst nachdem er in der junge Menschen unterstellt wird. Nacht zum 3. Juli 1971 unter Zuhilfe- Unbestritten ist, daß viele Stars der nahme von Drogen und Alkohol in ei- Popkultur mit Todessymbolen kokettie- ner Pariser Badewanne sein Leben be- ren: Heavy-Metal-Bands nennen sich endet hatte, wurde er als jener große „Megadeath“, „Suicidal Tendencies“ Leidensmann akzeptiert, zu dem er sich oder „Dead Kennedys“. Kurt Cobain zu Lebzeiten vergeblich stilisierte. ließ sich, Monate vor seinem Tod, mit Der Umstand, daß Morrison wohl einem in den Mund gesteckten Gewehr unter schweren Depressionen litt und fotografieren. also nach medizinischen Maßstäben Zudem handeln viele Rocksong-Tex- psychisch krank war, konnte dem My- te explizit von Todessehnsucht, wobei thos nichts anhaben. Das hat Morrisons ihren Urhebern der Schutz künstleri- Fall mit dem des Ian Curtis gemein, des berühmtesten New-Wave-Selbstmör- ders und Sängers der britischen Band „Ein Wunder, daß „Joy Division“, der sich 1980 in seinem Kurt Cobain es nicht Haus im nordenglischen Macclesfield erhängte – und natürlich erinnert es Jahre früher getan hat“ auch an das traurige Ende des Nirvana- Sängers Cobain, der sich mit dem Satz scher Freiheit in weit geringerem Maß „I hate myself and I want to die“ ver- zugebilligt wird als etwa den Autoren le- ewigte. „Er wollte sterben“, sagt seine bensmüder Lyrik. Witwe Courtney Love heute, „und im Vorwürfe gegen Rockmusiker grün- Grunde ist es ein Wunder, daß Kurt es den überdies darauf, daß sich deren nicht fünf Jahre früher getan hat.“ Songs vornehmlich an jugendliche, labi- Ganz abgesehen von dem zynischen le Zuhörer richteten. Eine Argumenta- Befund, daß ein mediengerecht insze- tion, die noch durch die Erkenntnis der nierter Abgang tatsächlich andauern- Selbstmordforscher genährt wird, daß den Nachruhm zu garantieren scheint, junge Suizidtäter oft spontan und „situa- funktioniert das Liebäugeln mit Tod tiv“ zu ihrer Entscheidung kommen, und Zerstörung auch in der Pop-Welt während Lebensmüde im Erwachsenen- der neunziger Jahre als Geste des Auf- alter eher zu sogenannten Bilanzselbst- begehrens gegen eine durchrationali- morden neigen, ihren Entschluß also sierte Erwachsenenwelt: Seit Mitte der länger und gründlicher durchdenken. achtziger Jahre Bands wie „Slayer“ und In den fünfziger Jahren brachte der „Bad Religion“ die laute, schnelle Mu- Slogan „Live fast, die young“ den sik des Heavy Metal vom Ruch des Traum vom kurzen, intensiven Auf- Idiotenrocks befreit haben, können sich leuchten und baldigen Verglühen auf „Death Metal“-Rocker als wahre Erben den kürzesten Nenner, Pete Townshend der Rock’n’Roll-Rebellion gerieren. und „The Who“ variierten die Botschaft Die heute 50jährigen, die auf Rol- Mitte der Sechziger mit der Zeile „Hope ling-Stones-Konzerten zu „Sympathy I die before I get old“. for the Devil“ wippen, mögen sich an In Wahrheit aber gehört die Beschäf- jene Zeiten erinnern, als dieser Song tigung mit dem Tod seit den Anfängen noch als Inbegriff des Bösen galt. Für der Kultur zum Wesen künstlerischer die grimmigen Protagonisten von sata- Arbeit – frei nach Cocteau: Die Kunst nischen Todesmetall-Bands wie den sieht dem Tod bei der Arbeit zu. „Nicht norwegischen „Dark Throne“ und geboren zu werden ist das Beste, das „Burzum“, deren Namen in Zusam- Zweitbeste aber ist, schnell dorthin zu- menhang mit Kirchenbrandstiftungen, rückzukehren, woher man kam“, dich- Selbsttötungen und auch Mordtaten ge- tete der griechische Dramatiker Sopho- nannt werden, gelten längst härtere kles im „Ödipus“: Von Selbstmördern, Devisen: „Die alten Bands haben nur die sich im antiken Griechenland durch gesungen“, zitierte jüngst die Saarbrük- solche Zeilen inspirieren ließen, ist we- ker Zeitung einen Aktivisten, „wir tun nig überliefert. es!“

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TITEL „Ich bin eine Niete“ SPIEGEL-Reporter Jürgen Neffe über eine Serie von Todesfällen unter Jugendlichen in Passau

ronleichnam, nach der Herrgottsfrü- ren kann, implodiert das Gemisch dort, he, am ersten himmelblauen Tag wo die Gesellschaft ihre schwächsten Fnach langem Grau, führt Bischof Stellen hat. Franz Xaver Eder in Passau seine Katho- Spätestens seit sich genau einen Mo- liken durch die Altstadt. nat nach Höllis Tod der arbeitslose Mat- Voll Andacht trägt er die Monstranz, thias H., 16, gegen Mitternacht an der Kinder streuen Blumen, und die Gold- Innpromenade mit einer seinem Vater haubenfrauen präsentieren stolz ihren entwendeten Pistole in den Kopf Kopfschmuck. Fast alle Häuser sind ge- schießt, macht in Passau das Gerede von schmückt, mit jungen Birken und Flag- der „Todes-Serie“ die Runde. gen, für die Kirche gelb-weiß und weiß- Ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht blau für Bayern. 3000 Gläubige singen die ungewöhnliche Anhäufung von To- und beten. desfällen unter Jugendlichen mit jener Rosemarie Mörtlbauer, 45, betet nicht Nachricht, auf die Frau Mörtlbauer am mit ihnen. Sie sitzt daheim in ihrer Zwei- Fronleichnamsmorgen in ihrem Wohn- zimmerwohnung am Wohnstubentisch zimmer hockend zu warten scheint. wie angeheftet auf der vordersten Kante Als das Telefon läutet, drückt sie die eines Sessels. Sie raucht, als ob ein Auto- Zigarette im Aschenbecher aus und hört mat in ihr den Zigarettenrauch zum sich ruhig die Nachricht an, als sei sie Funktionieren brauchte. Ihre Hände keine Neuigkeit. blättern in einer Illustrierten. „Die Martina“, murmelt sie schließ- Äußerlich fast bewegungslos, aber in- lich, als sie schwer den Hörer wieder nerlich bis aufs äußerste bewegt, sitzt sie sinken läßt. „Jetzt ist sie beim Daniel.“ Schreibtisch des toten Daniel H., genannt da wie eine, die etwas erwartet. Einen Hosenanzug aus schwarzer Seide trägt sie und um den Hals ein Goldkettchen mit zwei Kreu- zen sowie eine kleine schmuddlig- gelbe Ente aus Holz an einem Le- derband. Das haben die Sanitäter ihrem 16jährigen Sohn aus erster Ehe, Daniel H., vom Hals ge- trennt, nachdem er vor gut sechs Wochen seine Drohung wahr ge- macht und seinem Leben ein Ende gesetzt hat: Am 28. April, kurz vor Mitternacht, hat sich „Hölli“, wie seine Freunde ihn nannten, in Folge eines heftigen Streites mit seiner Freundin Martina*, 15, vom obersten Stockwerk des Ein- kaufszentrums Nibelungenpassage zehn Meter tief in die Heuwieser-

straße gestürzt. SPIEGEL TV In dieser Nacht, da unter myste- Jugendliche Todesopfer Matthias H., Martina K.: Was ist schon passiert? riösen Umständen auch der gera- de 20jährige Hans-Jürgen F. in seiner Seit Höllis Tod bangt sie um Martina, in einem Teil Passaus, den Touristen, Wohnung unweit von Passau zu Tode bei der Trauer und Wut und Suff allen wenn überhaupt, nur versehentlich zu kommt – der Obduktionsbericht steht Lebensmut zu einer gefährlichen Le- Gesicht bekommen. Um dorthin zu ge- noch aus, die Polizei spricht von Dro- bensmüdigkeit verdreht haben. Nun ist langen, führt der Weg aus der enggassi- gentod –, in dieser Nacht entzündet sich das Mädchen, nach polizeilicher Lesart, gen Altstadt über den Ludwigsplatz, bei in der Dreiflüssestadt ein lang aufge- an den Folgen eines Autounfalls gestor- McDonald’s vorbei, wo sich die Rapper stautes Gemenge aus Hetze, Hilflosig- ben. Ob sie ihren Tod wollte oder gar treffen, und weiter an der Nibelungen- keit und Heuchelei. Weil unter dem absichtlich herbeiführte, um ihrer gro- halle, wo die Feinde der Rapper leben, Deckel kleinstädtischer Verschwiegen- ßen Liebe Hölli zu folgen – Fragen, die die Punks, von denen einige zu der frü- heit eine solche Mixtur kaum explodie- Rosemarie Mörtlbauer am liebsten gar hen Stunde noch in Schlafsäcken ihren nicht vorließe bis in die kühle Gemüt- Rausch auspennen. * Martina K. ist die auf dem Titelbild abgebildete lichkeit ihrer Zweizimmerwohnung. Die Nibelungenhalle, kurz Niha, ein junge Frau. Das Nachkriegseinheitsmietshaus steht Bau vom Reißbrett der NS-Architekten,

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wo die CSU alljährlich ihren politischen Aschermittwoch begeht und die rechts- radikale DVU ihren Oktoberkonvent, genauer gesagt: die überdachte Treppe zum Eingang der Niha ist seit langem ein öffentlicher Jugendtreff. Seit sich die Punks dort breitmachen, gegen Abend mitunter 30 bis 50 Kinder und Jugendliche, seit sie dort saufen, auch mal pöbeln, gelegentlich randalie- ren, ist in Passau die „Niha-Clique“ fast zum Synonym für „Punkerszene“ ge- worden. Und die Niha-Treppen avan- cierten zum Schandfleck der Stadt. Postkartenschön ist Passau. Aus aller Welt kommen Besucher, um sich am Zusammenfluß von Donau, Inn und Ilz die italienisch anmutende Altstadt mit dem alles überragenden Dom St. Ste- phan anzusehen. Jährlich fast 400 000 Übernachtungs- und 1,3 Millionen Ta- gesgäste kommen auf rund 50 000 Ein- wohner, 8 Parkhäuser, 66 Sport-, 23 Schützen- und 11 Soldaten- und Krie- gervereine. Größter Veranstaltungssaal ist mit 7000 Plätzen die Nibelungenhal- F. HELLER / ARGUM Hölli: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies“

Punker Hölli „Das Die liebe nicht kabutghenkan“

le. Auf den knapp 65 Quadratmetern Sozialbaubehaglichkeit haben sich Teile des Dramas, vermutlich die drastisch- sten, abgespielt. Es beginnt im April letzten Jahres, „bis dahin war mein Sohn unauffällig“. Einer seiner Freunde stirbt an einer Überdosis Heroin. Der Drogentod ruft unter den Jugendlichen nicht Angst oder Ablehnung hervor. Vielmehr macht gerade das Heroin den Toten zum Heroen. Zur Beerdigung kommen Brief Daniels an seinen Bruder: „Das Leben ist zum Kotzen“ jede Menge Punks, die ihn auf ihre Wei-

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wachsenden bestürmen und bedrängen, daß er sich selbst so zum Rätsel werden kann? Daß er, geschehen gut ein Jahr vor seinem Todessprung, nachdem er sich beide Arme aufgeschnitten hat, vom Krankenhaus nach Hause kommt, dort neben seinem Stiefvater seinen leiblichen Vater mit seinem Bruder sit- zen sieht, in sein Zimmer rast, sich die Verbände herunterreißt und das Hemd, mit nacktem Oberkörper in die Küche rennt, sich ein Messer greift und auf die drei verdutzten Männer in der Wohnstu- be losstürmt, drei starke Männer, die den Tobenden kaum bändigen können mit seinen Bärenkräften, bis nach 20 Minuten endlich die Polizei kommt und ihn mitnimmt, im Blick von Nachbars Argusaugen, ungezählte Paare hinter ungezählten Gardinen.

HELLER / ARGUM Punk ist er damals schon, draußen, an der Niha, und äußerlich, mit möglichst

FOTOS: F. verkommenen Klamotten, Springerstie- Höllis Mutter: „Ich habe gewußt, daß er es ernst meint“ feln und Irokesenfrisur. Drinnen, in der Zweizimmerwohnung, wo er in der Re- se verabschieden: Sie werfen leere sie auch davon erzählte, alle versuchten gel noch nächtigt, ist alles beim verhaß- Schnapsflaschen, Spritzen und Tablet- sie damit zu beruhigen, das sei doch ju- ten alten geblieben. Er sieht sich um- tenröhrchen ins offene Grab. gendliche Spinnerei. „Nur ich habe vom stellt von Kinderzimmermöbeln und Daniel kommt aufgewühlt nach Hau- ersten Augenblick gewußt, daß er es Spießertum. se und sagt zu seiner Mutter: „Genau so ernst meint.“ Sein Stiefvater wiederum lehnt, ohne will ich beerdigt werden.“ Folgerichtig beginnt Rosemarie sich um Daniels Inneres weiter zu küm- „Aber du stirbst doch nicht“, entgeg- Mörtlbauer schon damals, im April mern, sein Äußeres „total ab“: „Irgend- net sie erschreckt. „Doch, ich werde 1994, während sie gleichzeitig um sein wie ist das nicht normal in meinen Au- bald sterben“, sagt er ruhig, „ich werde Leben kämpft, Abschied von ihrem gen, weil man überall auffällt.“ keine 18. Das Leben ist zum Kotzen, Sohn Daniel zu nehmen – eine anfangs Das Ehepaar Mörtlbauer unternimmt schau dich doch um in der Welt.“ allein nach innen gerichtete, in aller einen letzten Versuch, den Jungen mit Daß er die Welt mit ihren Kriegen, ih- Heimlichkeit gelebte Haltung, die sich einer versöhnlichen Geste zur Umkehr rem Hunger, ihrer Not für beschissen jedoch vom Augenblick seines Todes an zu bewegen: Sie räumen sein Kinder- hält und „Kapitalistenschweine“, auch ohne weiteres nach außen kehrt und da- zimmer aus und richten ihm ein Jugend- seine Eltern, verabscheut, daraus hat mit öffentlich wird. Sein Zimmer hat sie zimmer ein, mit schwarzen Möbeln, so Daniel keinen Hehl gemacht, seit er sich in eine Art private Gedenkstätte ver- wie er es sich gewünscht hat. für die linksradikale Antifa engagiert. wandelt, in der sie alles aufbewahrt, was Als Daniel sein neues Zimmer sieht, Wie nicht wenige Heranwachsende, ihr von ihm geblieben ist, Reliquien ei- „da hat er einen Luftsprung gemacht“, deren Jugend beim abrupten Übergang nes prominenten Toten. sagt die Mutter. Doch dann kommt, von der Kindheit in das Erwachsenenle- „Die Erinnerung ist das einzige Para- vom Stiefvater, das große Aber, das wo- ben auf der Strecke bleibt, fühlt auch er dies, aus dem wir nicht vertrieben wer- möglich den endgültigen Bruch besie- sich von jenen Menschheitsproblemen gelt: „Verbote, Verbote, Verbote.“ bedrängt, für die auch die Alten keine Von dem Tag an bezeichnet der Junge Lösung haben. Die Phase der Pubertät Zwischen Dosen das Gefühl, das er für seinen Stiefvater erlebt er in einem Zustand, den er selbst und Dreck finden Punks empfindet, nur noch mit jenem Wort, als „versatzstückhaft“ bezeichnete. welches seine Mutter so leidenschaftlich Irgendwie hatte sich die Entwicklung ihre Ersatzfamilie ablehnt: Haß. Er fühle sich wie ein be- der Gedanken von der Entwicklung der trogener Geliebter, hat er der Mutter Gefühle abgekoppelt und umgekehrt, so den können“, haben seine Freunde mit einmal gestanden, die ihm nach der daß er sich in immer verwirrenderen Wi- Filzstift auf das Geländer geschrieben, Trennung von ihrem ersten Mann noch dersprüchen wiederfand. Vier Monate von dem er in den Tod gesprungen ist. versprochen hatte: „Daniel, wir halten vor seinem Tod hat er seinem zehn Jah- Nicht ohne Stolz zeigt Daniels Mutter zusammen. Uns kann kein Mensch auf re älteren Bruder Rainer einen Brief ge- seine erste schriftliche Liebesbekun- der Welt etwas anhaben.“ schrieben, in dem er seine Entwicklung dung her, ein Zettelchen, auf das der Als schließlich Schwesterchen Steffi in poetischer Selbstbeschau analysiert: damals Siebenjährige in ungelenken geboren wird, fühlt sich Daniel vollends „Es war, als würde mein Herz nicht Buchstaben „Das Die liebe nicht ka- abgemeldet: Die Kleine darf alles, und mehr für mich schlagen. Plötzlich war es butghenkan“ gemalt hat. Nichts deutete er darf nichts. Daniel schreibt auf das aus mit der Gedankenlosigkeit, und ich damals darauf hin, daß aus dem aufge- schwarze Holz seines Bettes: „Ich bin ei- mußte handeln. Zu spät; meine Chance weckten, fröhlichen Grundschüler ein- ne Niete“, und später an die Wand dar- war vertan. So zog ich durch die Welt, mal ein so sensibler, so aggressiver und über ein großes M, für Martina, mit ei- und ich dachte und dachte und dachte.“ folglich sich selbst so gefährlicher junger nem Kreis darum, und darunter „for- Das Gerede vom Tod, erinnert sich Mann werden würde. ever“. Seine Mutter aber gerät allmäh- die Mutter, „das kam erst schlagartig an Irgendwann kommt der Tag, von wel- lich genau an den Platz, den sie um je- diesem Abend“, nach der Beerdigung chem an einer alles nur noch falsch ma- den Preis hat vermeiden wollen: zwi- des drogentoten Freundes. Doch wem chen kann. Aber was muß einen Heran- schen Mann und Sohn.

176 DER SPIEGEL 26/1995 Erzählen, stundenlang erzählen ist ih- schläft. „Vielleicht besser so“, sagt Frau der jüngsten, dem kaum eine Erfahrung re Form der Verarbeitung. Heulen kön- Mörtlbauer, „sie wär’ ja hinterherge- fehlt, auch nicht die des freien sozialen ne sie nicht mehr, sagt Frau Mörtlbauer, sprungen.“ Falls: Innerhalb eines Jahres ist er vom „ich habe mich ein Jahr leer geheult“. Martina, die als uneheliches Kind bei Gymnasium über Realschule bis zur Jedes Detail der Chronik eines ange- ihrem Opa aufgewachsen ist, hat an der „Pro-Forma-Hauptschule“ – angemel- kündigten Freitodes bewahrt sie auf, je- Niha wenn nicht eine Heimat, so doch det, aber abwesend – durchgerutscht. der kleinste Hoffnungsschimmer leuch- Halt gefunden. Schon einmal, vor einem „Irgendwie hab’ ich mich Scheiße ge- tet die düstere Erinnerung aus an das Jahr, hatte sich einer ihrer Freunde um- fühlt“, erzählt er die Anfänge seines Jahr, als sie ihren Sohn verlor. gebracht. „Aber da hatte ich ja den Höl- Punkseins, „dann bin ich halt auch jeden Auf seinen Schreibtisch hat sie, neben li.“ Von ihm ist ihr die Lederjacke ge- Tag zur Niha. Hauptthema war Saufen. einer Vase mit weißen Blumen, einer blieben. Sie wird ihr zur zweiten Haut Wenn du dann dicht bist, fällt dir schon roten Kerze und dem Bild des Jungen für die letzten Wochen des Lebens. So irgendwas ein. Hauptsache, du läßt dir eine voluminöse Bibel gelegt, aufge- sitzt sie da, wo er lag, in seiner viel zu von keinem was vorschreiben. Kein’ schlagen im Buch Daniel, Kapitel 10, großen Jacke, im Schneidersitz, den Plan haben, das ist voll geil. Nichts mehr Vers 17, und eine Textstelle markiert: Blick nach vorn gerichtet, ohne Ziel. mitkriegen und dir nächsten Tag erzäh- „Von da an blieb keine Kraft mehr in Vor ihr die Straßenschlucht zwischen len lassen, was du gemacht hast.“ mir, und es ging mir der Atem aus.“ Einkaufspassage, Parkhaus und Nibe- Aber nicht nur Alkohol, auch Tablet- Auf dem Bürgersteig, wo Hölli aufge- lungenhalle, dunkel und grau, ein häßli- ten. Hump, einer der älteren Punks: schlagen ist, sind noch Wachsspuren zu cher Platz für einen häßlichen Tod. Et- „Die Jüngeren nehmen alles querbeet“, sagt er, „vor allem Mädchen von 12, 13, 14. Die fragen nur noch, ob es ein Pu- scher oder Downer ist und fertig.“ „Scheißegal, wie du dich umbringst“, sagt Sascha, „Hauptsache du bist zu.“ So müssen auch Hölli und Martina ge- fühlt haben. Sie waren einander sehr ähnlich: klug und sensibel, ag- gressiv und haltlos. Vielleicht sogar in ih- rer Todessehnsucht. „Er war meine große Liebe und mein bester Freund“, sagte sie. „Ob der Hölli sie am End’ geholt hat?“ fragt sich Rosemarie Mörtlbauer. In seinem Zimmer, gegenüber der Bibel, hat sie drei kleine rote Kerzen in Passauer Punks: „Geschlagen gehört ihr, von der Früh bis auf die Nacht“ Gläschen gestellt und unter seiner bescheide- erkennen. Seine Freunde hatten Kerzen wa 100 Schritte sind es zur Shell-Tank- nen Schallplatten- und CD-Sammlung aufgestellt und Blumen niedergelegt, stelle mit Shop, wo sich die Punks mit auf einem roten Palästinensertuch auf- um seiner auf ihre stille Weise zu geden- legalen Drogen versorgen: Tabak zum gereiht. Das vierte Kerzchen stand ken. „Hölli, wir gehören doch zusam- Selberkurbeln, palettenweise Dosenbier schon lange vor dem Anruf bereit, men“, hatten sie auf den Teer geschrie- oder „Bauernschenke“, Wein in Zweili- durch den sie von Martinas Tod erfuhr. ben. Bei der Passauer Polizei ging, so terflaschen für sechs Mark. Sie hat ja gewußt, daß sie es bald wür- ein Sprecher, „eine Vielzahl von Anru- Gut 50 Schritte in die andere Rich- de anzünden müssen. Bei Mutter fen“ ein mit dem Ziel, „diesem Treiben tung liegt der Ort des Passauer Ansto- Mörtlbauer gehören sie zusammen, die Einhalt zu gebieten“. Anderntags waren ßes, jene Fläche am Ende der Treppe, Toten von Passau. Kerzen und Blumen zertreten. wo zwei große blaue Mülleimer an die Das Verknüpfen der Todesfälle zu ei- Lange sitzt an dieser Stelle schwei- Säulen geschraubt sind, wo dennoch ner schrecklichen Serie, wie es Rosema- gend Martina auf der Bordsteinkante, mitunter Dosen, Dreck und Glasscher- rie Mörtlbauer mit ihren Kerzen und in als die Verzweiflung nachläßt und das ben herumliegen und wo viele der ihrem Herzen tut, einer Serie, deren Entsetzen einsetzt. Zuerst hat sie noch Punks, auch wegen des „Chaos“, so et- Ende womöglich noch nicht erreicht ist, auf dem Boden gelegen, hemmungslos was wie eine Ersatzfamilie und die ein- stößt vor allem bei der örtlichen Polizei geschrien und mit allen vieren um sich fachste Version eines Zuhause gefunden auf Widerspruch. geschlagen. Dann hat sie gesessen und haben. Was ist denn schon passiert in Passau? gestarrt und getrunken und getrauert. „Seit zwei Jahren gehe ich zur Niha“, Polizeirat Alois Mannichl, zweiter So getrunken hat sie, daß sie später sagt Sam, 14 Jahre alt, „so lange habe Mann in der Direktion an der Nibelun- nichts mehr weiß von jenen Trauerta- ich noch nie irgendwo hingehört.“ Ein genstraße, glaubt, da werde „viel hin- gen, daß sie sogar Höllis Beisetzung ver- blasses, leicht pickliges Kerlchen, einer eininterpretiert“. Daß sich ein 16jähri-

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TITEL

ger zu Tode stürze, das komme bedau- Ähnlich wie bei Kindesmißbrauch heiße den Punks schnell als wahlkampftakti- erlicherweise vor. Daß zeitgleich ein an- es schlicht, so etwas gibt es hier nicht. sches Geplänkel enttarnt: Nächstes Jahr derer an einer „Überdosis Betäubungs- Nur so lasse sich verstehen, daß jahre- ist Bürgermeisterwahl, da muß das Pro- mittel“ sterbe, müsse als Zufall angese- lang nichts passiert sei: kein autonomes blem weg, egal, wie, aus dem Stadtbild, hen werden. Von Selbsttötungsabsicht Jugendzentrum, keine Teestuben für aus dem Sinn. könne ja nicht die Rede sein. Beim Drogenabhängige, kein Streetwork. Allem Abwiegeln zum Trotz sieht sich Selbstmord mit der Pistole sei anderer- Die Infrastruktur für die Fremden ist auch die Passauer Polizei zum Handeln seits ein Abschiedsbrief gefunden wor- zwar vorbildlich. Nur die eigene Jugend, gezwungen: Kürzlich wurde die Order den, in dem nicht eine Zeile über die im Vakuum zwischen den Vorzügen des ausgegeben, jeden Jugendlichen, der beiden vorangegangenen Todesfälle zu Kindseins und den Privilegien des Er- mit Selbstmord droht, sofort aufzugrei- lesen war. Und Martina K.? Nun, das wachsenseins, ist über all der tüchtigen fen und in die Psychiatrie zu schicken. sei doch wohl eindeutig ein Verkehrsun- Entwicklung vergessen worden. Wer Die Notbremse Klinik hat Andrea F., fall mit Todesfolge gewesen. kein Geld hat für Spielhöllen oder Knei- die Mutter des 14jährigen Sam, bereits Martina ist nach einer Saufparty vor pen, trifft sich in Parks, Passagen oder gezogen: Als der Junge nach Höllis Tod der Nibelungenhalle mit Adi, 18, auf die unter irgendwelchen Dächern. so zugedröhnt nach Hause kommt, „wie andere Seite des Inn gegangen, um in ei- Und welchen Sinn mache es, fragt ich noch nie einen Menschen gesehen nen Nachbarort zu trampen. Er läuft am Tischlinger, Selbstmorde zu Unfällen habe“, da traut sie ihm alles zu. Kaum rechten Straßenrand, sie auf der Mitte umzuwidmen? So etwas falle doch nur ist er wach, zieht er wieder los, will zu der Straße. Es ist schon nach drei, die Schreibtischtheoretikern ein, die nichts seiner Freundin nach München. Die Laternen sind ausgeschaltet. Als endlich als saubere Statistiken im Kopf haben. Mutter ruft die Polizei, die ihn am ein Auto kommt, versucht Adi sich ihm „Suizidgefahr und Suizidgedanken sind Bahnhof einfängt. Vor die Wahl Heim in den Weg zu stellen, die Fahrerin unter Drogenabhängigen gang und gä- oder Krankenhaus gestellt, entscheidet weicht aus. „Dann habe ich nur noch ei- be“, auch bei denen, die Alkohol, „die sich Sam für die Psychiatrie. nen Knall gehört, mich umgedreht und Droge ihrer Eltern“, nehmen. Martinas Eine Lösung sei das aber nicht, sagt gesehen, wie ein Körper durch die Luft Tod sei als „konsequenter Suizidunfall“ sie. „Ich bin kurz davor aufzugeben“ – geschleudert wird“, sagt Adi. zu verstehen. und zwar nicht nur, weil er ihr anfangs gedroht hat, „wenn du mich nicht abholst, bring’ ich mich um“. Angesichts der „Todes-Se- rie“ verspüren Jugendliche plötzlich eine ungezügelte Macht über Erwachsene. Und diese bekommen es mit der Angst zu tun. Sie fühlen sich gegenüber dem Nachwuchs machtloser, als sie es sich je vorstellen konnten. Frau F. hat Hinweise aus der Niha-Szene, daß es geheime Absprachen unter den Jugend- lichen gibt: „Die kannten sich doch alle“, sagt sie. Matthias, der sich erschoß, hat wochen- lang bei Hölli im Zimmer ge- schlafen. Hölli seinerseits hat des öfteren bei Hans-Jürgen, dem sogenannten Drogento- ten, genächtigt. Doch immer, wenn Andrea

HELLER / ARGUM F. ihren Sohn Sam oder dessen Freunde bittet, „sag’ mir, was

FOTOS: F. ihr dem Hölli versprochen Beerdigung von Martina K.: „Nur die Besten sterben jung“ habt“, stößt sie auf Schulter- zucken oder Abwiegeln. „Straßenkinder von Passau“ nennt Am Tag vor Fronleichnam scheint die „Einzeln sind das die liebsten Men- Psychologe Bernhard Tischlinger die „Todes-Serie“ auch den Vertretern des schen“, sagt sie, „aber in der Gruppe, Kids der Niha-Clique. Der Drogenbera- Jugendamtes nicht mehr ganz geheuer zu da sind sie nicht aufzuhalten.“ Sie spüre ter bei der Psychosozialen Beratungs- sein. Sie laden die Niha-Kids ins „Zeug- den Sog regelrecht: „Da kann ich nur und Behandlungsstelle der Caritas be- haus“ ein. Das Jugendzentrum hätte so zuschauen.“ Mag ja sein, daß sie keinen klagt laut die „Ungeheuerlichkeit“, etwas wie deren Lebensbereich werden Plan fürs Leben haben. Aber vielleicht durch schlichtes Leugnen eines Zusam- können. Doch bald nach der Einweihung haben sie einen für den Tod. menhangs zwischen den Todesfällen den wurde es gesäubert von Punks und Auto- Bernhard Tischlinger wird nicht mü- Skandal verniedlichen, das Unglück so- nomen und zum kommerziellen Veran- de, vor neuen Selbstmorden zu warnen. zusagen durch Auflösen in vier Einzel- staltungsraum aufgemotzt. Auf acht bis zehn könnte die Zahl der fälle ungeschehen machen zu wollen. Sogar der 2. Bürgermeister Karl Abe- Toten zum Jahresende ansteigen, wenn Selbst angesichts vier Toter versuch- lein (SPD) ist gekommen. Seine kum- nichts geschehe. Kürzlich habe eins sei- ten Politik und Polizei, mit der Szene so mer- und verständnisvolle Miene und Re- ner „Straßenkinder“ gesagt: „Vier Tote, vertraut wie Rentner mit Raves, eine de – „ich finde das überhaupt nicht ja, so was hatte ich erwartet. Aber ich Art „Passauer Linie“ durchzuhalten: schlimm, wie ihr ausschaut“ – wird von hatte mit vier anderen gerechnet.“

178 DER SPIEGEL 26/1995 Tischlinger weiß um die Folgen von seher, schmeißt alles herum, was ihm in Schritt, wenn sie vorbeikommen. Man- „Heroisierung“: Hölli, zu Lebzeiten ei- die Finger kommt. Sein Stiefvater ver- che schimpfen lauthals: „Geschlagen ge- ne Art Leitfigur unter den Jugendli- sucht, den Tobenden durch Anbrüllen hört ihr, von der Früh bis auf die chen, ist nach seinem Todessturz ihr zur Ruhe zu bringen. Der schlägt ihn Nacht.“ Es gebe nicht wenige in der heimlicher Held geworden. „Der Höl- daraufhin nieder und tritt mit seinen Stadt, sagt Psychologe Tischlinger, die li“, sagt Trixie, „ist irgendwie heiligge- schweren Stiefeln nach ihm. Die Mutter das Problem am liebsten auf die „ele- sprochen.“ Immer wieder höre sie: „Das schließt sich im Schlafzimmer ein mit gante Weise“ lösen würden: „Laßt doch machen wir ihm nach, das ist cool. Die- der kleinen Stefanie, die immer nur die sich umbringen, dann ist a Ruah.“ sen Sommer stürz’ ich mich vom Park- schreit: „Jetzt ist er nicht mehr mein lie- Acht Tage nach ihrem Unfall wird haus.“ Wichtigtuer? In der Nacht, als ber Daniel.“ Und während sie aus dem Martina K. beigesetzt. Die Sonne Fenster die gaffenden Nachbarn anfleht: scheint, schon zu dieser Morgenstunde „Bitte, bitte ruft’s die Polizei“, traktiert herrscht sommerliche Hitze. Vor der „Laß mich los, er seinen Stiefvater weiter mit Tritten. Abschiedskapelle haben sich Verwand- dann verschwind’ ich „In letzter Verzweiflung“, berichtet te, Schulkameraden und Freunde ver- Herr Mörtlbauer, „krieg’ ich die Kette sammelt. Auch die Jugendlichen aus der für immer“ zu fassen, die er um den Hals trug. Da Niha-Clique sind gekommen, obwohl habe ich richtig festgehalten und umge- Martinas Familie versucht hat, den Be- Martina verunglückte, hat die Polizei dreht, und auf einmal hat er gesagt: gräbnistermin geheim- und die Punks die Punks Major und Maurer vom Dach ,Laß mich los, dann verschwind’ ich für von der Beerdigung fernzuhalten. der Nibelungenpassage geholt. immer.‘“ Bei deren Anblick geht unter den „Wir wollten runterspringen“, sagt Nachdem er noch alles zertrümmert, Verwandten kurz ein Gezischel und Ge- Major, „weil wir es nicht mehr gepackt was ihm in die Quere kommt, zieht Höl- raune über „die Wilden“ los: „Genau haben mit Hölli und alles.“ Maurer war li von dannen. Seine Mutter schaut ihm das hat sie vermeiden wollen“ – „eine an diesem Tag völlig aufgelöst aus hinterher, wie er mit dem Fernseher un- Schande ist das“ – „nicht einmal hier Straubing nach Passau gekommen. Er term Arm weggeht. können die sich ordentlich aufführen“. zitterte und weinte und sagte immerfort: Hätte sie ihn vielleicht noch retten Rosemarie Mörtlbauer steht bei den „Ich kenn’ mich nicht mehr aus. Ich können, wenn sie ihm das Geld gegeben Gescholtenen, die ruhig zuhören und kenn’ mich nicht mehr aus.“ Seine hätte? Das Geld, das er fünf Tage vor die Köpfe hängen lassen. Der Pfarrer Freundin hatte sich in Straubing von ei- seinem Todessprung von ihr forderte, hält eine knappe Predigt. Pflichtschul- ner Brücke gestürzt. „Und ich mag den als sie ihn zum letztenmal lebend sah? dig murmelt die Trauergemeinde mit: Maurer“, sagt Major, „da bin ich ein- Sie hatte sich den Rat der Selbsthilfe- „Beim Herrn ist Barmherzigkeit.“ fach mit.“ gruppe zu Herzen genommen: Wenn du Schließlich sagt der Pfarrer: „Für sie ist Und Hölli? Hatte der nicht auch Hel- ihm Geld gibst, kauft er sich am Ende die Zeit der Pilgerschaft zu Ende.“ den, denen er es gleichtun wollte? Ob noch harte Drogen, und nein gesagt. Martinas Freunde sind die letzten am aus Pop- oder Terrorszene: Stets waren Nun will sie tätige Reue leisten, geht Grab. Schweigend schauen sie den To- Tote, Selbstmörder seine Idole. Gudrun täglich zur Clique, was sie zu Höllis Leb- tengräbern bei ihrer Arbeit zu. Dann Ensslin, Jim Morrison oder Kurt Co- zeiten nie geschafft hat: „Der Daniel hat ziehen sie zurück durch die Stadt zur Ni- bain, sie fanden Platz in seiner Ehrenga- immer gesagt, du mußt was machen. belungenhalle. Die dortige Geschäfts- lerie, für die er ein Heft angelegt hatte. Und jetzt mach’ ich was. Und wenn ich führung hat die Gunst der Trauerstunde Er zeichnete ihnen Grabsteine, und auf nur zuhöre oder einfach präsent bin vor genutzt, um die Treppe säubern und mit die Grabsteine schrieb er immer densel- der Niha, um den Leuten zu zeigen, das Gittern absperren zu lassen. ben Namen: seinen eigenen. sind Menschen, das sind Kinder.“ Einen Augenblick lang stehen die „Nur die Besten sterben jung“ – wie Die andere Perspektive will sie ken- Punks ratlos vor der Absperrung. Dann oft hat er diesen Spruch mit James- nenlernen: Viele Passanten schütteln sagt einer: „Zäune sind dazu da, daß Dean-Appeal wiederholt. So träumen nur den Kopf oder beschleunigen den man über sie steigt.“ Y junge Selbstmörder vom Augenblick des Todessprunges, vom Abdrücken des Revolvers – wenn die große Freiheit und die endlose Gefangenschaft endlich in- einanderfließen und sich auflösen. „Er hat halt einen Kult drum ge- macht“, sagt Ghostl, „es wird noch mehr geben.“ Hölli, der unheilvolle Provinzhero, dem sie nacheifern, denn sie wissen nicht, was sie tun? Kaum ein schlimme- rer Gedanke für Rosemarie Mörtlbauer: Mit jedem Todesfall lastet schwerer auf ihr die Schuld. Sie hat die Lawine losge- treten, glaubt sie, „weil ich mich mei- nem Mann gegenüber nicht so durchge- setzt habe, wie ich das hätte tun sollen“. Doch manchmal war es auch schwer, auf Höllis Seite zu stehen. Am 5. April gegen neun Uhr, gut drei Wochen vor seinem endgültigen Ab- sturz, läutet Hölli das letztemal zu Hau- se. Als er schwer angetrunken die Woh- nung betritt, rastet er sofort aus. Er springt in sein Zimmer, packt den Fern- Abgesperrter Punk-Treff in Passau: „Verbote, Verbote, Verbote“

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KULTUR

Werbung „NICHT WIEDER DIESER DRECK“ Der Jury-Vorsitzende der Werbefestspiele in Cannes, Frank Lowe, über die Krise der Reklame A. PACZENSKY / ZENIT Lowe (M.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Die Werbung hat ein großes Problem – die Leute können ihr entkommen“

SPIEGEL: Wie viele Werbespots haben Lowe: Keine großen Ideen, wenig Krea- eine sehr sanfte, charmante Kultur des Sie in dieser Woche gesehen? tivität, fleißiges Handwerk, und wenn Verkaufens. So, wie es gute Vertreter Lowe: Hier laufen 4210 Commercials. du nicht Englisch sprichst, hast du so- machen: nicht rumbrüllen, sondern fra- SPIEGEL: Ist es Strafe oder Ehre, im wieso verloren. gen – wie geht’s der Frau? Hat der klei- Festival-Palast zu sitzen und sich von SPIEGEL: Ist Werbung inzwischen so in- ne Sohn seine Prüfung bestanden? Werbung zuschütten zu lassen? ternational, daß man australische Spots SPIEGEL: Klingt nach einem amerikani- Lowe: Sowohl als auch. In den Mo- nicht mehr von holländischen unter- schen Gebrauchtwagenhändler. menten der Erschöpfung denke ich scheiden kann? Lowe: Nein, nein, Amerikaner in der daran, daß dies die besten fünf Prozent Lowe: Die Holländer lachen über Din- Werbung treten gerne die Tür ein. Da aller Spots sind, die im letzten Jahr auf ge, über die nicht mal wir Engländer la- kommt einer nach dem anderen auf den dieser Erde gezeigt wurden. Schlim- chen können. Die Franzosen wollen im- Bildschirm und brüllt: „Hallo, hast du mer muß es sein, im Wohnzimmer je- mer surreal sein, der italienischen Wer- Hämorrhoiden? Well, dann kauf das.“ den Abend die restlichen 95 Prozent bung merkt man an, daß jeder zweite Oder: „Hallo, dieses Auto ist heute bil- zu gucken. Auftraggeber im Gefängnis sitzt, japani- liger als gestern.“ Und selbst wenn die SPIEGEL: Sie haben Spots aus 63 Län- sche Spots versteht man gelegentlich Menschen in den Spots nichts sagen, dern gesehen. In Werbung spiegelt nicht mal mit englischer Übersetzung. weißt du, oh, das ist wieder ein US- sich die Gesellschaft – was haben Sie SPIEGEL: Und die englischen Spots se- Spot. Die Models haben alle diese blen- über den Zustand der Welt erfah- hen oft so aus, als versuche sich Monty dend weißen Zähne, kommen aus dem ren? Python als Werbefilmer. Mittelwesten und sollen so aussehen wie Lowe: Wir Engländer werden nicht ger- Cindy Crawford. * Mit Redakteuren Cordt Schnibben und Thomas ne angeschrien, und verprügeln lassen SPIEGEL: Hier in Cannes laufen doch je- Hüetlin im Palais du Festival in Cannes. wir uns schon gar nicht. Es gibt bei uns de Menge Spots, die sind so austausch-

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bar, daß man nicht mehr drücke in den Hirnen der sagen kann, wo die laufen. Fernsehzuschauer. Coca-Cola, Levi’s . . . Lowe: Das überrascht Lowe: Mit Coke und Marl- mich. Soviel? Wenn ich in boro und Levi’s kaufen Sie New York mit einem Jetlag ein Stück Amerika. Des- im Hotel sitze, ein Bier und halb sehen diese Kampa- ein Sandwich neben mir, gnen auch auf der ganzen und noch nicht wirklich Welt gleich aus. Aber für müde bin, dann stelle ich viele andere Produkte wäre oft den Fernseher an und diese Art der globalen schaue zwei, drei Stunden. Werbung der Untergang, Und am nächsten Morgen für Autos zum Beispiel. Da kann ich mich an keinen haben die Deutschen, Bri- einzigen Spot mehr erin- ten und Italiener eine abso- nern. Es gibt zuviel Wer- lut unterschiedliche Auf- FF-COMPANY bung, und das meiste ist fassung. In England ist ein langweilig, nicht zum Aus- Auto etwas, das man po- Deutscher Festival-Beitrag „Fido“*: „Blendend weiße Zähne“ halten. Wenn jetzt Walt liert und wäscht und im Disney und Warner Bro- Herzen trägt. In Deutschland ist es ein Lowe: Das geht nicht soschnell. Wenn Sie thers sagen, unsere Filme geben wir nur Zeugnis von Prestige und Ingenieurs- kluge, witzige, kreative TV-Werbung noch in Kinos, in denen keine Werbung kunst, na ja, und inItalien istes etwas, das wollen, brauchen Sie eine Generation läuft, dann ist das alarmierend. gefahren wird wie eine Rakete. von Leuten, die mit dem Privatfernsehen SPIEGEL: Was wollen Sie dagegen ma- SPIEGEL: Warum sind deutsche Spots oft groß geworden sind. In den letzten 25 chen? so trostlos langweilig; in diesem Jahr Jahren habe ich mit 5000 Fernsehspots zu Lowe: Gute Spots. Ich guck’ im Fernse- schnitten sie bei diesem Festival so tun gehabt: Man muß erst mal 500 ge- hen auch lieber einen Spielfilm durch, als schlecht ab wie nie zuvor. macht haben, ehe man versteht, wie die ihn von langweiligen Klopapier-Film- Lowe: Ichhabe heute morgen beim Rasie- Sache funktioniert. Wieviel Kreative gibt chen und Damenbinden-Spots unterbre- ren über diese Frage nachgedacht und es in Deutschland, die 500 Spots gemacht chen zu lassen. mich fast geschnitten. Ich glaube nicht an haben? SPIEGEL: Die Leute flüchten vor der dieses Gerede, die Deutschen hätten kei- SPIEGEL: Dieses Jahr ist es in Cannes so Werbung, und die Werber setzen ihnen nen Humor, und darum müsse die deut- wie in den Jahren davor: Immer mehr nach: Sie senden denselben öden Spot so sche Werbung ernst, informativ, fakten- Spots veralbern Werbung und Produkte. oft, bis ihn auch der größte Zapper gese- reich und zwangsläufig sehr, sehr lang- Ist Werberspott die letzte Chance der hen haben muß. weilig sein. Mein ehemaliger Kompagnon Werber, noch irgend jemand da draußen Lowe: Genau das schürt den Haß auf in Deutschland, Walter Lürzer, jetzt Pro- zu erreichen? Werbung, diese Anbrüllerei der Leute, fessor in Wien, hat mir immer gesagt, du Lowe: Humor und Selbstironie helfen, die grauenhafte Geldverschwendung. kannst keine großartige Fernsehwerbung aber tatsächlich hat die gesamte Branche Mit noch soviel Geld, mit noch so dicken machen in Deutschland, es fehlen die ein großes Problem, und das wird in den Riesenetats kann man keine Wirkung er- Denker und dieMacher. Vergast und ver- nächsten zehn Jahren ein riesengroßes zielen, wenn der Spot dem Zuschauer auf trieben. Von diesem Verlust an kreati- Problem werden: Die Leute sind durch die Nerven geht. vem Talent hat sich das Land nie erholt, die Fernsehwerbung angeödet. Und SPIEGEL: Das jährliche Welt-Werbe- zudem in der Werbung lange so etwas ge- dank der Fernbedienung können sie ihr Budget ist auf 200 Milliarden Dollar an- sehen wurde wie die Fortsetzung dessen, entkommen. 40Prozent der Briten schal- gewachsen. Der französische Werber was bei Goebbels Propaganda hieß. ten um, wenn Werbung kommt. und Mitterrand-Berater Jacques Seguela SPIEGEL: Aber in den achtziger Jahren ist SPIEGEL: In Deutschland rennen vier von spricht vom „dritten Weltkrieg“ um die „Werber“ ein begehrter Job geworden, zehn Zuschauern aus dem Raum, und Hirne der Konsumenten. hat nichts mehr zu tun mit „geheimen fünf schalten um. Von 100 gesendeten Lowe: Ja, in einem Land wie den USA Verführern“. Spots hinterlassen nur 3 meßbare Ein- wird der Mensch von Reklame bombar- diert. Wo immer Sie atmen, ist Werbung. Selbst wenn Sie den Fernseher abstellen Goldene Löwen aufgestiegen, gilt nicht erst seit letz- und das Radio ausmachen und aus den ter Woche als Streiter für mehr Krea- Städten flüchten, sind Sie von Werbung für schöne Anzeigen und Plakate gab tivität und Phantasie in der Wer- umzingelt, kilometerlang riesige, häßli- es diesmal nicht bei den Werbefest- bung. che Tafeln, unvorstellbar häßlich. Wir spielen in Cannes. Die Jury fand die Gerade deutsche Reklame fand vor sollten den Leuten das nicht antun. Reklame des Jahres so langweilig, seinen Augen und denen der Jury we- SPIEGEL: Muß Werbung nicht immer auf- daß sie die renommierten Auszeich- nig Gnade: Von den 36 für Anzeigen dringlich sein? nungen nicht vergab und für Tumulte und Plakate vergebenen silbernen Lowe: Werbung soll bei den Leuten vor unter den über 5000 Abgesandten und bronzenen Löwen ging keiner an allem einen Eindruck hinterlassen: Dan- der Weltwerbung sorgte. Das Urteil Deutschland, und bei den Werbefil- ke, das war eine hübsche Erfahrung, vie- über die weltweite TV-Spot-Produktion men schnitten die Deutschen in der len Dank. Anstatt: O nein, nicht schon fiel Ende letzter Woche ähnlich ver- Vorauswahl schlechter ab als Thai- wieder dieser Dreck, den ich so sehr has- nichtend aus: Der Grand Prix wurde land, Uruguay und das Werbeentwick- se. nicht überreicht. lungsland Rußland. In der Abschluß- SPIEGEL: Sorry, was ist das, „eine hüb- Jury-Präsident Frank Lowe, vom Lauf- gala fiel nur einer von 90 Löwen an sche Erfahrung“? burschen in einer Londoner Agentur die Deutschen, ein bronzener – die Lowe: Wenn ich jetzt mal eben, sorry, zum Chef seiner eigenen Werbekette schlechteste Ausbeute, seit es das werben darf für die Arbeit meiner Agen- (Jahresumsatz: 2,5 Milliarden Dollar) Festival gibt. * Spot für die „Gelben Seiten“.

DER SPIEGEL 26/1995 181 KULTUR tur – eine hübsche Erfahrung ist es, wollen ihre Waschmittel, Gebißreiniger nur warum Magritte diese Äpfel vor die wenn Sie putzige Tiere zeigen in einem und Unterhosen loswerden. Köpfe der Leute malte, das weiß ich bis Spot und sagen, daß Sie versuchen, die Lowe: Doch sie werden sie nur noch los, heute nicht. Also, sagte ich, machen wir Abgase zu reduzieren und dazu Louis wenn sie die Käufer nicht länger wie es wie Magritte, machen wir eine Kam- Armstrong „What a wonderful world“ Idioten behandeln. Der Konsument, das pagne, die absolut kein Mensch be- singen lassen. Erinnern Sie sich an den hat schon David Ogilvy gepredigt, ist greift, und heraus kam diese surreale Spot? deine Frau – würden Sie der ins Ohr Benson & Hedges-Werbung. Als wir da- SPIEGEL: Ja, war der für Shell? brüllen: Hey, ich bin Frank Lowe, ich mit zur Prüfstelle mußten, fragten die: Lowe: Nein, für Opel. bin ein Supertyp, ich bin ein Supertyp, „Was soll das denn bedeuten?“ Und wir SPIEGEL: Tatsächlich? ich bin toll, los, gib mir dein Geld? sagten: „Überhaupt nichts.“ Deswegen konnten sie uns nicht wieder nach Hau- se schicken, und deswegen sieht heute in England jede Zigarettenwerbung so aus. SPIEGEL: Und seitdem halten Sie sich für den Magritte der Werbung? „Hey, ich bin ein Supertyp, los, gib mir dein Geld“

Lowe: Um Himmels willen, nein. Wer- bung führt keine kulturellen Trends an, sie ist selten originär, sie klaut, sie ko- piert, aber sie mischt Musik, Film und Kunst zusammen, auch darin liegt ihre Kreativität. SPIEGEL: Ist Werbung Kunst? Britische Bier-Reklame: „Große Werbung ist nie besonders logisch“ Lowe: Nein, nicht im klassischen Sinne, aber wenn sie verkaufen will, muß sie Lowe: Das ist sehr enttäuschend. Im- SPIEGEL: Haßt Ihre Frau Ihre Spots? kunstvoll sein. merhin erinnern Sie sich an den Spot. Lowe: Meine Frau ist in Texas aufge- SPIEGEL: In den sechziger Jahren wurde SPIEGEL: Eigentlich mehr daran, daß wachsen, sie gehört zu den bedauerns- Werbung verteufelt, heute hat man gele- Louis Armstrong danach wieder in den werten Leuten, die schon mit 18 Jahren gentlich den Eindruck, sie wird überhöht Charts war. Was antworten Sie Wer- ein paar Millionen Spots intus haben. und überschätzt, weil sie omnipotent ist. bern, die sagen: Wir wissen, daß dieser Sie ist voll, sie mag nicht mehr, aber die Ist Werbung möglicherweise nicht mehr Spot häßlich ist, aber er verkauft wie Kampagne für Benson & Hedges findet als ein kleines milliardenschweres Mar- verrückt? sie gut. ketinginstrument – und sonst nichts? Lowe: Das ist nur eine Ausrede von SPIEGEL: Ist das die, die keiner be- Lowe: Werbung hat großen Einfluß auf Agenturen, die nichts Besseres können. greift? unsere Kultur. Sie schafft Wünsche, sie Das sind dieselben, die behaupten, sie Lowe: Damals gab es ein Gesetz, das uns beeinflußt die Art, wiewirreden, waswir seien nicht interessiert, Preise für ihre verbot, Anzeigen zu machen, die das schön finden, wie wir uns anziehen, und Kreativität zu gewinnen. Die Werbung Rauchen mit finanziellen, sexuellen sie beeinflußt unser Verhalten. Manch- muß heute wieder ganz von vorne an- oder irgendwelchen anderen Erfolgen in mal zum Guten. fangen. Die Frage „werden die Leute, Zusammenhang brachten. Wir standen SPIEGEL: Sie bringt uns zum Rauchen? nachdem sie den Spot gesehen haben, also ziemlich blöd da. Na ja, und dann Lowe: Humphrey Bogart hat mehr fürdas das Produkt kaufen?“ gibt es doch so war ich auf der Magritte-Ausstellung in Rauchen getan als der Marlboro- gar nicht mehr. Die Frage muß heißen: New York, die mir ziemlich gut gefiel, Cowboy. „Hat Ihnen der Spot überhaupt gefallen?“ Und wenn nicht, dann ist hier schon Ende, dann sind wir schon erledigt. Was würden Sie von einem Archi- tekten halten, der sagt, na gut, mein Haus ist häßlich, aber im- merhin, es regnet nicht rein, und es fällt nicht um? Architek- ten bestimmen das Bild unserer Städte, Werber bestimmen das Bild der Medien und der Öf- fentlichkeit, siehaben eine Ver- antwortung – nicht nur dem Geld ihrer Auftraggeber gegen- über. SPIEGEL: Aber die Unterneh- men zahlen doch nicht Millio- nen, um den Konsumenten Ge- schmack, Stil, Humor und gute Laune aufzuschwatzen, die Preisgekrönte Lowe-Anzeige: „Machen wir eine Kampagne, die kein Mensch begreift“

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SPIEGEL: Das amerikanische umpumpen. Kurz vor Ladenschluß sagt Werbegenie Howard Gossage er dann entschieden: Dad, laß uns die sah in der Werbung die neben von Nike nehmen. Was mich natürlich dem Jazz einzige Kunstform sehr enttäuscht, weil wir in England für amerikanischen Ursprungs. Reebok werben. Aber, na ja, er lebt ja Lowe: Oh, ich dachte immer, in Mailand. die wichtigste kulturelle Erfin- SPIEGEL: Gibt es Werbung, die Sie vor dung der Amerikaner sei es, in Ihren eigenen Kindern verstecken? Los Angeles an einer roten Lowe: Nein, weil ich denke, daß Kinder Ampel rechts abbiegen zu dür- keine Idioten sind, sondern ziemlich fen. Nein, die Anfänge der klug. Ich glaube auch nicht, daß Kinder Kunst der Werbung sehe ich aufhören, Schokolade zu essen, nur weil am Beginn des Jahrhunderts, sie keine Werbung mehr darüber sehen. in den wundervollen Werbe- SPIEGEL: Wie wird die Werbung im plakaten der Pariser Künstler nächsten Jahrtausend aussehen, wie die Mucha, Che´ret und Steinlen. von Benetton? Amerikaner haben später be- Lowe: Ich finde, die Werbung hat kein wiesen, daß man etwas damit Recht, ihre Produkte in den Zusammen- verkaufen kann. Gratuliere! In hang mit riesigen sozialen Problemen zu den fünfziger und sechziger bringen. Außerdem, fürchte ich, wird es Jahren haben amerikanische nicht funktionieren. Es gibt keinen Zu- Werber großartige moderne sammenhang. Und der Skandal, den Kampagnen kreiert, die für solche Aktionen verursachen, rechnet Volkswagen zum Beispiel. Ein sich im Endeffekt auch nicht. Moral, Mann, der durch den dicksten schön und gut – aber was hat ein Laden, Schnee zum Schneepflug fährt, der Blusen und Socken verkauft, mit und eine Stimme fragt: Haben Moral zu tun? Sie sich schon mal überlegt, wie ein Schneepflugfahrer zu seinem Schneepflug fährt? Ich „Es tötet Bakterien. bin damals in die USA gegan- Es schmeckt gut. gen, so sehr hat mich dieser neue, intelligente Ton in der Großartig!“ Werbung beeindruckt. SPIEGEL: Hat Sie nicht das SPIEGEL: Trotzdem versucht heute jede schlechte Image der Werbung zweite Bank als Hort der Menschlich- abgeschreckt? keit zu erscheinen, jeder Bohrturmver-

Lowe: Was für ein schlechtes BBDO senker als Umweltschützer, jeder Pull- Image? overfabrikant als Träger der Aufklä- SPIEGEL: Gab’s da nicht die- Preisgekrönter britischer Volvo-Spot rung. Ist Moral ein guter Verkäufer? sen schönen Spruch: „Bitte er- „Wir Engländer lassen uns nicht gern anschreien“ Lowe: Nur wenn das Produkt eine Moral zählen Sie meiner Mutter hat. Für einen Supermarkt, der recycel- nicht, daß ich in einer Agentur arbeite. die Kinder? Habe ich eine Rente, wenn te Waren anbietet, werben wir natürlich Sie denkt, ich sei Pianist im Puff.“ ich alt werde? Ist meine Mutter krank? mit grünen Anzeigen. Ich habe über- Lowe: In England hatte Werbung seit Die Leute, die wirklich glauben, sie haupt nichts gegen solche schönen den sechziger Jahren ein wunderbares können den Menschen ernsthaft einre- Überhöhungen, aber sie müssen zum Image. Damals war Werbung ein Teil den, es sei wichtig, für welchen Schoko- Produkt passen. Sonst macht man sich der Swinging Sixties – junge Menschen, riegel sie sich entscheiden, haben, und lächerlich. die sich amüsieren wollten und die das meine ich ganz ernst, völlig den Ver- SPIEGEL: Braucht man Moral, um Ju- mit ihren Ideen Pop produzierten. Es stand verloren. Heineken erfrischt Sie gendlichen noch etwas verkaufen zu war eine kulturelle Umwälzung – die da, wo andere Biere nicht hinkommen – können? Beatles, Donovan, Bailey –, und Wer- ist das nicht eine vorbildlich ehrliche Lowe: Soll ich Ihnen was sagen? Ein gro- bung war ein Teil davon. Vor allem war Zeile? ßer Kunde in den USA hat eine große es ein Riesenspaß. SPIEGEL: Hm. Vielleicht vorbildlich un- Untersuchung gemacht. Diese besonde- SPIEGEL: Haben Sie nie gedacht: Hey, logisch? ren Konsumenten gibt es gar nicht – kei- ich verschwende meine Kreativität, ich Lowe: Große Werbung ist nie sehr lo- ne Spur von Generation X und ihren an- verbringe mein Leben damit, mir Ge- gisch. Sie bringt im Kopf etwas zum geblichen Eigenarten. Trotzdem haben danken über Waschmittel und Zahnpa- Schwingen, wo Reklame nie hinkommt. die jüngeren Konsumenten enorm hohe sta zu machen. Nehmen Sie die Jugendlichen. Sie lassen Ansprüche an Werbung, die wissen viel Lowe: Mich stört etwas ganz anderes: sich nicht rumschubsen, sind skeptisch über Werbung, die sind überfüttert, die Vor allem in den achtziger Jahren ist mir und zynisch und natürlich überkritisch, sind skeptisch. Sie wissen, daß du ihnen das Geschäft entschieden zu ernst ge- was schlechte Werbung angeht. Für jun- etwas verkaufen willst, also red nicht worden. Ich meine, Werber haben sogar ge Menschen gibt es da nur zwei Kate- drum herum. aufgehört zu trinken. Werbung ist keine gorien: großartig oder superschlecht. SPIEGEL: Immer mehr Zeitschriften ver- ernste Sache. Wenn man sich einmal so Das interessiert mich, oder das interes- mischen Werbung und Journalismus, ein Menschenleben ansieht, ist es doch siert mich überhaupt nicht, während Er- viele Artikel sind nicht mehr als getarn- egal, ob einer ein Carlsberg trinkt oder wachsene immer versuchen, den Mittel- te Reklame. „News to use“ heißt das ein Heineken. Das ist doch keine Ent- weg zu finden. Mein zehnjähriger Sohn dann – zur Freude der Werber? scheidung. Jedenfalls nicht so eine wich- kann stundenlang im Geschäft Turn- Lowe: Wenn auf Dauer nur noch un- tige wie: Auf welche Schule schicke ich schuhe anprobieren und an ihnen her- glaubwürdige Zeitschriften herauskom-

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men, dann schadet uns das. blaues Hemd tragen. Ein Denn diese Zeitschriften blaues, kein weißes. Und nimmt keiner mehr ernst, jetzt schauen Sie mal nach, schon gar nicht die Leute, was aus IBM geworden ist. die unsere Werbung zur SPIEGEL: Wenn die Wer- Kenntnis nehmen sollen. bung so ein großer Spaß Ich brauche keine Zeit- sein kann, warum sind schrift, die aussieht wie ein dann so viele Leute in der Versandhauskatalog. Von Werbung so leidenschaft- der Vogue mal abgesehen, lich unglücklich? Selbst die man sich eh nur wegen hier auf der Croisette, der Anzeigen kauft. selbst in der Martinez-Bar SPIEGEL: Hilft Marktfor- und auch noch am Pool – schung, die richtige Wer- das große Gejammer. bung für die Zielgruppe X Lowe: Weil die meisten ir-

zu finden? BBDO gendwelche Arbeit ma- Lowe: Im Forschen sind die chen, auf die sie niemals Amerikaner und die Deut- stolz sein können. Manch- „Ist Moral ein guter Verkäufer?“ schen die größten. Aus Gewinner-Spot von Cannes*: mal ist daran der Auftrag- Angst. Da haben nun wirk- geber schuld, und wenn das lich alle Angst. Die Agenturen vor den dem Information-Superhighway. Für so ist, muß man den Auftraggeber eben Kunden, die Kunden davor, arbeitslos den müssen wir erst mal einen neuen feuern. Anfang der achtziger Jahre habe zu werden, und am Ende rennt jeder Menschen züchten mit Superhirn. Wel- ich Fiat rausgeschmissen, die damals ein weg vor dem Risiko, dorthin, wo es si- che Informationen sollen die Werber Drittel unseres Umsatzes ausmachten. cher scheint, hinter die Zahlenkolonnen den Leuten geben? Es tötet Bakterien. Das war notwendig. Denn wenn ich un- der Marktforschung. Ich meine, ich ha- Es wäscht weißer. Es schmeckt gut. glücklich mit einem Kunden bin, dann be nichts gegen Marktforschung, solan- Großartig! Weiß jedes Kind. Selbst sind es meine Mitarbeiter auch, und dann ge wir sie als eine Art Lampe benutzen, wenn Sie eine Lebensversicherung ab- kommen sie mit griesgrämigen Gesich- die uns im Dunkeln auf einen Weg hilft, schließen, die nun wirklich wichtig ist, tern morgens ins Büro, und abends wer- den wir eh schon ahnen. Aber die Ame- zählt letztendlich nur: Vertrau ich dem fen wir alles weg, und danach brüllen sie rikaner: Die fuchteln mit dieser Lampe Menschen, der sie mir verkauft? Und so ihre Frauen an und treten nach dem herum wie Betrunkene, und schließlich ist es auch mit Werbung: Gefällt sie mir, Hund. Und wenn alle eine solche Laune stützen sie sich darauf, damit sie nicht mag ich sie, finde ich sie sympathisch, haben, dann kommen nur schlechte Er- umfallen. Wenn man damals eine Um- finde ich sie vertrauenerweckend, dann gebnisse raus, und man kann den Laden frage gemacht hätte bei Leuten, die 40 bin ich auch bereit, mir das Produkt mal gleich dichtmachen. waren und irgendwo im Mittelwesten näher anzusehen. SPIEGEL: Ihr Laden wurde zu einer der größten Agenturen Englands, Ihre Kette ist die Nr. 14 in der Welt. Ist das ein Spaß wie Monopoly spielen? Lowe: 1981 waren wir fünf Leute und sa- ßen in einem kleinen Büro in Covent Gar- den. Und auf einmal gab es eine Menge Geld zuverdienen,und dasUnternehmen wuchs und wuchs und wuchs. So ist die menschliche Natur nun mal, wenn man ei- ne Chance bekommt, dann nutzt man sie. Aber esgabnieeinen Masterplan. Wir sa- ßen nicht herum und sagten: „1995 wollen wir Umsatzmilliardäre sein.“ SPIEGEL: Und jedes Jahr einmal nach Cannes, um sich die Löwen abzuholen? Lowe: Ich war 20 Jahre nicht mehr hier. Ich finde, das Festival gehört den Art Di- rektoren, Textern und Spotmachern. Ich könnte natürlich auch die Promenade Gewinner-Anzeige von Cannes: „Sogar Werber haben aufgehört zu trinken“ rauf und runter laufen, mit einem kleinen Cannes-Täschchen in der Hand. Aber ich lebten, und die gefragt hätte, Leute, SPIEGEL: Wie wecken Sie Vertrauen? finde, das gehört sich nicht. wollt ihr Rock’n’Roll – dann würden wir Mit Schlips und Kragen? SPIEGEL: In Cannes leben die Werber für heute noch auf ihn warten. Lowe: Nein, das habe ich nie getan. Ich eine Woche so, wie in Werbespots gelebt SPIEGEL: Moral hilft nicht, Forschung meine, in meinem Alter kann ich natür- wird. Ist Cannes die wahre Metropole der hilft nicht, womit wollen Sie den Konsu- lich auch längst nicht mehr in Jeans und Werbewelt? menten von morgen kriegen, mit purer T-Shirt herumlaufen, aber diese todern- Lowe: Nein, Cannes ist ein Irrenhaus. Information? ste Anzugkultur mit weißem Hemd ist SPIEGEL: Welchen Spot werden Sie Ihrer Lowe: Ach, wissen Sie, all diese Infor- doch völlig am Ende. Bei IBM mußte je- Frau erzählen? mationen. Die Leute können doch der einen blauen Anzug und ein hell- Lowe: Ein Mädchen ohne Arme macht schon heute nicht mehr die Informatio- sich Frühstück. Der schönste Spot, den nen verarbeiten, die sie nicht gebrau- ich je gesehen habe. * Spot für eine Behindertenorganisation, in dem chen können und dennoch kriegen. Und sich ein Mädchen ohne Arme ein Frühstück berei- SPIEGEL: Herr Lowe, wir danken Ihnen zukünftig dann dieses Gedränge auf tet. für dieses Gespräch. Y

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Werbeseite . SZENE

ein Kinderspiel, das am Literatur kommenden Sonntag zu Weltniveau aufläuft: In Botschaft der Ahnen München messen sich Erbauer vonPapierflug- Powwow, so nennen die Indianer zeugen beim Interna- Nordamerikas seit jeher ihr rituelles tionalen Papierflieger- Tanzfest. Doch der heutigen Generati- wettbewerb, wie lange on, die sich am Anfang des Romans und wie elegant ihre zar- „Die Grastänzer“ zu einem solchen ten Flugkörper sich Fest in Nord-Dakota trifft, scheint ihre durch die Luft bewegen. Tradition abhanden gekommen zu Da starten nicht nur sein. Ihr Powwow ist aufgezogen wie klassische Erfolgsmo- eine Unterhaltungsshow: Es gibt Aus- delle ganz aus Papier zeichnungen für die einzelnen Tanz-

SAMMLUNG W. NIESNER wie der „Pfeil“, der wettbewerbe, und die Gewinner wer- Papierflugzeuge schon in den zwanziger den über Lautsprecher ausgerufen. Jahren die Form der Von Spiritualität keine Spur. Aber Luftschiffe „Concorde“ vorwegnahm. In der Grup- dann nimmt die amerikanische Nach- pe Wurfgleiter für schwerere Jets wer- wuchsautorin Susan Power, 34, selbst Meisterflieger aus den Pappen und Leisten zu Geräten von indianischer Abstammung, in ihrem zwei Metern Spannbreite zusammenge- erstaunlich reifen ersten Roman die Papier leimt. Wer immer schon abheben woll- Leser auf einen Zeittrip mit: Kapitel- te, kann im Otto-Lilienthal-Saal der Hi- weise schildert sie die Lebensgeschich- Auf die Reise gehen, davonschweben, storischen Flugwerft Schleißheim vor- ten einzelner Powwow-Teilnehmer sich über alle Erdenschwere erheben – mittags das Falten lernen und nachmit- und ihrer Vorfahren, blättert wie in ei- die Antwort auf solche Sehnsüchte ist tags auf die Reise gehen. nem Familienalbum durch die Jahr- zehnte. Da ist der traurige junge Tän- INTERVIEW zer Harley, dessen Vater und Bruder starben, als ein betrunkener Weißer Festivals nachts frontal in ihren Wagen fuhr. Da ist die alte Hexe Anna Thunder, die „Um jeden Besucher kämpfen“ vor mehr als vier Jahrzehnten ihren einzigen Sohn verlor und seither mit Der künftige Direktor des Schleswig-Holstein Musik ihrer magischen Kraft an der Welt Ra- Festivals, Franz Willnauer, 62, über die erste Saison che nimmt. Und da sind zwei Urah-

ohne Justus Frantz DPA nen, die kluge Red Dress und der wilde SPIEGEL: Der Vorverkauf ist katastrophal. Ein Konzert mit dem Dirigenten Ghost Horse, die Pierre Boulez ist schon abgesagt, und sogar die einst beliebten Musikfeste auf sich Mitte des 19. dem Lande sind in Gefahr. Ist das Festival ohne Justus Frantz tot? Jahrhunderts inein- Willnauer: Sicher nicht. Aber ich bin außerordentlich unglücklich darüber, daß ander verliebten und das Publikum offenbar zögert, in die Veranstaltungen zu gehen, weil Justus durch tragische Um- Frantz nicht mehr da ist. Schließlich hat er doch die Künstler und die Programme stände nicht zu- ausgesucht, auch wenn eine Übergangs-Geschäftsfüh- sammenkamen. Die rung die Sache abwickelt. Einzelfiguren ver- SPIEGEL: Die Allgegenwart des populistischen Charis- sammelt Power nach matikers ist den meisten offenbar wichtiger als die Mu- und nach zu einem sik. Gesamtbild des Le- Willnauer: Ich lerne erst, wie personenbezogen das Fe- bens im Reservat. stival strukturiert war. Aber ich bin nun mal als Manager Anfangs verborgene Susan Power geholt worden. Ich kann und werde mich vor allem über Verbindungslinien Die Grastänzer ein überzeugendes Programm profilieren, das ich den treten zutage, ge- Goldmann Verlag Menschen so früh und gut wie möglich vermitteln will. meinsame Erinne- 39,80 Mark Meine Erfolge sind die Erfolge meiner Künstler. rungen und gemein- SPIEGEL: Frantz-Freunde halten noch wichtige Festival- samer Glaube. Alle Ämter besetzt. Spüren Sie Gegenwind für Ihre Pläne? Figuren bewegen sich in einem Ener- Willnauer: Es drängt sich der Eindruck auf, daß gewisse giefeld indianischer Kultur. Jedoch Kräfte im Lande lieber gar kein Festival hätten als ein verzichtet Power auf jede esoterische Festival ohne Justus Frantz. Verklärung des Indianerlebens. Das SPIEGEL: Was ändert sich in Ihrer ersten Saison im kom- macht ihre Erzählstimme sympathisch

ACTION PRESS menden Jahr? und so glaubhaft, daß der Leser am Frantz, Willnauer (o.) Willnauer: Ich werde das Personal verkleinern, die Ende sogar bereit ist, dem einsamen Struktur professionalisieren, mich von Nutznießern des Halbwaisen Harley in seine Initiations- Festivals trennen. Ich glaube zum Beispiel nicht, daß wir in Amerika PR machen Trance zu folgen. Darin erscheint ihm sollten, während wir in Schleswig-Holstein um jeden Besucher kämpfen. Außer- ausgerechnet die Urahnin Red Dress, dem sollte das Ganze von einer Stiftung getragen werden. Wir müssen über das um ihm die Botschaft des Romans zu Denkmal von Justus Frantz hinausschauen und wieder lernen, daß jede künstleri- überbringen: „Du tanzt einen Auf- sche Entscheidung wirtschaftliche Folgen hat. stand.“

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KULTUR J. DIETRICH / NETZHAUT „Spaziergang“-Künstler Zakharov

Kunst 300 Quadratmeter Rasen ausgelegt, die er bis zum 6. August regelmäßig mähen und begießen will. Eine Inszenierung mit etlichen Titeln, deren erster einen „Spaziergang durch die Treibhausklima in Elysium Elysischen Felder“ verspricht. Am Ende warten Videodoku- mentationen der exilrussischen Kunstszene, ein „Archiv“ frü- Sommerzeit, „tote Saison für die Kunst. Man läßt sich ge- herer Zakharov-Werke und ein Fundus falscher Schnurrbärte hen, sich irgendwo hintreiben, reist – an einen Anderen für die Besucher. Vorn im Park entweichen Seifenblasen aus Ort“. Der in Köln seßhafte russische Exilkünstler Vadim einem Kasperletheater, falls nicht gerade eine Borges-Erzäh- Zakharov, 35, schwärmt wie ein Reiseveranstalter. Die lung verlesen und mit Fingerpuppen aufgeführt wird. Riesige „Park-Saison“ allerdings, die er seiner Kundschaft vorgau- Zuchtschmetterlinge beleben das Kunst-Treibhaus. Die Ver- kelt, spielt auf vertrautem Terrain. Beim Kölnischen Kunst- anstalter mußten sie schon nachbestellen, weil eine erste Lie- verein hat Zakharov, zwischen abgezirkelten Kieswegen, ferung beim Schau-Aufbau entflogen war.

Pop Lyrik Grummel im Tunnel Poesie auf CD-Rom Komische Kinnbärte und wutverzerrte „Alles, was ich beim Lesen von Ge- Visagen – und dazu jede Menge böser, dichten bekomme“, sagt Charles Bu- lauter, klaustrophobischer Rock’n’ kowski, „ist gottverdammtes Kopf- Roll: Mit dieser merkwürdigen Mixtur weh.“ Das soll mit Hilfe der Technik gelang der irischen Band „Therapy?“ – nun anders werden. „Poetry in Mo- trotz des bescheuerten Fragezeichens tion“ heißt eine CD-Rom, die Verse im Gruppennamen – im vergangenen gedruckt und gesprochen auf einem Jahr der Überraschungserfolg der Sai- Bildschirm serviert: Rechts Gedichte son. Nun präsentieren Bandleader An- von William S. Burroughs, John Cage, dy Cairns und seine Schamhaarbart- Allen Ginsberg, links lassen sich per Kumpane Michael McKeegan und Mausklick Videosequenzen und Inter- Fyfe Ewing ihre dritte CD „Infernal views mit 24 Lyrikern starten. Ed San- Love“, und sie rechtfertigen die dies- ders sagt „The Cutting Prow“ auf, mal staunenswert melodischen Grum- fummelt mit einem Datenhandschuh melsongs mit einem gründlichen Sin- herum und klappert mit der Schere. neswandel: „Früher wollten wir die Tom Waits singt den „Smuggler’s Welt mit unserer Musik bestrafen, Waltz“. Und Charles Bukowski raunt mittlerweile aber haben wir gelernt, dem Poesie-Publikum aus dem Daten- daß es Licht am Ende des Tunnels gibt fenster zu: „Lyrik enthält soviel Ener-

– man kann sich auch einfach über sie PHOTO SELECTION gie wie die Hollywood-Industrie.“ Und lustig machen.“ Popband „Therapy?“ die Computerindustrie.

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Werbeseite .

SZENE

Comics Kreuzigung zum Ablachen „Bis vor kurzem habe ich noch ge- glaubt, ein Rabbiner wäre ein engli- scher Zuchthase“, sagt das nackte, knubbelige Wesen, das mit dünnen Fä- den an ein baumstammartiges Kreuz gebunden ist. In früheren Büchern des Cartoonisten Walter Moers hieß diese Figur „Das kleine Arschloch“, in dem neuesten Werk „Du bist ein . . ., mein Sohn“ (Eichborn Verlag, Frankfurt am Main; 56 Seiten; 24,80 Mark) tritt sie jedoch als Jesus auf. Moers erzählt ei-

ne ziemlich wüste Variante des Neuen STOPPEL Testaments: Jesus endet als Laiendar-

steller in der Theaterinszenierung sei- FOTOS: G. ner eigenen Kreuzigung. Und weil die Holzbildhauer Balkenhol, Meerjungfrau in der Entstehung Witze wieder mal so schlecht wie böse sind, bringt der Verlag den Band nicht Kunst zu Ostern, sondern kurz nach Pfing- sten heraus – angeblich aus Rücksicht auf religiöse Gefühle. Kunst auf der Zugspitze

800 Kilo Meerjungfrau aus einem Baumstamm geschnitzt. 4,40 Meter lang, 2948 Meter über dem Meeresboden installiert auf Deutschlands höchstem Berg, der Zugspitze (2964 Meter) – da kann Christo einpacken. Die Bayerische Zugspitz- bahn AG hat in Zusammenarbeit mit der Kunsthalle Nürnberg in ihrer Gipfelsta- tion einen Kunstraum von 450 Quadratmetern eingerichtet. Jeweils im Sommer und im Winter wird dort ein zeitgenössischer Künstler inmitten der Bergkulisse Arbeiten ausstellen. Den Anfang macht vom 1. Juli an bis Ende Oktober der Holzbildhauer Stephan Balkenhol, 38. „Gegen das überwältigende Panorama“, sagt der Künstler, „kann kein Kunstwerk konkurrieren.“ Balkenhol fühlt sich hoch auf dem Berg nicht in seinem Element. „Eigentlich“, sagt er, „hat dort kein menschliches Wesen etwas zu suchen.“ Diese Empfindung soll seine gigantische Nixe symbolisieren. 550 000 Besucher fahren pro Jahr mit der Gondel auf den Jesus-Karikatur von Moers Gipfel, als nächstes werden sie Objekte des Engländers Tony Cragg sehen.

KINO IN KÜRZE

„Crooklyn“. Für einmal, überraschend genug, hat Spike Lee „When Night is Falling“. Die bibelfeste Lehrerin Camille seinen Anspruch als führender Schreihals und Krawalleur (Pascale Bussie`res) sitzt moralisch in der Zwickmühle. Soll des schwarzen amerikanischen Kinos sausenlassen und ei- sie ihren Vorgesetzten gehorchen, die ihr die Leitung eines nen Film gemacht, der niemandem mißfallen wird – einen christlichen Colleges in Kanada nur dann übertragen, wenn Volle-Pulle-Familienfilm mit einer resoluten Mama im sie ihre liederliche Liaison mit einem Kollegen legalisiert? Zentrum der Stürme und einer kulleräugigen neunjährigen Als die Pädagogin den Reizen einer sinnlichen Künstlerin Hauptdarstellerin, die frisch aus der Sesamstraße kommt (Rachel Crawford) verfällt, ist Camilles Dilemma zwischen und mit dickköpfigem Charme die Herzen gewinnt. Ab- liebem Gott und Libido tränentreibend perfekt. Der bildge- träglich jedoch ist dem Rührwerk, dessen Stoff autobiogra- waltige Film der Kanadierin Patricia Rozema bietet rührseli- phisch sein soll, sein Hang zur Verniedlichung: Lee präsen- ges Gefühlskino der verdammt ernstgemeinten Art. tiert die Schönwetterversion einer schwarzen Kindheit.

„Der Großstadtindianer“. Im verflixten 14. Jahr nach der Trennung von seiner Frau will der Pariser Börsenmakler Ste´phane (Thierry Lhermitte) eigentlich nur noch die Scheidung durchdrücken. Doch die Ehemalige überrascht den Großstadtneurotiker mit einem gemeinsamen Sohn. Der Filius hat genug vom feuchtwarmen Dschungel und fährt mit Papa nach Paris. Dort nervt der Bonsai-Tarzan mit Vogelspinne, Pfeil und Bogen die Nachbarn und erklet- tert den Eiffelturm so leichtfüßig, als wäre er eine Ur- wald-Palme. Schon über sieben Millionen Franzosen

ergötzten sich an der beschwingten Sommerkomödie von TOBIS Herve´ Palud. „Der Großstadtindianer“

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KULTUR

Jahren befindet. Der aktuelle Streit um Museen den Bauplatz, der seit Monaten tobt und die Kölner Zeitungen füllt, ist die Spät- folge eines Ratsbeschlusses von 1976. Damals wurde das Wallraf-Richartz- Kunst Museum, jene vom Madonnenmaler Stefan Lochner bis zum Frühmodernen Edouard Manet reichende Prachtsamm- im Winkel lung, mit der Privatkollektion des Aa- chener Kunstmäzens Peter Ludwig zu- Der Streit um den Standort für sammengelegt. Im Neubau des Doppelmuseums, das neue Kölner Wallraf-Richartz- 1986 auf der Ostseite des Kölner Doms Museum spaltet die Stadt. eröffnet, dehnte sich die Moderne- Sammlung von Ludwig weiter aus; die ittelalterliche Heiligenscheine alte Kunst war schließlich, so der 1991 leuchten auf Gleis 1, Rembrandt ausgeschiedene Museumsdirektor Sieg- Mwacht als Bahnwärter, und die fried Gohr, „zwischen der Pop Art wie Impressionisten vibrieren im Intercity- in einer Schichttorte eingeklemmt“. Takt – dieser Schreckensvision droht Seitdem der Sammler Ludwig jetzt jetzt die Verwirklichung. Das Kölner auch seine 90 Werke umfassende Picas- Wallraf-Richartz-Museum, das ehrwür- so-Abteilung der Stadt vermacht, zu- digste Kunsthaus am Ort, soll auf dem gleich aber die Schenkung von einem häßlichsten Winkelgrundstück der Stadt Museumsneubau für die alte Kunst ab- einen Neubau bekommen, unmittelbar hängig gemacht hat, steht die Wallraf- neben den Gleisanlagen des Haupt- Richartz-Sammlung vor dem Raus- bahnhofs nordöstlich des Domes. Zum schmiß – und vor der endgültigen Am- Horror einer wachsenden Allianz von putation. Denn die gesamte Moderne Architekten, Kunstkritikern, Geschäfts- nach 1900, an der die Wallraf-Richartz- leuten und CDU-Politikern in Köln, die Bestände so reich waren, daß damit die gegen die Neubaupläne der SPD-regier- erste Kunst-Biennale in Venedig und ten Stadt Front machen. die erste Kasseler Documenta nach dem Am Donnerstag dieser Woche ist Krieg bestückt wurden, soll im Ludwig- Großkampftag. Dann wird der Rat der Tempel bleiben. Stadt Köln über die Neuerrichtung des Nur die vor 1900 entstandenen Werke Museums abstimmen. Der Gegenvor- werden in das neu zu errichtende schlag, den Neubau nahe dem „Gürze- Schrumpfhaus am Dom einziehen. Aber nich“-Festsaal der Stadt auf einem Rui- auch in dieser B-Lage, so meint Gohr, nengrundstück 300 Meter weiter südlich sei der gequetschte Wallraf-Richartz- in der Altstadt zu errichten, wäre damit Neubau nur ein „Vorratsraum für weite- Makulatur. Dann, so befürchten die re Expansionen Ludwigs“. Gegner, wird die Sammlung auch vom Standort her in eine Notlage geraten, in * Halbrunder Baukörper rechts neben dem Dom- der sie sich museumspolitisch schon seit chor. STADT KÖLN Neubau-Modell des Wallraf-Richartz-Museums*: Rausschmiß für Rembrandt . LAIF R. BERMES / Alternativer Standort am Gürzenich*: „Mehr Museum fürs Geld“

Doch der Standort an der Nord-Ost- Museumsneubau notwendig gekoppelt Ecke des Domes hat potente Fürspre- sein soll, wie oft behauptet, weist Wolf- cher. Dazu zählen neben dem Kunstma- gang Roters, Ministerialdirigent für gnaten Peter Ludwig, 69, auch der Vor- Stadtentwicklung in Düsseldorf, ent- sitzende des Vereins der Museums- schieden zurück: „Die Fördermittel ha- freunde, Alfred Freiherr von Oppen- ben mit der Entscheidung über den Mu- heim, 61, und der Kölner Verlegerfürst seumsstandort nichts zu tun.“ Alfred Neven Du Mont, 68 (Kölner Auf dieses Landesgeld können die Stadt-Anzeiger). Letzterer verpaßte so- Befürworter des alternativen Museums- gar seinen Journalisten, die im hausei- standortes am Gürzenich allerdings genen Blatt vorsichtig gegen die Kunst- nicht hoffen. Gleichwohl hat jetzt die redoute am Bahndamm plädierten, ei- Kölner CDU unter der Überschrift nen Maulkorb. Mit der Folge, daß die „Mehr Museum fürs Geld“ eine Ver- größte Abonnementszeitung am Ort im gleichsrechnung vorgelegt. Danach soll heißesten Kulturstreit seit Jahren recht das größere Grundstück zwischen Gür- einseitig daherkommt. zenich und Rathaus trotz komplizierter Schweigsam sind allerdings auch die Eigentumsverhältnisse und archäologi- direkt Betroffenen. Die derzeitige Lei- scher Bodenfunde mit 86 Millionen tung des Wallraf-Richartz-Museums er- Mark Baukosten nur vier Millionen teu- hofft sich von der räumlichen Nähe ihrer rer werden als das Dom-Museum. Reiz- Kunst-Exklave zum Ludwig-Stammhaus voll an diesem Standort ist nicht zuletzt auf der gegenüberliegenden Domseite, die mögliche Verbindung des Kunst- daß sie wenigstens einen fußläufigen Be- museums mit einem neuen Jüdischen zug zu ihren ursprünglichen Beständen Museum über dem historischen Juden- halten kann. Die seit einem Jahr amtie- bad. rende Kölner Kulturdezernentin Ka- Den Gürzenich-Befürwortern, darun- thinka Dittrich van Weringh rationali- ter die Mehrheit der Grünen und viele siert den unglücklichen Standort am Architekten, schmeckt vor allem nicht, Bahndamm mit „Synergieeffekten“ der daß das Dom-Projekt ohne Bauwettbe- gemeinsamen Nutzung von Werkstätten werb als schlichter Folgeauftrag an die und Vortragsräumen. Kölner Architekten Peter Busmann und Der gewichtigste Kritiker meldete Godfrid Haberer gehen soll, die bereits sich jedoch erst letzte Woche. Das Köl- das sperrige Ludwig-Doppelmuseum ner Domkapitel, das per Nachbarrecht mit allenfalls mittelprächtiger Eleganz Einsprüche gegen die Verbauung seines vor die größte gotische Kathedrale gotischen Hochchores vorbringen kann, Deutschlands gewuchtet hatten. erteilte den SPD-Plänen eine glatte Ab- Bei der bevorstehenden Museumsent- sage. Einziger Wunsch der Klerikalen scheidung im Kölner Rat könnte Po- ist, das ungeschlachte Betonloch stenschacher den schwarz-grünen Kon- („Domplatte“) an der Stelle des vorge- sens rasch beenden. Denn auf der Ta- sehenen Bauplatzes zu renovieren. gesordnung, vor dem Baubeschluß, Dafür will die Düsseldorfer Landesre- steht die Vergabe des Dezernats für gierung elf Millionen Mark Städtebau- Wirtschaft und Stadtentwicklung. Wenn förderung spendieren; und für die Ver- die SPD den Grünen das lang verspro- legung der unterirdischen Straßen und chene Wirtschaftsressort zuteilt, könn- Garagen weitere fünf Millionen. Daß ten einige von ihnen am Ende doch mit diese überfällige Stadtreparatur mit dem den Sozialdemokraten für den Domwin- kel stimmen – vier Überläufer wären ge- * Mit Glaspyramide über dem Judenbad. nug. Y

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KULTUR

spricht, ihm die Wollust zu „ersättigen“ und „alle Tag und Nacht ein Weib zu Bett zu führen“, bis Faustus „hub an zu schreien um Hülf und Mordio“ und sein „greu- liches und erschreckli- ches Ende“ fand. Eine Oper? Alles: My- sterium, Moritat, Kanta- te – nur das nicht: hand- festes Musiktheater. Keine Story, die was her- gibt; nirgends ein Plot mit Crescendo; nicht die Spur von Spannung. In 30 Episoden quält sich die Geschichte durch Himmel und Hölle und Hamburgs glänzend ge- schmierte Bühnen-Ma- schinerie. Wohl wahr: Die Parti- tur verdient mildernde Umstände. Etwa 15 Jah-

P. PEITSCH re hat sich der wolga- Schnittke-Oper „Historia von D. Johann Fausten“*: „Alle Tag und Nacht ein Weib“ deutsche Komponist Al- fred Schnittke, 60, mit GIs herumliegen und ein giftgrüner dem sagenhaften Spuk abgemüht und Oper Drache sich reckt wie schweres Ge- das Werk nach drei Schlaganfällen end- schütz; und wenn das sagenhafte lich fertigstellen können – ein Provisori- „Schlafweib“ mit dem „kleinen Kuß- um ist es geblieben, eine Unvollendete, mündlein“ zum Abgang antanzt, ist es der vielleicht kein Takt fehlt, wohl aber Feinköstler eine rotdrapierte Disco-Queen, trägt Power, Format und Substanz. Bockshörner, schaukelt mit den Hüften Unüberhörbar ist die altdeutsche und heult seine Anmache ins schnurlose „Historia“ über Schnittkes Kräfte ge- im Fegefeuer Mikro. gangen, gnadenlos seine Krankenge- Bunter Abend in der Glotze? Nein: schichte auf den Dreiakter durchge- Bei der Hamburger Uraufführung er- Kulturgut im Guckkasten. Grelle Revue schlagen. Dem längst weltweit bewun- wies sich Alfred Schnittkes „Faust“- im Clip-TV? Irrtum: eine Soiree für die gebildeten Stände. Schließlich steht eine Oper als Flop – viel dünne Musik mit „Oper in drei Akten und einem Epilog“ Sündhaft teures auf dem Programm, das klingt bedeu- Sortiment an knalligem Bühnenkitsch. tungsschwer und ist ernst gemeint. Am vergangenen Donnerstag brachte Kitsch und Klamauk eufel noch mal, ist das ein schriller die Hamburgische Staatsoper, einst eine Spuk. Gleich am Anfang thront Sa- Adresse der Senator-Klasse, die „Histo- derten Magier aus dem Osten, diesem Ttan auf einem Wolkenkratzer und ria von D. Johann Fausten“ zur Urauf- Feinköstler unter den zeitgenössischen girrt im Countertenor über die Skyline führung und holte damit das beliebteste Tonsetzern, entgleitet der alte Zauber. von Manhattan. Und dann hat es, knapp Herren-Doppel deutscher Philologense- Selbst seinem exotisch besetzten Orche- zwei Geisterstunden lang, kein Ende minare neuerlich ins Musiktheater: Fau- ster mit Tamtams, Tomtoms, Zwerch- mit Firlefanz und Mummenschanz. stus, den promovierten Gelehrten, pfeife, Krummhorn und zwei modischen Der Engel mit dem Flammenschwert „weit beschreyten Zauberer und Synthesizern kann der Komponist kein schwebt auf putzigem Kumulus-Gewölk Schwarzkünstler“, „zu Rod bei Weimar neues, überraschendes Kolorit mehr vom Bühnenhimmel; der Heiland hockt bürtig“, und Mephostophiles, seinen – entlocken. Schnittke, der Richard mit Dornenkrone und fluoreszierendem später „Mephisto“ genannten – Verfüh- Strauss unter den Neutönern, muß, so Heiligenschein im Müllcontainer, und rer aus der Unterwelt. scheint es, abdanken. der ist voll von Kruzifixen. Gar ergötzlich redet und singt das le- Schütter geworden ist die einst lukul- Überall in einem postmodernen Nie- gendäre Duo Fraktur im altbackenen lische Farbenpracht, mit der der selbst- mandsland tun sich Schlünde auf, über- Ton des 1587 erschienenen Volksbu- ernannte „Polystilist“ noch vor drei Jah- all tanzen rote Beelzebuben durch wa- ches, das die Sage vom Teufelspakt sei- ren, in der Lenin-Groteske „Leben mit berndes Gedämpf. Ein Rhönrad voll nerzeit bis zu Goethe und dann unter einem Idioten“, den abendländischen nackter Leiber rollt durch die Hölle. Goethes Nation gebracht hat. Fundus von Monteverdi bis Strawinski Franz Liszt, der Teufelsvirtuose mit den „Laß mich nit ob meiner Geilheit zu- zitiert, kopiert, imitiert und ausge- niederen Weihen, klimpert im roten grunde gehen“, jammert da der lüsterne schlachtet hat. Frack auf einem roten Flügel, der rotiert Doctor, woraufhin der Teufel ver- Ausgemergelt bis zur Blutleere wirkt und Fegefeuer speit. die einst so virtuose Lust, a` la Mozart zu Die Schöne Helena rauscht auf einem * Mit Hanna Schwarz (Schöne Helena), Jürgen tänzeln, wie Wagner ins volle Blech zu Kriegsschauplatz herein, wo lauter tote Freier (Faustus). greifen und dann der ganzen traumschö-

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nen Harmonie unter schrillem Getöse den Garaus zu machen. Autoren Kein Zeitgenosse beherrschte das mu- sikalische Recycling kultivierter und be- rückender als dieser bescheidene, dünn- häutige Schnittke mit dem grellen „Macht macht süchtig“ Schalk im Ohr; er entsorgte an einem Abend den Opernballast von Jahrhun- Das literarische Werk der russischen Jüdin Ire`ne Ne´mirovsky wird wieder- derten und kompostierte grandios. Jetzt zeigen nur noch ein paar Parti- entdeckt: Im französischen Exil schrieb sie einst hellsichtige Romane über turseiten, vor allem im letzten Akt, Spu- kleine und große Lügen des 20. Jahrhunderts. renelemente von dem feinen Flimmer früherer Glanzstücke. Aus wenigen Takten leuchtet, auch in Faustens as eingesandte Manuskript schien weitere Romane folgten. Stars wie Jean Dunstkreis, noch einmal das Falschgold großartig, nur wer war der Autor? Cocteau und Sacha Guitry zählten plötz- auf, mit dem Schnittke zu blenden wuß- D„David Golder“ lautete der Titel lich zu den Freunden der eben noch na- te wie Wagner mit seinem Feuerzauber. des Werks, angegeben waren im übrigen menlosen Schriftstellerin. Ein paar Streicherkantilenen flicht nur ein Pseudonym sowie eine unvoll- Auch in Deutschland wurden ihre Bü- Schnittke noch einmal zu orchestralen ständige Adresse. cher verlegt, freilich nur bis 1933. Hans Nocturnes, die so herrlich halbseiden Die Lektoren im Pariser Verlag Edi- Magnus Enzensberger hat nun zwei Ro- klingen und so wunderbar weiche Knie tions Grasset zeigten sich zunächst rat- mane der jüdischen Autorin, „David machen – Puccini ’95, leider ein Abge- los, dann, im Herbst 1929, beschritten Golder“ und „Der Fall Kurilow“, in der sang. sie einen unkonventionellen Weg: Per Anderen Bibliothek herausgebracht – Denn öfter und schmerzlicher zerbrö- Zeitungsannonce baten sie den Verfas- eine späte Entdeckung*. selt Schnittke das mürbe Orchester-Fili- ser von „David Golder“ um Rückruf, Die Gründe für den Verzug sind para- gran in Belanglosem und Beiläufigem, „dringend“, wie es hieß. dox: Bei den Nazis waren diese Romane über weite Strecken schleppt sich das Eine gewisse Ire`ne Ne´mirovsky mel- unerwünscht. Und in der Nachkriegszeit Stück dahin, als schlage das Foucault- dete sich. Die junge Frau aus gutem galten dieselben Bücher als antisemi- sche Pendel den Takt. Hause lebte damals zurückgezogen mit- tisch – wurden also wiederum nicht auf Und weil jener virtuose Parodist ten in Paris, als glückliche Mutter einer den deutschen Markt gebracht. Schnittke versagt, der seine süffigen wenige Tage alten Tochter, und in Dabei sind die Helden der Ire`ne Ne´- Klänge stets keck und clever konterka- Gedanken allemal mehr bei dem mirovsky in etwa so judenfeindlich ge- riert hat, wirkt sein pures Dur jetzt pein- Kind als bei ihrem literarischen Zeitver- zeichnet wie Shakespeares Shylock: also lich. Nun klingen die kandierten Strei- treib. gar nicht. Auch David Golder ist ein cher, als säße James Last im Orchester- Wenig später sah sich Ire`ne Ne´mirov- wohlhabender jüdischer Kaufmann, der graben, und die Orgel rauscht wie in sky als Entdeckung der Saison gefeiert: rücksichtslos gegen sich und andere sei- Hollywoods Seifenopern. „Ein wunderbares Buch“, jubelte der nen Geschäften nachgeht, ein kranker Und ausgerechnet für dieses tragisch Kritiker von Lettres, „ein wahres Mei- Mann, „riesig, krumm, wie ein alter jü- verfehlte Zuspätwerk des Schmerzens- sterwerk“, fand der Kollege von Le discher Wucherer, mit seinem Fieber- mannes Schnittke hat der Premieren- Temps. „David Golder“ wurde verfilmt, und Schweißgeruch“. Regisseur John Dew, anerkannter Gros- Nur wer der Autorin übel- sist für lästerliche Blickfänge, nun sein will, kann ihr hier rassistische sündhaft teures Sortiment an Kitsch und Klischees bescheinigen. Ge- Klamauk aufgeboten. schrieben hat sie diese und Da leuchten die Sterne, am Firma- ähnliche Passagen allein aus ment kreisen die Planeten. Mephosto- Sicht von Golders Gattin philes erscheint als Briefträger und läßt Gloria, der negativen Heldin den Empfänger quittieren, der Teufels- des Romans, einer gefühls- pakt kommt per Einschreiben. Am En- kalten Matrone, die nichts als de wird der Rumpf des enthaupteten den Reichtum ihres Mannes Faustus durch das Reich der Verdamm- liebt. ten geschaukelt, und sein Gelehrtenhirn Und so ist die jüdische dient den kleinen Luzifers zum Fraß. Herkunft Golders für Ire`ne Parodie ist prima, Klamotte okay, Ne´mirovsky in Wahrheit und gerade die Oper, die immer so hehr ziemlich belanglos. Was sie tut, braucht durchaus mal den faulen, beschäftigt, sind die Tricks frechen Zauber, auch den mit blasphe- und Winkelzüge, die Eitel- mischem Kick. keiten und Skurrilitäten des Aber dieser Schnittke hält den Spott französischen Geldadels in nicht mehr aus. Je dicker Dew aufträgt, desto dünner und dürftiger wirkt die *Ire`ne Ne´mirovsky: „Der Fall Kuri- Musik, die er illustriert. low“ und „David Golder“. Zwei Roma- ne. Aus dem Französischen von Do- Da hilft es auch nichts, daß sich alle ra Winkler. Eichborn Verlag, Frank- Hanseaten unter dem dirigierenden furt am Main; 408 Seiten; 48 Mark. Hausherrn Gerd Albrecht prächtig ins Außerdem erschien soeben eine Ro- man-Biographie der Autorin, ge- Zeug legen und retten wollen, was schrieben von Ire`ne Ne´mirovskys längst verloren ist. Noch bevor den Doc- Tochter: Elisabeth Gille: „Erträumte Erinnerungen“. Aus dem Französi- tor Fausten der Teufel holt, hat Dew ROGER-VIOLLET schen von Roseli und Saskia Bont- längst alle ins Bockshorn gejagt. Autorin Ne´mirovsky (1938) jes van Beek. Piper Verlag, Mün- Klaus Umbach Flucht vor der Wahrheit chen; 304 Seiten; 16,90 Mark.

DER SPIEGEL 26/1995 193 KULTUR den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. sen gehegten Hoffnung auf ein gutes Das vor allem ist ihr Stoff, da kennt sie Ende der Geschichte. sich aus. Gloria Golder etwa trägt viele Ein junger Revolutionär, so erzählt Züge von Fanny Ne´mirovsky, einer be- Ire`ne Ne´mirovsky, erhält 1903 den Auf- rüchtigten Skandalnudel der Pariser Ge- trag, den russischen Unterrichtsminister sellschaft, die ihre Tochter Ire`ne immer Walerian A. Kurilow umzubringen. Der nur als lästige Konkurrentin betrachtete Attentäter gibt sich als Arzt aus und lebt und abwies. Sie hat denn auch Ire`ne die- so mehrere Monate im Gefolge des Mi- sesimRoman nurwenig verfremdete Ab- nisters. Die Tat selbst soll am Rande ei- bild niemals verziehen. nes Staatsaktes stattfinden. Ire`ne Ne´mirovsky schrieb sich in „David Golder“ ihre Verachtung für das dekadente Großbürgertum von der See- le, für jenes Milieu also, aus dem sie sel- BESTSELLER ber stammte. 1903 als Tochter eines jüdi- schen Bankiers geboren, wuchs sie im za- BELLETRISTIK ristischen Sankt Petersburg auf. Schon dort genoß das behütete Einzelkind eine Gaarder: Sofies Welt (1) französische Erziehung; nach der Revo- 1 Hanser; 39,80 Mark lution floh die Familie in den Westen. In Paris erlebte die junge Frau erstmals Allende: Paula (3) die Schattenseiten des Kapitalismus, 2 Suhrkamp; 49,80 Mark nicht nur Armut undElend,sondern auch Gaarder: Das (2) 3 Kartengeheimnis Den Zeitgenossen kommt Hanser; 39,80 Mark die Kontrolle über Buchheim: Die Festung (4) ihr Schicksal abhanden 4 Hoffmann und Campe; 78 Mark den Egoismus und Hochmut der ver- meintlich besseren Kreise. Grisham: Die Kammer (6) David Golder mag denn auch ein 5 Hoffmann und Campe; skrupelloser Geschäftsmann sein: Vor 48 Mark allem ist er ein bemitleidenswerter Mensch, dem erst im Angesicht des To- Tamaro: Geh, wohin dein (5) des die Erkenntnis dämmert, daß er 6 Herz dich trägt selbst zeitlebens nur betrogen wurde, Diogenes; 32 Mark betrogen nicht um Geld, sondern um Gefühle, um die Liebe zu seiner Frau Eco: Die Insel (7) und zu seiner Tochter. Für die beiden 7 des vorigen Tages war er nur „eine Maschine zum Geldma- Hanser; 49,80 Mark chen“, ansonsten haben sie sich mit ir- gendwelchen falschen Fürsten vergnügt. Fosnes Hansen: Choral (8) Ire`ne Ne´mirovskys Roman handelt al- 8 am Ende der Reise lein von der Flucht vor dieser Wahrheit. Kiepenheuer & Witsch; David Golder stürzt sich von einem Un- 45 Mark ternehmen ins nächste, gegen den drin- genden Rat seines Arztes. Und seine Høeg: Fräulein Smillas (9) Frau weiß auch, warum: „Die Geschäfte 9 Gespür für Schnee sind im Grund eine Art Sucht wie Mor- Hanser; 45 Mark phium. Wenn du deine Geschäfte nicht hättest, wärst du der unglücklichste Proulx: Schiffsmeldungen (10) Mensch auf der Welt.“ 10 List; 39,80 Mark Solche Sentenzen könnten in ein nai- ves, salonlinkes Weltbild passen. Doch 11 Noll: Die Apothekerin (12) Ire`ne Ne´mirovsky war alles andere als Diogenes; 36 Mark eine Ideologin. Ihrer Moral fehlten die hehren Ziele gleich welcher Couleur; 12 Walters: Die Bildhauerin (11) nur ein einziges banales Motiv hat für Goldmann; 39,80 Mark sie Bestand: die Menschlichkeit. Sie dachte und schrieb kritisch über 13 Haslinger: Opernball (13) die vielen kleinen Lügen des Kapitalis- S. Fischer; 44 Mark mus, aber auch gegen eine der großen Lügen des 20. Jahrhunderts, die kom- 14 Morgan: Traumfänger (14) munistische Utopie. Ihr Roman „Der Goldmann; 36 Mark Fall Kurilow“, 1933 erstmals veröffent- Tis˘ma: Das Buch Blam licht, zeugt von tiefer Enttäuschung 15 Hanser; 36 Mark über das Scheitern dieser Idee. Und von einer verzweifelten, wider besseres Wis- Doch der junge Mann macht eine dem entpuppt er sich als geradezu när- merkwürdige Wandlung durch. Nicht risch verliebter, jungvermählter Ehe- daß er die politischen Ansichten seines mann. All das berührt den Revolutionär Opfers, eines schrecklichen Reaktio- und beraubt ihn seiner Entschlossen- närs, teilte, nein, er verachtet Kurilow heit: bis zuletzt. Nur zerstört der tägliche Der Gedanke, daß ich diesen Mann wür- Umgang ganz allmählich den für das At- de töten müssen, erfüllte mich mit Em- tentat nun einmal unabdingbaren Haß. pörung und Schauder. Dieses blinde Kurilow ist krebskrank und erträgt Geschöpf, das unter der über ihm aus- sein Leiden mit stoischer Ruhe, außer- gestreckten Hand des Todes, deren Schatten bereits auf sein Gesicht fiel, sich noch um eitle Träume und Ambitio- nen sorgte. Wie oft wiederholte er nicht in diesen Tagen: „Rußland wird meine Feinde vergessen, aber meiner wird es SACHBÜCHER sich erinnern . . .“ Wickert: Der Ehrliche (1) Der Attentäter zweifelt keineswegs 1 ist der Dumme an seinem politischen Auftrag. Was ihn Hoffmann und Campe; irritiert, ist allein die Menschlichkeit sei- 38 Mark nes Opfers. Ire`ne Ne´mirovsky verzich- Carnegie: Sorge dich (4) tet auf jeden pseudopsychologischen 2 nicht, lebe! Kitsch, der Revolutionär wird nicht et- Scherz; 44 Mark wa zum Freund des Ministers oder gar zum Verräter an der eigenen Sache. Nur 3 Ehrhardt: Gute Mädchen (3) zum Mörder taugt er nicht mehr. kommen in den Himmel, Jedenfalls nicht im Fall Kurilow. böse überall hin Denn Jahre später, im Zuge der Okto- W. Krüger; 29,80 Mark berrevolution, hat Le´on M., wie er sich Carnegie & Assoc.: (2) jetzt nennt, das Töten gelernt. „Der Fall 4 Der Erfolg ist in dir! Kurilow“ zeigt demnach nur die Aus- Scherz; 39,80 Mark nahme von der Regel; Ire`ne Ne´mirov- sky macht sich und ihren Lesern keine Paungger/Poppe: Vom (5) 5 richtigen Zeitpunkt Illusionen. Den Zeitgenossen, so die bittere Bi- Hugendubel; 29,80 Mark lanz der Autorin, kommt die Kontrolle Friedrichs, mit Wieser: (6) über sich und ihr Schicksal abhanden. 6 Journalistenleben Golders Gier nach Gewinn demonstriert Droemer; 38 Mark diesen Kontrollverlust. Und auch der Preston: Hot Zone (7) Revolutionär durchschaut sein Ver- 7 Droemer; 39,80 Mark hängnis: „Macht macht süchtig“, muß er erkennen. Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (8) Ire`ne Ne´mirovsky blickt pessimistisch 8 Integral; 19 Mark auf diese Welt, und doch ohne jede Lar- Gorbatschow: Erinnerungen (10) moyanz. Ihre Helden geraten mehr und 9 Siedler; 78 Mark mehr zu Sinnbildern des Verfalls, diese Ogger: Das Kartell (9) Menschen leiden an ihrem Schicksal, sie 10 der Kassierer sind krank. In den Beschreibungen des Droemer; 38 Mark Siechtums, der Qualen und Todesäng- ste, oft seitenlang, beweist die Ne´mirov- 11 Paungger/Poppe: Aus (11) sky eine morbide Meisterschaft. eigener Kraft Als die Nazis in Frankreich einfielen, Goldmann; 39,80 Mark floh ihr Vater nach Amerika und flehte Jong: Keine Angst (12) sie an, nachzukommen. Doch Ire`ne Ne´- 12 vor Fünfzig mirovsky zog nur zusammen mit ihrem Hoffmann und Campe; Mann und ihren beiden Töchtern aufs 44 Mark Land, in ein kleines Dorf im Departe- ment Saoˆne-et-Loire. Carnegie: Wie man (14) 13 Freunde gewinnt In der Provinz glaubte sie vor Verfol- Scherz; 44 Mark gung sicher zu sein. Im Sommer 1942 wurde Ire`ne Ne´mirovsky von ihren Kin- Mandela: Der lange (13) dern getrennt und nach Auschwitz de- 14 Weg zur Freiheit portiert. Dort starb sie vier Wochen spä- S. Fischer; 58 Mark ter an Typhus. Harpprecht: Thomas Mann So nüchtern und klar, so unbestech- 15 Rowohlt; 98 Mark lich und hellsichtig sie das Elend des 20. Jahrhunderts beschrieb: In einem Fall, Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom nämlich im eigenen, verschloß sie die Fachmagazin Buchreport Augen vor der Wirklichkeit. Martin Doerry

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KULTUR

Universität seines Landes Malerei lehrt, Menschheit möglichst „sinnlich“ beant- Ausstellungen spielend mit der Devise „Ich borge von worten und auf „Stars, die uns das Kon- überall“. Neben thüringischem Lehm zept zerstören“ (Pilz), dankend verzich- hat er Hohlblocksteine aus dem Bau- ten. markt verarbeitet, handelsübliches Nicht zufällig blühen solche Ideale in Sklave Acryl ersetzt die hergebrachte pflanzli- einer Region Mitteleuropas, die vor che Farbe Indigo, und überdacht ist die sechs Jahren noch zum Ostblock gehör- Hütte mit einem gewellten Kunststoff, te. Hier wirkte, so Möller und Pilz im in der Kiste der jedem Ästheten und jedem Ethnolo- Katalogvorwort, der „Zusammenbruch gen die Haare zu Berge treibt. eines auf ewig konzipierten Riesenrei- Mit Weltkunst und Nippes hat sich So verkörpert das Werk des Nigeria- ches“ als „körperliches Erlebnis“. Doch die „Configura 2“ in der Erfurter ners schon in sich jenen „Dialog der hat sich hier auch ein spezielles Interes- Kulturen“, zu dem es in einem an- se an benennbaren Inhalten der Bild- Altstadt eingenistet. spruchsvollen größeren Rahmen seine künste erhalten. Und genau besehen ist Stimme beitragen soll – als ein Schau- sogar die „Configura“-Organisation ei- ier Tage hat die Woche des Ibo- stück der Ausstellung „Configura 2“. ne schwungvoll gewendete DDR-Hin- Volkes in Nigeria. Vier ist die Zahl, Die überzieht die Erfurter Innenstadt terlassenschaft. Vdie Vollständigkeit bedeutet. Der jetzt für ein Vierteljahr mit Kunstpro- Sie stammt nämlich von einer Erfur- Ibo-Künstler Obiora Udechukwu hätte dukten aus neun Ländern von Nigeria ter „Quadriennale des Kunsthandwerks es folglich gar nicht besser treffen kön- bis Rußland, von China bis Brasilien*. sozialistischer Länder“ ab, die 1990 zum nen, als er nach Erfurt kam – und einen Großes haben die Ausstellungskura- fünftenmal fällig gewesen wäre. Möller Arbeitsplatz unter vier großen Kasta- toren, Kunsthistoriker Peter Möller und und Pilz, mit der Planung des DDR-Bei- nienbäumen fand. Bühnenbildner Detlef Pilz, beide 40, trags befaßt, ergriffen im allgemeinen Hier, im Hof des historischen Patri- sich vorgenommen. Mit 2,5 Millionen Umbruch die Chance zum „fliegenden zierhauses Zum güldenen Krönbacken, Mark Zuschüssen von Stadt und Frei- Wechsel“. Gemeinsam mit dem Erfur- hat Udechukwu, 49, eine kulissenartige, staat und einem Gesamtfinanzplan von ter Architekten und Galerie-Direktor sinnschwere Erinnerung an seine Hei- 3,27 Millionen (rund einem Siebtel des Hilmar Ziegenrücker funktionierten sie mat aufgebaut. Es ist eine simple Hütte letzten Documenta-Etats) möchten sie die Quadriennale zur „Configura“ um oder auch nur ein Unterstand, an Vor- den Galapräsentationen der westlichen und luden auch Teilnehmer aus Westeu- der- und Rückfront unterschiedlich or- Kunstwelt ein Alternativmodell entge- ropa dazu. Mit erweitertem Kunsthand- namental bemalt und damit in den Au- gensetzen. werksbegriff und dem Finanzsegen der gen des Künstlers ein Symbol für man- Das soll eurozentrischem Hochmut neuen thüringischen Landesregierung cherlei Kontraste des Lebens: für dessen entsagen, weder auf den Markt schielen wurde im Juni 1991 „Configura 1“ auf öffentliche und private Seite, Bewußtes noch um jeden Preis nach Neuerungen dem Gelände der Erfurter Gartenbau- und Unbewußtes, Liebe und Haß, Tra- gieren, vielmehr „einfache Fragen“ der ausstellung eröffnet. dition und Moderne. Für den jetzt, im zweiten Anlauf, ge- Zumindest den letzten Gegensatz * Bis 10. September. Katalog 212 Seiten; 35 wagten Sprung in die Welt haben die überbrückt Udechukwu, der an einer Mark. Kuratoren je ein Land der „großen Kul- FOTOS: B. HIEPE „Configura“-Macher Pilz, Möller (mit einer Installation des Brasilianers Alex Flemming): Sprung in die Welt

196 DER SPIEGEL 26/1995 ter der Erfurter Severikirche wirkt der Puppen-Fetisch wie hilflos eingekerkert. Die Stadt spielt mit und nimmt, freundlich oder nicht, die fremdartigen Werke als Asylanten auf: Das ist jen- seits nötiger Kritik am unscharfen Aus- stellungskonzept und am Niveau vieler Einzelwerke ein starker Reiz der „Con- figura 2“. Im „Felsenkeller“, dem erst jetzt wie- der erschlossenen einstigen Bierlager und späteren Luftschutzbunker, fällt trübes Licht auf das „Bild vom Men- schen“ – auf malträtierte Wachspuppen, die der Chinese Jiang Jie aus einer Transportkarre kippt, auf die gefletsch- ten Gebisse („Rosa Leckerbissen“), die Rona Pondick aus New York wie Schä- „Configura“-Künstler Udechukwu: „Ich borge von überall“ del im Beinhaus anhäuft, auf das einge- turkreise“ ausgeguckt und sich zumeist durch spezialisierte Kokuratoren leiten lassen. Deutsche Künstler waren nicht gefragt; der Gastgeberbeitrag besteht aus Außen- und Innenräumen der – gro- ßenteils frisch sanierten – Erfurter Alt- stadt sowie den thematischen Vorgaben der Ausstellungsmacher. Es sind, naturgemäß, Allerweltsthe- men, etwa „Das Bild vom Menschen“, „Magie der Dinge“ oder auch „Der ge- deckte Tisch“. Ernähren muß sich schließlich jeder. Im kriegszerstörten Langhaus der Barfüßerkirche, wo neun gleich große Ländertische wie zu einem kultischen Wettessen unter freiem Himmel aufge- stellt sind, werden raffinierte Kunst-Me- nüs serviert, wenn auch nicht gerade opulente. Silverthorne-Werk bei der „Configura“: Magie der Dinge im Patrizierhaus Das russische Duo Wladislaw Jefi- mow und Oleg Migas hat leere Teller den Preis einer politisch überkorrekten sargte Bildnis des Griechen Nikolaos aufgelegt; Nahrungsmittel lassen die Jury davongetragen hat. Mit solchen Tranos, das nur phasenweise und sche- beiden nur auf Guckkasten-Fotos und Partnern kann der „Dialog der Kultu- menhaft unter einer schmelzenden selbst da nur eingepackt sehen, so als ob ren“, der im Ausstellungsuntertitel pro- Wachsschicht auftaucht. Christo auch mal einen Schweinsfuß am pagiert wird und der ja eigentlich eine Großvitrinen im Straßenbild bergen Wickel hätte. Die chinesische Gruppe vielstimmige Gesprächsrunde sein soll, „Altäre der Kulturen“. Profane „Le- „Neuer Maßstab“ stellt nichts als karge kaum gelingen. benszeichen“ aus allen neun Ländern, Kochbücher aus – mit den Regeln einer Kurator Möller gibt es zu: Manche Erinnerungsstücke von der Zigaretten- Art Gesellschaftsspiel, das die Lieb- Beiträge werden in Erfurt geradezu schachtel bis zum Kinderspielzeug, sind lingsgerichte aller Teilnehmernationen „denunzierend“ vorgeführt. Die „Confi- ins Angermuseum eingeschmuggelt. Die schrittweise auf extreme Einfachkost zu- gura 2“ schwankt zwischen Kunst und städtische Galerie am Fischmarkt of- rückführt. Zur Eröffnung gab es, ganz Trivialität. Aber der Beweis, daß auch feriert „Gesicherte Werte“, und im real, Möhren mit Sesamöl. in fernen Ländern Mist gebaut wird, Krönbacken wird die „Magie der Din- Doch das Kuratoren-Prinzip der lohnt wohl kaum die Mühe. ge“ beschworen. Eine riesige Kron- Gleichwertigkeit aller Kulturen stößt Unübersehbar profilieren sich man- leuchter-Attrappe aus Gummi, ein schon an eine Grenze, wenn Nigeria che Nationalmannschaften, etwa die ra- Werk der Amerikanerin Jeanne Silver- eben keine analoge Tisch-Kunst vorzu- dikalen jungen Russen und Chinesen, thorne, nimmt sich in dem halbsanierten weisen hat, sondern nur einen vertieften schärfer als andere, und die Führungs- Prachtbau aus, als hätten schlampige Eßplatz mit Gebrauchskeramik. rolle der USA wird eher bestätigt als de- Aufräumer ein Stück Schrott vergessen. Erst recht geht das gutgemeinte montiert – New York stellt sich als rum- Unten im Hof, gleich neben Obiora „Configura“-Konzept zu Bruch, wenn melige Szene der Kulturen-Diskussion Udechukwus Symbolhütte, wird auch etwa der Mexikaner Raymundo Sesma dar. grenzüberschreitende Musik gemacht. eine gelbe Abendmahl-Tafel kitschig- Glenn Ligon, der in einer ausgestell- Als eine Band mit Macht die Boxen te- theatralisch zur Grabplatte umdeutet. ten Transportkiste als schwarzer Sklave stet und aus einer nahen Kirche der Kü- Die Ägypter scheinen auf ihrem Tisch zu den Weißen geschickt worden sein ster gelaufen kommt, weil man dort gar allen Nippes der heimischen Sou- will, kommt da ebenso zu Wort wie der Gottes Wort nicht mehr versteht, meint venirfabrikation feilzubieten, dabei Indianer Jimmie Durham mit seinem Kurator Pilz zufrieden: „Tja, das ist der auch jene flaue Pseudo-Archäologie, die marionettenartigen „Selbstporträt“. In Dialog der Kulturen.“ soeben bei der Biennale von Venedig einem Gewölbe des „Felsenkellers“ un- Jürgen Hohmeyer

DER SPIEGEL 26/1995 197 .. REGISTER

Gestorben ber jeglichen Re- formbedarf für die Emile Cioran, 84. War der rumänische DDR bestritten hat- Denker wirklich so pessimistisch, oder te, als FDGB-Chef hat er seinen erbarmungslosen Welt- gestürzt und aus ekel nur inszeniert? Es wird wohl ein dem Politbüro ent- Geheimnis bleiben. Denn „Auf den fernt. Da er sich Ur- Gipfeln der Verzweiflung“ – so der Ti- laubsaufenthalte auf tel seines ersten Buches, das er mit 22 FDGB-Kosten ge-

Jahren schrieb – kannte der Sohn eines DPA nehmigt hatte, ver- orthodoxen Popen sich aus: Kein Intel- urteilte das Berliner lektueller in Paris, seiner Wahlheimat Landgericht ihn wegen Untreue 1991 zu seit 1937, konnte ihn davon abbringen, einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten den Menschen immer aufs neue als ohne Bewährung. Noch während seines „Geschwür der Geschichte“ und das Prozesses räumte Tisch ein, die SED- Leben als „sinnlosen, fatalen Irrtum“ Führung habe imHerbst 1989 „kein rea- zu verdammen. „Wir haben nur die les Bild“ der Lage in der DDR gehabt. Harry Tisch starb am 18. Juni in Berlin an Krebs.

Peter Townsend, 80. Er sah aus wie der geborene Schwiegersohn. In die könig- lich-britische Familiedurfte der Flieger- held des 2. Weltkriegs 1955 dennoch nicht einheiraten. Sein Makel: Townsend war geschieden. Die junge Prinzessin Margaret, damals noch dritte in der Thronfolge, mußte sich dem Dik-

STUDIO X / GAMMA tat ihrer königlichen Schwester Eliza- beth II., der Kirche und der Regierung Wahl zwischen unerträglichen Wahr- beugen, die „Liebesgeschichte des Jahr- heiten und ersprießlichen Schwindelei- hunderts“ blieb ohne Happy-End. Die en.“ Monatelang saß er selbstbewußt Presse war auf die neben Sartre im Cafe´, ohne mit dem Lovestory aufmerk- umtriebigen Kollegen ein Wort zu sam geworden, als wechseln. Auch Camus, der ihm nahe- Margaret ihrem Of- legte, nun „inden Kreisder Ideen einzu- fizier und Gentle- treten“, erntete beleidigtes Schweigen, man bei der Krö- so konsequent verachtete Cioran alles nungsfeier für Eliza- Positive: „Existieren ist ein Plagiat.“ beth 1953 einen Fus- Als der ruhelose Mystiker des Raben- sel von der Uniform schwarzen durch seine Prosakunst dann strich. Nach der doch berühmt geworden war, erwiderte Trennung von der er mit wahren Ritualen des Verstum- Prinzessin heiratete mens: Er sei es „müde, das Universum der Bilderbuch-Bri- zu verleumden“. Emile Cioran starb am te 1959 eine Belgie- vergangenen Dienstag in Paris. rin und siedelte nach Frankreich über. Peter Townsend Harry Tisch, 68. Als Chef der 9,5 Millio- starb am vergange- nen Mitglieder starken DDR-Staatsge- nen Montag bei Pa-

werkschaft Freier Deutscher Gewerk- ris. AP schaftsbund (FDGB) verkörperte er den Typus des trickreich mauschelnden SED-Spitzenfunktionärs. Der Arbei- Urteil tersohn und gelernte Bauschlosser aus dem vorpommerschen Heinrichswalde Günter Deckert, 55, NPD-Vorsitzen- trat 1945 in die KPD ein und stieg 1961, der, erhielt vom Amtsgericht in mit 34, zum SED-Bezirkschef von Ro- Weinheim wegen Beleidigung eine stock auf. In der Ära Honecker rückte Haftstrafe von sechs Wochen ohne Tisch ins SED-Politbüro auf und wurde Bewährung. Der Rechtsextremist hat- 1975 FDGB-Chef. Für sein Renom- te unter anderem den Vorsitzenden mierobjekt, den FDGB-Feriendienst, des Zentralrats der Juden in Deutsch- ließ Tisch 1985 das durch eine ZDF-Se- land, Ignatz Bubis, mit Sätzen attak- rie bekanntgewordene „Traumschiff“ kiert wie: „Bubis raus aus dieser für die DDR kaufen. Im November Stadt, wir haben Deine Deutschen- 1989 wurde Tisch, der noch im Septem- hetze satt.“ Werbeseite

Werbeseite . PERSONALIEN

ernard Tapie, 52, bankrotter fran- ntje Vollmer, 52, Bundestagsvize- Bzösischer Geschäftsmann und sei- Apräsidentin (Bündnis 90/Die Grü- ner Ämter beraubter Politiker, ehe- nen), liebt es stilvoll. Einen Journali- mals Präsident von Olympique Mar- sten, der sie während eines Essens in seille und Eigentümer der deutschen einem Restaurant interviewen wollte, Sportartikelfirma Adidas, soll eine lud die Grüne in die eigene Büroflucht neue Chance erhalten – als Filmschau- ein: Dort sei es bei weitem angeneh- spieler. Der französische Regisseur mer. Der Reporter brauchte nichts zu entbehren. Zur gedeckten Tafel in den Räumlichkeiten der Vizepräsidentin gab es eine extra gedruckte Menükar- te. Text: „Vorspeise – Avocado mit feiner Salatfüllung, Essig-/Öl-/Kräu- ter-Dressing. Hauptspeise – Warmer, grüner Spargel in Semmelbröselbutter und Nußkartoffeln. Dessert – Mango und Papayas angerichtet mit Ahornsi- rup“.

atthew Balestrieri, 11, amerikani- Mscher Schüler, hat beste Aussich- ten, der des Jahres 2000 zu werden. Zumindest gewann er die

SIPA-PRESS 16 000 Dollar Siegprämie vor rund BETTMANN Tapie 10 000 Konkurrenten in dem von Balestrieri

Claude Lelouch („Eine Ehe“) will den Pleitier in seinem Film „Männer, Frau- eff Koons, 40, amerikanischer Künstler, ist an seiner Kunst nicht länger interes- en, Gebrauchsanweisungen“ mitwir- Jsiert. In einer Ladenburger Restauratorenwerkstatt hat der skurrile Amerikaner ken lassen. Tapie sei „ein richtiger sich und seine damalige Ehefrau Ilona Staller, bekannter als Pornogirl Cicciolina, Bühnenmensch“, ein „Schauspieler, als Liebesakt modellieren lassen: einmal „Ilona on top“, das andere Mal „Jeff on der den Job kennt“, gleichzeitig aber top“. Die beiden Plastiken gehören zur Koons-Serie „Made in Heaven“, die vor „völlig unverbraucht“; kurzum: Tapie Jahren, als sich Koons noch mit Picasso und Marcel Duchamp verglich, in der „wird ein Knüller“. Über Geld wurde Kulturszene Aufsehen erregte. Jetzt ist es still um den schrillen Kunstprofiteur ge- mit dem Talent, das Schulden in Höhe worden. Bestellt, weder abgeholt noch bezahlt , lieben sich Jeff und Ilona im im- von über 400 Millionen Mark ange- merwährenden Liebesakt auf einem Betriebshof, denn zerstören, wie von Koons häuft haben soll, noch nicht gespro- gefordert, will Restaurator und Modellierer Michael Dursy die beiden Kunstharz- chen. Lelouch: „„Natürlich wird er werke nicht. Dazu ist Koons Kunst zu teuer: 80 000 Mark schuldet der Künstler nicht wie ein Anfänger bezahlt.“ dem Handwerker noch.

ngrid Matthäus-Maier, 49, SPD- IFraktionsvize in Bonn, fühlt sich von Briten mißverstanden. Die Londoner Times hatte über das Buch „Das Schärfste war unser Turndress . . .“ berichtet, in dem Bonner Politiker zu- gunsten der Welthungerhilfe ihre Schülerstreiche aufgeschrieben haben. Dabei stellten die Londoner ein Schul- erlebnis der kleinen Ingrid so dar, als sei Tücke im Kinderspiel gewesen: „Ingrid Matthäus-Maier chased a fel- low pupil into the school toilets.“ Die Sozialdemokratin beteuert, nie im Le- ben habe sie eine Mitschülerin „gejagt oder gehetzt“. Die Kinder spielten „Nachlaufen auf dem Schulhof, und das Mädchen, das wir fangen wollten, rannte auf die Toilette“. Dort passierte das Malheur: Die Fliehende rutschte, als sie die Wand des stillen Ortes über- klettern wollte, vom Beckenrand ab und versank mit einem Bein im Ab- fluß. Die Times vermutet, das inzwi- schen erwachsene Opfer sei eine derje- nigen Wählerinnen, auf deren Stimme

Ingrid Matthäus-Maier wohl nicht M. E. HOMANN / COMMA mehr zählen könne. Koons-Plastik

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dem amerikanischen Suppenkonzern Schriftstellers Seneca, der mit dem Campbell ausgeschriebenen Wettbe- Satz begann: „Quid praecipuum in re- werb „Art of Soup“. Vor 33 Jahren bus humanis est?“ Was ist das Wesent- hatte Warhol sich mit gemalten rot- liche im menschlichen Leben? weißen Campbell-Suppendosen be- rühmt gepinselt. Balestrieris Werk im elmut Newton, 74, deutscher Star- altägyptischen Stil zeigt Sklaven, die Hfotograf, glaubt sich einem Plagiat Campbell-Suppendosen zum Pharao auf der Spur. Der russische Maler transportieren. Der Text zwischen den George Pusenkoff, der in seinen Ar- Bildern, mit dem der Elfjährige in Hie- beiten Werke westlicher Kunst mitein- roglyphen die Suppen lobt, endet mit ander konfrontiert, hatte ein Tableau den Buchstaben „Mmh“. mit dem Titel „Power of Blue“ kompo- niert: Auf dem Blau von oman Herzog, 61, Bundespräsi- läßt eine (gemalte) nackte Powerfrau Rdent, ehemaliger Präsident des von Newton – das Quadrat von Male- Bundesverfassungsgerichts und frühe- vitsch vor dem Schoß – die Muskeln rer Kultusminister von Ba- den-Württemberg, erfreut sich bester Lateinkenntnis- se. Als dem höchsten politi- schen Repräsentanten jetzt im Schloß Bellevue eine deutsche Übersetzung der bedeutendsten Rechtsamm- lung der westlichen Welt, das Corpus Iuris Civilis, übergeben wurde, unter- hielt Herzog die Versamm- lung mit Reminiszenzen an seine Übersetzungskünste im Lateinischen. So sei ihm vor dem ersten juristischen

Staatsexamen „angst und W. COX bange“ gewesen, weil er Pusenkoff-Werk „vom Römischen Recht ei- gentlich nichts wußte“. Da habe er spielen. Newton erkannte in dem Pu- glücklicherweise in der Bibliothek sei- senkoff-Werk kein Zitat, sondern nur nes Vaters „eine uralte Ausgabe des eine Kopie einer seiner Fotografien. Corpus Iuris Civilis in der lateinischen Seine einstweilige Verfügung, wonach Fassung gefunden“, die dem Latein- dem Künstler untersagt ist, „Power of crack „aus der Klemme half“. Auch Blue“ zu verbreiten oder auszustellen, die Anekdote, daß er vor 15 Jahren, bestätigte das Landgericht Hamburg damals Kultusminister, an einem Stutt- vergangene Woche. Pusenkoff ging in garter Gymnasium anonym am Latein- Berufung. Das Bild wurde angeblich abitur teilnahm, wollte Herzog der für 16 000 Mark verkauft – vor den Ge- Runde nicht vorenthalten. Der An- richtshändeln. onymus bestand „glänzend“. Zu über- setzen war ein Text des römischen ernadette Chirac, 62, Ehefrau des Bfranzösischen Staatspräsidenten, sorgt in der Modewelt Frankreichs für Aufregung. Wie jetzt auf diversen Champagnerpartys durchsickerte, hat- te Madame Chirac bei der Amtsein- führung ihres Mannes im vergangenen Monat keineswegs ein Kleid aus fran- zösischer Couturiershand getragen. Sie bevorzugte bei der feierlichen Gele- genheit ein vom italienischen Designer Valentino gestyltes Kostüm. Berna- dette Chirac hatte es nicht verwinden können, daß in der heißen Wahl- kampfphase französische Modehäuser nur Madame Balladur zu Modenschau- en einluden – wohl in der Annahme, der Chirac-Konkurrent und damalige Ministerpräsident Edouard Balladur gewinne die Wahl zum französischen Herzog Staatspräsidenten. . FERNSEHEN

MONTAG 26. 6. Zauber. Doch die optischen Defizite 20.15 – 22.05 Uhr RTL 2 dieser Sendung werden mehr als aus- Immer Ärger mit Harry 12.30 – 13.15 Uhr West III geglichen. Der WDR-Beitrag (Redak- Philosophie heute tion: Ulrich Boehm) schafft es Schritt Alfred Hitchcocks unverwesliches für Schritt, den Zuhörer am Nachden- Mensch-ärgere-dich-Spiel um eine lä- Wer im Fernsehen nur der Redselig- ken zweier Philosophen über das Ver- stige Leiche. keit der Bilder folgt, wird hier schwer hältnis von Moral und enttäuscht: Der amerikanische Rechts- Recht teilnehmen zu las- philosoph Ronald Dworkin und der sen. TV-scheue deutsche Philosophie-Alt- star Jürgen Habermas sitzen sich im 13.00 – 18.45 Uhr RTL Disput gegenüber, dazu der Modera- Tennis: Wimbledon live tor Klaus Günther, der den auf eng- lisch geführten Dialog erklärt – viel Von heute an bis zum 9. mehr wird optisch nicht geboten. Ge- Juli dreschen die Grafs gen diesen bebilderten Hörfunk wir- und die Beckers die Bälle ken die kauzigen „10 vor 11“-Verhöre bei der inoffiziellen Ten- eines Alexander Kluge, wenn er als nisweltmeisterschaft. Um stets erregter Souffleur Geistesmen- 19.30 Uhr erzählt Arte die schen zu Höchstleistungen anspornt Geschichte der „All Eng-

und allerlei Bilder-Spielchen auf dem land Lawn Tennis Cham- KINDERMANN Schirm veranstaltet, wie Hollywood- pionships“. Szenenfoto aus „Immer Ärger mit Harry“

DIENSTAG 27. 6. (Jack Lemmon, Robert Mitchum) an 23.00 – 0.39 Uhr West III Bord eines Schmugglerschiffes. Nach Die Artisten in der Zirkuskuppel: 20.10 – 22.10 Uhr Vox Jahren der Kamera-Abstinenz ver- ratlos Das Spiel mit dem Feuer mochte die skandalumwitterte Schau- spielerin in diesem englischen Melo- Die Artistin Leni P. (Hannelore Ho- Rita Hayworth als vom Leben gezeich- dram von 1957 das Publikum und die ger) will in Alexander Kluges gedan- nete Frau zwischen zwei Männern Kritik zu überzeugen. kenschwerem Film (BRD 1968) einen Reformzirkus gründen. Das Eröff- 20.15 – 21.00 Uhr ZDF nungsprogramm liest sich recht merk- Naturzeit würdig: „Die Erschießung von Kaiser Maximilian, von Clowns dargestellt“. Diesmal präsentiert die Sen- Und: „Die Eisbären zünden in der Zir- dereihe auf dem Hof eines kuskuppel ein Feuerchen an und wär- walisischen Bauern Tiere, die men sich.“ Leni hat aber mit der Grün- als heimliche Untermieter in dung Probleme. Kommentar: „Tut der dem großen Gehöft Unter- Kapitalist, was er liebt, und nicht, was schlupf und Nahrung finden. ihm nützt, wird er von dem, was ist, Der BBC-Tierfilmer Dilys nicht unterstützt.“ Leni gibt den Plan Breese beobachtete Raub- auf. Sie wartet als Fernsehangestellte, marder beim Nestbau in den steigt nach eineinhalb Jahren zur Ge- Heuballen, Dohlen, Elstern haltsgruppe IV A auf. Sie sagt: „Mit und Gebirgsstelzen als Zaun- großen Schritten macht man sich nur gäste während der Ernte. lächerlich. Aber mit lauter kleinen

KÖVESDI Auch eine Fuchsfamilie such- Schritten könnte ich Staatssekretärin „Spiel mit dem Feuer“-Stars Lemmon, Hayworth te die Nähe des Hofes. im Auswärtigen Amt werden.“

MITTWOCH 28. 6. Cluburlaub (Buch: Doris J. Heinze, spieler (Gary Busey) verfolgt, sucht Kerkeling, Regie: Ulli Baumann) sind mitten in der Nacht den vom versoffe- 20.15 – 21.44 Uhr ARD überraschende Kameraschüsse: Da nen Senator (Tony Curtis) genervten Club Las Piranjas sieht man den Touri-Bus auf einmal Professor (Michael Emil) auf – nur, durch eine gottverlassene Wüste fah- um ihm Einsteins Relativitätstheorie Spätestens wenn die Stewardess im ren, das absonderliche Hotel in der zu erklären. In diesem Film (Großbri- Flugzeug den Passagieren die Snacks gleißenden Sonne hätte Edward Hop- tannien 1985) nach einem Theater- auf den Schoß feuert, weiß der Zu- per malen können, und das Meer grüßt stück von Terry Johnson hat der engli- schauer: Im Club Las Piranjas – nomen giftiggrün. Solche Bilder entschädigen sche Regisseur Nicolas Roeg ein New est omen – erwartet den Gast nichts für den recht mühsamen Gang der Ko- Yorker Hotelzimmer zum Kosmos Gutes. So ist es dann auch. Der Pool mödie. ausgeweitet. Er schüttelt dabei frech ist ohne Wasser, der Strand eine Müll- Gegenwart, Vergangenheit und einen kippe, die Kost karg, der Terror der 21.45 – 23.30 Uhr Bayern III Ausblick in eine schreckliche Zukunft Animateure und der Clubführung Insignificance – Die verflixte Nacht durcheinander: Ein Kino-Kaleidoskop (Hape Kerkeling, Angelika Milster, aus geistreichem Witz, erotischer Ver- Judy Winter) hat Knast-Qualität. Das Die atemberaubende Blonde (Theresa ve und spaßigen cineastischen Anspie- Beste an dieser Prolo-Parodie auf den Russell), vom eifersüchtigen Baseball- lungen.

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26. Juni bis 2. Juli 1995

DONNERSTAG 29. 6. 0.50 – 2.10 Uhr ARD KIOSK Ach, diese Frauen 19.30 – 20.30 Uhr Arte Was darf’s denn sein? Der Meister spielt, und seineFrauen be- Stehlings schwarze ben – es sind sieben, eine Gattin und Für ihre Dokumentation über Kellne- sechs Geliebte. Der Meister heißt Felix Stunde rinnen zog die Autorin und Erfolgsre- und spielt Cello. Die Frauen erbeben, gisseurin Doris Dörrie („Männer“) mit weil sie wissen, Felix ist in der Liebe so- Karriere machte er über die partei- ihrem Ehemann Helge Weindler hinter gar noch besser als auf dem Cello. Um- politische Schiene, und die führte ihn der Kamera durch Münchner Szene- schichtig bevölkern sie seine Nächte. bis in die Intendanz des Norddeut- kneipen und Edel-Restaurants. Die Be- Felix sieht man nie. Sichtbarer, aber ne- schen Rundfunks (NDR). Dem dienerinnen erzählen von müden Bei- gativer Held des Films ist Cornelius, ein CDU-Parteimann Thomas Bernd nen, Trinkgeld, angenehmen und un- dummer Kritiker, der eine Biographie Stehling, einst Referent des Unions- sympathischen Gästen und vom über den genialen Künstler schreiben politikers und Zuar- Freundlichsein. will, freilich nie zu ihm vordringt. Um es beiter des verstorbe- doch noch zu schaffen, zieht er Frauen- nen Ministerpräsi- 23.00 – 23.45 Uhr ARD kleider an, aber da ist es schon zu spät: denten Uwe Bar- Goliath, gefesselt Felix ist eben gestorben – beim Spielen schel, mangelte es einer von Cornelius komponierten Cel- nie an politischer Petra Lidschreiber blickt hinter die Ku- lo-Sonate. Ingmar Bergmans Farce Lobby und Selbstbe- lissen der Uno. stammt von 1964. wußtsein. Um so här- ter trifft ihn nun sein Fall: Wegen einer FREITAG 30. 6. schees: Ein Psychokrimi auf künstlich Abrechnungsaffäre abgegrenztem Terrain enttarnt Hab- muß der stellvertre- 20.15 – 21.00 Uhr 3Sat gier, Verfressenheit und Verlogenheit tende NDR-Inten- Die Götter von Menorca des ach so guten Bürgertums. dant sein Amt abge- ben, 20 Monate vor 0.30 – 2.00 Uhr ZDF Ein ORF-Team spürte auf dem Balea- Vertragsende, ohne NDR ren-Eiland den Hinterlassenschaften Captain Invincible finanziellen Aus- Stehling einer 3000 Jahre alten Hochkultur gleich. Dem Juristen nach. Seit dem Ende der Steinzeit ste- Als fliegender Supermann hatte der un- Stehling, 44, wurde ein Scheinar- hen die „Talayotes“ auf Menorca, acht besiegbare US-Käptn mitgeholfen, Hit- beitsverhältnis zwischen seiner Frau Meter hohe Wachtürme, wahrschein- ler zu besiegen. Doch dann hat ihn und dem NDR zum Verhängnis, das lich Sitze von Oberhäuptlingen und zu- Kommunistenjäger McCarthy in den Stehling (Monatssalär: rund 25 000 gleich Totenkultstätte. In die gleiche fünfziger Jahren nach Australien ver- Mark) nach Erkenntnissen von Sen- Epoche gehören auch die „Nevetas“, grault. Jetzt gibt er sich in Sydney dem derverantwortlichen initiiert hatte. 20 Meter lange Grabstätten, und riesi- Suff hin. Einer Polizistin, einer super- Rund drei Jahre lang habe sie insge- ge tischförmige „Taulas“, die vermut- geilen australischen Bullette, und dem samt über 100 000 Mark kassiert – lich Teil eines Sternenkults waren. US-Präsidenten gelingt es, ihn wieder ohne entsprechende Gegenleistung. zum Kampf für das Gute zu gewinnen. „Stehling verlor die Bodenhaftung“, 21.15 – 21.45 Uhr ZDF So legt er das unerläßliche Trikot an, so ein Sendermitarbeiter. Die Belege Die Billig-Fahrer das am Bauch schon spannt, und besiegt fanden Martin Willich, Chef der das Böse. Ein australischer Kinnhaken NDR-Tochter Studio Hamburg, und Reporter Werner Doye´ tourte samt (1982, Regie: Philippe Mora) für das der NDR-Produktionsdirektor Joa- Team auf dem 30-Mark-Ticket der amerikanische Selbstverständnis: Der chim Lampe, als sie Stehlings Miß- Bahn durch Deutschland und beobach- Film ist so komisch, daß es ihm fast ge- management unter anderem bei Be- tete eingepferchte Familien, bierselige lingt, Superman 1, 2, 3 ff. zu parodieren teiligungen des Senders untersuch- Herrenrunden, kulturgierige Senioren, –wenn die nicht schon selbst ihre besten ten. Gegenüber der angeschlagenen langmütige Studenten, denen es nichts Parodien wären. US-Produktionsfirma World Inter- ausmacht, 14 Stunden von national Network (Win) hatte Steh- München nach Hamburg zu ling, der nur schlecht Englisch zockeln. spricht, volle Haftung für Schäden („unlimited“) akzeptiert, als der 22.55 – 0.35 Uhr ARD NDR ein Drittel der Anteile erwarb. Masken Dem Ex-Funkhausdirektor von Han- nover drohte am Ende sogar die frist- Ein Showmoderator (Phil- lose Suspendierung, ehe er freiwillig ippe Noiret) empfängt in ging. Nun sieht Verwaltungsratsche- seinem Haus den Journali- fin Christiane von Richthofen „die sten Wolf (Robin Renucci), Chance einer Stunde Null“. Neuer der über ihn eine Biogra- NDR-Vize soll Manager Lampe phie schreiben soll. Doch werden – und dabei gleich den va- Wolf sucht seine Schwester. kanten Posten des Verwaltungsdi- Regisseur Claude Chabrol rektors mitübernehmen. „Wir spa- spielt in seinem Film ren“, so Chefkontrolleurin Richtho-

(Frankreich 1987) mit LINA-CINE fen, „nicht nur unten, sondern auch längst durchschauten Kli- „Masken“-Star Noiret oben.“

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FERNSEHEN

SAMSTAG 1. 7. Kinderärztin Angela (Katharina DIENSTAG Böhm), im Kampf gegen Diabetes, 23.00 – 23.30 Uhr Sat 1 20.15 – 21.45 Uhr ARD Herzschwäche und Magersucht. SPIEGEL TV REPORTAGE Keiner sieht meine Tränen 2.00 – 3.55 Uhr ZDF Sattelfest zu sein, das ist das wichtig- Deutsch-italienisches Weißkittel-Me- Irisches Intermezzo ste für einen Rodeo-Reiter. Doch die lodram: Ein jugendlich engagierter Kampfrichter bei den Rodeo-Shows be- Stationsarzt (Massimo Dapporto) und Recorder marsch: Yves Boisset insze- werten auch Technik und Eleganz beim seine zunächst ungeliebte Kollegin, die nierte 1977 diesen poetischen Film mit Bezwingen eines bockigen Pferdes. Philippe Noiret, Peter SPIEGEL- TV-Chefredakteur Stefan Aust Ustinov und Charlotte und seine Kollegin Karin Assmann ha- Rampling. Fünf Perso- ben sich in der amerikanischen und ka- nen führt der Zufall in nadischen Rodeo-Szene umgeschaut. einem irischen Dorf zu- sammen. Die Stuttgarter MITTWOCH Zeitung: „An diesem 22.05 – 22.55 Uhr Vox Film stimmt fast alles: SPIEGEL TV THEMA die wehmütige Stim- mung der herbstlichen Fans – zwischen Anbetung, Fanatismus Landschaft der kargen und Selbstaufgabe. Zu Gast: Fans der Insel, die heiteren Le- Kelly Family, von Roy Black und Franzis- benswahrheiten.“ Eine ka van Almsick. sehr irische besonders: „Die Wirklichkeit ist ei- FREITAG ne Halluzination, die 22.05 – 22.40 Uhr Vox

CINETEXT aus Mangel an Alkohol „Irisches Intermezzo“-Darsteller Edward Albert, Noiret entsteht.“ SPIEGEL TV INTERVIEW Kein deutscher TV-Star ist im Ausland so bekannt wie der ewige Oberinspektor SONNTAG 2. 7. sich im ersten Spielfilm von David Ma- met (USA 1987) das ungleiche Paar 18.40 – 19.09 Uhr ARD nach dem Motto: Jede Sekunde wird Lindenstraße ein Dummer geboren – und zwei, die ihn ausnehmen. Der Betrug, bei dem 500. Folge. Giftnudel Else Kling ver- auch der Zuschauer trickreich ver- sucht vergeblich, ihre Lieblingsserie im schaukelt wird, endet tödlich. Das Fernsehen – es ist die Lindenstraße – doppelbödige Kinostück wirkt, ob- zu sehen. Da lachen alle Selbstreferen- wohl sehr theatralisch, dennoch sicher dare. und tricky.

20.15 – 22.05 Uhr Sat 1 2.35 – 4.10 Uhr Kabel 1

Mordnacht in L. A.: Die O. J. Drei Mann auf einem Pferd ACTION PRESS Simpson Story Tappert . . . haben gut wiehern, weil sie siche- Noch während O. J. Simpson auf sein re Renntips eines weltfremden Dich- Derrick. Anläßlich der Verleihung des Urteil wartet, kaufte Sat 1 die erste terlings für sich ausnutzen wollen. italienischen Fernseh-Oscars begleite- Filmfassung des Falles. Was vor Ge- Doch aus dem großen Geld wird te SPIEGEL TV INTERVIEW Derrick-Dar- richt noch gar nicht geklärt ist, ver- nichts. Fünfziger-Jahre-Humor mit steller Horst Tappert nach Sizilien. meint Regisseur Jerrold Freedman Walter Giller und Nadja Tiller. (Drehbuch: Stephen Harri- SAMSTAG gan) genau zu kennen: die 21.55 – 23.35 Uhr Vox blutigen Geschehnisse in der Nacht vom 12. auf den SPIEGEL TV SPECIAL 13. Juni 1994. Christiane F. oder Endstation Sucht – was ist aus dem Drogenkind der Nation 23.00 – 0.40 Uhr ARD geworden? SPIEGEL TV SPECIAL gibt Haus der Spiele Einblicke in ein Leben zwischen Ruhm und Enttäuschung. Eine erfolgreiche Psycholo- gin (Lindsay Crouse), die SONNTAG am wenigsten sich selbst 21.52 – 22.32 Uhr RTL helfen kann, gerät an einen Spieler, der sie nicht aus- SPIEGEL TV MAGAZIN zutricksen vermag. Aber Der alltägliche Krieg – Tschetschenen die Voraussetzungen sind in Moskau / Nackte und Rote – FKK- in Wahrheit wie bei ei- Streit im Politbüro / Hannover zwischen

nem Kartenspielertrick ver- U. RÖHNERT Kimme und Korn – das weltgrößte tauscht, dauernd betrügt „Haus der Spiele“-Darsteller Crouse (l.) Schützenfest.

204 DER SPIEGEL 26/1995 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Zitat Die Schweizer Sonntagszeitung über einen SPIEGEL-Abonnenten:

Aus dem Trierischen Volksfreund Walter Stürm, Ausbrecherkönig der Na- tion, narrt die Behörden auch nach sei- Y nem achten Gefängnisausbruch von En- Aus einer Veröffentlichung des Rings de Mai aus der Strafanstalt Bochuz bei Christlich-Demokratischer Studenten Orbe. Umtriebe haben diesmal die (RCDS), Münster: „Aus Umweltschutz- PTT*. Die können ihm nämlich Zeit- gründen sind im folgenden Wörter wie schriften wie DER SPIEGEL nicht mehr Student, Professor,Uni und ,Jupp‘alsge- zustellen. Stürm, das mußten gewissen- schlechtsneutral zu betrachten.“ hafte Pöstler nach Hamburg melden, sei Y „abgereist“ und erst noch „ohne Adres- senangabe“. Aus dem Schwarzwälder Boten: „Die von den MVA (Müllverbrennungs-Anlage)- Der Spiegel berichtete . . . Gegnern gefürchteten, aber im Müll nun einmal enthaltenen Dioxine und Frauen . . . in Nr. 24/1995 FRAGWÜRDIGE PRA- würden mitkaltenVerfahren nureingela- XIS über professionelle Drücker, die für gert und keinesfalls vernichtet.“ die Union Spenden bei Unternehmen eintreiben. Die Sammler erhielten bis zu Y 40 Prozent der Gelder als Provision.

In einer Bundestagsanfrage, die sich in dieser Woche mit dem Thema beschäftig- te, sagte der Parlamentarische Staatsse- kretär und CSU-Schatzmeister , er gehe davon aus, „daß die Spende in voller Höhe der Partei zufließt und der Spendensammler seine Provision Aus dem Bonprix-Katalog von der Partei erhält“. Wie hoch die Be- lohnung fürden Drücker ausfalle,seieine Y „Stilfrage“.

. . . in Nr. 2/1995 DIE HEILIGE MAFIA DES PAPSTES über den erzreaktionären katholischen Geheimbund Opus Dei und seinen Vormarsch in Deutschland.

Die deutscheZentraledesOpusDeikann Aus TV neu sich seit letzter Woche höchster staatli- cher Anerkennung füreines ihrer führen- Y den Mitglieder erfreuen: Professor Dr. Aus der Westdeutschen Allgemeinen Jorge Cervo´s-Navarro empfing aus der Zeitung: „Wie Uwe Wesp vom Wetter- Hand des Berliner Senators für Wissen- dienst erklärte, trifft der Sparkurs zehn schaft und Forschung, Manfred Erhardt, Prozent der bundesweit rund 3000 Mit- dasVerdienstkreuz 1.Klasse der Bundes- arbeiter. Es werde aber keine Entlas- republik Deutschland. In der Laudatio sungen geben. Auswirkungen aufs Wet- preist Erhardt den Berliner Professor als ter sind nicht zu erwarten.“ „Wissenschaftler von hohem internatio- nalem Rang“ mit großen Verdiensten bei Y langjährigen Ostkontakten. Unerwähnt blieb dagegen, daß Cervo´s-Navarro seit Jahrzehnten führend tätig ist im Berliner Opus-Dei-Zentrum und aktiv beteiligt an der Ausdehnung des Geheimbundes in Richtung Osten. Dies habe man – so ent- Aus Immo-Real, Verlagsbeilage der schuldigte sich die Pressereferentin Er- Frankfurter Allgemeinen hardts – bei der Lektüre des SPIEGEL- Y Artikels schlichtweg übersehen. Die Or- Aus Das Parlament: „Könnte es sich bei densvergabe erfolgte auf Vorschlag des der Reichstagsverhüllung nicht einfach Präsidenten der Freien Universität Jo- um eine selbstreferentielle ästhetische hann Wilhelm Gerlach. Der wiederum Symbolik handeln, die mit einem gro- betrachtet die Opus-Dei-Tätigkeit Cer- ßen Aufwand appellativer Begleitrheto- vo´s-Navarros als „Privatangelegenheit“. rik eine medial verstärkte Massenreso- * Hochdeutsch: Probleme haben diesmal die nanz erfährt?“ Schweizer Postdienste. –Red.

206 DER SPIEGEL 26/1995