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SWR 2 Musikstunde:
Standards – Zeitlose Jazzgeschichten:
X: The New Standards – Popsongs im Jazz
5.November 2011
Autor: Thomas Loewner
Redakteur: Martin Roth
Moderation 1: Jazz war schon immer eine Musik, die sehr offen gegenüber anderen
Musikstilen war. Dies spiegelt sich auch darin wieder, welche
Kompositionen Musiker auswählen, um sie neu zu arrangieren. In den
1930er und 1940er Jahren waren es die Komponisten des Great
American Songbook, die das Material lieferten, an dem sich Jazzer
abarbeiteten: Cole Porter, George und Ira Gershwin oder Rodgers &
Hart. Seitdem aber Rock- und Popmusik populärer geworden sind,
haben sie immer deutlichere Spuren im Jazz hinterlassen. Von den
Beatles und Frank Zappa bis hin zu aktuellen Bands und Künstlern
wie Björk und Radiohead reicht die Bandbreite der Musiker, die für
immer mehr Jazzer wichtige Inspirationsquellen sind. Deren Songs
stehen längst gleichberechtigt neben denen der „Klassiker“ und haben
in den vergangenen Jahren das Standard-Repertoire zunehmend
erweitert. In der heutigen Musikstunde gibt’s einige dieser „New
Standards“ zu hören. Einer der Vorreiter dieser Entwicklung war – mal
wieder – Miles Davis, der ja so manchen Trend im Jazz eingeläutet
hat. Hier ist er mit seiner Version von Cyndie Laupers Hit „Time after
time“: 3
Musik 1: CD Miles Davis - „You’re under arrest“: „Time after time“
(Take 7, Länge 3’39)
Moderation 2: Miles Davis mit seiner Version des Cyndie Lauper Hits „Time after
time“, erschienen 1985 auf „You’re under arrest“. Davis läutete mit
dieser Platte damals einen neuen Trend im Jazz ein: Popmelodien
waren plötzlich kein Tabu mehr und Jazzmusiker haben seitdem
immer häufiger Songs aus den Bereichen Pop, Rock und Electronic in
ihr Repertoire aufgenommen. Dass Miles Davis diese Entwicklung
angestoßen hat, ist eine folgerichtige Konsequenz seiner
musikalischen Entwicklung: mit seinem berühmtesten Album „Kind of
Blue“ aus dem Jahr 1959 hatte er bereits das modale Spiel im Jazz
eingeführt, bei dem nicht mehr wie zuvor üblich über
Harmoniewechsel improvisiert wurde, sondern Tonskalen das
Ausgangsmaterial dafür lieferten. Nun bestehen ja Pop- und
Rocksongs häufig auch nur aus einfachen oder sogar sich ständig
wiederholenden Akkordfolgen, den so genannten Vamps. Somit
bieten sie beste Voraussetzungen für die modale Improvisation. Hinzu
kommt, dass die häufig sehr eingängigen Themen ein gutes
Ausgangsmaterial für Improvisationen sind.
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Miles Davis war aber auch deshalb zeitlebens so erfolgreich, weil er
immer einen guten Riecher für musikalische Trends hatte. So erkannte
er beispielsweise Mitte der 1960er Jahre als einer der ersten Jazzer
die enorme Kraft der Rockmusik - welche Emotionen sie damals bei
den Menschen auszulösen imstande war. Seine Antwort darauf war
der Jazzrock, den er auf seiner Platte „Bitches Brew“ schon früh
perfektioniert hatte. Davis verstand Jazz immer auch als Spiegel
musikalischer Entwicklungen und mit dieser Haltung ist er zum
Vorreiter für nachfolgende Musiker-Generationen geworden.
Heute gibt es viele Jazzmusiker, die offen zeigen, dass Pop- und
Rockmusik sie stark beeinflusst haben. Einer, dem das schon seit
Jahren immer wieder auf sehr originelle Weise gelingt, ist der Gitarrist
Bill Frisell. Seine CD „Have a little faith“ aus dem Jahr 1993 ist so
etwas wie eine Werkschau seiner wichtigsten Inspirationsquellen:
Frisell und Band haben dafür Kompositionen und Songs von Aaron
Copland und Charles Ives bis hin zu Madonna und dem Singer /
Songwriter John Hiatt neu eingespielt. Und auch Bob Dylan durfte in
dieser Auswahl natürlich nicht fehlen: hier ist Bill Frisell mit seiner
Version des Dylan-Klassikers „Just like a woman“:
Musik 2: CD Bill Frisell - „Have a little faith“: „Just like a woman“ (Take 9, Länge 4’49) 5
Moderation 3: Bill Frisell und Band mit ihrer Version von Bob Dylans „Just like a
woman“.
Ein Rockmusiker, der Zeit seines Lebens eine eigene Nische in der
Pop- und Rockmusik besetzt hat, war Frank Zappa. Der Komponist,
Gitarrist und Sänger hat sich virtuos aller Genres bedient: von Klassik
über Jazz bis zu Rock und Blues. Daraus kreierte er einen
unverwechselbaren Sound, indem er die unterschiedlichen Einflüsse
collagenhaft miteinander verknüpfte. Hinzu kam Zappas besonderer
Sinn für Humor, der sich in seinen Songtiteln und –texten, aber auch
Äußerungen zur Musik niedergeschlagen hat.
Der britische Keyboarder und Komponist Colin Towns hat ein
Programm ausschließlich mit Zappa-Kompositionen ausgearbeitet,
dass er 2004 gemeinsam mit der NDR Bigband erstmals aufführte. Die
Verbindung Zappa – Towns macht Sinn: denn auch Colin Towns ist
ein enorm vielseitiger Musiker, der sich nicht um Genregrenzen schert.
Angefangen hat er als Rock-Keyboarder, danach folgten mehrere
Jahre als Komponist für Film und Fernsehen. Mit dem Geld, das er in
dieser Zeit verdient hat, gründete Towns Mitte der 1990er Jahre eine
eigene Bigband. Von jetzt an hatte er die Möglichkeit, seine
vielseitigen musikalischen Interessen unter einen Hut zu bringen. Die
Arbeit mit seinem eigenen Orchester sorgte schon bald für Aufsehen
und Colin Towns wurde zu einem äußerst gefragten Bigband 6
Arrangeur, der seitdem regelmäßig Anfragen von renommierten
Orchestern wie der NDR oder hr-Bigband bekommt.
Sein Zappa-Projekt gemeinsam mit der NDR-Bigband ist ein sehr
gutes Beispiel dafür, wie es Towns gelingt, alles aus solch einem
Klangkörper heraus zu holen: unter seiner Leitung paart sich die
Komplexität des Jazz mit der Energie des Rock:
Musik 3: CD Colin Towns & NDR Bigband - „Frank Zappa’s Hot Licks“: „Peaches en Regalia“ (Take 2, Länge 4’32)
Moderation 4:
Colin Towns und die NDR Bigband bei der SWR 2 Musikstunde: das
war eine Bearbeitung der Komposition „Peaches en Regalia“ von
Frank Zappa.
Mit dem Aufkommen des Jazzrock Ende der 1960er Jahre fielen auch
zunehmend die Berührungsängste zwischen Jazz-, Rock- und
Popmusikern, es kam zunehmend zu Zusammenarbeiten. Die Singer /
Songwriterin Joni Mitchell umgab sich beispielsweise sehr gern mit
Jazzern. Vor allem ihre beiden Platten Hejira und Mingus entstanden
unter Mitwirkung einiger der damals einflussreichsten Musiker: der E-
Bassist Jaco Pastorius drückte den Alben mit seinem
charakteristischen Sound seinen Stempel auf und mit dem Pianisten 7
Herbie Hancock und Saxophonist Wayne Shorter waren bei den
Aufnahmen zu „Mingus“ auch zwei der Musiker dabei, die in den
Gruppen von Miles Davis den Jazzrock entscheidend mit vorbereitet
hatten.
2007 veröffentlichte Herbie Hancock mit „River: The Joni Letters“ eine
CD, die entscheidend von der Musik Joni Mitchells inspiriert worden
ist. Fast alle Titel auf dem Album stammen von ihr, die im Laufe ihrer
langen Karriere zahlreiche Popklassiker komponiert hat. Hancock hat
diese Songs behutsam neu arrangiert und ihren Jazzkern stärker
herausgearbeitet. Als Sänger konnte er für sein Projekt diverse
prominente Gäste gewinnen: Tina Turner, Leonard Cohen oder Norah
Jones. Und auch die britische Soulsängerin Corinne Bailey Rae hat
einen Gastauftritt: sie singt „River“, einen Song von Joni Mitchells
Album „Blue“ aus dem Jahr 1971:
Musik 4: CD Herbie Hancock - „River – The Joni Letters“: „River“
(Take 4, Länge 5’27)
Moderation 5: Joni Mitchells „River“, neu interpretiert von Herbie Hancock auf der CD
„The Joni Letters“, seinem Tribute an die Musik der amerikanischen
Songwriterin aus dem Jahr 2007. Corinne Bailey Rae war hier als
Gastsängerin zu hören.
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Auch Nguyên Lê ist ein Musiker mit einem weit gesteckten
musikalischen Horizont: Lê entstammt einer vietnamesischen Familie,
lebt aber seit seiner Geburt in Paris. Als Gitarrist ist er Autodidakt, was
wahrscheinlich auch ein Grund für seine Vielseitigkeit ist: denn Lê
lernte vor allem durchs Hören und Nachspielen unterschiedlichster
Musik. Paris bot ihm mit seiner lebendigen Rock-, Weltmusik- und
Jazz-Szene viele Möglichkeiten. Mit 18 Jahren ging er außerdem für
einige Zeit nach Vietnam, wo er seine musikalischen Wurzeln
erforschte.
Längst hat Lê einen Stil entwickelt, der ihn einzigartig macht: sein
Gitarrensound vereint charakteristische Züge der vietnamesischen Art
das Instrument zu spielen, er kann aber auch brachial losrocken oder
schnelle, jazzige Läufe einstreuen. Auch als Arrangeur liebt Lê es
bunt: für seine aktuelle CD „Songs of Freedom“ nahm er etwa eine
Version des Beatles-Songs „Eleanor Rigby“ auf. Die Melodie erkennt
man noch, ansonsten hat der Gitarrist aus dem Popklassiker
allerdings ein Stück mit einem komplett anderen Charakter gemacht:
Musik 5: CD Nguyên Lê – „Songs of Freedom“: „Eleanor Rigby“
(Take 1, Länge 7’05)
Moderation 6: Der französich-vietnamesische Gitarrist Nguyên Lê und Band mit einer
neuen Version des Beatles-Songs „Eleanor Rigby“. 9
Wie sehr die Pop- und Rockmusik heute Musiker anderer Genres
beeinflusst zeigt auch das nächste Beispiel: Christopher O’Riley aus
Chicago hat Karriere als Interpret klassischer Musik gemacht, seine
Einspielungen reichen von Aufnahmen der Werke Jean-Philippe
Rameaus über Maurice Ravel bis hin zu John Adams.
Als Jugendlicher spielte er jedoch in Rock- und Jazzbands und seine
Begeisterung für diese Musik hat sich nie gelegt. Vor einigen Jahren
fing er an, zunächst Songs von der britischen Rockband Radiohead
für Klavier zu arrangieren und spielte sie 2003 erstmals öffentlich in
seiner eigenen Radioshow beim amerikanischen National Public
Radio. Was als Pausenfüller gedacht war, entpuppte sich als Erfolg.
Es kamen Anrufe von Hörern, die fragten: „Wer ist dieser Mr. Head
und wo kann ich mehr Musik von ihm finden?“ O’Riley fing also an,
sich mehr in die Materie einzuarbeiten und nach einer ersten CD mit
Radiohead-Songs folgten weitere mit Bearbeitungen der Stücke
anderer Songwriter, etwa Nick Drake oder Elliott Smith.
2005 kehrte O’Riley noch einmal zu den Songs von Radiohead
zurück: nach seinem Debüt „True Love Waits“ legte er mit „Hold me to
this“ eine zweite CD ausschließlich mit Songs der britischen Band
nach. Daraus jetzt „No Surprises“:
Musik 6: CD Christopher O’Riley – „Hold me to this – O’Riley plays Radiohead „No Surprises“
(Take 3, Länge 3’27)
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Moderation 7: Christopher O’Riley mit seiner Version des Radiohead-Songs „No
Surprises“.
Ein ganzes Album mit Coverversionen hat die portugiesische
Sängerin Maria Joao im Jahr 2002 veröffentlicht. Ihre Auswahl
enthält neben einigen brasilianischen Songs vor allem englisch-
sprachige Pop- und Rock-Klassiker. Joaos Interessen sind sehr
vielfältig, neben „Black Bird“ von den Beatles sind zwei Songs von
Tom Waits oder je einer von U2 und Sting dabei. Gemeinsam mit
ihrem langjährigen Pianisten Mario Laginha hat die Sängerin
einfallsreiche Arrangements für die Stücke geschrieben, die die
Songs immer wieder von einer überraschenden Seite zeigen. Vor
allem mit ihrer prägnanten Stimme verleiht Maria Joao den Songs
eine eigene Note: in ihrer typischen Art singt sie mal wie ein kleines
Mädchen und macht reichlich Gebrauch von Nasallauten. Besonders
gut gelungen ist ihr die folgende Bearbeitung: die Ballade „Unravel“
von Björk, die ja ihrerseits eine unverwechselbare Stimme hat.
Trotzdem schafft es Maria Joao, sich mit ihrer Version vom Original
abzusetzen:
Musik 7: CD Maria Joao - „Undercovers“: „Unravel“
(Take 4, Länge 3’58)
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Moderation 8: Die Musikstunde bei SWR 2 mit Maria Joao und ihrer Version des
Björk-Songs „Unravel“.
Ein in zweifacher Hinsicht ungewöhnliches Projekt ist die Band
„Deep Schrott“ um den Kölner Saxophonisten Dirk Raulf:
bemerkenswert ist da zunächst mal die Besetzung: „Deep Schrott“
sind ein Saxophon-Quartett, das Besondere daran: alle vier Musiker
spielen Bass-Saxophone, womit das Quartett nach eigener Aussage
das „einzige Bass-Saxophon-Quartett des Universums“ ist. Und weil
es für eine Besetzung, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat,
auch keine Literatur gibt, auf die sie zurückgreifen könnte, haben die
vier Musiker von „Deep Schrott“ ihr Repertoire kurzerhand selbst
arrangiert und komponiert. Obwohl sie allesamt im Jazz zuhause
sind, zeigte sich bei der Musikauswahl, dass alle auch ein Faible für
Rock- und Popsongs haben. So finden sich unter den Stücken auf
der Debüt-CD „One“ Bearbeitungen von Songs der Beatles, den
frühen Fleetwood Mac oder Led Zeppelin. Die eigentliche
Überraschung ist aber die nun folgende Nummer: „Can’t get you out
of my head“, einer der ganz großen Hits von Kylie Minogue:
Musik 8: CD Deep Schrott - „One“: „Can’t get you out of my head“
(Take 13, Länge 3’48) 12
Moderation 9: Das hätte sich Kylie Minogue vermutlich nicht träumen lassen: ihr Hit „Can’t get you out of my head“ in einer Bearbeitung für vier Bass- Saxophone, arrangiert und eingespielt von der Band „Deep Schrott“.
Würde man eine Liste der Bands erstellen, bei deren Songs sich Jazz- Musiker besonders häufig bedienen, um sie neu zu arrangieren, würde die irische Band U2 bestimmt einen der vorderen Plätze belegen. Aber es verwundert auch nicht: viele Songs der Band eignen sich bestens für Jazz-Arrangements. Die Melodielinien klingen auch noch gut, wenn sie nicht gesungen sondern von einem Instrument gespielt werden. Das ist nicht immer der Fall, häufig entpuppen sich reine Instrumental- Versionen von ansonsten überzeugenden Songs als ziemlich schmalbrüstig.
Der schwedische Pianist Jacob Karlzon hat für seine aktuelle CD „The Big Picture“ ebenfalls auf einen U2-Song zurückgegriffen. Karlzon, der neben seinem eigenen Trio als Leiter und Komponist der Band der schwedischen Sängerin Viktoria Tolstoj arbeitet, kennt sich aus mit Songs und ihrer unterschiedlichen Wirkung, abhängig davon ob sie gesungen oder rein instrumental interpretiert werden. Insofern überrascht es nicht, das „In God’s Country“ von U2 auch ohne Gesang sehr gut funktioniert.
Mit Karlzons Bearbeitung endet die heutige Musikstunde bei SWR 2. Mehr zeitlose Jazzgeschichten dann wieder am ersten Samstag im Dezember: da macht meine Kollegin Julia Neupert einen Streifzug durch die Welt der Bossa Nova. Mein Name ist Thomas Loewner, Ihnen noch ein schönes Wochenende und tschüß bis demnächst!
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Musik 9: CD Jacob Karlzon - „The Big Picture“: „In God’s Country“
(Take 5, Länge 6’36)