Dichtergedichte als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde

Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philologischen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i. Br.

Vorgelegt Von Jae Sang Kim aus Seoul, Südkorea

WS 2006/2007

Datum der Fachprüfung im Promotionsfach: 14. Juni 2007 Erstgutachter: Prof. Dr. Achim Aurnhammer Zweitgutachter: Prof. Dr. Dieter Martin

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach ermöglichte 1996 mir mit einem Marbach- Stipendium den dreimonatigen Forschungsaufenthalt in Marbacher Archiv.

Dafür bedanke ich mich ganz herzlich.

Inhalt

I. Einleitung ...... 6

II. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club ...... 8

1. Nietzsches Spätphilosophie – Der Wille zur Macht und »décadence«-Kritik .. 11 1.1 Nietzsches Lehre des Willens zur Macht – die ontologische Begründung des neuen Daseinsprinzips ...... 11 1.2 Analyse des Nihilismus – »décadence« als die Logik des Nihilismus ... 15 1.3 Überwindung des Nihilismus und die »Physiologie der Kunst« – Kunst als das normative Modell des Willens zur Macht ...... 19

2. Nietzsche-Rezeption im Expressionismus – am Beispiel des Neuen Clubs .... 24

III. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde – Verehrung und Überwindung der Dichtervorbilder in expressionistischen »Dichtergedichten« ...... 38

1. Zum Terminus des »Dichtergedichts« ...... 38 1.1 Definitions- und Typisierungsversuch ...... 38 1.2 Abgrenzung des Begriffs »Dichtergedichte« von benachbarten Begriffen und sein Auswahlprinzip ...... 40 1.3 Dichtergedicht als Parodie – Drei Formen der Parodie: »Einzeltext-«, »Textklassen-« und »Personenparodie« ...... 44

2. Die Verehrung der Dichtervorbilder in Dichtergedichten – Selbststilisierung und Gruppenkohäsion ...... 46 2.1 Hebbel-Verehrung: Gottfried Benn, Der junge Hebbel (1913) ...... 46 2.2 Frühexpressionistische Dichtergedichte auf Heinrich von Kleist ...... 59 2.2.1 Paul Zech, An Heinrich von Kleist (1911) ...... 59 2.2.2 Johannes R. Becher, Der Ringende (1911) und Kleist (1912/13) .. 69 2.3 Kleist-Verehrung im Spätexpressionismus – Hans Franck, Kleist (1919) 88

Inhalt 5

3. Die Dichtergedichte als parodistische Überwindung der Vorbilder ...... 94 3.1 Kurt Pinthus’ Parodien auf die »Dichterväter« der klassischen Moderne . 94 3.1.1 Parodien auf Detlev von Liliencron, Alfred Mombert und Richard Dehmel – Biographische Deutung der »Dichterväter« 99 3.1.2 Personenparodie auf Stefan George – Parodie auf die ästhetizistische Dichterschule des fin de siècle . 114 3.2 Destruktive Überwindung der »Dichterväter« im Zeichen des »Übervaters« Nietzsche − Gottfried Benns parodistisches Dichtergedicht auf Stefan George, Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke (1912) 119 3.3 Die parodistische Überwindung des Wiener Ästhetizismus − Alfred Lichtensteins Parodie auf Felix Dörmann (Komisches Lied, 1911) ...... 138

IV. Schlussbemerkung ...... 149

V. Literaturverzeichnis ...... 152 1. Primärtexte ...... 152 2. Sekundärliteratur ...... 153

VI. Anhang ...... 158 1. Dichtergedichte des Expressionismus ...... 158 1.1 Ahnen ...... 158 1.2 Väter ...... 219 1.3 Brüder und Schwestern ...... 255 2. Verzeichnis der Verfasser ...... 330

I. Einleitung

Als der Expressionismus sich zu formieren begann, also kurz nach der Jahrhundert- wende, bildete sich in Deutschland eine bemerkenswerte Konstellation des literarischen Feldes. Die Jahrhundertwende zeichnet sich durch ein Nebeneinander verschiedener avantgardistischer Gruppierungen aus. Die Vielfalt literarischer Strömungen reicht von einem weltabgewandten Ästhetizismus bis zu einem gegenwartsverhafteten Realismus. Der Expressionismus orientierte sich an den diversen avantgardistischen Bewegungen, nahm er doch zugleich als ihr Erbe auch ihre Varietäten auf: er ist keine homogene künstlerische Bewegung, seine zahlreichen Manifeste und Programme zeugen nicht von einem einheitlichen Programm oder verbindlichen Grundsatzerklärungen, sondern viel- mehr von einer Divergenz theoretischer, programmatischer und ästhetischer Ansätze. Es fällt daher nicht leicht, ein geschlossenes Bild des Expressionismus zu entwerfen und ihn von den vorausgegangenen Avantgarden abzugrenzen. Man sollte die Einheitlich- keit des Expressionismus weniger stilgeschichtlich als geistesgeschichtlich begründen. Die Sozialstruktur und Altersstruktur der expressionistischen Gruppierungen zeigt, dass der Expressionismus im Kern von einer jungen Generation getragen wurde: Fast alle Autoren sind in einem engen Zeitraum von 11 Jahren, nämlich von 1885 bis 1896, geboren und akademisch gebildet. Außerdem entstammen sie zumeist dem gehobenen bürgerlichen Milieu.1 Diese biographischen Gemeinsamkeiten begründen eine Generationszugehörigkeit, die sich in einer kollektiven Gruppierung von Individualitäten und Gesinnungen nieder- schlägt. Ihre Identität liegt also im Zusammenhalt von Gruppen begründet.2 In dieser Hinsicht entspricht der Expressionismus einer ›Kohorte‹, also einem Aggregat von In- dividuen, die in einem Zeitintervall geboren sind, innerhalb gleicher Altersintervalle gleiche gesellschaftliche Ereignisse erlebt haben und über ähnliche verhaltens- beeinflussende Erfahrungen verfügen. Somit ist er als eine mentalitätsgeschichtliche Neuorientierung zu charakterisieren. Solche Bemühungen zur Neuorientierung sind her- vorgegangen aus krisenhaften Erfahrungen, die die Expressionisten um die Jahrhundert- wende gemacht haben: Sie zehrten vom traditionellen Erbe des 19. Jahrhunderts einer- seits, sie erlebten und durchlitten aber zugleich intensiv die einschneidenden Veränderungen des frühen 20. Jahrhunderts wie Industrialisierung, die technische Ent- wicklung, das anonyme Großstadtleben und die Massenarmut andererseits.

1 Vgl. Walter Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890–1933, u. Weimar 1998, S. 128f. 2 Vgl. Hans Esselborn, Der literarische Expressionismus als Schritt zur Moderne, in: Die literarische Moderne in Europa. Bd. I: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende, hg. v. Hans Joachim Piechotta, Ralph-Rainer Wuthenow und Sabine Rothemann. Opladen 1994, S. 416f. Einleitung 7

Umstritten in der Expressionismus-Forschung ist, welches dichterische Selbstver- ständnis die expressionistischen Gruppenbildungen fundiert und wie es im Lauf der ex- pressionistischen Phase kodifiziert und verteidigt wird. Die Herausbildung des literari- schen Selbstbewusstseins der expressionistischen Generation, die unter dem Einfluss des kulturellen Erbes des 19. Jahrhunderts heranwuchs, setzt die Bewältigung dessen voraus, was vor dem Expressionismus als literarische Tradition oder etablierte literari- sche Autoritäten galt. Solche Auseinandersetzungen der Expressionisten mit der Tradi- tion finden intensiv vorzugsweise in Dichtergedichten statt, deren Untersuchung sich meine Arbeit zum Ziel setzt. Es ist bemerkenswert, dass in diesen Gedichten Autoren verschiedener ästhetischer Schulen zum Gegenstand werden und dass sie während des expressionistischen Jahrzehnts3 in großer Zahl publiziert wurden. Darin spiegelt sich das geistige Ringen der jungen Expressionisten wider, nach ihrer Identität als Dichter zu suchen.

3 Bezüglich der literarhistorischen Periodisierung des Expressionismus ist die resolute zeitliche Ein- grenzung auf das »expressionistische Jahrzehnt« (1910–1920) freilich nicht unumstritten, von dem bereits Gottfried Benn in der Einleitung zu der Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955) gesprochen hat. In meiner Arbeit sollen daher auch die Quellenmaterialien der zwanziger Jah- re berücksichtigt werden, die noch deutlich vom Expressionismus geprägt sind. II. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club

Wir um 70 geborenen stehen Nietzsche zu nahe […]. Unser Nietzsche ist der Nietzsche militans. Und Nietzsche triumphans gehört den 15 Jahre nach uns Geborenen – Thomas Mann.4

Die Jahrhundertwende war eine Epoche des Umbruchs und des Aufbruchs. Nietzsche, der mit seiner Gott-ist-tot-Philosophie den Nerv der geschichtlichen Situation der Mo- derne traf, markierte einen kulturellen Neuanfang. Denn er deckte den für die moderne Welt symptomatischen Verlust aller metaphysischen Inhalte auf und zeigte zugleich die Möglichkeiten auf, diesen Sinnverlust zu überwinden. Die Breitenwirkung Nietzsches um die Jahrhundertwende verdankt sich aber weniger seiner philosophischen Lehre als dem besonderen Umstand, dass er für manche Intellektuellen der klassischen Moderne die eigene Befindlichkeit verkörperte. Nach Auflösung aller dogmatischen und morali- schen Bindungen, so glaubten viele, bliebe nur noch die individuelle und perspektivi- sche Einschätzung der Dinge und der Welt übrig. So wird die vorexpressionistische Nietzsche-Rezeption um die Jahrhundertwende von einem »trivialen Übermenschen- kult«5 geprägt, dessen Breitenwirkung sich vor allem dem meistgelesenen Werk Nietz- sches Also sprach Zarathustra verdankt. Manche sahen in der Figur Zarathustras einen außerordentlichen und heroischen Menschen, mit dem sie sich identifizierten. Ins- besondere ist die Nietzsche-Rezeption des ersten Jahrzehnts nach dem geistigen Zu- sammenbruch des Philosophen eine »unphilosophische«, 6 die vom Phänomen des »Mode-Philosophen«7 Nietzsche getragen wird. Die Beschäftigung mit Nietzsche steht unter dem Vorzeichen geistiger Orientierung: man betrachtete ihn als die Antizipation des besonderen Schicksals der eigenen Generation, also mehr als Zeitgenossen denn als Klassiker. Mit dem Tod Nietzsches im Jahre 1900 zeichnet sich aber zugleich die Historisie- rung des Phänomens Nietzsche ab. Richard Dehmel, selbst einmal glühender Verehrer des Lebensphilosophen, distanzierte sich deutlich von ihm. Johannes Schlaf, der Nietz- sche neben Walt Whitman zum Prototyp der neuen Zeit stilisierte8, sprach gar von ei-

4 Thomas Mann, Notizen zu Geist und Kunst, Nr. 103 (1909), zit. nach: Nietzsche und die deutsche Li- teratur, mit einer Einführung hg. v. Bruno Hillebrand, Tübingen 1978, S. 157 [im folgenden: Nietz- sche und die deutsche Literatur]. 5 Nietzsche und die deutsche Literatur, S. 51. 6 Robert Musil, Tagebucheintragung Etwas über Nietzsche (1899), ebd., S. 140. 7 Heinrich Mann, Zum Verständnis Nietzsches (1896), ebd., S. 106. 8 Johannes Schlaf, Walt Whitman (1904), ebd., S. 145: »Und doch: schon begannen die beiden Typen und Charaktere in diesen neuesten Zeiten, an der Wende dieses 19. und 20. Jahrhunderts in Klarheit hervorzutreten; und nebeneinander habe ich die Vision zweier Brudergesichter; zweier grossen Eige- Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 9 nem Übergangsphänomen9. Es handelt sich um Repräsentanten der Generation, die gleich nach Nietzsches geistigem Zusammenbruch im Jahre 1889 ihn kultisch verehrten. So legitimierte Stefan George, der in den 1890er Jahren in bewusster Opposition zu den zeitgenössischen Kunstströmungen in Deutschland stand, seine ästhetisierende L’art- pour-l’art-Dichtung mit einer Entlehnung aus der Geburt der Tragödie.10 George er- kannte mit Nietzsche in der Kunst eine neue Form des Daseins, sprach ihr als ästheti- schem Phänomen die alleinige Existenzrechtfertigung der Welt zu.11 Im Jahre 1900, dem Todesjahr des Philosophen, schrieb George ein Gedicht mit der Überschrift Nietz- sche und veröffentlichte in seinen Blättern für die Kunst.12 Darin kritisiert er die In- kompetenz Nietzsches als Dichterführer, die zu seinem einsamen Ende geführt haben soll. Stattdessen stilisiert George ihn zum Wegbereiter, welcher die alten Werte und Ideale abschaffte und damit den Weg für eine von ihm selbst erwünschte Welt ebnete:

Erlöser du! Selbst der unseligste – […] Hast du der sehnsucht land nie lächeln sehn?

Nietzsche wird hier in Dienst genommen für die kulturpolitische Idee Georges, der zwi- schen sich und dem Philosophen eine typologische Verbindung herstellen und diesen für seine eigene Rolle als Seherdichter präfigurieren will.

nen und Einzigen: hier bei uns Friedrich Nietzsche, und da drüben ein erster Reintyp des Yankee: Walt Whitman«. 9 Johannes Schlaf, Der »Fall« Nietzsche. Eine »Überwindung«, ebd., S. 152: »Er ist durchaus kein Sprachschöpfer im Sinne Luthers oder Goethes. Und es ist auch völlig und ganz und gar unmöglich, daß er das sein kann. Er ist nur ein Übergang und ein Hauptton in einem Vorspiel neuer sprachlicher Symphonie und Verwandlung«. 10 Stefan George, Vorrede zur III. Folge der Blätter für die Kunst (1896), in: Blätter für die Kunst III, 1896, S. I, 2: »Müssten wir beim beginn unseres fünften jahres […] noch einmal mit dem bescheid vortreten welche kunst denn in diesen blättern dargestellt sei, wenn nicht einige der besseren schrift- kundigen sich immer wieder gemüssigt sähen uns etwas wie eine scheu vor dem wirklichen und eine flucht in schönere vorzeiten als losung unterzuschieben! […] wesentlich ist die künstlerische umfor- mung eines lebens – welches lebens? Ist vorerst belanglos. […] Einfach liegt was wir teils erstrebten teils verewigten: eine kunst frei von jedem dienst: über dem leben nachdem sie das leben durch- drungen hat: die nach dem Zarathustraweisen zur höchsten aufgabe des lebens werden kann: die nach dem unsterblichen Meister des Titan sogar im gewaltigen und schrecklichen ›nicht umwölken und verdunkeln sondern erheitern und erhellen‹ soll: eine kunst aus der anschauungsfreude aus rausch und klang und sonne«. 11 Die betreffende Stelle in Nietzsches Geburt der Tragödie befindet sich in dem Vorwort an Richard Wagner: »Diesen Ernsthaften diene zur Belehrung, daß ich von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Tätigkeit dieses Lebens im Sinne des Mannes überzeugt bin, dem ich hier, als meinem erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, diese Schrift gewidmet haben will«. In: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1, München u. a. 1980, S. 24 [im folgenden: KSA]. 12 Stefan George: Nietzsche, in: ders, Werke, Ausgabe in zwei Bänden. Bd. 1, München u. Düsseldorf 1958, S. 231f. [im folgenden: GA]. George hat das Dichtergedicht in die Gruppe der Zeitgedichte im Siebenten Ring aufgenommen. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 10

Wie Georges Nietzsche-Rezeption zeigt, hängt die Art und Weise, wie Nietzsche um die Jahrhundertwende gesehen wurde, stark von den jeweiligen Interessen und Positio- nen ab, welche die rezipierenden Schriftsteller im literarischen Feld haben. Es werden aus dem perspektivenreichen Komplex nietzschescher Denkmotive jeweils bestimmte Motive und Probleme herausgegriffen und verabsolutiert. Dabei wechseln Perspektiven und Methoden der Rezeption: Im Mittelpunkt kann das Werk stehen oder die Person. Der frühe George etwa berief sich auf Nietzsche als Protagonisten der Kunstautonomie, indem er den Hauptgedanken der Geburt der Tragödie aufgriff, die sogenannte »Arti- stenmetaphysik«, ohne dabei der Aufwertung des Dionysischen Rechnung zu tragen, die die Entstehung der Kunst aus der dionysischen Wurzel und den tragischen Hinter- grund menschlicher Existenz betont. Als George später Nietzsche aus einer neuen Per- spektive beurteilte, nämlich aus dem Selbstverständnis eines Sehers und Richters seiner Zeit, stilisierte er ihn zum gescheiterten einsamen Propheten, um als Dichter den vom Philosophen vorgezeichneten Weg fortzusetzen. Für die Rezeption spielt das Spätwerk Nietzsches kaum eine Rolle, weil es als nach- gelassenes Material erst zwischen 1901 und 1911 publiziert wurde.13 Seine späte Lehre, der sogenannte Wille zur Macht, wird von Nietzsche zwar schon in Also sprach Zara- thustra behandelt, jedoch markiert dieses um die Jahrhundertwende meistgelesene Werk nur den Anfang einer Wende im philosophischen Schaffen Nietzsches, das sich auf das Programm einer »Umwertung aller Werthe« konzentriert, welches zugleich das Pro- gramm des geplanten systematischen Werks ist, dem er vorübergehend den Titel Der Wille zur Macht geben wollte und das nie zur Vollendung kam. Nach den destruktiven und genealogischen Texten vor Zarathustra, die sich kritisch von der gesamten europäi- schen Tradition der Moral und Metaphysik distanzierten, wird mit dem Zarathustra die Überzeugung vorherrschend, auf der Grundlage dieser Distanzierung die Kultur und Zi- vilisation radikal verändern zu können und zu müssen. Darin erweist sich Nietzsche als Analytiker, der den Philosophen als Gesetzgeber auffasst, als einen Erfinder von Wer- ten, die eine neue Geschichte begründen sollen. Die Textkompilation aus Nietzsches Nachlass aus der Zeit zwischen 1884 und 1888 erschien unter dem Titel Wille zur Macht zum ersten Mal 1901 in einer kürzeren, zwei- bändigen Fassung der sogenannten Großoktavausgabe, die auf die editorische Tätigkeit des 1894 gegründeten Nietzsche-Archivs zurückgeht. In einer erweiterten und endgülti- gen Form – 1067 Fragmente statt 483, die in der Ausgabe von 1901 enthalten waren –

13 Vgl. zur Veröffentlichung von Nietzsches philosophischem Nachlass: Mazzino Montinari, Die neue kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, in: ders., Nietzsche lesen, u. New York 1982, S. 10–21. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 11 wurde sie erst 1906 in der Taschenausgabe publiziert14 und dann 1911 in der epoche- machenden vierbändigen Form. Ecce homo, sein letztes Werk vor dem Zusammen- bruch, das mit rund tausend Exemplaren kaum die Öffentlichkeit erreichte und ein Ge- heimtipp blieb, erschien erst 1908. Damit wurde eine neue Phase der Nietzsche- Rezeption in der deutschen Literatur eingeleitet, und die sich um diese Zeit formieren- den Expressionisten gehörten zu den ersten, die sich mit dem Nachlass auseinandersetz- ten.

1. Nietzsches Spätphilosophie – Der Wille zur Macht und »décadence«-Kritik 1.1 Nietzsches Lehre des Willens zur Macht – die ontologische Begründung des neuen Daseinsprinzips

Kennzeichnend für das gesamte Spätwerk Nietzsches sind die großen ontologischen Themen im Zusammenhang mit der Idee der ewigen Wiederkehr, die als theoretisches Leitmotiv des Zarathustra und der folgenden Werke dient. Sie entsteht bei Nietzsche zugleich mit einer neuen Überzeugung von seiner Mission und bildet das zweite große Thema des Zarathustra: die Lehre vom Übermenschen, die sich auf eine radikale Um- gestaltung der Menschheit bezieht. Nach seinem genealogischen und vor allem destruktiven Denken von Menschlisches Allzumenschliches bis zur Fröhlichen Wissenschaft steht der Mensch vor Haufen von Nichts. In Also sprach Zarathustra geht es daher nicht mehr um einen kritisch- genealogischen Nachvollzug, sondern darum, dieses Nichts zu überwinden. Nietzsche sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die allgemeine Erneuerung der Kultur der Mensch- heit zu begründen auf der Absurdität der herkömmlichen metaphysischen Ordnung. Die lineare Zeit der Geschichte reduziert er dann radikal auf die zyklische Zeit der Natur, die von Zarathustra als eine »ewige Wiederkehr des gleichen« verkündet wird (»[…] müssen wir nicht alle schon dagewesen sein? – und wiederkommen und in jener ande- ren Gasse laufen, hinaus, vor uns, in dieser langen schaurigen Gasse – müssen wir nicht ewig wiederkommen?«15). Damit werden jene Probleme deutlich, welche die Spätphase der Philosophie Nietzsches durchziehen. Die kritische Reflexion über die Kultur geht mit einer neuen ontologischen Thematik einher. Sie führt zur unvermeidlichen Auf- lösung des Subjekts, wie sie die Idee der ewigen Wiederkehr notwendig mit sich bringt. Auf der Grundlage der Einsicht, jedes Erkennen sei notwendigerweise perspekti- visch, wie in der Fröhlichen Wissenschaft, einem Werk des Übergangs und zugleich der

14 Die Taschenausgabe erschien 1906 in Leipzig bei C. G. Naumann Verlag. 15 Also sprach Zarathustra. In: KSA 4, S. 200. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 12

Bilanz seiner frühen Erkenntniskritik,16 analysiert Nietzsche das Grundmotiv allen menschlichen Handelns. Er gelangt zu dem Schluss, dass alles menschliche Wollen ei- nem einzigen Impuls folge, dem Streben nach Macht. Davon abgesehen, gebe es in Wahrheit keine genuin moralischen, sozialen, ästhetischen oder religiösen Beweggrün- de. Der »Wille zur Macht« soll aber nicht nur die Triebkraft jener Wesen sein, die über einen Willen verfügen, sondern auch als energetischer Impuls allen Geschehens ver- standen werden. In den Notizen und Schriften, die auf Also sprach Zarathustra folgen, also in dem späten Nachlass von 1884 bis 1888, experimentiert Nietzsche mit dem »Willen zur Macht« als Grundkraft allen Geschehens. Gedanken über den Charakter und die Natur des »Willens zur Macht« häufen sich vor allem in den Aufzeichnungen von April bis Sommer 1885 verstärkt, freilich immer versuchsweise und niemals ein- deutig und festgefügt.17 Seine Überlegungen zum »Willen zur Macht« basieren auf der Analogie zum Orga- nischen und beziehen die biologischen und physiologischen Debatten seiner Zeitgenos- sen mit ein, mit denen er sich in der ersten Hälfte der 1880er Jahren intensiv auseinan- dersetzte. Besonders beeinflusst wurde er durch den Anatomen Wilhelm Roux, der die These vertrat, dass der Kampf das konstituierende Prinzip der Bildungsvorgänge auf den Ebenen der Zellen ist.18 Ausgehend von Roux’ Behauptung, »der Kampf um Nah- rung und Raum findet in der Zelle statt, sobald eine Ungleichheit in den Bestandtheilen ist«, entwickelt Nietzsche sein Verständnis des Organismus als einer Vielheit von mit- einander kämpfenden Willen zur Macht.19 In einer Aufzeichnung aus dem zweiten Halbjahr 1884 ist zum ersten Mal vom Willen zur Macht »in den Funktionen des Orga-

16 »Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gab, ob es irgend einen andren Cha- rakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ›Sinn‹ eben zum ›Unsinn‹ wird, ob, and- rerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist – das kann […] auch durch die flei- ssigeste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. […] Die Welt ist uns […] noch einmal ›unendlich‹ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst« (Fröhliche Wissenschaft. In: KSA 3, S. 626f.) 17 Die vielleicht bekannteste Definition des Willens zur Macht stammt auch aus dem gleichen Zeitraum: »Und wißt ihr auch, was mir ›die Welt‹ ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? […] Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts außerdem! und auch ihr selber seid die- ser Wille zur Macht – und nichts außerdem!« (Nachlass Juni–Juli 1885. In: KSA 11, S. 610f.). Diese Beschreibung ist in das Aphorismus 36 von Jenseits von Gut und Böse wiederaufge- nommen. 18 Vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 189–223. 19 Schon 1881 hatte Nietzsche aus Roux’ Buch den Schluss gezogen, dass die im Kampfe zutage treten- de Verschiedenheit der Teile auf ihre »relative Selbständigkeit« hinweist: »Verschiedenheit herrscht in den kleinsten Dingen, Samenthierchen Eiern – die Gleichheit ist ein großer Wahn« (Nachlass Früh- jahr–Herbst 1881. In: KSA 9, S. 490). Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 13 nischen«20 die Rede, und schließlich beschreibt Nietzsche den Menschen »als eine Vielheit von ›Willen zur Macht‹: jeder mit einer Vielheit von Ausdrucksmitteln und Formen«.21 Die vielen Willen stellen einen Wirkungszusammen-hang durch den Kampf untereinander her: der stärkere Wille dirigiert den schwächeren.22 Die Wirkungsweise des Willens zur Macht erklärt Nietzsche durch den Reiz, »bei dessen Eintritt die Bewe- gung beginnt«.23 Im zweiseitigen Vorgang von Anreiz als Herausforderung zur Reizan- nahme und Reizannahme als Gegenbewegung entsteht »die einzige Kraft, die es gibt«.24 Die physiologische Erklärung der Wirkungsweise des Willens zur Macht folgt aber nicht allein der physiologistischen der Naturwissenschaften. Nietzsche spricht dem Wil- len zur Macht »eine innere Macht« zu:

Der siegreiche Begriff ›Kraft‹, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als ›Wille zur Macht‹, d.h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. […] Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle ›Erscheinungen‹, alle ›Gesetze‹ nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen‹.25

Macht als dynamische Größe, die sich nicht bloß durch äußere Umstände bestimmen lässt, hat stets auch ein drängendes, treibendes Innen und scheint selbst lebendig zu sein. Der Wille zur Macht bewegt sie und ist somit der Ursprungsimpuls des Lebens: »Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!«26 Die Macht ist dabei nichts anderes als die Kraftauslas- sung des stärkeren Willens zur Macht nach dessen Sieg über den schwächeren. Auf- grund seiner Natur, seines Drangs zur Machterweiterung (»Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht nach dem, was ihm widersteht, – dies die ur- sprüngliche Tendenz des Protoplasma«27), sucht der Wille zur Macht die Widerstände von anderen, und dadurch bildet sich im Organismus die physiologische »Rangordnung der Organe und Triebe«.28 Was aber diese von der geläufigen physiologischen Erklä- rung des Organismus unterscheidet, ist der »Leib«. In Zarathustra I (1883) spricht

20 Nachlass 1884. In: KSA 11, S. 221. 21 Nachlass Herbst 1885–Frühjahr 1886. In: KSA 12, S. 25. 22 Nachlass Mai–Juni 1885. In: KSA 11, S. 514. 23 Nachlass Sommer–Herbst 1884. In: KSA 11, S. 282. 24 Nachlass August–September 1885. In: KSA 11, S. 650. 25 Nachlass 1885. In: KSA 11, S. 563. 26 Also sprach Zarathustra (der 2. Teil). In: KSA 4, S. 149. Dass die Gestaltung aus dem Innern erfolgt, betont Nietzsche unermüdlich. Gegen die einseitige darwinistische Erklärung der Organbildung durch den Einfluss der äußeren Umstände wendet sich Nietzsche und hält ihr die »ungeheure gestaltende, von Innen her formschaffende Gewalt, die ›äußere Umstände‹ ausnützt, ausbeutet«. Vgl. Nachlass Ende 1886–Frühjahr 1887. In: KSA 12, S. 304. 27 Nachlass Frühjahr 1888. In: KSA 13, S. 360. 28 Nachlass Frühjahr 1884. In: KSA 12, S. 119. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 14

Nietzsche vom menschlichen Leib als einer »Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt«. Was hier in Zarathustra unter pathetischen Sprachprägungen verschleiert zum Ausdruck kommt, ist für die Physiologie des Willens zur Macht von fundamentaler Bedeutung und entwickelt sich in der Spätphase der Phi- losophie Nietzsches zu einer der wesentlichen philosophischen Sachfragen. Mit »Leib« wird kein Letztgegebenes gemeint, sondern die zeitweilige Einigung von Vielen, wel- che keine stabile Einheit ist. Er ist das in jedem Geschehen wirksame »innere« Moment, mit Nietzsches Wort, die »Vernunft« in aller physischen Bewegung. »Leib« ist das »be- ste Gleichniß« für das »Zusammenwirken«29 der Vielheit von »Willen zur Macht« und damit die gelungene Interpretation zur »grossen Vernunft«, zu einer Struktur hierar- chisch abgestimmter Organisation, die keine im engeren Sinne physiologische Wirk- lichkeitsdeutung ist, welche unterschiedlichen Interpretationen zu unterwerfen ist. Der Dienst aller lebendigen Wesen gilt primär dem Ganzen des Leibes,30 der dadurch in der Tat als eine große Vernunft erscheint. Indem Nietzsche die mechanistischen Geschehensabläufe, wie sie für die physische Erklärung der ›Kraft‹ in den zeitgenössischen Naturwissenschaften charakteristisch ist, auf Kämpfe von Willen reduziert und ein Bild vom Dasein in einer Welt, die als dem Willen zur Macht unterworfen gedacht wird, ausarbeitet, befreit sich sein neuer Da- seinsentwurf von den stabilen Grundlagen und Strukturen, den letzten Wesensbestim- mungen durch Moral und Religion. Mehr noch: Mit der praktischen Selbstbezüglichkeit im Wirkungszusammenhang der Willen zur Macht richtet Nietzsche seinen Blick auf einen neuen Menschentypus, den »Übermenschen«. Die umfängliche Einheit der ele- mentaren Wirksamkeit ermöglicht die Entfaltung der schöpferischen Kräfte des Men- schen. Zarathustra, von Nietzsche als Lehrer des »Übermenschen« angelegt, stellt das Verhältnis zwischen Schaffen und Willen zur Macht heraus:

Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus re- det – der Wille zur Macht! – 31

»Mensch« bedeutet: »der Schätzende«, und »Schätzen« ist »Schaffen«.32 Der reinste Wille besteht darin, über sich hinaus schaffen zu wollen und sich selbst permanent zu überwinden. Daher liegt der Sinn der menschlichen Existenz in der Frage: »wie wird der Mensch überwunden?«33 Zarathustra verkündet mit dem »Übermenschen« keine

29 Nachlass 1884–1885. In: KSA 11, S. 577. 30 Nach Nietzsche gehört zur Rangordnung auch »Arbeitstheilung als Ermöglichung der Einzelnen und des Ganzen« (Nachlaß August–September 1885. In: KSA 11, S. 638.) 31 Also sprach Zarathustra. In: KSA 4, S. 149. 32 Ebd., S. 75. 33 Ebd., S. 357. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 15 neue dogmatische Lehre, sondern einen neuen existentiellen Horizont des Denkens: die Freiheit des Menschen im Bereich seines Grundes und seine existentielle Wahrheit im Sein.34 Nietzsche sieht in permanenten Kämpfen der Willen im Organismus das Modell für seinen »Übermenschen«, die Produktivität des großen Menschen. Er stellt damit den Willen zur Macht als die innere wie äußere Bedingung der Möglichkeit des »Übermen- schen« fest.35

1.2 Analyse des Nihilismus – »décadence« als die Logik des Nihilismus

Seinen Plan, den Begriff vom Willen zur Macht theoretisch zu erörtern, gibt Nietzsche im Verlauf des Jahres 1888 allmählich auf. Parallel dazu drängen sich Reflexionen zum Nihilismus, zur »décadence« und der Kunst als »Gegenbewegung« immer stärker in den Vordergrund,36 denen Nietzsche sich in den letzten intensiven Monaten seines bewuss- ten Lebens gewidmet hat. In Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887) geht Nietzsche der Frage nach, aus welchen Bedingungen und Umständen die moralischen Werte gewachsen sind, und kommt zu dem Schluss, dass deren Entwicklung keinen linearen Prozess dar- stellt, sondern denn vielmehr »die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehen- den […] Überwältigungsprozessen«. Diese sind die »fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen«, also »Widerstände, die ver- suchten Form-Verwandlungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion«.37 Auf- grund dieses allzumenschlichen Charakters relativiert Nietzsche die traditionellen Mo- ralsysteme und verneint deren absoluten Wahrheitsanspruch. Das Christentum sei aus dem Geiste des Ressentiments geboren, des Ressentiments der Schwächeren gegen die Stärkeren, daher die Moral der Schwächeren. Die Folge davon ist das asketische Ideal, das im Lauf der Geschichte entstand und Nietzsche als »Rückwärtsrichtung des Ressen- timents« bezeichnet, in der dieses sich nach innen wendet und die Gestalt eines Schuld- gefühls annimmt. Die »ungeheure Macht des asketischen Ideals« in der Geschichte des Christentums führt Nietzsche darauf zurück, dass es keine Alternative dazu gegeben hat. Denn der Mensch braucht ein Ziel (»›Denn der Mensch will lieber noch das Nichts wollen, als nicht wollen‹ … Vor allem fehlte ein Gegenideal«).38 Auch der

34 Vgl. Giorgio Penzo, Übermensch, in: Nietzsche-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, hg. v. Henning Ottmann. Stuttgart u. Weimar 2000, S. 542–545. hier S. 544. 35 Volker Gerhardt, Wille zur Macht, ebd., S. 551–555, hier S. 553. 36 Vgl. Maria Cristina Fornari: Nietzsches Nachlaß 1885–1888, ebd., S. 143–149. 37 Zur Genealogie der Moral. In: KSA 5, S. 314f. 38 Ecce homo. In: KSA 6, S. 352f. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 16 unbedingte Wille der Wissenschaft zur Wahrheit ist die sublimste Form des asketischen Ideals, die schließlich zur Sicherung der Herrschaft des asketischen Ideals beigetragen hat. Für Nietzsche ist der europäische Nihilismus die »nothwendige Consequenz der bis- herigen Ideale«.39 Die moralisch-theologischen Rechtfertigungslehren, für die zunächst der Name des Sokrates steht, werden verworfen, weil sie zur Verneinung des Lebens führen durch ihre dualistische Weltanschauung von wahrer und scheinbarer Welt. Die kurze Erzählung »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde« in Götzen- Dämmerung (1889) zeigt den Aufstieg und Untergang der dualistisch geprägten Meta- physik. Der destabilisierende Verlust eines sinnstiftenden Horizonts in der Gegenwart (»Aber nein! Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!«40) stürzt Europa in einen »zweite[n] Buddhismus«.41 Das Problem des Nihilismus entsteht aus der äußersten Konsequenz des Willens zur Wahrheit. Sobald der bedrohliche Charakter jeglicher Erkenntnis bewusst wird, wie es in der Moderne der Fall ist, brechen die bis- herigen metaphysisch-moralischen Thesen in sich zusammen, die das feste Gefüge der Zweiweltentheorie Jahrtausende lang verinnerlicht haben, und verlieren ihre Lebens- notwendigkeit – der Untergang einer totalen Gewohnheit, und das Sein selbst nähert sich dem Nichts. Nietzsche nennt die Unterscheidung von wahrer und scheinbarer Welt »eine Sugge- stion der décadence«, die er als die Logik des Nihilismus herausstellt.42 Ausgehend von seiner physiologisch geprägten Konstruktion der Willenlehre setzt sich Nietzsche nun in seinen letzten intensiven Monaten des bewussten Lebens damit auseinander.43 Seine Lehre vom Willen zur Macht nimmt den Ausgangspunkt von der großen Produktivität des schöpferischen Menschen, der ganz frei von jeglichem Ethos des Ressentiments mit dem Dasein zu experimentieren imstande ist, welches als Leben ein Assimilations- und Organisationsgeschehen von Unbestimmtheit ist. »décadence« als die Logik der vom Christentum geprägten Metaphysik dagegen, die nach Oppositionen wie ›gut und böse‹, ›wahr und falsch‹, das Dasein und die Welt auslegt und die Situation des Menschen nur als grundsätzliche Mängel und als Schwäche begreift, kennzeichnet die Unfähigkeit, die Fatalität des Lebensgeschehens als solche Unbestimmtheit zu handhaben. Nietzsche

39 Nachlaß Herbst 1887. In: KSA 12, S. 339. 40 Götzen-Dämmerung. In: KSA 6, S. 80f. 41 Nachlass Herbst 1887. In: KSA 12, S. 377. 42 Zum Begriff der décadence Nietzsches: vgl. Elisabeth Kuhn: décadence, in: Nietzsche-Handbuch, S. 213–215; Wolfgang Müller-Lauter, Artistische décadence als physiologische décadence. Zu Fried- rich Nietzsches später Kritik am späten Richard Wagner, in: Communicatio fidei. Festschrift für Eu- gen Biser zum 65. Geburtstag, Regensburg 1983, S. 285–294. 43 Der Begriff ›décadence‹ kommt im Nachlass von 1888 insgesamt 96mal vor. Vgl. Maria Cristina For- nari: a.a.O., S. 148. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 17 führt in seiner Analyse der décadence dieses Unvermögen auf die Konsequenz der phy- siologischen Ermüdung zurück, denn die décadence ist eine »Gesamt-Abirrung der Menschheit von ihren Grundinstinkten«44 und damit die Unterdrückung der Instinkte zur Freiheit, welche wiederum die »gesunde« Möglichkeit der Willen zur Macht ist.45 Damit wird die Problematik des Willens zur Macht auf den Nihilismus und die déca- dence übertragen. Nietzsche sieht die Geschichte der Religion und Philosophie auf dem Wege der Ver- derbnis, das nach seiner Meinung in der Moderne zur Vollendung kommt, und stellt darin die psychologischen und letztlich die physiologischen Niedergangserscheinungen fest. Diese nehmen in der Philosophie ihren Ausgang von Sokrates, der als Tyrann durch die Dialektik seiner moralbegründenden Vernunft dargestellt wird. Aufgrund sei- ner »Wüstheit und Anarchie in den Instinkten«46 in ihm, also seiner physiologisch schwachen Verfassung, sieht er über die tragische Dimension des Daseins, die grund- sätzliche Unverständlichkeit des Lebens, hinweg und bestimmt das Leben als eine lange Krankheit zum Tode. Sein Mittel, über die Instinkte Herr zu werden, liegt in der »Su- perfötation des Logischen«, in der »gegen die dunklen Begehrungen« der tragischen Wahrheit des Daseins »ein Tageslicht in Permanenz« hergestellt wird.47 Solche anoma- le Wucherung der Vernunft führt zum Kampf gegen die Instinkte und zu deren Schwä- chung. Die Folge davon ist die Störung des organischen Zusammenwirkens der physio- logischen Funktionen. Der Weg des Sokrates bewahrt zwar vor dem Zerbrechen an der Anarchie der Instinkte, zögert nur dessen Ende hinaus. Mit seiner Deutung des Lebens als einer langen Krankheit zum Tode steht Sokrates damit für die Lebensmüdigkeit der Philosophen aller Zeiten. Einen ähnlichen Verzögerungseffekt sieht Nietzsche auch in der religiösen décaden- ce und charakterisiert diese als das asketische Ideal.48 Dies gilt besonders für den von ihm als Typus herausgestellten »asketischen Priester«, dessen asketisches Ideal als ge- heime lebensverneinde Triebfeder hinter den wissenschaftlichen und religiösen Weltin- terpretationen wirksam ist (»die widrige und düstere Raupenform […], unter der allein

44 Nachlass November 1887–März 1888. In: KSA 13, S. 89. 45 Nietzsche versteht unter dem Willen zur Macht auch den »Instinkt zur Freiheit« (Zur Genealogie der Moral. In: KSA 5, S. 326). Vgl. Volker Caysa, Instinkt, in: Nietzsche-Handbuch, S. 256. 46 Götzen-Dämmerung. In: KSA 6, S. 69. 47 Geburt der Tragödie. In: KSA 1, S. 90; vgl. auch Nachlass Frühjahr 1888. In: KSA 13, S. 269f.: »Problem des Sokrates. Die Klugheit, Helle, Härte und Logicität als Waffe wider die Wildheit der Triebe. Letztere müssen gefährlich und untergangdrohend sein: sonst hat es keinen Sinn, die Klug- heit bis zu dieser Tyrannei auszubilden. Aus der Klugheit einen Tyrannen machen: aber dazu müssen die Triebe Tyrannen sein. Dies das Problem. – Es war sehr zeitgemäß damals. Vernunft wur- de = Tugend = Glück.« 48 Vgl. Volker Caysa, Asketismus, in: Nietzsche-Handbuch, S. 195–197 u. Wolfgang Müller-Lauter, a.a.O., S. 289. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 18 die Philosophie leben durfte und herumschlich«). Der asketische Priester bekämpft nicht die Ursache des Leidens der Kranken, sondern verleiht durch seine Lebensinter- pretation dem Leiden einen Sinn. Er mildert nur das Leiden durch Praktiken sehr unter- schiedlicher Art wie die Abschwächung der Lebenslust (»Hypnotisierung«) oder das Zurückdrängen der Unlust. Sein Ziel ist es, »eines ungesättigsten Instinktes und Machtwillens der Herr zu werden«, indem die »Quelle der Kraft« und »des physiologi- sche[n] Gedeihen[s]«49 verstopft wird, weil sein Ideal »dem Schutz- und Heil- Instinkte eines degenerierenden Lebens, welches sich mit allen Mitteln zu hal- ten sucht und um sein Dasein kämpft«, entspringt50 und er selber »krank« ist (»[den Kranken] von Grund aus verwandt, um sie zu verstehen, – um sich mit ihnen zu verste- hen«51). Die décadence des asketischen Priesters führt Nietzsche also, wie bei Sokrates, auf seine physiologische zurück. Gemeinsam ist beiden die Unfähigkeit, die organische Einheit herzustellen. Solchen typologischen Klassifikationen der Metamorphosen der décadence in der Geschichte der Menschheit liegt die Auffassung von décadence zugrunde, wie sie Nietzsche in Der Fall Wagner (1888) vorgelegt hat. In Anlehnung an die Kennzeich- nung der französischen literarischen décadence durch Paul Bourget charakterisiert Nietzsche diese als die Verselbständigung der Teile und als die damit verbundene Auf- lösung des Ganzen durch die Herrschaft der Teile darüber. Nietzsche sieht also darin »ein typisches Verfalls-Symptom«, in dem »sich das Leben aus dem Ganzen zu- rückgezogen hat und im Kleinsten luxuriirt«.52 Für Nietzsche ist es die »Symptomatik eines Niedergangs der organisierenden Kraft«,53 die vor allem sich in der »Veränderung der Perspektive«54 vom Ganzen auf die kleinen Teile abzeichnet. Nietzsche bestimmt also die décadence als den Mangel an der organischen Einheit. In Der Fall Wagner führt er aber diesen Auflösungsvorgang im Kunstwerk auf die schwache physiologische Disposition von dessen Urheber zurück:

49 Zur Genealogie der Moral. In: KSA 5, S. 363. 50 Ebd., S. 366. 51 Ebd., S. 390. 52 Brief an Carl Fuchs vom 26. August 1888, in: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Briefe. Kritische Stu- dienausgabe in 8 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 8: Januar 1887–Januar 1889. München 1886, S. 401. 53 Ebd. 54 Brief an Carl Fuchs, vermutlich Mitte April 1886, in: a.a.O., Bd. 7, 1886, S. 177: »Der Theil wird Herr über das Ganze, die Phrase über die Melodie, der Augenblick über die Zeit (auch das tempo), das Pathos über das Ethos (Charakter, Stil, oder wie es heißen soll –), schließlich auch der esprit über den ›Sinn‹. Verzeihung! Was ich wahrzunehmen glaube, ist eine Veränderung der Perspektive: man sieht das Einzelne viel zu scharf, man sieht das Ganze viel zu stumpf, – und man hat den Willen zu dieser Optik in der Musik, vor Allem man hat das Talent dazu! Das aber ist décadence.« Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 19

Die Principien und Praktiken Wagner’s sind allesamt zurückführbar auf physiologische Nothstände: sie sind deren Ausdruck (»Hysterismus« als Musik). Die andere heißt: die schädliche Wirkung der W‹agnerschen› Kunst beweist deren tiefe organische Gebrechlichkeit, deren Corruption.55

Die Kunst Wagners, verwurzelt in dieser physiologischen décadence, ziele darauf, mit dem enormen Bedeutungsaufwand für die Überlebendigkeit im Kleinsten das Fehlen der inneren Einheit und Geschlossenheit zu überspielen.56 In dieser Hinsicht nennt Nietzsche Wagner einen »Schauspieler«, der die fehlende Einheit seiner Persönlichkeit künstlerisch camoufliere. Damit bezeichnet Nietzsche die décadence als die »Disgrega- tion des Willens«, die mit der »Anarchie der Atome« einhergeht.57 Es fällt auf, in welch starken Maße physiologische und psychologische Termini mit pathologischem Sinn58 zur Bestimmung des Phänomens décadence herangezogen wer- den. Vor allem im letzten Schaffensjahr ist die Analogie zwischen biologischem Orga- nismus und kulturkritischer Philosophie strukturell dominant. Dementsprechend wird die décadence als das wichtigste Symptom der Moderne und deren Überwindung immer mehr zu einer physiologischen Frage von Stärke und Schwäche, Gesundheit und Krank- heit.

1.3 Überwindung des Nihilismus und die »Physiologie der Kunst« – Kunst als das normative Modell des Willens zur Macht

Mit Blick auf den Realitätsgehalt des Willens zur Macht spricht Nietzsche stets von der Vielfalt der Willen zur Macht. Die décadence in Religion und Philosophie, das Unlust- gefühl des Menschen an sich selbst, das unter der Herrschaft oppositioneller Ausle- gungssysteme des Lebens vollzogen ist, ist selbst interpretiertes Zeichen eines Ausle- gungsgeschehens. Den »Wille[n] zur Wahrheit«, die Triebfeder der décadence, nennt Nietzsche Kreaturen des Willens zur Kunst: als ideologische Möglichkeiten dienen Me- taphysik, Moral und Religion dazu, die Furchtbarkeit der Welt und des Lebens erträg-

55 Nachlass Frühjahr–Sommer 1888. In: KSA 13, S. 510–511. 56 Vgl. Der Fall Wagner. In: KSA 6, S. 28: »[…] Nochmals gesagt: bewunderungswürdig, liebenswür- dig ist Wagner nur in der Erfindung des Kleinsten, in der Ausdichtung des Détails, man hat alles Recht auf seiner Seite, ihn hier […] als unsern grössten Miniaturisten der Musik, der in den klein- sten Raum eine Unendlichkeit von Sinn und Süsse drängt.« 57 Ebd., S. 27. 58 Vgl. Nachlass Frühjahr–Sommer 1888. In: KSA 13, S. 510f.: »Das Vollkommene macht gesund; das Kranke macht krank. Die physiologische Nothstände, in die Wagner seine Hörer versetzt (unregelmä- ßiges Athmen, Störung des Blutumlaufs, extreme Irritabilität mit plötzlichem Coma) enthalten eine Widerlegung seiner Kunst. Mit diesen zwei Formeln ist nur die Folgerung jenes allgemeinen Satzes gezogen, der für mich das Fundament aller Aesthetik abgiebt: daß die aestehtischen Werthe auf biolo- gischen Werthen ruhen, daß die aesthetischen Wohlgefühle biologische Wohlgefühle sind.« Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 20 lich zu machen. Sie sind die reaktiven oder nihilistischen Möglichkeiten des Willens zur Macht. Im späten Nachlass versucht Nietzsche zu begründen, ob es einen Willen zur Macht gibt, der nicht als Gefangener eines asketischen Ideals oder eines Ressentiments erscheint. Seine Lehre vom Willen zur Macht, wonach das Leben selbst das vom Willen zur Macht beherrschte Triebgeschehen ist, führt zur Auflösung der falschen Dichotomie wahre/scheinbare Welt. Dadurch macht die traditionelle metaphysische Ordnung, die Vernunft und Geist dem Leben übergeordnet hat, Platz für eine tragische Dimension der Existenz, verstanden als ein unschuldiges Spiel mit unendlichen schöpferischen Mög- lichkeiten, aber auch als ein sinnloses Weltgeschehen, welches keinen Sinn in sich trägt. Nietzsches Betrachtungen verschieben sich hier hin zur Kunst, genauer gesagt, zur Phy- siologie der Kunst, die an den Leib geknüpft ist, die Wert legt auf das Maß an Kraft und Werten. Nietzsche ist davon überzeugt, dass anders als die Religion, Metaphysik und Moral nur die Kunst nicht voll und ganz in die Krankheit der décadence fällt und in der Lage ist, den Nihilismus der Gegenwart zu überwinden. Die Bewertungskriterien zur Unterscheidung zwischen dem schwachen Willen zur Macht wie dem zur Wahrheit im asketischen Ideal und dem gesunden findet Nietzsche, wie in seiner Analyse der déca- dence, wieder in den physiologischen Beschaffenheiten. Die negativen Eigenschaften der décadence wachsen aus Unzufriedenheit und Ressentiment, die mit der Einsicht in die eigene Schwäche im Umgang mit der abgründigen Wahrheit des tragischen Daseins verbunden ist. Dagegen ist die Kunst als die gesunde Möglichkeit des Willens zur Macht »ein Ausdruck der Dankbarkeit über genossenes Glück«.59 Diese Grundunter- scheidung von Übermaß und Unzufriedenheit ist für Nietzsche »die Frage der Kraft«:

Es ist die Frage der Kraft (eines Einzelnen oder eines Volkes), ob und wo ›das‹ Urtheil ›schön‹ an- gesetzt wird. Das Gefühl der Fülle, der aufgestauten Kraft (aus dem es erlaubt ist Vieles muthig und wohlgemuth entgegenzunehmen, vor dem der Schwächling schaudert) – das Machtgefühl spricht das Urtheil ›schön‹ noch über Dinge und Zustände aus, welche der Instinkt der Ohnmacht nur als hassenswerth als ›häßlich‹ abschätzen kann. Die Witterung dafür, womit wir ungefähr fertig werden würden, wenn es leibhaft entgegenträte, als Gefahr, Problem, Versuchung, – diese Witterung bestimmt auch noch unser aesthetisches Ja: (›das ist schön‹ ist eine Bejahung)60

Das Urteil ›schön‹ ist Nietzsche zufolge der Ausdruck der Kraft, also die Äußerungs- form des Willens zur Macht, die als Kraft- und Energiezustände eines organischen Sy- stems zu verstehen ist. Die Erläuterung dieser Zustände exempliziert Nietzsche in sei- nen Bemerkungen zur Physiologie der Kunst am Beispiel des künstlerischen Schaffensvorgang und nennt sie den »Rauschzustand«. Das Entstehen und die Äuße- rung des Rausches ist die Bedingung der Symbolik in der Kunst, durch die das Dasein

59 Nachlass Herbst 1885–Herbst 1886. In: KSA 12, S. 119. 60 Nachlass Herbst 1887. In: KSA 12, S. 555f. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 21 und die Welt verklärt werden. Der Rauschzustand ist eine Spannung, in der jeder der Willen zur Macht über seinen einzelnen Charakter hinaus in einen Hof von Bedeutsam- keit einrückt. Nietzsche formuliert dies folgendermaßen: »alles […], was Zeichen zu geben weiß«, redet. Der Organismus weiß sich »durch hundert Sprachmittel«61 mitzu- teilen und seine Ausdrucksfähigkeit zu vervielfältigen. Es ist ein Zustand der Spannung, in den ein organisches System gerät. Sie kann eine unfreiwillige Koordination seiner Äußerungsformen zur Folge haben. In Hinsicht auf den Menschen muss man sich den Zustand des Rausches als einen der Erschütterung seines gesamten Affektsystems vor- stellen, also als einen Zustand, in dem die positiven und negativen Leidenschaften zu einem Höchstmaß an Funktionen aktiviert werden. Dieser Zustand höchster Affektivität transfiguriert sich in Zeichen und Symbole seiner Mitteilung. Daher ist die Äußerung des Rausches als »Explosivität«62 zu bezeichnen, und Nietzsche spricht in dieser Hin- sicht von einem Pathos, das nichts anderes als eine Äußerung solchen Systemzustandes ist, welches sich einfach darin darstellt (»der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos ist die elementarste Thatsache«63). Nietzsche bestimmt al- so die Kunst als die Selbstäußerungen des Willens zur Macht und somit als die Selbster- fahrung der organisierenden Leistungen des Lebens. Die Kunst als ein ursprüngliche Sinneinheiten stiftender ästhetischer Akt wird aus sich heraus gedacht und befreit sich von dem totalisierenden Anspruch der Metaphysik wie auch dem letztlich immer meta- physischen Problem der Rechtfertigung. Insofern korrigiert der späte Nietzsche seine frühere Kunstauffassung in der Geburt der Tragödie. Die Kunst, die dort als Rechtferti- gung des Daseins gilt, rückt nicht in die Leerstelle der Moral auf, sondern ist die Äuße- rungsform der ästhetischen Selbstproduktion des Lebens.64 Indem Nietzsche den Rauschzustand nach dem physiologischen Muster erklärt, hebt er den ästhetischen Akt als einen Sieg über die Kraft hervor. Noch ein wesentliches Merkmal des Rauschzustandes ist die »höchste Überkomplexität«, die dieser als einen Zustand höchster Affektivität eines organischen Systems hervorruft. Die Symbole der Kunst sind dann als artikulierte Folgen einer solchen Bewältigung anzusehen, als die

61 Nachlass Frühjahr 1888. In: KSA 13, S. 356. 62 Ebd., S. 356. 63 Ebd., S. 259. Im gleichen Zusammenhang spricht Nietzsche vom Zustand des Rausches als einem der »Willensaushängung« (ebd., S. 357). 64 Vgl. Volker Gerhardt, Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst, in: Nietzsche- Studien 13 (1984), S. 375–393, hier: S. 390f. In seiner bewussten Abkehr von der Metaphysik wahrt Nietzsche die Kontinuität zu den vorausgegangenen Jahren. Vgl. auch Gianni Vattimo, Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Stuttgart u. Weimar 1992, S. 90: »Immer wieder gilt es, daran zu erin- nern, daß die Berufung auf Kraft und Gesundheit etc, bei Nietzsche nur der Notwendigkeit entgegen- kommt, Bewertungskriterien zur Entscheidung zwischen Interpretationen zu finden (aus denen allein die Welt sich konstituiert), ohne sich auf essentialistische Strukturen oder letzte und mithin notwendig metaphysische Argumente zu beziehen«. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 22 vollkommene Macht über die eigene Vorstellungswelt. Daran schließt sich Nietzsches Einschätzung der Kunst als Ausdruck des Übermaßes an Kraft an, wie oben dargestellt wurde. Die Kunst ist jedoch nicht nur die Bewältigung solcher Überkomplexität, son- dern auch die fortwährende Lust daran, die sich aus dem Gefühl des Mangels und der Erfahrungslosigkeit nicht gewinnen lässt (»der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein hohes Machtgefühl […] Alle Kunst wirkt tonisch, mehrt die Kraft, ent- zündet die Lust (d. h. das Gefühl der Kraft), regt alle die feineren Erinnerungen des Rausches an«65). Das Gefühl von Übermaß an Kraft, wird von Nietzsche zwar physiolo- gisch beschrieben (»das thatsächliche Mehr von Kraft: seine thatsächliche Verschö- nerung«66), jedoch ist dieses Wesensmerkmal von Kraft und Gesundheit als die Fähig- keit zu deuten, das Gesamtcharakter des Daseins auszuhalten und zu bejahen, also zu ihm »dionysisch« dazustehen:

Daraus ergiebt sich, in’s Große gerechnet, daß die Vorliebe für fragwürdige und furchtbare Dinge ein Symptom für Stärke ist: […] Die Lust an der Tragödie kennzeichnet starke Zeitalter und Charaktere […] Gesetzt dagegen, daß die Schwachen von einer Kunst Genuß begehren, welche für sie nicht erdacht ist, was werden sie tun, um die Tragödie sich schmackhaft zu machen? Sie wer- den ihre eigenen Werthgefühle in sie hinein interpretiren: […] Es ist ist ein Zeichen von Wohl- und Machtgefühl wie viel Einer den Dingen ihren furchtbaren, ihren fragwürdigen Charak- ter zugestehen darf: und ob er überhaupt ›Lösungen‹ am Schluß braucht.67

Nietzsche spricht hier zwar speziell von der Tragödie, generell aber von einer Theorie der Kunst und ihrer Bedeutung. Hier wird der Begriff der Tragödie zum Synonym für jede gesunde Kunst. Die Lust am Tragischen können nur diejenigen haben, die ohne letzte »Lösungen« zu leben wissen und mit dem Wissen der tragischen Wahrheit von der Welt als einer offenen Horizont von Wille zur Macht und einer ewigen Wiederkehr. Die Tragödie ist für sie dann auch ein dionysisches Gelächter über die Welt. In dieser Bestimmung des Tragischen und der tragischen Kunstform auf der physio- logischen Grundlage gewinnt auch der »höhere Typus«, also der Übermensch, der von Zarathustra verkündet wird (»Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehrte ich euch sagen: Übermensch«68) klare Konturen. Die Kunst als ein nor- matives Modell des Willens zur Macht berechtigt den Künstler als eine erste sichtbare Gestalt des Übermenschen. Er ist wie eine »Vorstufe« in der Verwirklichung der Welt als Wille zur Macht, »als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk«,69 erreicht mit dem Einklang mit dem Sein den höchsten Zustand der Bejahung des tragisch-dionysischen Daseinscharakters:

65 Nachlass Frühjahr 1888. In: KSA 13, S. 294, 296. 66 Nachlass Mai–Juni 1888. In: KSA 13, S. 529. 67 Nachlass Herbst 1887–März 1888. In: KSA 12, S. 556. 68 Also sprach Zarathustra. In: KSA 4, S. 109. 69 Nachlass Herbst 1885–Herbst 1887. In: KSA 12, S. 119. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 23

Die Tiefe des tragischen Künstlers liegt darin, daß sein aesthetischer Instinkt die ferneren Fol- gen übersieht, daß er nicht kurzfristig beim Nächsten stehen bleibt, daß er die Ökonomie im Gro- ßen bejaht, welche das Furchtbare, Böse, Fragwürdige rechtfertigt und nicht nur … rechtfer- tigt.70

Entsprechend seiner physiologischen Ästhetik prägt Nietzsches das Bild des Übermen- schen so physiologisch (»die Künstler, wenn sie etwas taugen, sind stark (auch lieblich) angelegt, überschüssig, Kraftthiere«), daß der Eindruck entsteht, Nietzsche fasst für das Bild des Künstlers als Übermenschen die Kraft buchstäblich und wörtlich auf. An man- chen Stellen seiner Bemerkungen zur Physiologie der Kunst ist die Tendenz zur biolo- gischen Fundierung der Kunst kaum zu übersehen (»das Fundament aller Aesthetik […]: daß die aesthetischen Werthe auf biologischen Werthen ruhen, daß die aestheti- schen Wohlgefühle biologische Wohlgefühle sind«71). Der »Leitfaden« des Leibes mit der biologischen Deutung der Kunst als Überschuss blühender Leiblichkeit wird zu ei- nem zentralen Element bei der Umkehrung der décadence-Idealbildungen wie der As- kese und der platonisch-christlichen Moral und Metaphysik. Mit der Betonung des Kör- pers bringt Nietzsche seine Darstellung des neuen Typus des Übermenschen in einen krassen Kontrast zu ihrer asketischen Distanzierung vom Körper und damit zu ihren ni- hilistischen und reaktiven Geist. Die Verneinung und Verachtung des Körpers sind sei- ner Ansicht nach stets Symptome der décadence, der Kultur des Ressentiments und des Verlangens nach letzten Lösungen, gewesen (»Die unkünstlerischen Zustände: Auszeh- rung, Verarmung, Ausleerung, – Wille zum Nichts. Christ, Buddhist, Nihilist. Der ver- armte Leib. […] Idiosynkrasie (– die der Schwachen, Mittleren). Die Furcht vor den Sinnen, vor der Macht, vor dem Rausch (Instinkt der Unterlegenen des Le- bens)«72). Nietzsche definiert die Kunst als »Gegenbewegung« gegen Askese und Nihi- lismus und fasst den Künstler bewusst als »Gegentypus« zur décadence. Damit bringt er sich selbst als den Überwinder des Nihilismus der Gegenwart klar zum Ausdruck. Nietzsche bezeichnet die Moderne als einen pathologischen Zwischenzustand, zu dem die konsequente Entwicklung des Nihilismus geführt hat und in dem erst einmal alles möglich und erlaubt zu sein scheint. Er weist sich selbst und seiner Philosophie in die- sem Zwischenzustand einen Platz zu. Dieser besteht in dem Vollzug und der Verstär- kung, aber auch in der Überwindung von Nihilismus und décadence. Insbesondere seine schonungslose und extreme Kritik der décadence als des wichtigsten Symptoms der Moderne bildet das Hauptthema in seinen letzten bewussten Monaten. Neben seiner harschen Kritik der Moderne liefert Nietzsche auch mit seinen großen Zukunftsentwür- fen des schöpferischen Individuums, die seinen Zeitgenossen vorenthalten, aber nur ei-

70 Nachlass Herbst 1887. In: KSA 12, S. 557. 71 Nachlass Frühjahr–Sommer 1888. In: KSA 13, S. 511. 72 Nachlass Mai–Juni 1888. In: KSA 13, S. 530. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 24 ner zukünftigen geistigen Elite, einer Elite der einsam Schaffenden, vorbehalten bleiben sollte, den besten Nährstoff für den kommenden Übermenschenkult, an dem auch die Expressionisten maßgeblich Anteil hatten.

2. Nietzsche-Rezeption im Expressionismus – am Beispiel des Neuen Clubs

Die Nietzsche-Rezeption im »Neuen Club«, der als Katalysator in der frühexpressioni- stischen Avantgarde um 1910 fungiert und auch als Keimzelle des Expressio- nismus gilt, begann frühestens im Jahr 1909. Da traten die Berliner Studenten Kurt Hil- ler, Ernst Loewenson und weiteren sechs Mitglieder aus der Studentenverbindung »Freien Wissenschaftlichen Vereinigung« aus und gründeten den Neuen Club. Zur glei- chen Zeit fangen die jungen Studenten an, die Werke Nietzsches zu lesen und sich dar- über zu diskutieren. Im Sommer 1908 geht aus Hillers Brief an Loewenson hervor, dass dieser ihm den Willen zur Macht zu seinem Geburtstag am 17. August 1908 geschenkt hatte. Hiller, der im November Loewenson über seine Lektüre von Ecce homo, das im selben Jahr zum ersten Mal erschienen war,73 berichtete, begann sich mit der Spätlehre Nietzsches aus dessen Nachlass auseinanderzusetzen.74 Am 3. Juli 1909 wurde ein die Neopathetischen Cabarets antizipierender öffentlicher Abend veranstaltet, und hier referierte Erich Unger über »Nietzsche und Ecce Homo«. Im lebhaften Briefverkehr unter den Mitgliedern geht immer deutlicher hervor, dass man sich im Neuen Club vor allem auf die Spätwer- ke Nietzsches konzentriert. Ihre Augenmerke gelten besonders auf die Dekadenzkritik in der Nietzsches Spätphilosophie und bemühen sich intensiv darum, ein literarisches Kriterium herauszuarbeiten dafür, was unter literarischer Dekadenz zu verstehen ist. Vor allem ist im Zeitraum, in dem sich die Club-Mitglieder auf die Gründung des Neu- en Clubs vorbereiteten, unter den Mitgliedern eine lebhafte Diskussion über den déca- dence-Begriff stattgefunden. In einem Brief verweist Loewenson Erich Unger, ein Mit- glied des Clubs, ausdrücklich auf die nachgelassenen Schriften, den Willen zur Macht, und versucht ihm die Unterschiede zwischen der décadence und deren Gegentypus, dem dionysisch-tragischen Künstler oder dem Übermenschen, zu erklären:

73 Vgl. R. Sheppard (Hg.), Die Schriften des Neuen Clubs 1908–1914, 2 Bd., Hildesheim 1980, hier S. 13 [im folgenden: Sheppard]. 74 Im Brief an Loewenson vom 27. Januar 1909 sagt Hiller, dass er sich während der Monate seit seiner Flucht aus München intensiv mit Nietzsche beschäftigt habe, ebd., S. 14. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 25

Ich will nur noch zu Deinem Schluß etwas hinzufügen. Erstens: Es ist einfach nicht wahr, daß der Mann Friedrich Nietzsche als ein Zeichen von Gesundheit verkündet, wenn man zu einer »lebens- feindlichen« (wie Du ausdrücklich zugibst) Seelenfunktion »Ja-sagt«. Ich erkläre das für eine Ver- leumdung des Mannes (dessen Bücher ich Dir bei dieser Gelegenheit zur Lektüre zu empfehlen die Ehre habe). Du mußt nicht diejenigen, die er im Zarathustra »liebt«, weil sie den »Untergang wollen«, mit denen verwechseln, die er im »Willen zur Macht« für gesund hält. Die beiden haben miteinander nichts zu tun: sondern sind Gegensätze. Zu lebensfeindlichen Seelnfunktionen Ja-sagen, ist die Definition für décadence, für Christentum usw. Nicht jeder ist schon darum gesund, der ja-sagt zu irgend etwas. Philologischer Hinweis aber: Nietzsche, der Mann gebraucht sehr oft das Wort »ja-sagen« im prägnanten Sinn: das heißt: dann be- deutet es ihm schon soviel wie »zu Lebensförderndem Ja-sagen«, »vor allem Lebensfeindlichem flie- hen« mithin. Zweitens. Schmerzen sind nichts Lebensfeindliches (nach mir), Scham, weil (resp. Wenn) Angst- Affekt, Zeichen von Untergang, Hemmung, Dekadence, Krankheit, Absterben; Kultivierung der Scham = Selbstmord. Mit Nietzsche einer Meinung bin ich darin (wenn auch aus anderen Gründen scheinbar), daß ich es für ein Zeichen von Kraft halte, zu Schmerzen ja zu sagen. Denn Schmerzen sind ein Lebensmittel wie Lüste, sind (Lebens)-affektfunktionen; sind ja auch »Genuß-mittel« (Scham kaum). Ja-sagen zum Leben mit »all seinen Schmerzen«.75

Wenn man die zitierte Stelle mit Nietzsches Erklärungsschema von der décadence- Moral vergleicht, so wird die Übernahme des décadence-Begriff durch Loewenson un- verkennbar:

Kritik der Décadence-Moral. – Eine »altruistische« Moral, eine Moral, bei der die Selbstsucht verkümmert –, bleibt unter allen Umständen ein schlechtes Anzeichen. Dies gilt vom Einzelnen, dies gilt namentlich von Völkern. Es fehlt am Besten, wenn es an der Selbstsucht zu fehlen beginnt. Instinktiv das Sich-Schädliche wählen, Gelockt-werden durch »uninteressirte« Motive giebt beina- he die Formel ab für décadence. »Nicht seinen Nutzen suchen« – das ist bloss das moralische Fei- genblatt für eine ganz andere, nämlich physiologische Thatsächlichkeit: »ich weiss meinen Nutzen nicht mehr zu finden« … Disgregation der Instinkte! – Es ist zu Ende mit ihm, wenn der Mensch al- truistisch wird. – Statt naiv zu sagen, »ich bin nichts mehr werth«, sagt die Moral-Lüge im Munde des décadent: »Nichts ist etwas werth, – das Leben ist nichts werth«… Ein solches Urtheil bleibt zu- letzt eine grosse Gefahr, es wirkt ansteckend, – auf dem ganzen morbiden Boden der Gesellschaft wuchert es bald zu tropischer Begriffs-Vegetation empor, bald als Religion (Christenthum), bald als Philosophie (Schopenhauerei). Unter Umständen vergiftet eine solche aus Fäulniss gewachsenen Giftbaum-Vegetation mit ihrem Dunste weithin, auf Jahrtausende hin das Leben …76

Nicht nur in den polarisierenden Metaphern von »krank« und »gesund«, welche Nietz- sche zur Unterscheidung der décadence von deren Gegentypus massiv verwendet, son- dern auch in der Argumentation nach der »Physiologie der Kunst« (»ein Zeichen von Kraft […], zu Schmerzen ja zu sagen«) ist es deutlich zu erkennen, dass die Rezeption der Spätlehre Nietzsches, des Willens zur Macht, im Neuen Club in vollem Gange ist. Die intensive Rezeption des späten Nietzsche im Neuen Club deutet sich auch in dem Gründungsaufruf zum Neuen Club im Herbst 1909 an. Der einleitende Satz »›Daß wir wirkende Wesen, Kräfte sind, ist unser Grundglaube‹ sagt Friedrich Nietzsche«77

75 Loewensons Brief an Unger vom 24. Juli 1909, ebd., S. 59–61. 76 Götzendämmerung, KSA 6, S. 133–134, 77 Sheppard, S. 182. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 26 nimmt den unverkennbaren Bezug auf Nietzsches Theorie vom Willen zur Macht, die Wirklichkeit als Gesamtheit und Wechselspiel von sogenannten »Machtquanten« dar- stellt, denen die Tendenz zur Ausweitung, Erhöhung, Vergrößerung, Verstärkung per definitionem immanent ist: »Der Wille zur Akkumulation von Kraft ist specifisch für das Phänomen des Lebens, für Ernährung, Zeugung, Vererbung, für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität […] es wirken Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle ande- ren Kraft-Quanta Macht auszuüben«.78 Dass die einzelnen Machtquanten aufeinander wirken, ist bloß Folge ihres Wesens und ihrer Eingebundenheit in die Welt, und diese ist »ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Grösse von Kraft […]«.79 Um die Gründung des Neuen Clubs zu inaugurieren, veranstalteten die jungen Berli- ner Studenten im November 1909 den ersten öffentlichen Abend des Neuen Clubs. Die Eröffnungsreden der beiden Vordenker des Clubs, Erwin Loewenson und Kurt Hiller, stehen ganz im Zeichen Nietzsches. Hillers Kulturkritik Über die Kultur knüpft an Nietzsches Kritik des Historismus in der Moderne in der zweiten unzeitgemäßen Be- trachtung, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, an:

»Bildung«, wie wir das Wort gemeinhin heute verstehen, ist […] ein Unterbegriff von Vielwisse- rei; so wie Gelehrsamkeit ein Unterbegriff von Vielwisserei ist. Gelehrsamkeit und Bildung – zwei Tugenden, die nicht dem intellektuellen und nicht dem ästhetischen Vermögen, sondern dem Ge- dächtnis, dem Fleiß und der Ausdauer, zumal der Sitzausdauer, der Gesäßigkeit, zuzuschreiben sind; […] Was man heute unter einem »gebildeten Menschen« versteht, das ist ein Wesen, das sich eine er- klecklich Fülle von Kenntnissen, namentlich historischen, neuerdings auch naturwissenschaftlich- technischen, einverleibt hat […]; ein Wesen, das ganze Säcke von Daten und Anekdoten und Tatsa- chen und Geschehnissen und Interessantheilen, ganze Wagenladungen von Quisquilien verschluckt hat […] »Der moderne Mensch«, sagt Friedrich Nietzsche in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrach- tung, »schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heißt«. […] Das Wissen, das im Uebermaße ohne Hunger, ja wider das Bedürfnis aufgenommen wird, wirkt jetzt nicht mehr als umgestaltendes, nach außen treibendes Motiv und bleibt in einer gewissen chaotischen Innenwelt verborgen, die jener moderne Mensch mit seltsamen Stolze als die ihm eigentümliche ›Innerlichkeit‹ bezeichnet.80

In seiner Kritik an dem Bildungsbegriff der Gegenwart übernimmt Hiller Nietzsches Kritik am ›Historismus‹ in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, die sich vor allem gegen die gesellschaftlichen Folgen des positivistischen Historismus richtet. Durch die einseitig auf die Geschichtsschreibung konzentrierte Bildung und Erziehung sind nach Hiller die modernen Menschen zu wandelnden »Encyklopdien« geworden, die sich »mit fremden Zeiten, Sitten, Künsten, Philosophieren, Religionen und Erkenntnissen«81 ge-

78 KSA 13, S. 261. 79 KSA 11, S. 401. 80 Kurt Hiller, Über die Kultur, in: Der Sturm 1 (1910/1911), Sp. 196. Wieder in: Sheppard, S. 196f. 81 Ebd., Sp. 196. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 27 füllt und überfüllt haben. In Analogie zum »Gleichniß von Ernährung und Verdauung«, in dem Nietzsche in einem der nachgelassenen Fragmenten »die Modernität« charakte- risiert (»die Fülle disparater Eindrücke […] die Eindrücke wischen sich aus; man wehrt sich instinktiv, etwas hereinzunehmen, tief zu nehmen, etwas zu ›verdauen‹. – Schwä- chung der Verdauungskraft resultirt daraus«82), macht Hiller dann die zeitgenössische Kultur verantwortlich für die Schwächung der Persönlichkeit, die über ein Übermaß an Wissensbeständen, jedoch über keinen inneren Bezug dazu verfügt. Nach Nietzsche muss die »höhere Kultur« dem Menschen »gleichsam zwei Hirnkammer geben; einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden«. Nur die Kultur als solche sei die »gesunde« Kultur, in der die beiden Bereiche »neben einander liegend, ohne Verwirrung trennbar, abschliessbar« sind.83 Dagegen ist die Kultur der Gegenwart gekennzeichnet durch die »Sonderung« der beiden: Es herrscht nur eine Kultur, die »bloße Verfeinerung einer einzelnen Funktion« bedeutet, und es gibt unter den soge- nannten »gebildeten Menschen« allein die »nur-wissenschaftlichen« und die »nichts- als-impressionistischen Menschen«.84 Diese beiden seien zur Auflösung des Gegensat- zes zwischen der Wissenschaft und der Kunst nicht nur unfähig, sondern auch nicht wil- lens.85 Der durch den Überschuss an historischen Kenntnissen und Wissensbeständen geschwächten Persönlichkeit der Moderne stellt Hiller einen Gegentypus gegenüber, der die Eigenschaft von einer »synthetische[n] Verfeinerung der Gesamtheit eines geistigen Daseins«86 besitzt:

allein der Mensch dieser neuen fabelhaften Tage ist ein Mischling, ein Gebilde aus Allerlei, ein Typus »zwischen den Rassen«. Aufgewachsen unter den (jeweils imponderabilen, aber insgesamt enormen) Einwirkungen des in sich unendlich zergliederten, ohne Konzinnität flimmernden objektivierten Gei- stes von Vorzeit und Gegenwart, ist seine Seele in keinem Augenblick nur nach einem Pole gerichtet; die Gesichtspunkte vermengen sich in ihm.87

»Diese Eigenschaft der synthetischen Verfeinerung«88 ist es, was Nietzsche die »umge- kehrte Bewegung« nannte, die »im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung an eine spezialisierte Nützlichkeit« steht: die »Erzeugung des synthetischen, des sum- mierenden, des rechtfertigenden Menschen«.89 Aus der plastischen Kraft, die Nietzsche

82 KSA 12, S. 464. 83 KSA 1, S. 251. 84 Hiller, Über die Kultur, ebd., Sp. 197. 85 Ebd., Sp. 197: »Für den nur-wissenschaftlichen und für den nichts-als-impressionistischen Menschen ist diese Sonderung nötig: Wer lediglich die Wahrheit sucht, hat das Gefühl auszuschalten, und wen es um des Himmels willen nach nichts anderem als nach Hauchen der Stimmung gelüstet, der hat den Verstand zu verbannen«. 86 Ebd., Sp. 204. 87 Ebd., Sp. 197. 88 Ebd., Sp. 404. 89 KSA 12, S. 463. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 28 in der zweiten unzeitgemäßen Betrachtung als die Fähigkeit zur Überwindung der »historischen Krankheit« bezeichnet,90 schließt Hiller die Definition der Kultur als ak- tiver Gesinnung, die im Gegensatz zur in Willenskraft und schöpferischen Energien ge- schwächten »kulturfeindlichen Gegengattung« steht:

Sofern aber diese Eigenschaft dem, der sie hat, bewußt wird und er alles daran setzt, sie zu bewahren, zu pflegen und zu steigern, sie auch, wo es nottut, in ihrem Werte zu rechtfertigen – verliert das Ideal, das hier entwickelt wurde, all jenes Passivistische, das ihm zunächst wohl anhaftet und das es ethisch gestimmten Naturen vielleicht antipathisch oder verdächtig macht. Dies Passivistische verschwindet; denn was bisher nur Qualität gewesen, transformiert sich alsdann in Gesinnung. Ein starkes Willens- element mischt sich bei, und die Werte, die man meint, wenn man von »Charakter« redet, erhalten Gelegenheit, sich zu realisieren. Und dies in der Tat ist es, was ich an einem Menschen, wenn nicht am höchsten schätze, so doch am loderndsten liebe: die kulturelle Gesinnung.91

Nietzsches klassizistisch geprägter Bildungs- und Kulturgedanke, der sich in der zwei- ten Unzeitgemäßen Betrachtung gegen die Überspezialisierung der Wissenschaftler und Künstler richtet, liefert Hiller die Legitimation für die Umbestimmung des Kulturbe- griffs, die das ethische Moment in den Vordergrund rückt und besonders »ein starkes Willenselement«, welches sich dem Leben stellen will, als Kennzeichen des schöpferi- schen »Genialen« hervorhebt. Während Hiller in der Anlehnung an die Kulturkritik aus der Unzeitgemäßen Be- trachtung den exzessiven Epigonalismus der Zeit anprangert und den Neuen Club als den Ort für die Schöpferischen und Willensstarken zu profilieren sucht, greift Loewen- son in seiner Rede Die Décadence der Zeit und der »Aufruf« des »Neuen Clubs«92 auf Nietzsches Kritik der Moderne als décadence und stellt die Problematik des Nihilismus in den Mittelpunkt. Die Moderne ist nach ihm durch die décadence gekennzeichnet:

Ich fand, dass wir inmitten einer Unsauberkeit leben. […] Ich fand, dass unsre Décadence sich anders äußert als die Décadence dieses Volkes: dass aber beide im Grunde dieselben sind.93

Loewenson geht es darum, die schon von Hiller kritisierten allgemeinen Kulturzustände der Gegenwart als »Décadence«, als eine »Kultur-Krankheit« zu bestimmen und sich dabei auf Nietzsches décadence-Kritik zu berufen. Diese Spätlehre des 1900 verstorbe- nen Philosophen gehört zum Kern der nachgelassenen Fragmenten, die 1906 nebst Ecce homo unter dem Titel »Wille zur Macht« erschienen. Die Gründungsmitgleider des Neuen Clubs gehören zu den ersten, die diesen Nachlass eifrig lasen.

90 Mit der »plastischen Kraft« meint Nietzsche die Kraft, Vergangenes und Fremdes umzubilden und es sich einzuverleiben oder es durch Vergessen auszuscheiden. Wer solche Kraft besitzt, der »sammelt instinktiv aus Allem, was er sieht, hört, erlebt, seine Summe, er ist ein auswählendes Princip, er lässt Viel durchfallen«. Vgl. KSA 1, S. 251 u. 330. 91 K. Hiller, Über die Kultur, ebd., Sp. 404. 92 Erwin Loewenson, Die Décadence der Zeit und der »Aufruf« des »Neuen Clubs«, ebd., S. 182–204. 93 Ebd., S. 184–185. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 29

Loewensons Rede verfolgt zwei Ziele, die gruppensoziologisch zu interpretieren sind: Verehrung und Abgrenzung. Das erstere Ziel gilt Nietzsche, das zweitere richtet sich gegen den Ästhetizismus. Er will am Beispiel seiner Analyse der zeitgenössischen Kulturzustände die Notwendigkeit von deren Überwindung nachdrücklich sagen, die nur von »heutige[n] Menschen« zu ermöglichen sei. Diese sind vor allem als Verehrer Nietzsches charakterisiert:

Heutige Menschen: die den Blick des Erkennens auch auf Lebendige, Gleichzeitige wenden; die sich gerade nach Formeln und Farben sehnen, durch die ihr eigenes zeitliches Temperament und Nach- denken erfüllt und gefürstet wird. Solche Menschen meinte ich. Aber ich meine auch andere. Solche, die Nietzsche zitieren, aber kein Schlagwort, sondern ein verstecktes lautloses Etwas aus den nachge- lassenen Schriften.94

Hier zeigt sich die Intention, die Loewenson in seiner Rede verfolgt, deutlich: Durch die gemeinsame Hommage an Nietzsche werden die Clubmitglieder als dessen Verehrer- gemeinde und zugleich als dessen ›wahren Deuter‹ in Szene gesetzt. Was diese aus- zeichnet, ist die Hinwendung zum Leben (»Heutige Menschen, die den Blick des Er- kennens auch auf Lebendige, Gleichzeitige wenden«), die aus der Überwindung des »tief-erlebten Nihilismus« resultiert.

[…] es handelt sich freilich um den Menschen der zweiten Stufe. Menschen der zweiten Stufe sind solche, die einen tief-erlebten Nihilismus hinter sich haben, durch einen Machtentschluß hinter sich ließen und – »wieder von vorn anfangen«, die aus einer tieferen Skepsis heraus für tiefere Antworten empfänglich wurden, und solche die aus der Periode differenziertesten Genießertums und Lustwan- delns durch die Schächte glietzernden Erlebens wieder zurückkehren zu den steileren Gipfeln der schaffenden Kraft. Er weiß jetzt, daß Wahrheit nicht möglich ist und tritt nicht mehr wie früher sen- timental und verurteilt an den Abgrund der Dunkelheit; er weiß, daß das Wahrste, was er erleben kann, eine Dichtung des Seins ist: Er schreit nicht mehr nach Antwort (wie auf der ersten Stufe) und schlägt nicht mehr um sich (wie das Zwischenglied), alles, alles von sich fortstoßend, was »metaphy- sisch« umleuchtet ist […], sondern er hat den Mut des Spielers und Verschwendergewissheit und se- gelt bewußt in den unsichern blutdunklen Raum, wo die ungeheueren Dichtungen wie unsichtbar fun- kelnde Paläste aufgebaut sind und angerufen sein wollen.95

Loewenson greift hier auf das Gleichnis von drei Verwandlungen des Geistes in Zara- thustra, in der Nietzsche den Werdegang des Übermenschen darstellt: Nachdem der Geist zunächst zum Kamel wurde, dem befohlen wird »Du sollst«, wird er zum Löwen, dessen Geist sagt: »ich will«. Die dritte und höchste Verwandlung des Geistes aber be- steht darin, dass der Geist zum Kind wird.

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-Sagen.96

94 Ebd., S. 185–186. 95 Ebd., S. 187. 96 KSA 4, S. 31. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 30

Nietzsches Darstellung des Übermenschentypus, welcher die grausame Wahrheit der »ewigen Wiederkehr des Gleichen« nicht nur aushält, sondern auch damit spielend um- geht und bejaht, bildet das Vorbild für Loewensons »Menschen der zweiten Stufe«. Und wer die décadence als »einen tief-erlebten Nihilismus hinter sich hat«, zeichnet sich durch die Gesundheit, durch die Kraftfülle aus, die »einen Machtentschluß« ermöglicht, »wieder von vorn an[zu]fangen«:

Was er tut, tut er um eines Dinges willen: um der Steigerung seiner Lebensintensität willen. […] Denn was er jetzt bewußt verlangt, ist mehr denn je umfangendstes Erleben und Aufleben, brutalstes Sich-Lebendig- Fühlen und hochwogendes Bewußtsein der eigenen Kraft. Der Mensch der zweiten Stufe hat dieses Kriterium des Handelns gefunden […] Das Gefühl der Kraft ist ihm Gefühl der Gesundheit: und daran klammer er sich: und das ist das Neue. Der Mensch der zweiten Stufe ist der, der die Décadence in sich überwunden hat.97

Loewenson sucht also in einer Art Wesensvergleich die Gemeinsamkeiten zwischen dem Übermenschen als Überwinder der décadence in dem Sinne Nietzsches und dem Neuen Club herzustellen, um dadurch Nietzsche als dessen Präfiguration erscheinen zu lassen. Aber das eigentliche Kalkül, das Loewenson und Hiller, die beiden Wortanführer des Clubs, in ihrem Rückgriff auf Nietzsche leitet, wird in der Darstellung der décadence als Gegentypus zum »Menschen der zweiten Stufe« deutlich. Die sogenannten »déca- denten«, die an der Überwindung des Nihilismus scheiterten (»Zwischenglied«98), be- gnügen sich mit der »Verfeinerung aesthetischer Hochkultur« und einem »differenzier- testen Genießertum und Lustwandeln«,99 während den »Menschen der zweiten Stufe« die »Dichtung des Seins« »das Wahrste«, was sie erleben können, ist. Loewenson bringt also den Neuen Club in die Opposition zum Ästhetizismus um die Jahrhundertwende, der besonders durch »Aestheten« verkörpert wird, die »einen Unterschied zwischen sich als Künstlerischen und sich als Menschen« machen und darum die »verschrieenen Nietzscheaner« sind.100 Loewenson, der sich am intensivsten mit der décadence-Kritik Nietzsches befasst hat, definiert die décadence als Krankheit, zu deren Hauptsympto- men vor allem die Willensschwächung zähle. Ein Mensch, dessen »Psychophysis sich in einem bestimmten Stadium der Décadence aufhält«, hat sehr schwache Affekte, die kaum funktionieren, neigt infolgedessen so stark zur Selbstverkapselung (»fühlt er sich wohl in seiner Vermauerung«), dass »er jede Gesellschaft flieht«.101 In einem anderen Vortrag, den Loewenson sieben Monate später am ersten Abend des »Neopathetischen

97 Loewenson, Die Dècadence der Zeit und der »Aufruf« des »Neuen Clubs«, ebd., S. 188–189. 98 Ebd., S. 189. 99 Ebd., S. 187. 100 Ebd., S. 186. 101 Ebd., S. 188. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 31

Cabarets«, des eigenen publizistischen Forum des Clubs, gehalten hat,102 analysiert er den »Complex von Symptomen« der décadence noch ausführlicher. Die décadence, die begrifflich als eine Verminderung der Lebenspotenz zu fassen sei, schildert er wie einen pathologischen Vorgang, den er schon zuvor als »dreifache Selbstbeobachtung«103 ge- nannt hat:

[…] seit langem keines Affektes mehr fähig ist; weder eines freudigen noch eines wütenden; […] Man hat seine internen Bewegungen immer krankhaft beobachtet; […] Man hat seine psychischen Vorgänge immer analysiert; man hat sie schließlich paralysiert. Das Bewußtsein lauerte allem auf und hat alles zerwußt. Jeder Affekt, der sich regte, wurde gelähmt, jedes Gedankending wurde bei seinem Werden gefragt: wie wirst du zustande kommen? […] Da in diesem Fall das beobachtende Subjekt mit dem beobachteten Objekte zusammenfällt, […] da unser Bewußtsein für viele nebeneinander be- stehende Tätigkeiten um so weniger Raum hat je intensiver diese sind, so besteht in der Regel eine solche Veränderung darin, daß die Erscheinungen, die man beobachten will, überhaupt unterdrückt werden.104

Nach Loewenson ist eines der typischen Symptome der décadence die Schwächung des Willensmoments durch das Übermaß an analytischem Denken. Eine fast krankhaft ge- steigerte Neigung, statt der beobachteten Objekte »die Reflektion über die Herkunft und das Wesen der inneren Vorgänge«105 ins Extrem zu treiben, führt dazu, dass »man nur noch als Objekt lebt«.106 In diesem fast der Depersonalisation ähnlichen Zustand erken- nen wir die Züge des Ästhetizismus wieder, die Hugo von Hofmannsthal die »Zweisee- lenkrankheit«107 genannt hat. Dieses Nebeneinander von Anempfinden und der Analyse der Empfindung beschreibt Hofmannsthal in einem Essay folgendermaßen:

Heute scheinen zwei Dinge modern zu sein: die Analyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben. Gering ist die Freude an Handlung, am Zusammenspiel der äußeren und inneren Lebensmächte, am Wilhelm-Meisterlichen Lebenlernen und am Shakespearischen Weltlauf. Man treibt Anatomie des ei- genen Seelenlebens, oder man träumt. Reflexion oder Phantasie, Spiegelbild oder Traumbild. Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten. Modern ist das psychologische Graswachsenhören und das Plätschern in der reinphantastischen Wunderwelt. […] Modern ist die Zergliederung einer Laune, ei- nes Seufzers, eines Skrupels; und modern ist die instinktmäßige, fast somnambule Hingabe an jede Offenbarung des Schönen, an einen Farbenakkord, eine funkelnde Metapher, eine wundervolle Alle- gorie.108

102 E. Loewenson, Tragödien der Décadence – Hamlet, Dichtungen von Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. Vortrag gehalten am ersten Abend des Neopathetischen Cabarets (am 1. Juni 1910), in: Sheppard, S. 371–388. 103 Ebd., S. 188. 104 Ebd., S. 373–374. 105 Ebd., S. 373. 106 Ebd., S. 375. 107 Hugo von Hofmannsthal, Zur Psychologie der modernen Seele, in: ders, Gesammelte Werke in Ein- zelbänden, hg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt/M. [im folgenden: HGW]; Reden und Aufsätze I, 1979, S. 96. 108 Ebd., S. 176. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 32

Loewensons Schilderung der décadence-Symptome entspricht in vielen Zügen der »Zweiseelenkrankheit«, die von Hofmannsthal als ein Nebeneinander von Anempfinden und Analyse des Gefühls beschrieben wird, als eine Ichspaltung in Subjekt und Objekt, in das Ich, »das leidet, und [das] Ich, das leiden zusieht«.109 Dieses impressionistische Lebensgefühl, das die Bedingungen der Impressionen reflektiert, bildet den programma- tischen Kern der Wiener Moderne. Als »Gegenpol der décadence«, die mit solcher »al- les zerstörende[n] Empfindung des Subjekt-Seins« jedes Anzeichen der Vitalität im Keim erstickt und sich somit »aller Steigerung seines Lebens« verschließt, erklärt Loe- wenson das »Pathos«, »das prachtvolle Aufleben« und »das tobende Machtgefühl«, welches sich und den Mitgliedern des Clubs eigen sei. Während sich der geschwächte Organismus des »décadent-kranken«, der in sich jeden Willen »zerdacht« hat, »instinc- tiv gegen große Bewegungen« wehre und »Angst vor Bewegung«110 habe, zeichnet sich derjenige, der die décadence in sich überwunden hat, durch das »gesunde Tempera- ment« und eine »lebens- und kraftdurstige Psychophysis«, die das »furchtbare Schwei- gen« bricht und sich vor »der Fürchterlichkeit des Lebens«111 auch nicht scheut. Im Zu- ge der Analyse und Kritik des Ästhetizismus als décadence par exellence finden die Berliner Studenten um den Neuen Club also langsam zum vitalistischen Programm des Expressionismus. Im Laufe der zunehmenden Opposition der Berliner Frühexpressionisten zum Ästhe- tizismus, die in den Reden der beiden Vordenker des Clubs deutlich zu erkennen war, begannen auch die kritischen Auseinandersetzungen mit den literarischen Vätern, die schon im literarischen Feld große Einflüsse ausübten und von den Mitgliedern des Clubs zum verehrten Vorbild erklärt wurden. In dem Zeitraum zwischen der Eröffnung des Neuen Clubs und der des »Neopathetischen Cabarets«, des eigenen publizistischen Forums, wurden diese auf die Symptome der décadence hin intensiv geprüft (»George und Hofmannsthal sind auf décadence untersucht u[nd] diagno[s]tisiert. Ich gehe nun- mehr auf Brod über«112). So wird Stefan George (»Patient«113), der einst verehrtes Vor- bild war und als Prototyp des Überwinders der décadence gefeiert wurde (»Stefan George, der uns heute Lebendigen mehr bedeutet als irgend ein toter Dichter […], weil er unsere Mitternächte zum Glühen bringt und […] unsere triumphierenden Brücken

109 Ebd., S. 116. 110 Loewenson, Tragödie der décadence, ebd., S. 377. 111 Loewenson, Tragödie der décadence, ebd., S. 382. 112 Loewensons Brief an Erich Unger v. 16. Jan. 1910, ebd., S. 216. 113 Loewensons Brief an Erich Unger v. 13. Jan. 1910, ebd., S. 216: »Inbezug auf Décadence behandle ich George. Patient dürfte morgen reconvalescieren. Augenblicklich befindet er sich (bei mir) in der Epoche des ›Klassischen Stumpfsinns‹ (1905) oder wie er in seinem Jargon sagt: auf den sonnen- wanderungen«. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 33 baut«)114, von Erich Unger, dem Geschäftsführer des Neuen Clubs, auf indirektem Wege kritisiert. Unger kritisiert in seinem Vortrag Vom Pathos. Die um George,115 den er auf dem dritten Neopathetischen Cabaret (9. Nov. 1910) hielt, George und seine Jünger und hält eine scharfe Abrechnung mit der Epigonalität des Georgekreises. Aber von seiner Kritik wird auch der einst verehrte Meister der Dichtkunst auch nicht ausgenommen. So erkennt Unger George zwar an, dass er eine größere Fülle von Empfindungsgebieten umspannen konnte als je zuvor, spricht ihm aber die Fähigkeit ab, dem unüberschauba- ren, hektischen Großstadtleben der Moderne gerecht zu werden:

Es ist nicht zu leugnen, daß in der Musik Georges ein Ton fehlt – ein Ton, aus dem ein Ja zu dem hastigen, verzerrten, geschmacklos schreienden, sich bizarr überbietenden Kräfte-Durcheinander he- rausklingt, das als Hintergrund unserer überaus wunderbaren Zeit erscheint. Die Eindruckslosigkeit, ins Immense getrieben, hat für uns den Schein der Groteske angenommen – wir haben inzwischen die ästhetischen Qualitäten des phantastischen Gemenges von Bewegungen sehen gelernt, zu dessen Überwindung George gesandt war. Daß Stefan George selbst kein Organ für die Dämonie dieses Cha- os hatte, kompensiert sich durch die Intensität, mit der sein Blick auf Entgegengesetztes gerichtet war. Aber dieses Nichtwahrnehmen, dieses Nichtsehen eines Aspekts zum Prinzip zu machen, zur Moral zu erheben, einen Mangel als Forderung proklamieren, erachte ich als verlogen und lehne es ab.

Ungers Kritik an George knüpft zum Teil an die kritischen Stimmen an, die sich um 1910 gegen den Verfasser des Siebenten Ringes richteten und in ihm nicht mehr als le- diglich ein »bleibendes Symbol« des Übergangs sahen, einen »großen Übergehenden«, der »eine neue Wendung des Geschmackes gigantisch erzwungen zu haben und zu er- halten sich rühmt«.116 Diese kritischen Töne werden auch in Ungers Auseinander- setzung mit George hineininterpretiert. Er stellt George als ein historisches Übergangs- phänomen dar, dessen Bedeutung für den Neuen Club nicht über die eines Zwischen- meisters hinausläuft (»wir haben inzwischen die ästhetischen Qualitäten des phantasti- schen Gemenges von Bewegungen sehen gelernt, zu dessen Überwindung George gesandt war«), weil in dessen Dichtung alle Erscheinungen des Grotesken und des All- täglichen der Moderne perhorresziert und als dichterisches Sujet ausgeschieden werden. Georges Pathos, das einst von Loewenson als ein Zeichen für die Dekadenzüberwin- dung gepriesen wurde (»Stefan George hat das Erlebnis der Leblosigkeit überwun- den«117), wird nun von Unger kritisiert als bloße Gebärde (»Daß Stefan George selbst kein Organ für die Dämonie dieses Chaos hatte«; »›Würde‹ proklamieren sie in ihren Jahrbüchern – und wissen nicht, daß bewußt erstrebte Würde ein psychologisches Mon- strum ist«), weil es nur gesteigertes Bewusstsein ist, das nur Zeichen des unmittelbaren

114 Loewenson, Die Décadence der Zeit und der »Aufruf« des »Neuen Clubs«, ebd., S. 191. 115 Erich Unger, Vom Pathos. Die um George, in: Der Sturm 1 (1910), H. 40, Sp. 316. 116 Rudolf Borchardts Rezension des Siebenten Ringes von Stefan George, in: Hesperus. Ein Jahrbuch von Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Alexander Schröder und Rudolf Borchardt, Leipzig 1909, S. 49f. 117 Loewenson, Tragödie der décadence, ebd., S. 384. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 34

Lebens erzeugt, aber kein Lebenspathos. Als Beweis dafür gilt für Unger Georges prie- sterliche Strenge, mit der er und seine Jünger der Gesellschaft gegenüber stehen:

Ebenso wie ihnen die Macht eines ästhetischen Ja zu dieser ehern-wirklichen, jagenden Monotonie fehlte – und aller Blick für das Diesseitige, So-Seiende ist nach Nietzsche eine Frage der eigenen Macht – steht es im innersten Zusammenhang damit, daß sie das fröhliche, tötende Gelächter, mit dem das seiner eige- nen Existenz Gewisse die Gegenkräfte vernichtet, nicht ertragen. Ein widerlicheres Zeichen der Schwäche ist nicht leicht zu denken. »Würde« proklamieren sie in ihren Jahrbüchern – und wissen nicht, daß bewußt erstrebte Würde ein psychologisches Monstrum ist. Aber diese Furcht vor dem Gelächter ist nicht nur das Symptom totaler Existenzunfähigkeit, es ist das schlimmste Zeichen der inneren Verlogenheit, der Unanständigkeit vor sich selber. Den richterlichen Anspruch Georges, der etwa in seinen Zeitgedichten im Siebenten Ring deutlich erhoben wird, nimmt Unger als Anlass für die Unzeitgemäßheit der georgeschen strengen Kunstauffassung. George, der seit dem Jahr der Seele in den Dia- log mit der Öffentlichkeit eintritt, stellt im Eingangsgedicht des Siebenten Rings die ei- gene Rolle des Erneuerers und Anregers der deutschen Dichtung dar, der im Gegensatz zum Naturalismus neue Ausdrucksmittel herausbildete. Aber zugleich bestimmt er die Rolle des Dichters neu um und setzt sich somit von seiner bisherigen dichterischen Hal- tung ab. Mit einer rigorosen Oppositionshaltung gegen das Bürgertum kritisiert George die Perversität des bürgerlichen Alltags und die zeitgenössische Kultur. Er verweigert sich bestimmten Erfahrungen des modernen Großstadtlebens und verwahrt sich dagegen. Die Verweigerung der Entsakralisierung des dichterischen Sujets und der dichterischen Topoi bewertet Unger aber als ein Zeichen der inneren Schwäche, die sich »alle[m] Blick für das Diesseitige, So-Seiende« verschließt. Gegen die priesterliche Strenge Georges gegen die Gegenwart, die kaum Lachen zulässt, spielt Unger nun das »neue Pa- thos«, das der Neue Club von sich propagiert, bewusst auseinander. Dabei wird Nietz- sche wieder als der Pate des expressionistischen Pathos präsentiert:

Nietzsche hat uns dieses Kriterium des Wertes im Zarathustra gegeben: »Ihr höheren Menschen, euer Schlimmstes ist: ihr lerntet alle nicht tanzen, wie man tanzen muß – über euch hinweg tanzen! Was liegt daran, daß ihr mißrietet! Wie vieles ist noch möglich! So lernt doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch! Höher! Und vergeßt mir auch das gute Lachen nicht! Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr höhreren Menschen, lernt mir – lachen!« Der um George darf nicht lachen. So leicht »lacht er sich – tot«. Denn das Gelächter ist darum ein Zeichen der Macht, die Wirklichkeit zu ertragen, wie sie ist, weil es als unmittelbarste, unkorrumpierteste Aeußerung unseres Bewußtseins die vollkommenste, redlichste Gleichgültigkeit gegen jede Perspektive ausdrückt. Zwischen jeder Auslegung des Geschehens, das ist: zwischen jeder pathetischen Umspannung, die das Denken selbst ist, und dem Aspekt des Alltags klaffte bisher eine Lücke, ein Unüberbrückbares. Unvermittelt standen sich Alltag und Pathos gegenüber. Und jedes Pathos zerbrach bisher an der Ge- walt des Alltags. Nur das Pathos, das diese Lücke ausfüllt, ist so sicher vor dem Umfallen als alles Alltägliche. Jedes andere ist verlogen. Wir ersehnen ein Pathos, das dem Alltag ebenbürtig ist. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 35

Nietzsche hat Lachen, Leichtigkeit und den Tanz gepriesen, die ein Testfall für sein äs- thetisches Konzept der »Physiologie der Kunst«, die dionysisch-tragische Auffassung von der Kunst, sind, welche den ganzen Menschen umfasst und ein emphatisches Ja zum Leben ermöglicht. Tanzen und Lachen, so wie Zarathustra sie als das Kriterium der »höheren Menschen« vorgibt118, sind der Begriff von Leichtigkeit, Freiheit, Überlegen- sein und Selbstverständlichkeit des Lebens, und nach Nietzsche zugleich das Zeichen des »Übermenschen«, des »mit Kraft überhäuften«, göttlichen Kindes, das die Überzeit der ewigen Wiederkehr aushält119 und zu einem »heiligen Ja-Sagen«120zum ewig rollen- den »Rad des Seins«121 fähig ist. An dieser Heiterkeit des Übermenschen erkennt Nietz- sche wiederum dessen »Wohl- und Machtgefühl«, das »die Lust an der Tragödie« ist, weil er sich hart genug fühlt, um das Leiden als Lust zu empfinden und »zu sich selbst auch in der tragischen Grausamkeit Ja sagen« zu können.122 Ein »ästhetisches Ja« zu »furchtbaren Dingen« des Daseins ist darum »ein Symptom der Stärke«, während diese von den »Schwachen«, also von den décadenten, »als hässlich« empfunden werden.123 Anhand dieser Definition des dionysisch-tragischen Künstlers als Prototyp des Über- menschen in Nietzsches Spätphilosophie hebt Unger die totale Affirmation des Lebens zu einem einzigen Prüfstein für den wahren Dichter hervor, der auch zu den hässlichen Dingen der modernen Gesellschaft »ein ästhetisches Ja« sagt. Somit legt Unger den Schluss nahe, dass ein Dichter wie George, dem »die Macht eines ästhetischen Ja zu dieser ehern-wirklichen, jagenden Monotonie« fehlt, dem rauen Alltag des modernen Großstadtlebens nicht gerecht wird. Georges Lebens- und Geisteshaltung, die seit dem Siebenten Ring die Einheit von Dichtung und Leben deutlich zu ihrem Gegenstand ge- macht hat, haben angesichts der aktuellen Problematik des literarischen Feldes, des De- siderats einer neuen sozialen Verbindlichkeit, auf die jüngere Generation faszinierend gewirkt,124 und er galt, wie oben bei Loewenson zu erkennen ist, als Überwinder der von Nietzsche thematisierten Dekadenz. Das Herrische und Heroische, von dem Georges große Gebärde der bewussten Oppositionshaltung gegen die Gesellschaft ge- prägt ist, wertet Unger nun aber als nur eine Pose ab, weil ein wahrer Künstler im Sinne Nietzsches den »Zustand ohne Furcht vor dem Furchtbaren und Fragwürdigen«125 des

118 KSA 4, Also sprach Zarathustra, IV, Vom höheren Menschen, S. 367. 119 Vgl. Günter Wohlfahrt, Wer ist Nietzsches Zarathustra? in: Nietzsche-Studien, Bd. 26 (1997), S. 319– 330; 329. 120 KSA 4, S. 31. 121 Ebd., S. 272. 122 KSA 12, S. 555f. 123 Ebd. 124 Vgl Klaus H. Kiefer, Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der europäischer Avantgarde, Tübingen 1994, S. 71f. 125 KSA 6, S. 127: »Was theilt der tragische Künstler von sich mit? Ist es nicht gerade der Zustand ohne Furcht vor dem Furchtbaren und Fragwürdigen, das er zeigt?« Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 36

Daseins zeigt. Und dieses voluntative Moment zur bedingungslosen Bejahung des Da- seins, das programmatische Wollen zur existentiellen Leidens- und Schmerzerfahrung, erklärt Unger in Anlehnung an Nietzsche als das entscheidende Wertungskriterium für das neue Dichtertum. Die Wirklichkeit des modernen Großstadtlebens rückt nun als dichterisches Sujet in den Vordergrund, und das von Unger geforderte »Pathos, das dem Alltag ebenbürtig ist«, ist gleichsam als eine Willensbekundung anzusehen, mit ihm äs- thetisch fertig zu werden. Die Fähigkeit dazu bildet das Kriterium für das wahre Dich- tertum, die Unfähigkeit dazu macht dagegen die décadence aus, die zu überwinden gilt. Mit diesem existentiellen Pathos zeichnet sich die neue Kanonisierung des Künstlers ab, die vor allem in der pathetischen Hinwendung zum Leben besteht, welche mit dem Vermögen zu sozialen Bindungen untrennbar verbunden ist. In Ungers Übernahme der Metaphern von ›stark‹ und ›schwach‹126 aus der physiologischen Ästhetik Nietzsches (»Ein widerlicheres Zeichen der Schwäche«; »Denn das Gelächter ist darum ein Zei- chen der Macht, die Wirklichkeit zu ertragen«) zeigt sich, dass die Robustheit im Um- gang mit dem harten Alltag als eines der festen Bestandteile des neuen dichterischen Selbstverständnisses anerkannt wird127 und auch dass die Dichtung unter einem sozial- ethischen Gesichtspunkt bewertet wird, aber nicht mehr unter einem ästhetischen, wie es im Ästhetizismus um die Jahrhundertwende der Fall war. Die Dichtung soll der Wirklichkeit abgerungen werden. Dieser neuen Kanonisierung des Künstlers auf der Grundlage von Nietzsches Spät- philosophie des Willens zur Macht und der décadence-Kritik kommt eine doppelte Funktion zu: sie verhilft den Berliner Frühexpressionisten um den Neuen Club dazu, sich gemeinsam über die aktuelle Problematik der Dekadenz im literarischen Feld zu verständigen und dabei zum Selbstverständnis als Dekadenz-Überwinder zu finden. Aber andererseits bietet die zentrale Bedeutung der Lebensfunktionalität der Kunst in Nietzsches Lebensphilosophie (»die Kunst ist das große Stimulans zum Leben«128) den Berliner Frühexpressionisten zugleich die Grundlage für ihre Kritik der unverbindlichen

126 Vgl. Nietzsches Typologisierung der Künstler: »Ist die Kunst eine Folge des U n g e nügens am Wirklichen? Oder ein Ausdruck der Dankbarkeit über genossenes Glück? Im ersten Falle R o m a n t i k , im zweiten Glorien-Schein und Dithyrambus (kurz A p o t h e o s e n - K u n s t )« (KSA 12, S. 117). Nach Nietzsche ist also die Grundlage der von Nietzsche konzipierten physiologi- schen Ästhetik eine »Frage der K r a f t «, »das Gefühl der Fülle, der a u f g e s t a u t e n Kraft«, ob ein Künstler das Leben bejaht oder für hassenswert hält. Nur aus diesem Gefühl sei erlaubt, »Vieles muthig und wohlgemuth entgegenzunehmen, vor dem der Schwächling s c h a u d e r t « (Nachlass Herbst 1887, ebd., S. 555.). 127 Auch Kurt Hiller sieht in der »Formung der Erlebnisse des intellektuellen Großstäters« das »Ziel« sei- ner Dichtung (Kurt Hiller, Die Jüngst-Berliner, in: Literatur und wissenschaft. Monatliche Beilage der Heidelberger Zeitung, Nr.7, 22. 7. 1911, Sonderadruck, S. 2–6. Auch in: Thomas Anz und Mi- chael Stark, Manifeste und Dokumente des deutschen Expressionismus, S. 33–36). 128 KSA 6, S. 127; vgl. auch KSA 13, S. 194: »Die Kunst und nichts als die Kunst. Sie ist die große Er- möglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans zum Leben«. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club 37

Ästhetenexistenz, um schließlich auf diesem Wege das Ungenügen der literarischen Vä- ter der neuklassischen Moderne zu entlarven und sich dadurch von ihnen unabhängig zu machen. Nietzsche als gemeinsames Vorbild ist also in der Formierungsphase des Neu- en Clubs nicht nur eine verbindende Kraft gegen die lockere Verbindung der Berliner Studenten, für die das Aufrechterhalten des Clubs eine literarische Überlebensfrage129 sein müsste. Dem 1900 verstorbenen Philosophen kommt auch die Funktion eines gro- ßen Vorläufers und zugleich eines Übervaters zu, von dem her die expressionistische Avantgarde die Freiheit gegenüber den im literarischen Feld etablierten literarischen Vätern und die Kritik gegen deren Kunstanschauungen begründen und rechtfertigen konnte.

129 Biref von Friedrich Schulze-Maizier an David Baumgardt v. 1. Febr. 1911, in: Sheppard, S. 473: »Daß der Neue Club in die Brüche geht, ist meine letzte Sorge. Hiller weiss nicht minder als David- sohn und Golo Gangi sehr genau, dass der Club für jeden von ihnen die denkbar wichtigste Institution der Welt ist. […] Diese N[euen] C[lubl]er sind doch ein Musterbeispiel des sozialen Phänomens und des addierten Zusammens, das als Zusammen zu immerhin ganz stattlichen und markanten Wirkun- gen kommt, auf die es in der Isolation wohl doch nicht rechnen dürfte. Sogar der Meister Heym hat das recht gut begriffen. Für die N[euen] C[lubl]er ist ihr Club eine Lebensfrage […]«. III. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avant- garde – Verehrung und Überwindung der Dichtervorbilder in expressionisti- schen »Dichtergedichten«

1. Zum Terminus des »Dichtergedichts« 1.1 Definitions- und Typisierungsversuch

Dichtergedichte sind Gedichte über Dichter, in denen die Reflexion über das Dichter- tum im allgemeinen oder über andere Dichterexistenzen in konkreten Fällen themati- siert wird. Bekannt und verbreitet sind Dichtergedichte, die allgemeine Appelle an die Dichter oder die Reflexion über das dichterische Sein thematisieren.130 Unter Dichter- gedichten werden auch die Gedichte über einzelne namhaft gemachte Dichter verstan- den, die also bestimmten dichtenden Vorgängern oder Zeitgenossen gelten. Dadurch er- fahren sie als eine lyrische Gattung eine erhebliche Erweiterung. Die Dichtergedichte können dann zum einen ein Ort werden, am dem die Reflexion über das allgemeine Dichtertum an einem konkreten Dichter exemplifiziert und daraus die modellhafte Stili- sierung eines dichterischen Idealbildes gezogen wird. Sie können zum anderen auch ein Medium bilden, in dem eine literarische Kommunikation zwischen Dichtern möglich ist, deren Leben, Weltanschauung, dichterisches Selbstverständnis und Werke unter- schiedlich geprägt sind. Schließlich bringen sie das, was aus dieser Konfrontation bei- der Dichterindividualitäten geworden ist, zum Ausdruck. Im letzteren Fall kann von Dichtergedichten als einer Art von Gedichten gesprochen werden, in denen ein Dichter im Hinblick auf die eigene gegenwärtige Dichterexistenz seine persönliche Beziehung zu einem anderen thematisiert.131 Dichtergedichte als solche sind an einen bestimmten Dichter adressiert und zeigen dies deutlich an, indem sie meistens den Namen des Adressaten in oder neben der Über- schrift nennen.132 Neben der Namensnennung gibt es in Dichtergedichten noch die

130 Bekannte Beispiele sind Friedrich Hölderlins Dichterberuf oder auch Annette von Droste-Hülshoffs An die Schriftstellerinnen in Deutschland und Frankreich. 131 Ursula Heukenkamp spricht in diesem Sinne von einer Thematisierung der »Erbebeziehungen«, die sie zum Kennzeichen des »Porträtgedichts« hervorhebt. Die Bezeichnung der auf Dichter be- zogenen Gedichte mit der Thematik der Erbesbeziehungen als »Porträtgedichte« ist allerdings noch ergänzungs- und korrekturbedürftig, weswegen auch Heukenkamp selbst vermeidet, auf einem strengen Begriff vom »Porträtgedicht«, der Wandlungen und Variationen ausschließen soll, zu be- stehen (Ursula Heukenkamp, Dichterporträt. In: Ingrid Hähnel (Hg.), Lyriker im Zwiegespräch. Traditionsbeziehungen im Gedicht, Berlin und Weimar 1981, S. 217–264, hier S. 261). Auf den Begriff des »Porträtgedichts« im Vergleich zu dem des Dichtergedichts wird im zweiten Teil die- ses Kapitels eingegangen. 132 Dichternamen bilden den Gedichttitel (z. B. Georg Trakl oder An Novalis), oder sie werden neben der Überschrift als Adressaten genannt (z. B. An X. Y., Für X. Y., oder Dem X. Y. (gewidmet)). »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 39

Möglichkeit, die Bezugnahme des Dichters auf einen anderen anzudeuten, indem Dich- ternamen oder Ausschnitte aus Werken und Biographie im Gedicht zitiert werden. Die Zitate intendieren wie die Namenserwähnungen in der Überschrift ein demonstratives Hindeuten auf den thematisierten Dichter und fungieren als Schlüssel zum Textver- ständnis. Ihre Funktion liegt daher eher in der Verkörperung dessen, was eine Dichter- persönlichkeit ausmacht, also was deren dichterisches Schicksal und Leben oder deren Dichterauffassung und Weltanschauung charakterisiert, als in einer Textvorlage, mit der sich das zitierende Gedicht thematisch auseinandersetzt um stilistischer Modifikationen oder literarischer Adaptionen willen.133 Die Gedichte, in denen bloße Anspielungen oder Dichternamen vorkommen, aber wenig besagen und keineswegs eine den gesamten Kontext konstituierende Bedeutung besitzen, kommen hier nicht in Betracht. Zu den Dichtergedichten, sollten sie einem bestimmten Dichter gelten, sind nur die zu zählen, denen die Bezugnahme auf eine Dichterpersönlichkeit und ihr Leben als unzweifelhaft zu erkennende Textintention zugrunde liegt. Die auf einzelne Dichter gerichteten Dichtergedichte erschließen in der literarischen Praxis eine Vielfalt von poetischen Verfahrensweisen, sich gegenüber anderen Dichter- existenzen literarisch zu verhalten. In sie verlagert sich das Bemühen um die Bestim- mung des dichterischen Selbstverständnisses sowie des damit verbundenen eigenen lite- rarischen Standorts. Die Identitätsbildung sowie die literarische Positionsbestimmung vollziehen sich dabei oft in der Identifizierung mit Dichtervorbildern und in deren Idea- lisierung. Sie zeichnen sich aber auch in der Abgrenzung von Feind- oder Gegenbildern ab, die eine Gegenposition in der Weltanschauung oder im Kunstprogramm verkörpern und so als stellvertretend für eine bestimmte Spezies von Literaten erkennbar sind, wo- bei die Dichtergedichte vorzüglich parodistische Züge tragen.134 Solche Zuneigungen oder Abneigungen, die in ihnen zum Ausdruck kommen, geben oft darüber hinaus wichtige Aufschlüsse über die jeweiligen literarischen Gruppenbildungen und Konstel-

133 In diesem Sinne unterscheiden sich Dichtergedichte von Gedichten mit Werkbearbeitungscharakter, die als eine Art der Nachgestaltung vorgegebener Literatur zu verstehen sind und in denen der Sinn des Zitatgebrauchs hauptsächlich in der Wiederverwendung oder Umwertung vorgegebenes Sprach- materials liegt. 134 Dichtergedichte als Parodien auf bestimmte Dichter weisen als deren konstitutives Moment Kritik, Affront oder Polemik auf und sind zu unterscheiden von der dementsprechenden Form der Werkbear- beitung, z. B. von einem Gegenentwurf, den Ralf Sudau als eines der typologischen Merkmale der Werkbearbeitung bezeichnet hat, wobei der gesamte Bereich der Lyrik von seiner Betrachtung ausge- schlossen bleibt (Ralf Sudau, Werkbearbeitung, Dichterfiguren, Traditionsaneignung am Beispiel der deutschen Gegenwartsliteratur, Tübingen 1985). In diesem geht es um die formal operierende Ver- zerrung der Form, die der Textvorlage eigen ist. Die parodistischen Dichtergedichte umfassen nur solche Gedichte, in denen die erkennbaren Züge des authentischen Bildes eines Dichters und des von ihm repräsentierten Dichtertypus im literarischen Abbild verzerrt und verhöhnt wiedergegeben wer- den. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 40 lationen, was vor allem in den expressionistischen Dichtergedichten, deren Untersu- chung sich die vorliegende Arbeit zum Ziel nimmt, der Fall ist. Die Dichtergedichte stellen aber andererseits eine in literarischer Hinsicht bemer- kenswerte Rezeptionsform dar. In ihnen werden Rezeptionsvorgänge manifest, welche sich in mannigfachen Formen realisieren lassen: der reflektierte Dichter wird in ver- schiedenen Koloriten und Modifikationen vergegenwärtigt und in die Gegenwart he- raufbeschworen oder in die Problematik eigener dichterischer Existenz projiziert und als ein Widerlager für das eigene poetisch-politische Selbstverständnis geschaffen. Es liegt nahe, dass den Dichtergedichten als einer weiteren wichtigen Möglichkeit der literari- schen Rezeption eine besondere Bedeutung und Stellung zuzuschreiben ist.

1.2. Abgrenzung des Begriffs »Dichtergedicht« von benachbarten Begriffen und sein Auswahlprinzip

Dichtergedichte als Gedichte über andere Dichter sind in der Forschung bisher wenig beachtet und auch als eine terminologische Bezeichnung für Gedichte über Dichter kaum akzeptiert worden. In der Tat findet man lediglich einige Darstellungen der Dich- tergedichte, die sich mit einer knappen Definition allein begnügen und sich nicht auf ei- ne ausführliche Beschreibung einlassen.135 Gebraucht werden anscheinend weni-ger der Begriff der Dichtergedichte als andere Begriffe für Gedichte, die an eine bestimmte Per- son adressiert sind und sich keineswegs auf Dichter beschränken: Widmungsgedichte, Hommage-Gedichte, Porträtgedichte und, seltener, Personen-gedichte. Sie sind zwar aufgrund ihres personenbezogenen Grundzuges im allgemeinen unter dem Begriff des Personengedichts einzuordnen. Aber dieser hat eine zu wenig abgegrenzte und zugleich zu weitgreifende Bedeutung, vermag die unterschiedlichen Haupt- und Nebenabsichten der genannten Gedichttypen nicht artikuliert genug auszudrücken und findet daher in der Nomenklatur wenig Niederschlag.136 In Betracht kommen daher die übrigen drei

135 Heinz Schlaffer gibt eingangs seiner Studie über Dichtergedichte des 19. Jahrhunderts eine kurze De- finition: »Dichtergedichte sind Gedichte, die über den Poeten im allgemeinen, über andere Dichter oder über die eigene Dichterexistenz reflektieren.« (Heinz Schlaffer, Das Dichtergedicht im 19. Jahr- hundert, Topos und Ideologie, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 10 (1966), S. 297– 335, hier S. 297). Eine weitere Darstellung dieses Begriffs findet man im Sachwörterbuch der Litera- tur Gero von Wilperts (Stuttgart 1979, S. 173): »Dichtergedicht ist ein lyrisches Gedicht, das über Sein, Wesen und Existenz des Dichters im allgemeinen oder privaten Fall oder über andere Dichter reflektiert; spezielle Form vielfach der Selbstfeier in allen Epochen seit Horaz (Exegi monumentum), besonders ausgeprägt im Barock und im 19. Jahrhundert (Droste-Hülshoff, Geibel u. a.).« 136 Zu den wenigen Ausnahmen gehört Bernd Leistners Vorschlag, an Personen gerichtete Gedichte Jo- hannes Bobrowskis besser als Personengedicht zu definieren denn als Porträtgedicht, weil er zu Recht »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 41

Termini, die in der Forschung relativ häufig gebraucht und zugleich auf Gedichte über Dichter bezogen worden sind. Sie sind in der Forschungsliteratur jedoch wenig präzise und eingehend erörtert, und man begegnet nicht selten einer Begriffsverwirrung, wenn es um die Bezeichnung der Gedichte über oder an Personen geht.137 Es sind lediglich zwei Kriterien herauszustellen, welche dabei eine entscheidende Rolle zu spielen und ihnen mehr oder weniger gemeinsam zu sein scheinen: Der Widmungscharakter und die vergegenwärtigende Darstellung von bestimmten Persönlichkeiten, die sich auf deren Biographie stützt. Dementsprechend ist die begriffliche Zuordnung weitgehend allein von der Akzentuierung eines der beiden Grundzüge der Personengedichte abhängig ge- macht worden. Zu den Gedichten, die den Status des Widmungsaktes besitzen, gehören die Wid- mungsgedichte ebenso wie Hommage-Gedichte.138 Die beiden Begriffe werden vor al- lem deswegen zur Bezeichnung von Gedichten über Dichter verwendet, weil manche Dichtergedichte in oder neben der Überschrift eine deutlich erkennbare Adressierung an einen Dichter (z. B. An X. Y. oder Dem…) aufweisen und damit den Eindruck vermit- teln, als handle es sich um die einem Dichter gewidmeten Gedichte. Mehr als fraglich

bemerkt hat, daß es sich in diesen Gedichten Bobrowskis nicht allein darum handelt, das Bild einer Person zu entwerfen (Bernd Leistner, Bobrowskis Gedicht »Hölderlin in Tübingen«, in: Hähnel, ebd., S. 97–134, hier S. 131). 137 Die Begriffsverwirrung wird dann besonders deutlich, wenn für ein- und dasselbe Gedicht verschie- dene Gattungsbegriffe verwendet werden. So werden Johannes Bobrowskis an Personen gerichtete Gedichte in den betreffenden Studien mit verschiedenen Begriffen wie Widmungstexten oder - gedichten bezeichnet (Eva Adelsbach, Bobrowskis Widmungstexte an Dichter und Künstler des 18. Jahrhunderts. Dialogizität und Intertextualität, St. Ingbert 1990; Sigfrid Hoefert, Bobrowskis Widmungsgedichte, in: Neue Deutsche Hefte 103 (1965), S. 60–78) oder wie Porträt(gedicht) (Bern- hard Gajek, Johannes Bobrowskis Porträtgedichte. Zur Auseinandersetzung eines Autors mit seiner Gesellschaft, in: Sprache und Bekenntnis, hg. v. Wolfgang Frühwald und Günter Niggl, Berlin 1971, S. 403–422; Ferdinand van Ingen, Des Dichters Bildnis. Zu Bobrowskis lyrischen Porträts, in: Dich- ter und Leser. Studien zur Literatur, hg. v. Ferdinand van Ingen u. a.. Groningen 1972, S. 234–260). 138 Die terminologischen Unstimmigkeiten herrschen auch hier über die Begriffsbestimmung der bei- den Termini. Unter dem Widmungsgedicht versteht man so dreierlei Gedichtarten, die miteinander so wenig gemein haben, dass sie nicht auf einen und denselben Namen gebracht oder darunter gehalten werden sollten. Widmungsgedicht ist nach Gero von Wilpert »Lobeshymnen auf Dichter und das vorliegende Werk aus der Feder seiner Freunde«, oder »Widmungen im Sinne von ›Zueig- nungen‹ an Freunde, verehrenswerte Vorbilder…« (G. v Wilpert, ebd., S. 911). Dies ist auch der Fall bei der Definition Iris Dennelers (Iris Denneler, Widmungsgedicht, in: Reallexikon der deut- schen Literaturgeschichte, Bd. 4, hg.v. Klaus Kanzog u. Achim Masser, Berlin u. New York 1984, S. 871–885). Denneler versteht auch darunter entweder Widmungen auf Bücher oder Widmungen in Büchern oder Widmungen an oder auf Personen oder Sachen. Unter dem Hommage-Gedicht versteht Lauer »Gedichte, die man auf Dichter dichten und ihnen widmen« (Reinhard Lauer, Hommage-gedichte. A. I. Turgenev, V. A. Zukovskij, V. K. Kjuchel’beker an Goethe, in: Zeitschrift für Slavische Philologie 42 (1981), S. 77–95, hier S. 77), wobei man berechtigten Zweifel daran haben könnte, ob sich Hommage-Gedichte unbedingt auf Dichter als deren Adressaten beschrän- ken sollen. Außerdem herrscht noch keine Einigkeit darüber, ob sie ausschließlich den Widmungs- empfänger zum dichterischen Sujet nehmen sollten. In dieser Untersuchung sollen daher aus- schließlich diejenigen Gedichte besprochen werden, in denen der Bezugstext die Widmung oder Hommage an oder auf Widmungsempfänger zum Thema nimmt. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 42 ist aber, ob solche Widmungshaltung allein das Wesentliche an der Stilhaltung des Be- zugstextes darstellt. Dichtergedichte sind zugleich ein Kommunikationsvorgang zwi- schen Dichtern und dessen Resultat, wogegen Widmende und Widmungsempfänger in Widmungs- und Hommage-Gedichten in einem Verhältnis von Sendendem und Emp- fangendem zueinander stehen, bei dem der kommunikative Vorgang einseitig bleibt. Der Abstand zwischen dem Widmenden und dem Widmungsempfänger, der in her- kömmlichen Widmungs- oder Hommage-Gedichten erhalten bleibt, wird in manchen Dichtergedichten durch eine unmittelbare Adressaten-Anrede aufgehoben. Dies gilt vor allem für Gedichte, in denen eine historische Dichterfigur etwa direkt mit Du angespro- chen, aufgerufen und beschworen oder gar zum Rollenich wird, dem das Gedicht, auch Teile davon, in den Mund gelegt wird. Hier wird Distanz gegen Einfühlung vertauscht. Mitgefühl und Betroffenheit durch das Schicksal einer historischen Dichterexistenz, mit der sich der ansprechende Dichter identifiziert, bilden einen der Hauptzüge. Widmungs- und Hommage-Gedichte, die wesentlich in einer huldigenden, lobenden Rede mit dem Widmungsabsicht bestehen, werden dem derart dichterischen Anspruch, sich unmittel- bar zum angesprochenen Dichter in Beziehung zu setzen, nicht gerecht. Im Unterschied zu den oben genannten beiden Termini verfolgt das Porträtgedicht139 die Absicht, eine Persönlichkeit ganzheitlich und vergegenwärtigend darzustellen. Sein Kennzeichen ist, wie das Wort Porträt besagt, die charakteristische Skizzierung einer Persönlichkeit, die wiederum die Sondierung und Selektion der biographischen Details durch den Porträtierenden erfordert.140 Das Personenbild, das im Porträtgedicht entwor- fen wird, erlaubt damit Rückschlüsse über den Berührungs- und Schnittpunkt zwischen beiden Persönlichkeiten, also zwischen porträtierendem Dichter und Porträtiertem.141 Das Porträtgedicht scheint mit seinem Porträtcharakter, also mit der Möglichkeit der fa- cettenreichen Personenprofilierung, dem Begriff des Dichtergedichts am nächsten zu stehen und hat sich in der Forschungsliteratur als Terminus mehr Geltung verschafft als die konkurrierenden Termini, die hier schon in Betracht gezogen wurden. Man kann sich jedoch zu Recht die Frage stellen, ob die Kennzeichnung der Gedich- te über Dichter als Dichterporträtierung deren mannigfaltigen Erscheinungsformen ge- recht werden kann. Das Porträtgedicht lässt zwar Modifikationen und Anwandlungen bei der Personendarstellung zu, aber sie kommen höchstens insoweit zur Entfaltung, als sie den Rahmen der Ansprüche nicht überspringen, die dem Porträtgedicht als einer ly-

139 Im folgenden soll die Rede sein von denjenigen Porträtgedichten, die den Dichtern gelten, also von ›Dichterporträts‹. 140 W. Braune-Steininger, Das Porträtgedicht als Gattung der deutschen Nachkriegslyrik. Poetik, Er- scheinungsformen, Interpretationen, Diss. Gießen. 1988, S. 21. 141 So spricht Braune-Steininger von einer zweifachen Identität von Porträtiertem und Porträtierendem (Braune-Steininger, ebd.). »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 43 risierten Biographie gestellt werden: die essayistische und sachliche Sprechweise und die Authentizität, zwei Merkmale, die die entscheidenden Kriterien für die Abgrenzung dieser Gattung von benachbarten darstellen. Mit der abwägenden, sachlichen und narra- tiven Sprecherhaltung, von Braune-Steininger als der eines lyrischen Chronisten be- zeichnet,142 kann das Porträtgedicht seine Eigenart als den Versuch einer Erkenntnis stiftenden Annäherung an eine Dichterexistenz wahren. Das Interesse, auf andere Dich- ter Bezug zu nehmen und sie aus eigener gegenwartsbezogener Sicht zu deuten, wird in diesem Fall hinter die darstellende Vergegenwärtigung zurückgetreten. Die Stellung- nahme zum thematisierten Dichter soll zwar im Text allenfalls mitschwingen, doch je- denfalls nicht mehr als auf eine zurückhaltende und eng an den authentischen Fakten und dem gesicherten Wissen orientierte Art bleiben und vermeiden, eine eindeutig er- kennbare Sympathie oder Antipathie unmittelbar zu bekunden. Das Porträtgedicht ver- lässt also sein eigenes Gebiet, wenn es sich auf die Uminterpretation einer Dichterper- sönlichkeit, etwa auf die Stilisierung eines historischen Dichters zur Identifikations- oder Idealfigur oder auf dessen Inanspruchnahme für eine den modernen Autor selbst bewegende Problematik, zubewegt. Es soll den Gegenstand nicht als ein Vehikel zur Durchsetzung der Aneignungsinteresse ansehen, sondern vielmehr als eine Erkenntnis- aufgabe. Sein Aufgabenbereich beschränkt sich damit auf die erkennende Annäherung, die man als eine Art passiver Umgangsweise mit Dichterfiguren als dichterischem Ge- genstand charakterisieren könnte. Der Gestus des Sachlichen und Zurückhaltenden, der dem lyrischen Chronisten als einem Erzählinstanz des Porträtgedichts eigen ist, gilt bei- spielsweise vor allem für die Zitation und Anspielung. Beim Gebrauch von Zitaten und Anspielungen geht es nicht um eine signifikante Verweisungsfunktion, sondern die Zi- tate werden lediglich im Dienst der Porträtierung eingesetzt. Daher wächst sich das Verhältnis zwischen den Zitaten und dem zitierendem Text, also dem Porträtgedicht, kaum zu einem kommunikativen aus, in dem jene von diesem als ein zu reflektierendes Objekt betrachtet und zur Diskussion gestellt werden. Der Begriff des Porträtgedichts erweist sich als in seiner Reichweite begrenzt und damit auch als nicht imstande, die mannigfaltigen Erscheinungsformen dessen, was aus der Auseinandersetzung eines Dichters mit einem anderen wird, unter sich zu fassen. Die Dichterporträtierung im Porträtgedicht stellt eher eine der unterschiedlichen Inten- tionen dar, die der Reflexion über andere Dichter in Dichtergedichten und deren dichte- rischen Gestaltung zugrunde liegen. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagen, das Dichterporträt als Subgattung des Dichtergedichts zu betrachten,

142 Braune-Steininger, ebd., S. 22. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 44 was wiederum bedeutet, dass Porträtgedichte als solche bei der Auswahl der Dichterge- dichte in die vorliegende Untersuchung miteinbezogen werden sollen.

1.3 Dichtergedicht als Parodie – Drei Formen der Parodie: »Einzeltext-«, »Textklassen-« und »Personenparodie«

Dichtergedichte beziehen ihre besondere Bedeutung vor allem aus dem Kontext der Vorbilderrezeption. Für die historische Rezeptionsforschung stellen sie besonders in der Form der Parodie eine wichtige Quellengattung dar. Schließlich handelt es sich in den parodistischen Dichtergedichten der Expressionisten um die – meist kritische – Rezep- tion der Dichtervorbilder. Doch bislang werden die expressionistischen Parodien auf klassische Moderne noch nicht systematisch erfasst, die für die Formierung der expres- sionistischen Avantgarde eine entscheidende Rolle spielen. Deren ästhetischen wie poe- tologischen Gegengesänge auf die Dichterväter werfen ein einleuchtendes Licht in den Vorgang ihrer poetischen Selbstfindung und dienen schließlich zum Verständnis des Phänomens ›Expressionismus‹ als der literarischen Bewegung einer Generation. Historisch war der ›Parodie‹-Begrif seit der Antike weit gefasst und schloss neben Herabsetzungen im Stil der ›parodia iocosa‹ ernste Posttexte vom Typ der ›parodia se- ria‹ ein.143 Damit wurden zu Parodien gleichermaßen komische ›Gegengesänge‹ wie ernsthafte Nachahmungen gezählt, die mit jenen konkurrieren. In der Forschungslitera- tur ist dann der Versuch gemacht worden, diesen weiten Umfang des Parodie-Begriffs einzuengen durch eine funktionale Deutung der Parodie als eine antithematische Komi- sierung eines Prätextes.144 Damit hat man die Parodie auf die ›parodia iocosa‹ be- schränkt, und für die traditionelle ›parodia seria‹ rückt dann die Bezeichnung ›Kontra- faktur‹, die mit dem »Verzicht auf die Komisierung ihrer Vorlage« von der Parodie unterschieden wird.145 Statt diese definitorische Abgrenzung des Parodie-Begriffs zur ›Kontrafaktur‹, die somit der Parodie eine eigene Botschaft abspricht, zu übernehmen, orientiert sich die vorliegende Arbeit in der Begriffsbestimmung an dem traditionellen weiten Parodie-Begriff. Die Beschränkung der Parodie auf ein komisches Gegenlied würde zur Folge haben, dass sie der Fülle von rezeptionsästhetischen Möglichkeiten, die sich aus der Auseinandersetzung eines Dichters mit einem anderen ergeben, kaum

143 Vgl. Achim Aurnhammer, Lyrische Schiller-Parodien, in: Schiller. Werk-Interpretaionen, hg. v. Gün- ter Sasse, Heidelberg 2005, S. 243–263; S. 245. 144 Vgl. Theodor Verweyen, Gunther Witting, Parodie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissen- schaft. Bd. 3: P–Z. Berlin, New York 2003. S. 23–27. 145 Theodor Verweyen, Gunther Witting, Kontrafaktur, ebd., Bd. 2: H–O, S. 337–340, hier S. 337. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 45 gerecht wird, denn die kritische Reflexion über andere Dichter oder über deren Text kann schließlich nicht immer die Komisierung zum Resultat haben. Sie kann auch in ei- ner drastischen, destruktiven Weise erfolgen, wie sie oft in den expressionistischen Par- odien auf die ›Dichterväter‹ zur Erscheinung tritt. In der vorliegenden Arbeit werden daher diejenigen Dichtergedichte als Parodie be- handelt, die das grundsätzliche Merkmal der Parodie aufweisen – dass sie nämlich im- mer auf einen anderen Text, also auf einen Prätext, referiert, und zwar vom kritischen Blickpunkt aus. Dabei werden lyrische Parodien auf Dichter in folgende drei Kategorien typisiert: die Parodien, die sich auf einen bestimmten Referenztext beziehen, werden als ›Einzeltextparodie‹ bezeichnet. Hingegen sind es die ›Textklassen-‹ oder ›Stilklassen- parodien‹, welche nicht auf einen bestimmten Prätext rekurrieren, sondern auf die be- kannten sprachlichen Wendungen oder stilistischen Merkmale aus verschiedenen Tex- ten eines Dichters. Hinzu kommen noch die ›Personenparodien‹, deren Bezüge auf andere Dichter nicht rein intertextueller Natur sind. Die Expresssionisten prägen in ei- ner Mischung von Stilklassenparodie und persönlicher Diffamierung eine neue Form aus, die ich ›Personenparodie‹ nennen möchte. Darunter verstehe ich Texte, die typische Kennzeichen des Werks kombinieren mit einer Karikatur der Person. Was diese von den anderen Parodieformen unterscheidet, ist dass es für meiste Personenparodien keine Vorlage gibt. In ihnen steht nicht nur die intertextuelle Beziehung im Mittelpunkt, son- dern auch die biographische Deutung des Parodierten. Wie im folgenden gezeigt wird, fordern die Expressionisten, dass man im Leben genau so lebt, wie man dichtet. Um dieses neue Lebenspathos, das dem dichterischen Selbstverständis des Expressionismus zugrunde liegt, zu artikulieren und zugleich damit die etablierten Autoritäten der ›Dich- terväter‹, die für sie eine übermächtige Konkurrenz bedeuteten, anzugreifen, verbinden die Expressionisten in ihren Parodien auf diese immer deren Werk und Person.

»Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 46

2. Die Verehrung der Dichtervorbilder in Dichtergedichten – Selbststilisierung und Gruppenkohäsion 2.1 Hebbel-Verehrung: Gottfried Benn, Der junge Hebbel (1913)

Der junge Hebbel

Ihr schnitzt und bildet: den gelenken Meißel in einer feinen weichen Hand. Ich schlage mit der Stirn am Marmorblock die Form heraus. 5 Meine Hände schaffen ums Brot.

Ich bin mir noch sehr fern. Aber ich will Ich werden! Ich trage einen tief im Blut, der schreit nach seinen selbsterschaffenen 10 Götterhimmeln und Menschenerden. – Meine Mutter ist eine so arme Frau, daß ihr lachen würdet, wenn ihr sie sähet. Wir wohnen in einer engen Bucht, ausgebaut an des Dorfes Ende.

15 Meine Jugend ist mir wie ein Schorf: eine Wunde darunter. Da sickert täglich Blut hervor. Davon bin ich so entstellt. –

Schlaf brauche ich keinen. 20 Essen nur soviel, daß ich nicht verrecke! Unerbittlich ist der Kampf und die Welt starrt von Schwertspitzen. Jede hungert nach meinem Herzen. Jede muß ich, Waffenloser, 146 25 In meinem Blut zerschmelzen.

Das Gedicht wurde erstmals 1913 in der Zeitschrift Das neue Pathos gedruckt, dann in den Zyklus »Söhne« des gleichnamigen Gedichtbands aufgenommen. Gottfried Benn huldigt darin einem Autor des 19. Jh., den er für »einen ganz großen Mann«147 hält und

146 Nach dem Erstdruck in: Das neue Pathos, 1. Jg. (1913), 1.H. (Jan/März), S. 13. Wieder in: Mensch- heitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, hg. v. Kurt Pinthus, Hamburg 1995, S. 70 (zu- erst Berlin 1920). Die späteren Werkausgaben, die mit der Autorisierung Benns erfolgten, weisen im Vergleich zum Erstdruck einige Veränderungen auf. So wird beispielsweise die dritte Strophe in zwei Strophen mit jeweils vier Versen geteilt, so dass das Gedicht insgesamt aus vier statt aus drei Stro- phen besteht. (Vgl. die editorische Anmerkung von Bruno Hillebrand, in: Gottfried Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, mit einer Einführung hg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt/M., 1982, S. 507–510 u. 518 (Varianten) [im folgenden: GEF]). 147 Vgl. Gottfried Benns Brief an Ernst Jünger vom 14. August 1950, der von dessen lebenslangen Ver- ehrung für Friedrich Hebbel zeugt: »Ich freue mich auch Ihrer Hervorhebung eines Autors, den ich seit je für einen ganz großen Mann halte: Hebbel.« (Gottfried Benn, Ausgewählte Briefe. Mit einem Nachwort von M. Rychner, Wiesbaden 1957, S. 196.) Auch in Reden, Essays und Vorträgen Benns wird Hebbel ständig als einer der »größten Geister«Deutschlands erwähnt. (vgl. Benns Vortrag Der »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 47 bis zu seinem Lebensende erwähnt und zitiert. Hebbel wird zwar nicht als Vorbild an- gesprochen, kommt aber in der Form des Rollengedichts selbst zu Wort. Das Gedicht behandelt die Thematik der Standortbestimmung eines Künstlers, der noch auf der Su- che nach künstlerischer Selbstfindung ist, und hat somit einen programmatischen Cha- rakter. Das Gedicht lässt sich in drei Abschnitte aufteilen, die durch inhaltliche wie stilisti- sche Kriterien deutlich voneinander getrennt sind. Die beiden ersten Strophen bilden den ersten Abschnitt, in dem das künstlerische Selbstverständnis des »jungen Hebbel« behandelt wird. Der zweite Abschnitt, die dritte Strophe, benennt die soziale Herkunft, die vor allem durch Armut bestimmt ist. Die vierte Strophe bildet den dritten Abschnitt, der mit der Darstellung des Verhältnisses zur Welt einen resümierenden Charakter er- hält. Für die äußere Dreiteilung sorgen nicht nur die Aposiopesen am Ende der ersten beiden Abschnitte (»Götterhimmeln und Menschenerden. −« (V. 10) und »Davon bin ich so entstellt. −« (V. 18)), sondern auch die unterschiedlichen Strophenlängen: Der erste Abschnitt besteht aus zwei Strophen mit jeweils vier Versen und zeigt die strophi- sche Symmetrie, während der zweite und der dritte jeweils aus einer einzigen Strophe bestehen, wobei die beiden Strophen unterschiedlich lang sind – die dritte Strophe hat acht Verse, die vierte sieben. Alle drei Teile weisen eine fast reimartige Parallelisierung auf, die in jedem Teil mit einer anaphorischen Figur zur inhaltlichen wie formalen Ko- härenz beiträgt: Im ersten Teil korrespondiert »ich schlage« in der ersten Strophe mit »ich trage« in der zweiten, und im zweiten »Meine Mutter« (V. 9) mit »Meine Jugend« (V. 15). Diese anaphorische Parallelisierung findet sich auch im letzten Abschnitt: »Je- de hungert« (V. 21) – »jede muß« (V. 22). Der erste Abschnitt versucht das eigene Schaffen abzugrenzen von dem der anderen, die in der Apostrophe »ihr« angesprochen werden. Dabei wird das künstlerische Schaf- fen in den Bereich der Bildhauerei transponiert und in zwei Methoden der Bildhauerei geteilt, die einander antithetisch gegenübergestellt werden (V. 1–5). Das Kunstschaffen der anderen lässt sich durch eine mühelose Unverbindlichkeit charakterisieren. Die Ver- ben »schnitzen« und »bilden« assoziieren es mit einem minimalen Kraftaufwand, der in der darauffolgenden Zeile durch die Widerstandslosigkeit der zu behandelnden Stoffe und die Geschmeidigkeit des Werkzeugs noch verstärkt zum Ausdruck kommt (»den gelenken Meißel«). Dagegen ist das eigene Kunstschaffen mit dem künstlerischen sowie existentiellen Schmerz untrennbar verbunden. Das wird zunächst deutlich durch die an- tithetische Verwendung des Substantivs »Hand« in zweifacher Deutung, existentiell und künstlerisch. Existentiell müssen die »Hände« bei ihm »Brot« schaffen: während »ihr«

deutsche Mensch, in: Gottfried Benn, Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. v. Dieter Wellershoff, Erster Band: Essays, Reden, Vorträge, S. 225) »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 48 mit weicher Hand Kunst macht, muss »ich« mit meinen »Händen« Geld verdienen. Auf den ersten Blick scheint dies eine Umdeutung des Kunstbegriffs zu sein, die Kunst wird als Arbeit verstanden, die den Tauschwert hervorbringen und der Lebensversorgung dienen muss.148 Tatsächlich wird aber dadurch auf die eigene Lebenslage verwiesen, in der die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, vorherrscht. Der Dichter, der diese Tatsache hervorhebt, bringt die eigene Zwangslage in Kontrast zu der Sorg- und Mühelosigkeit der anderen und setzt sich damit von der Lebensweise derer ab, die sich nie um ihr tägliches Brot sorgen müssen. Mit den »Händen« kann er also gar nicht künstlerisch tätig werden, sondern er steht in der Pflicht, mit den »Händen« Geld zu verdienen. Künstlerisch ist also bei dem »jungen Hebbel« nicht die »Hand« entschei- dend, da sie lediglich der Nahrungsbeschaffung dient, sondern die Stirn (V. 3–4). Während die anderen mit einer weichen Hand schnitzen und bilden, also feinere Formen erschaffen, charakterisiert der Dichter seine eigene Schöpfung mit dem Verbum »herausschlagen«. Der Härte des Materials (»Marmorblock«) entspricht die harte Arbeit, bei der sich der Künstler Wunden schlagen muss. Die Qual dieser verletzenden Metho- de macht deutlich, dass es sich hierbei nicht um Kunsthandwerk handelt. Die dritte und vierte Verse setzen damit die eigene künstlerische Schaffensweise radikal von der der anderen ab: Sie machen keine Kunst, sondern nur Kunsthandwerke. Diese pejorative Bewertung ihrer künstlerischen Produktion wird in den beiden Eingangsversen durch deren metonymische Verkürzung auf die »Hand« eingeleitet und dann noch verstärkt durch die lautmalerische Bindung der Bildelemente im Zeileninnern: »in einer feinen, weichen Hand«. Die Unversehrtheit der »feinen weichen Hand« trägt auch zur wert- mindernden Relativierung ihres Kunstwerks bei, da es sich dabei um etwas Unverbind- liches handelt, während das »ich« dagegen eine qualvolle selbstverletzende Methode verfolgt, die weniger der äußerlichen Gestaltung im Sinne einer handwerklichen Kunst- fertigkeit (»Ihr schnitzt und bildet«) dient als dem künstlerisch schöpferischen Akt, Formen zu schaffen (»Ich schlage mit der Stirn am Marmorblock | die Form heraus«). Die zweite Strophe schließt sich dieser Frage nach dem künstlerischen Anspruch an. Das lyrische Ich präsentiert sich als einer, der sich noch im künstlerischen Werdegang befindet (»Ich bin mir noch sehr fern«) und dabei trotzig auf seinem mühseligen Weg zu sich selbst beharrt, wie dieser in der ersten Strophe dargestellt ist. Der eigene künst- lerische Anspruch auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit wird damit begründet, dass er für jeden Künstler unabdingbar ist, weshalb dieser den Rufen seines tiefsten In-

148 Aufgrund der Aussage im fünften Vers, »Meine Hände schaffen ums Brot«, wird in der Forschungs- literatur dieses Ums-Brot-Schaffen als konstitutives Element des künstlerischen Schaffens gedeutet: das künstlerische Schaffen sei eine »Arbeit, deren Produkt ein Tauschwert ist, der das tägliche Brot einbringen muss […]«. Vgl. Birgit Fenner, Ein Weg zu Hebbel, in: Hebbel-Jahrbuch 1983, S. 127– 144; 134. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 49 neren bedingungslos folgen sollte, um den augenblicklichen Zustand der Fremdheit zu überwinden. Welchen Künstler-Typus das lyrische Ich »tief im Blut« trägt, verraten die Verse 9 und 10. Das Kunstschaffen steht unter einem Zwang, der es antreibt (dies wird besonders durch das Verb »schreien« deutlich). Hier wird auf den Drang zum Schöpferischen ver- wiesen, auf einen genialischen Antrieb. Selbstbewusst präsentiert das Ich sich als je- mand, der zur künstlerischen Schöpfung berufen ist. Der Genius-Gedanke, der sich in diesem Bewusstsein der Auserwähltheit zum Künstlertum äußert, stellt eine Anspielung auf die Prometheus-Figur dar, wie sie besonders aus Goethes Hymne auf den Titanen- sohn bekannt ist. Die Kontur eines Prometheus von goethescher Ausprägung zeichnet sich besonders dort ab, wo auf die zukünftige künstlerische Schöpfung verwiesen wird, die von einem selbsthelferischen Charakter ist (»selbsterschaffen«). In der Prometheus- Hymne Goethes spricht die mythologische Figur des Prometheus als lyrisches Ich. Goe- the greift damit das Selbstverständnis der Sturm-und-Drang-Autoren auf und stilisiert Prometheus zur Genie-Figur schlechthin:

Bedecke deinen Himmel Zeus Mit Wolkendunst! […] Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte Die du nicht gebaut, Und meinen Herd Um dessen Glut Du mich beneidest.149

Prometheus reklamiert bei Goethe mit emanzipatorischer Geste eine eigene, selbstge- schaffene Welt für sich. Die Possessivpronomen in der ersten Strophe, die einen Ton anklagender Wut anschlagen, zeigen dies: von »meine[r] Erde«, »meine[r] Hütte« und »meinem Herd« ist da die Rede, während Zeus, seinem Gegenüber, Neid auf diese Lei- stung unterstellt wird, weil er nicht nur keineswegs allmächtig ist, sondern auch selbst dessen unvermögend.150 Bei Benn übertrifft der Impetus der künstlerischen Neu- und Eigenschöpfung die selbstbewusste Protesthaltung des goetheschen Prometheus. Wäh- rend der Forderung Prometheus’ an Zeus seine Forderung nach Abgrenzung der Sphä-

149 Johann Wolfgang von Goethe, Prometheus, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Ge- spräche. Hg. v. Dieter Borchmeyer, I. Abteilung: Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte 1756–1799, Frankfurt/M. 1987, S. 203–204 (1. Strophe). 150 Vgl. Matthias Luserke, Goethes Prometheus-Ode - Text und Kontext, in: Gerhard Sauder (Hg.), Goe- the-Gedichte. Zweiunddreißig Interpretationen, München: Wien 1996, S. 45–57; zum prometheischen Abgrenzungs- und Individualisierungsgestus in Goethes Gedicht Prometheus: Inge Wild, »Jünglings- grillen« oder »Zündkraut einer Explosion«?, in: Bernd Witte (Hg.), Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Stuttgart 1998, S. 43–61. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 50 ren von Himmel und Erde zugrunde liegt, beansprucht der »junge Hebbel« hier auch ei- nen eigenen »selbsterschaffenen« Kosmos: Die Frage der Künstlerexistenz wird von der Spannweite der eigenen Schöpfung bestimmt, die alles, von ganz oben bis ganz unten, zusammenstellt. Der künstlerische Anspruch gilt nicht nur dem Bereich auf der Erde (»Menschenerden«), sondern seine Skala ist ein eigener Kosmos in der Poesie, also eine Gegenschöpfung (»Götterhimmeln«). Die Anknüpfungspunkte an den goetheschen Prometheus lassen sich in zweifacher Hinsicht herstellen: Prometheus zum einen als Prototyp des Aufrührers, der es mit Göttern aufnimmt (»Ich kenne nichts ärmers | Unter der Sonn als euch Götter«; »Und dein nicht zu achten«151), und zum anderen als ein schöpferisches Genie, das aus sich selbst heraus schöpferisch tätig und daher auf göttli- che Hilfe nicht angewiesen ist.152 Goethe war im Sturm und Drang einer der Wortan- führer einer antiklassizistischen und antirationalistischen Jugendbewegung und manife- stierte mit seiner provokativen Deutung der mythologischen Figur im Gedicht Prometheus – und vor allem mit dem Götz von Berlichingen, dem dramatischen Grün- dungsdokument des Sturm und Drang – die autoritäts- und normenfeindliche Haltung der jungen Rebellenbewegung. So traditionell das Bild von den »selbsterschaffenen Götterhimmeln und Menschenerden« auch sein mag, zielen die Reminiszenzen weniger auf die vertrauten Züge der mythischen Figur Prometheus ab als auf den rebellischen Habitus des jungen Goethe, der mit dem Geniegedanke des Sturm und Drang assoziiert wird. Das wird deutlich, wenn man die zweite Strophe im Anschluss an die erste liest und den Zusammenhang zwischen den beiden herstellt. Wie aus dem Titel ersichtlich ist das gesamte Gedicht eine Ansprache des »jungen Hebbel«, gerichtet an eine als »ihr« angeredete Gruppe. Die Frontstellung des »Ichs« gegen die anderen wird auch in der zweiten Strophe fortgesetzt, was, wie in der ersten Strophe, mit der Abgrenzung durch die anaphorischen Ich-Versanfänge syntaktisch vermittelt wird. Während in der ersten Strophe der künstlerische Schaffensprozess der anderen kritisiert wird, der vom Zwang der nackten Existenz abgekoppelt ist und daher als eine handwerkliche Kunstfertigkeit abgewertet wird, richtet sich in der zweiten Strophe die Anklage, wenn auch nicht so explizit wie in der ersten, gegen die Traditionsgebundenheit der anderen. Der Satz »Aber ich will Ich werden!« definiert das künstlerische Ziel in erster Linie als eine Selbstfindung, als den Wunsch also, zu sich selbst zu finden und sich den Weg zu die- sem »Ich« von niemandem vorschreiben zu lassen. Diese Entschlossenheit kommt in

151 Goethe, ebd. 152 Vgl. ebd: Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde […] Und dein nicht zu achten Wie ich! »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 51 der tautologischen Formel »Aber ich will Ich werden!« (V. 6) zum Ausdruck, die von dem Gestus eines kindlichen Trotzigen zeugt, aber zugleich den anklagenden Ton der ersten Strophe enthält. Vor dem Hintergrund des prometheischen Idealbildes des Künst- lers, an dem der junge Goethe in seiner Prometheus-Hymne das schöpferische, nicht mehr nachahmende »Orginalgenie« hervorhebt, das frei ist von traditionellen formalen Regelzwängen, ist die Aussage »Aber ich will Ich werden« als ein Absetzungsversuch von den Formkünstlern zu deuten, die in dieser Hinsicht als an der Tradition festhalten- de Epigonen zu entlarven sind. Der künstlerische Selbstfindungsvorgang erfolgt also Schritt für Schritt in der Distanzierung vom bestehenden Konsens über das künstleri- sche Verständnis. Biographisches über den historischen Hebbel findet sich am ehesten im zweiten Ab- schnitt des Gedichts, also in der dritten Strophe, während im ersten Teil eher eine all- gemeine Problematik behandelt wird, die jeden werdenden Künstler betreffen könnte. Hier steht der biographische Hintergrund Hebbels im Vordergrund. Geschildert wird darin das Leben mit der Mutter, das von bitterer Armut geprägt ist. Hebbels Vater starb, als er erst 14 war. Die Familie Hebbels geriet dadurch in materielle Not. Während der ganzen Jugendzeit musste er selbst für sein Brot und sein Dach sorgen, zuerst durch Bo- tengänge, dann als Schreiber im Hause des Kirchspielvogts in dänischen Diensten, wo er unter demütigender Behandlung litt. Bis zur Heirat mit der Burgschauspielerin Chri- stine Engehausen, die ihm materielle Sicherheit, Zugang zur Gesellschaft und Kontakte zum Theater verschaffte, war sein Leben ständig von Geldsorgen begleitet, seine uner- müdlichen, aber meistens erfolglosen Bewerbungsversuche machte er in strapazieren- den Fußwanderungen, auf denen er eine Strecke von Hamburg über Heidelberg und München und zurück Hamburg bewältigte. Die Darstellung Hebbels in der dritten Stro- phe entspricht durchaus seiner Biographie, dient also der biographischen Validierung, die unterstreicht, dass es wirklich um den jungen Hebbel geht. Aber über das rein Bio- graphische hinaus wird damit etwas Typisches gesagt: Es wird das Bild eines jungen Künstlers gezeichnet, das, über die individuell-biographischen Züge Hebbels hinaus, ei- nen bestimmten Künstlertypus darstellt. Die Bezeichnungen des Wohnorts, »an des Dorfes Ende« und »in einer engen Bucht«, erwecken das Bild einer Insel, zumindest ei- ner Halbinsel, das einen Ort am Rande der Gesellschaft markiert. Das ist auch übertrag- bar auf eine Situation gesellschaftlicher Isolation. Und diese Isolation ist auch ein Cha- rakteristikum des avantgardistischen Künstlers, der eben nicht mehr mit den anderen zusammen, sondern isoliert ist »in einer engen Bucht«, am Ende des Dorfes. Wie es dem jungen Hebbel tatsächlich widerfahren ist, wird dem werdenden Dichter in Benns Gedicht der gesellschaftliche Zugang verwehrt. Er muss sich selbst bilden, wie der jun- ge Hebbel autodidaktisch und ohne schulische Bildung lernte. Vor dem Horizont der in »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 52 der vorangegangenen Strophe angedeuteten Anspielung auf die goethesche Ausformung des Prometheus-Mythus, untermauert das durch die Armut bedingte gesellschaftliche Außenseitertum den selbsterklärten Anspruch auf künstlerische Schöpfungskraft. Die Anspielung auf die leidvolle Jugend Hebbels macht klar, dass sie nicht glück- lich, sondern schmerzvoll war. Sie dient zugleich dazu, die Abgrenzung von der Gruppe der anderen zu legitimieren, von der in der ersten Strophe ausdrücklich die Rede ist. Dies zeigt sich schon in den Anfangsversen der dritten Strophe (V. 11–12). »Ihr« kommt hier im zweiten Teil erneut vor, und die Spannung, die in der ersten Strophe durch die Konfrontation von »ich« und »ihr« erzeugt wird, wird also weiterhin auf- rechterhalten. Das lyrische Ich hat keine Grundlage, weder materiell noch geistig, die es ihm gestattete, sich ganz seiner Selbstfindung zu widmen, dagegen sind die anderen von einem Kunstideal mühelosen Schaffens um des Schaffens willen so befallen, dass sie sich diese Armut, die seine Mutter durchmachen musste, nicht einmal vorstellen könn- ten und über sie, die durch die Armut so gezeichnet ist, lachen müssten. Die Armut hat auch bei dem sprechenden Dichter deutliche Spuren hinterlassen (V. 15–18). Die Erfahrung der Armut und des damit verbundenen Leidens wird er nicht mehr los. Sie formt ihn, der sie erleben musste, unauslöschlich (»Da sickert täglich Blut hervor.«). Die Idee der Selbstverletzung im Kunstschaffen in der ersten Strophe – »Ich schlage mit der Stirn am Marmorblock | die Form heraus.« (V. 3–4) – wird hier erneut mit der Exi- stenznot (»Meine Hände schaffen ums Brot.« (V. 5)) assoziiert, und damit die schmerz- liche Erfahrung der Armut als der notwendige Schritt zur qualvollen künstlerischen Selbstfindung suggeriert. Diese Koppelung von Schöpferischem an existentielle Lei- denserfahrung, dass also die Kunst nicht einfach künstlerisches Schaffen bedeutet, son- dern existentielle Schmerzerfahrung, wird in der dritten Strophe, also im zweiten Teil, wiederholt erläutert und lässt im Anschluss an die ersten beiden Strophen die Physio- gnomie von einem sich herausbildenden künstlerischen Selbstverständnis des werden- den jungen Künstlers deutliche Konturen gewinnen. Die Schlussstrophe setzt die dritte Strophe fort und schließt wiederum an die erste Strophe an. Handelt es sich im ersten Abschnitt (1. und 2. Strophe) um die Standortbe- stimmung des Künstlers, die zunächst in Absetzung von den anderen und dann im Ver- such der Dichterwerdung (»ich will Ich werden«) erfolgt, die wie in Stadium eines Em- bryos noch nicht vollzogen ist, und im zweiten Teil um die Lebensqual, die das Künstlertum auch bedeutet, beschreibt der dritte Teil, die vierte Strophe, schließlich die existentielle Standortsbestimmung – nach der ästhetischen und der biographischen Standortbestimmung. Die jugendliche Erfahrung erscheint hier als für die gesamte Exi- stenz des Sprechers bestimmend: für das tägliche Leben (V. 19–20), für die Welt- und »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 53

Selbsterfahrung (V. 21–23) und schließlich für den künstlerischen Schaffensprozess (V. 24–25). Das Ich sieht sich hier einer feindlichen (»Schwertspitzen«), selbst die letzte Le- benskraft abverlangenden Welt gegenübergestellt. Das Leben wird als ein unerbittlicher Kampf beschrieben: als Hereinbrechen von leidvollen Erfahrungen, die zu einer Verar- beitung zwingen. Die Kunst ist dann als Verarbeitungen äußerer Gefährdung (»Jede hungert nach meinem Herzen«; »In meinem Blut zerschmelzen«) zu verstehen, und der Dichter sollte in diesen Leidenserfahrungen die Angriffe von außen so intensiv verin- nerlichen, dass dabei das Innerliche zum Ausdruck kommt. Die künstlerische Identität bildet sich also im Zusammenhang mit einer vom Leiden geprägten Biographie heraus, wobei das Leiden im Gedicht in der Armut und der damit verbundenen sozialen Exi- stenz am Rande der Gesellschaft eine konkrete Gestalt gewinnt, und durch deren Verar- beitung. Die Antithese von Weichheit und Härte, die in der ersten Strophe durch den Kontrast von »Stirn« und »Marmor« plakativ in Szene gesetzt wird, ist repräsentativ für die Aussichtslosigkeit und Düsterheit der Ausgangssituation des »Ichs« und ist auch in den folgenden Teilen prägend. So erscheint das Ich auch im dritten Teil als das einzige humane, weiche Wesen in einer harten, feindseligen Welt, voll von »Schwertspitzen«, die gegen sein »Herz« gerichtet sind. Trotzdem ist der junge Dichter entschlossen, hat seine Entscheidung bereits getroffen und will handeln. Das gesamte Gedicht ist so ge- sehen die Darstellung eines perlokutionären Akts. Es endet mit einem pathetischen Selbstbekenntnis, sich feindlicher Angriffen von außen anzunehmen und diese in »Blut« zu »zerschmelzen«, also dichterisch zu gestalten. Darin kann man ein poetologisches Selbstbekenntnis des Autors erkennen, das auf ein programmatisches Wollen hinaus- läuft. Damit zeigt Benn, dass das programmatische Wollen eigentlich maßgeblich für das Künstlertum ist und daß ohne die Entschlossenheit dazu keine Kunst geschaffen werden kann. Und dieses Voluntative ist noch nicht fertig – die Tempusform der Gegenwart durch- zieht das Gedicht von der ersten bis zur letzten Zeile und verweist damit auf eine bloße Bestandsaufnahme. Das Gedicht bildet dies gewissermaßen ab: es ist weder metrisch noch gedanklich einheitlich. Es besteht aus drei Teilen, deren Bildlichkeit nicht ganz einheitlich ist. Und insofern kann man sagen, dass die Idee, die dieses Programm des jungen Hebbel entwirft, ein Programm ist, in dem er vor allem etwas ablehnt. Dieser trotzige Abgrenzungsimpuls findet auch eine entsprechende sprachliche Realisierung. Die physische Gebärde des Wollens wird hörbar in den anaphorischen Wiederholungen von »Ich« (V. 3, 6, 8) und »Mein« (V. 11, 15). Die Haltung unbändigen Trotzes manife- stiert sich auch in einem drastischen Stilbruch (»daß ich nicht verrecke!«), der die äs- thetische Regelhaftigkeit zurückweist und die Entschlossenheit ausdrückt, nicht mehr »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 54 den vorhandenen einheitlichen Stil benutzen zu wollen. Besonders im ersten Teil, in dem der eigene ästhetische Standort bestimmt wird, heben sich die Aussagen des »Ich« von dem glatten Rhythmus und der onomapoetischen Dominanz des »ihr«-Teils ab, sie kommen ohne schmückende Epitheta aus und werden in einem lakonischen, ja fast pro- saischen, umgangssprachlichen Ton vorgetragen. Es ist die elegante Manier der Kunst- handwerker, von denen sich Benn im Gedicht abzusetzen versucht. Die entmystifizie- rende Metonymie der ersten Strophe (»Hand«) spricht deren Kunstprogramm das künstlerische Voluntative ab, indem es als bloß handwerkliches Geschick grotesk ikoni- siert wird, und wertet es schließlich als ein bloßes Epigonentum ab. Damit zeichnet sich auf dem Wege der Abgrenzung eine künstlerische Neuorientierung ab, nämlich der Bruch mit der Tradition, und dieser Anspruch wird mit dem assoziativen Anspielungs- reichtum des prometheischen Schöpfertums in der zweiten Strophe untermauert. Neben der künstlerischen Traditionsgebundenheit gilt die Kritik Benns auch dem ethischen Aspekt. »Aber ich will Ich werden!« – diese Neubestimmung des künstleri- schen Selbstverständnisses sei am ehesten zu erreichen, indem man sich dem Leben stelle (»Meine Hände schaffen ums Brot.«). Somit gewinnt das Gegenüber des »ichs« mehr an Kontur: Formkünstlerisch verspielt, vom Leben abgekoppelt, da es ihm nicht gerecht wird, und schließlich bürgernah. Es ist der dekadente Ästhetizismus, der so selbstverliebt ist und daher das Leben hasst. Benns Kritik an dessen Abgekoppeltheit vom Leben zeigt sich besonders dort, wo er den sorglosen, unverbindlichen Charakter der ästhetizistischen Künstlerexistenz bewusst hervorhebt: »Meine Mutter ist eine so arme Frau, | daß ihr lachen würdet, wenn ihr sie sähet.« Gemeint sind damit die deka- denten Dichter, die meistens aus dem Milieu des Großbürgertums stammten und sich diese Armut gar nicht vorstellen konnten. Dagegen weicht der »junge Hebbel« Benns dem Leben nicht aus. Derselben harten und feindseligen Wirklichkeit, vor der die Äs- theten in die Welt der Kunst flüchten, stellt er seine Entschlossenheit des Willens ent- gegen. Die Gestalt des »jungen Hebbel« ist eine so leidgeprüfte und auf den existentiel- len Zwang hin erprobte Dichterexistenz, dass sie von diesen »entstellt« ist und trotzdem immer wieder bereit, sich ihnen auszusetzen. Benn will eine existentielle Kunst, die sei- ner eigenen Identität entspricht, die mit seinem biographischen Leid zusammenhängt. Damit zeigt er, dass ein neues künstlerisches Selbstverständnis mit diesen inneren Ver- wundungen untrennbar verbunden ist, dass ohne die entschlossene Bereitschaft dazu keine Kunst entstehen kann. Das Argument, mit dem Benn hier seinen Angriff auf die bestehende literarische Tradition führt, also die Armut, ist kein ästhetisches, sondern ein soziales. Die künstlerische Neuorientierung erfolgt nicht auf dem Wege der ästhetischen Auseinandersetzung, sondern durch das sozial-existentielle Argument. Manifestiert wird hier dementsprechend der Wille des jungen Dichters Benn, sich von dem Ästheti- »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 55 zismus der literarischen Väter, die sich um die Jahrhundertwende mit der Kunst das Le- ben vom Leib halten, abzusetzen und sich endlich dem Leben zu stellen. Dieses pro- grammatische Wollen findet seinen Niederschlag auch in den zur gleichen Zeit entstan- denen, frühexpressionistischen Gedichten: in Morgue und andere Gedichte153 behandelt er die Fülle des Hässlichen des Lebens als das dichterische Sujet und setzt sich damit poetisch auseinander. Es sind im Zyklus Morgue die Randexistenzen der Gesellschaft, die zur Kohärenz der Sammlung beitragen: die Ärmsten von Berlin, deren nicht gerade bürgerliche Tode sie auf dem Sektionstisch enden lassen, und ein Ort, das Leichen- schauhaus, das an Hässlichkeit kaum zu übertreffen ist. Eine so rigoros riskierte Häss- lichkeit ist aber auch zugleich Ausdruck eines hohen Pathos, das in den Schlusszeilen des »jungen Hebbel« zum Ausdruck kommt. Das pathetische Bekenntnis, mit dem Le- ben, das hoffnungslos und grausam sein soll, den Kampf aufnehmen zu wollen, verbin- det sich mit Nietzsches Bekenntnis zum »dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl«,154 von dem in seinem Spätwerk, in der Leh- re zum »Willen zur Macht«, überhaupt die Rede ist:

W o r a n i c h m e i n e s G l e i c h e n e r k e n n e . – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und ge- lebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch der verwünschten und verruchten Seiten des Daseins. […] Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Mög- lichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einem Nein, bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umge- kehrten hindurch – bis zu einem d i o n y s i s c h e n J a s a g e n zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Aus- nahme und Auswahl – sie will den ewigen Kreislauf, - dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Knoten. Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn –: meine Formel dafür ist amor fati … – Hierzu gehört, die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als n o t w e n d i g zu begreifen, sondern als wünschenswert: und nicht nur als wünschenswert in Hinsicht auf die bisher bejahten Sei- ten (etwa als deren Komplemente oder Vorbedingungen), sondern um ihrer selbst willen, als der mächtigeren, fruchtbareren, w a h r e r e n Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher aus- spricht. […] Ich errieth damit, in wiefern eine andere stärkere Art Mensch nothwendig nach einer an- deren Seite hin sich die Erhöhung und Steigerung des Menschen ausdenken müßte: höhere We- s e n als jenseits von Gut und böse, als jenseits von jenen Werthen, die den Ursprung aus der Sphäre »des« Leidens, der Heerde und der Meisten nicht verleugnen können […].155

Der Entwurf des dionysischen Wesens des Seins lässt sich als Konzept zur Gleichbe- rechtigung von Leiden und Stärke, als Erscheinungen des Lebens, als Rechtfertigung des Lebens begreifen, deren höchste Selbstprüfung die Wiederkunftslehre, die Lehre der ewigen Gleichgültigkeit, ist. Man soll sich in das, worin man eingeordnet ist, seinerseits einordnen. Dionyisch zum Dasein stehen, heißt wissen, dass man schon in den Knoten verschlungen ist, dass die ewige Gleichgültigkeit schon über einen weggegangen ist, und das heißt, dass man schon vermittelt ist. »amor fati« heißt dann zugleich zu diesem

153 Erstveröffentlichung in März 1912 als Flugblatt in der Reihe des Verlags A. R. Meyer, Berlin. 154 Nietzsche, KSA 13, 492. 155 Ebd., S. 492–493. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 56

Gebundensein ja-sagen. Diese dionysische Weltauffassung156 spiegelt sich auch in Benns Stilisierung des Leidens als Schicksal wieder, das geliebt und gewollt werden muss. Seine Darstellung der Welt Hebbels ist von der »Unerbittlichkeit« des Kampfes (V. 21) bestimmt, lässt kaum ein Anzeichen dafür erkennen, dass es mit der »Entstel- lung« irgendwann ein Ende haben könnte, denn die wiederholte Betonung des »Jede« (V. 23 und 24) deutet auf eine unaufhörliche Abfolge von Angriffen einer dem Ich feindlich gegenüberstehenden Welt hin und somit auf eine fast resignativ anklingende Gegenwarts- und Zukunftsbeschreibung. Was aber das Ich auszeichnet, ist seine Wil- lensbekundung, mit einer solchen Fatalität des Lebensgeschehens fertig werden und das immergleiche Leidenserlebnis abarbeiten zu wollen. Die Fähigkeit, solche Fatalität zu handhaben, bildet den »eigentliche[n] Wertmesser« für die »höhere[n] Wesen« im Sin- ne Nietzsches (»›Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?‹ – dies wurde für mich der eigentliche Wertmesser«157), die Unfähigkeit dazu macht dagegen die physiologische Ermüdung, die ›décadence‹, aus. Diese neue Kanonisierung des Künstlers auf der Grundlage der Lehre zum Willen zur Macht bildet den Hintergrund für das demonstrativ zur Schau gestellte Pathos Benns. Dabei wird das Argument der physiologischen Ästhetik Nietzsches von ›stark‹ und ›schwach‹158 auf den Aspekt des Sozialen übertragen und nimmt in der leidgeprägten Biographie der Jugendzeit Hebbels konkrete Gestalt an:

Schlaf brauche ich keinen. Essen nur soviel, daß ich nicht verrecke! (V. 19 u. 20)

Die Robustheit wird im Umgang mit dem harten Alltag erneut als das feste Bestandteil des neuen dichterischen Selbstverständnisses erklärt, und dadurch stellt sich das Ver- mögen zur sozialen Selbstbehauptung als dessen wichtigstes Wesensmerkmal heraus. Es zeigt sich, dass hier die zentralen Aspekte der Ästheten-Topoi, die im Vorfeld des Expressionismus vorzufinden sind, zu einem konkreten sozialen Argument gegen die

156 Der Verzicht auf Sinn und Ziel dieses Kampfes, aber dafür umso vorbehaltlosere Bejahung des Le- bens mit all dessen Grausamkeit und Sinnlosigkeit, ist genau die Lehre Zarathustras: »Aber mein Wollen kommt mir stets als mein Befreier und Freudebringer. Wollen befreit. Das ist die wahre Lehre von Willen und Freiheit – so lehrt sie euch Zarathustra.« (KSA 4, S. 111; Also sprach Zarathustra II, Auf den glücklichen Inseln) 157 Nietzsche, KSA 13, S. 492. 158 Vgl. Nietzsches Typologisierung der Künstler: »Ist die Kunst eine Folge des U n g e nügens am Wirklichen? Oder ein Ausdruck der Dankbarkeit über genossenes Glück? Im ersten Falle R o m a n t i k , im zweiten Glorien-Schein und Dithyrambus (kurz A p o t h e o s e n - K u n s t )« (Nachlass Herbst 1885–Herbst 1886, KSA 12, S. 117); auch ebd., S. 115f. Demnach ist die Grundlage der von Nietzsche konzipierten physiologischen Ästhetik eine »Frage der K r a f t «, »das Gefühl der Fülle, der a u f g e s t a u t e n Kraft«, ob ein Künstler das Leben bejaht oder für hassenswert hält. Nur aus diesem Gefühl ist erlaubt, »Vieles muthig und wohlgemuth entgegenzunehmen, vor dem der Schwächling s c h a u d e r t «. (Nachlass Herbst 1887, ebd., S. 555.). »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 57 unverbindliche Ästhetenexistenz gebündelt werden. Bei Heinrich Mann machten Män- gel an sozial-ethischem Integrationsvermögen den dekadenten Ästheten unmöglich, das Kunstschaffen mit dem Leben vereinbar zu machen. Die Willens- und Lebensschwäche, die aus dem permanenten Bewusstsein der Unmöglichkeit sicheren Wissens entsteht, wächst zur Krankheit des Willens, die so weit fortschreitet, dass man keinen Augen- blick mehr vorbehaltlos, also ehrlich, bejahen kann und damit auch prinzipiell die Fä- higkeit zu lieben abgeht. Den meisten Protagonisten der Werke Heinrich Manns, die seit der Jahrhundertwende entstanden sind, ist diese Unfähigkeit zur Liebe gemeinsam – Violante in der Göttinnen-Trilogie, Claude Mahren in der Jagd nach Liebe und der Dichter Malvolto in Pippo Spano.159 Im Vergleich dazu ist das existentielle Pathos Benns geradezu ins Auge springend und kommt dem Erlösungsgestus eines Messias na- he. Denn die Metaphorik des dichterischen Sublimationsvorgangs, »Schwertspitze« in »Blut« zu »zerschmelzen«, eröffnet einen spezifischen biblischen Anspielungshorizont, verknüpft sich mit den biblischen Worten »Schwerter zu Pflugscharen« (Micha, Kapitel 4, Vers 3). Hier wird ein neues Menschenbild konzipiert, das wiederum notwendig auch ein neues künstlerisches Selbstverständnis impliziert: die pathetische Hinwendung zum Leben, die untrennbar verbunden ist mit dem Vermögen zu sozialen Bindungen. Das ist eine neue dichterische Traditionsstiftung, oder genauer gesagt, eine Integration in eine Anti-Tradition, weil sie mit dem konventionellen Dichterverständnis dadurch bricht, dass die Dichtung nicht mehr unter einem ästhetischen, sondern unter einem sozial- ethischen Gesichtspunkt bewertet wird. Der »junge Hebbel« ist in dem Verhältnis zu seiner Umgebung von Zügen des Außenseitertums geprägt, wendet sich jedoch trotz der existentiellen Not und drohenden Verzweiflung zum Leben hin. Wenn er sich auch ei- ner feindlichen Welt gegenübergestellt sieht und gleichsam als ein zum Scheitern Ver- urteilter charakterisiert wird, ist er aber keinesfalls als eine resignierende Figur erkenn- bar. Was an ihm hervorgehoben wird, ist nicht die dichterischen Leistungen, sondern

159 Am klarsten stellte Heinrich Mann diese Problematik des Ästheten in seinem Essay Gustave Flaubert und George Sand dar, in dem sich die Moralisierung des Ästhetizismus-Problems und das Postulat ei- ner gesellschaftlichen Integration des Künstlers entwickeln. Darin überträgt er Nietzsches Modell für eine neue Kanonisierung des Künstlers, das auf der Grundlage der Lehre zum Willen zur Macht Künstler in »krank«/»gesund«, »schwach«/»stark« typologisiert, auf seine Analyse des Ästheten Flaubert. Demnach verkörpert Flaubert den Typus des »romantischen Künstler«, welcher sein Werk nur aus Unzufriedenheit, Ressentiment schafft. (Vgl. Nietzsche, Nachlass Herbst 1885–Herbst 1887, in: KSA 12.). In der Gegenüberstellung des Romanciers Gustave Flaubert als lebensschwachen Deka- dents und der Dichterin George Sand als lebensstarken Person dekuvriert Heinrich Mann die ent- schiedene Lebensfeindlichkeit des Artists. Er sieht in dem Pessimismus und Skeptizismus Flauberts das Resultat extremer l'art-pour-l'art-Gesinnung: »Die Kunst, die hier einen Menschen ganz in die Klauen bekam, hat ihn endlich so blasiert gemacht, daß er nicht mehr aus dem Zimmer gehen mag, […] ohne der Unzartheit und Dummheit des Wirklichen zu erliegen« (in: Heinrich Mann. Eine Freundschaft. Gustave Flaubert und George Sand. Text, Materialien, Kommentar v. Renate Werner, München 1976, S. 92). »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 58 die menschlichen Qualitäten hinsichtlich seiner Haltung gegenüber der Welt und den Mitmenschen: Er ist der großartige Außenseiter, der trotz der Verzweiflung an der Welt zu großem Pathos und auch zu großer Energie fähig ist. Das ist der poetische Gestus, dessen die jungen Expressionisten sich bedienen, um ihr neues Dichter- und Weltver- ständnis literarisch zu inszenieren, und der vor allem in diesem Dichtergedicht inten- diert wird. Dieses programmatische Wollen ist jedoch weniger eine Traditionsstiftung als ein Traditionsbruch, denn es kristallisiert sich erst in der Abgrenzung gegen das bürgerliche und vor allem gegen das ästhetizistische Dichtungsverständnis heraus. Bei Paul Zech ist Kleist, wie wir im folgenden sehen werden, eine Gegenfigur gegen den bürgernahen kalten Ästhetizismus, deren Wirkung unter dem Aspekt der reinen Kunst kaum zu fassen ist. Bei Benn gehen die Stilisierung des Leidens als eine dichterische Qualifikation und dessen Umsetzung in ein bewusstes Wollen einher mit der Kritik an der Abkoppelung des Ästhetischen vom Ethischen bei dekadenten Ästheten. Die bio- graphisch geprägte Deutung der Dichtervorbilder in den expressionistischen Dichterge- dichten dient also dazu, den Ästhetizismus in dessen ethischen Mängeln und sozialen Schwächen sichtbar werden zu lassen und ihm angesichts der leidgeprägten Dichterexi- stenz der Vorbilder die Existenzberechtigung abzusprechen. In Benns Dichtergedicht ist es bemerkenswert, dass kein fertiggestelltes poetologi- sches Programm im allgemeinen Sinne gezeigt wird. Benn wendet sich also nicht an ein Dichtervorbild, in dessen Muster er sich begeht, sondern er legt seine Konzeption eines künstlerischen Voluntativen einem Dichter des 19. Jahrhunderts, und zwar einem jun- gen Dichter, nicht dem reifen, in den Mund: eine andere Kunst schaffen zu wollen, die nur in der eigenen Existenz begründet liegt und nicht im Geschick für schöne Verse. In der Tat löst das Gedicht diesen Anspruch, den der junge Hebbel darin äußert, selbst ein. Es ist dessen Probe aufs Exempel. Diese Selbstreferenzialität ist sowohl im Bruch mit dem tradierten Stilverständnis der poetischen Sprache als auch in den metrischen Unre- gelmäßigkeiten, die mit Ausnahme des ersten Teils im zweiten und dritten Teil domi- nieren, erkennbar. Der junge Hebbel als Rollengedicht ist somit ein Ausdruck der ju- gendlichen Kraft und Pathetik und zeigt, dass es die Standortbestimmung eines Dichters auf dem Weg zu sich selbst ist. Benn wählt nicht ein vollendetes Dichtervorbild, in des- sen Muster er sich begeben kann, sondern einen Dichter, der sich noch auf dem Wege zur Vollendung befindet. Zugleich entspricht die Sprechsituation der Ausgangslage der expressionistischen Avantgarde. Die Entmachtung der dominierenden literarischen Vä- ter wird in imaginären Dialogen, in denen Benn in die Rolle des werdenden jungen Dichters Hebbel hineinschlüpft, erprobt, bis er sich aufgrund der eigenen Lebensrealität der Ablösung vergewissern kann. Hebbel wird zu diesem Zweck von Benn vereinnahmt und dementsprechend zu einem authentischen Dichtervorbild stilisiert, das mit der eige- »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 59 nen Biographie eindrucksvoll die Notwendigkeit von ethischer Fundierung der Kunst rechtfertigt, was besonders in der Schlussstrophe deutlich zum Ausdruck kommt. Aus der Idee, die Aggressivität der Welt in seinem Herz und Blut umschmelzen zu müssen (»die Welt starrt von Schwertspitzen. | […] | Jede muß ich, Waffenloser, | In meinem Blut zerschmelzen«, V. 22–25), ist dann eine unausgesprochene Folgerung zu ziehen, nämlich sie zu Lyrik zu umschmelzen. So endet das Gedicht mit einem poetologischen Selbstbekenntnis des Autors, das zugleich auch als ein Programm der Absage an das tradierte Literaturverständnis zu lesen ist. Nietzsches Kunstauffassung aus seiner späten Schaffensphase, die im dionysisch-tragischen Künstler einen Prototypen für den soge- nannten ›Übermenschen‹ sieht und die Kunst mit der Aufgabe identifiziert, sich Be- drängungen des Lebens zu stellen statt ihnen auszuweichen und sie synthetisch zu sub- limieren, liefert für den Absetzungsversuch nicht nur die weltanschauliche Grundlage, sondern sie spielt auch die Rolle einer geeigneten Berufungsinstanz dafür.

2.2 Frühexpressionistische Dichtergedichte auf Heinrich von Kleist 2.2.1 Paul Zech, An Heinrich von Kleist (1911)

An Heinrich von Kleist

Heut müssen Rosen, purpurrote Rosen blühn Auf deinem Grab, das blanker Morgenreif besternte. Und die von regenschwerem Schwarzgewölk entfernte Novembersonne müßte funkelnd niedersprühn.

5 Was soll der Lorbeerkränze gleißnerisches Grün Auf jenem Stein, drin deines Dichternamens Züge Wie Runen eingemeißelt sind? Was soll die Lüge? Dir müssen Rosen, purpurrote Rosen blühn.

Dir, der du fröstelnd fremden Feuern unterlagst 10 Und aufgeblähten Knechten arglos Hand und Ohr, Oh mehr: dein wunderwarmes Herzblut hast geliehen;

Dir, der du strahlend nun vor der Gezeiten Tor Hoch wie ein Welterlöser und Erlöster ragst: Dir müssen Rosen, purpurrote Rosen blühen!160

Paul Zech, geboren am 19. Februar 1881 im westpreußischen Briesen und gestorben am 7. September 1946 in Buenos Aires,161 war Mitherausgeber der expressionistischen Zeitschrift Das neue Pathos (1913–1920). Zu seinem weitläufigen Bekannten- und

160 Erstdruck im Generalanzeiger für Elberfeld-Barmen, 21. Nov. 1911. 161 Zum Biographischen Paul Zechs: vgl. Paul Zech. Ausgewählte Werke, hg. und bearbeitet von Bert Kasties, Bd. I: Gedichte, Aachen 1999, S. 11–42. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 60

Freundeskreis während des expressionistischen Jahrzehnts zählten viele der für den lite- rarischen Expressionismus relevanten Persönlichkeiten: Mit Stefan Zweig, dem Mither- ausgeber der Zeitschrift Das neue Pathos, verband ihn bis zuletzt eine innige Freund- schaft. Else Lasker-Schüler ebnete ihm den Weg nach Berlin und führte den Neuankömmling Zech gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann Herwarth Walden in die maßgeblichen örtlichen Künstlerkreise des literarischen Expressionismus ein. Seine lite- rarische Karriere im Expressionismus verdankt er nicht zuletzt dieser Anbindung an den Kreis um die expressionistische Zeitschrift Sturm von Walden, in der Zech bereits vor seiner Übersiedlung nach Berlin zahlreiche Gedichte und Prosatexte veröffentlichte. Das Jahrzehnt des Expressionismus bedeutet für Zech eine äußerst produktive und auch erfolgreiche Ära. In dieser Zeit entwickelte er sich durch seine Lyrik- und Prosaarbei- ten, seine Übertragungen aus dem Französischen sowie als Literatur- und Theaterkriti- ker zu einem einflussreichen Publizisten. Den Höhepunkt seiner schriftstellerischen Karriere erlebte er 1918, als er für seine Lyrik gemeinsam mit Leonhard Frank durch Heinrich Mann, den damaligen Vertrauensmann der Kleist-Gesellschaft, den Kleist- Preis zugesprochen bekam. Schon 1917 hatte ihm sein Novellenband Der schwarze Baal Anerkennung auch als Erzähler verschafft. 1919 war er in der bedeutendsten ex- pressionistischen Gedicht-Anthologie Menschheitsdämmerung von Kurt Pinthus mit zwölf Texten bestens vertreten. Auch seine Übertragungen der Lyrik Villons und Rim- bauds ins Deutsche zählen zu seinen bedeutendsten literarischen Verdiensten. Das Dichtergedicht An Heinrich von Kleist gehört zu seiner frühesten Lyrik, die noch vor seiner Übersiedlung nach Berlin in Elberfeld in Regionalzeitungen veröffentlicht wurden. Am Erscheinungsdatum (21. November 1911) kann man schon erkennen, dass das Gedicht im Zusammenhang mit dem hundertsten Todestag Kleists entstanden ist. Die Kleist-Verehrung um die Jahrhundertwende erreichte im Jahr 1911 ihren Höhe- punkt. »Die Literatur über sein Leben und seine Werke beginnt ins Ungemessene anzu- schwellen«, eine »fast unübersehbare Reihe von Biographen und Herausgebern« schenkte ihm einen »papierene[n] Nachruhm«.162 Das breite Spektrum von deren Ver- fasserschaft reicht von der deutschnationalen, bürgerlichen Kleistdeutung, die seit 1870 an Boden gewann, über den etablierten Literatenkreis bis zur sich formierenden avant- gardistischen Gruppierung. Die Kleistrezeption des konservativen Bürgerlagers wollte in Kleist einen »preußische[n] Leutnant in der Weltliteratur«163 sehen und vereinnahmte Kleists Werk für die herrschende Ideologie zu Beginn des imperialistischen Zeitalters in

162 Franz Mehring, Die Neue Zeit, Stuttgart, 17. November 1911. Wiederabgedr. in: H. Sembdner (Hg.), Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten, München 1996, S. 403f. 163 Friedrich Dernburg in Gedenkblatt zum 100. Todestag (in: Der Zeitgeist, Beiblatt zum Berliner Tage- blatt, 20. November 1911; auch in: Sembdner, S. 353). »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 61

Deutschland. Die scheinbare Unterwerfung des Prinzen unter die feudal-absolutistische Staatsräson im Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg etwa wurde von vielen Reprä- sentanten des offiziellen Kulturbetriebs als Verherrlichung des brandenburgisch- preußischen Staates und seiner Ideologie interpretiert. Das historisch-brandenburgische Milieu und die damit verbundenen Kostüme des Dramas trugen auch dazu bei. In der Opposition zu dieser bürgerlichen Form der Kleistrezeption entwickelte sich in der lite- rarischen Moderne ein Kleistbild, das so facettenreich ist, dass es nicht unter einem Stichwort zu fassen ist. So steht Kleist als »der Nichts-als-Künstler, den Nietzsche er- sehnte«164 dem politischen gegenüber, der »der Protest gegen alles Preußentum«165 schlechthin sein sollte. Dieser massenhaft entfachte Kleist-Kult bildet die Folie, vor der Paul Zechs Dichtergedicht auf Kleist zu betrachten ist. Das Gedicht besteht aus zwei Quartetten und zwei Terzetten, ist also ein Sonett. Me- trisch ist der sechshebige Jambus ungewöhnlich, das Sonett weicht von der klassischen Form ab, die seit der Romantik in Deutschland verwendet wurde und den fünfhebigen Jambus als metrischen Standard propagiert. Strukturell bestimmend wirken die Kehrzei- len. Der erste Vers wird fast identisch im 8. Vers aufgenommen, und im letzten Vers nochmals wiederholt:

Heut müssen Rosen, purpurrote Rosen blühn (V. 1) Dir müssen Rosen, purpurrote Rosen blühn (V. 8) Dir müssen Rosen, purpurrote Rosen blühen! (V. 14)

Die verkürzte männliche Kadenz im 1. und 8. Vers, »blühn«, wird im letzten Vers in seiner vollständigen Form verwendet (»blühen«), so dass das Gedicht eine recht klare Struktur aufweist: das Oktett, die beiden Quartette, ist gerahmt durch den Wunsch: »Heut müssen Rosen, purpurrote Rosen blühn«, der noch zusätzlich Nachdruck erhält durch die Alliterationen und die Tonbeugung, die das »Heut« entgegen der jambischen Metrik betont. »Heut« wird dann bei der Wiederaufnahme des Kehrverses in der 8. und 14. Zeile variiert in »Dir«, das eigentlich als »für dich« zu lesen ist und damit als unmit- telbarer Ausdruck der Widmung. Die Besonderheit dieser Forderung liegt darin, dass jede Wiederkehr dieses Refrainverses in den Strophen 1 bis 3 darauf hin wirkt, den Ge- gensatz des Dichters Kleist zu seiner Umgebung aufzubauen. In der ersten Strophe be- zieht sich die Forderung auf die besonderen Umstände, auf die temporale und lokale Besonderheit: auf dem Hundertsten Todestag Kleists und auf sein Grab. Sie ist also hi- storisch motiviert. Die blühenden purpurroten Rosen stellen aber in den folgenden Zei-

164 Ernst Schur, Zum 21. November 1911 (Sonderhaft zu Die Lese, München, 18. November 1911; auch in: Sembdner, S. 349). 165 Kurt Eisner, Das Preußentum Heinrich Kleists, in: Münchener Post, 22./23. November 1911; auch in: Sembdner, S. 360. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 62 len einen Gegensatz zur Kälte und Unwirklichkeit der Novemberstimmung – der 100. Todestag fällt nun mal in den November – dar. Denn im November blühen keine Rosen, und damit ist die Forderung eine unwahrscheinliche Konstruktion, eine Utopie, die aber im Verlauf des Gedichts fortgesetzt wird. Die tatsächliche Novemberwitterung, die hier durch die Alliteration (»regenschwerem Schwarzgewölk«) nochmals veran- schaulicht wird, zeugt von einem Bild der Wirklichkeit, in der Kälte (»blanker Morgen- reif«) und Tristesse herrschen. Als Gegensatz dazu wird ein Bild Kleists heraufbe- schworen, das mit der Wärme assoziiert wird: Er verkörpert die Wärme, die auch in der Novemberkälte die Rosen zum Erblühen bringen könnte. Auch in der zweiten Strophe setzt sich dieser Gegensatz fort, der nun auf den wirkli- chen Anlass des Gedichts, die Gedenkfeier für Kleist, bezogen wird. Über die symboli- sche Bedeutung der »purpurrote[n] Rosen«, die in der ersten Strophe für Kleist stehen, wird auch hier nichts explizit ausgesagt, aber dafür gewinnen sie durch Absetzung von den »Lorbeerkränze[n]«, die von Zeitgenossen mit Kleist identifiziert werden, an kon- kretem Gehalt. Mit »Lorbeerkränze[n]« wird die zeitgenössische Dichterverehrung Kleists aufgegriffen und kritisiert. Das »Grün« des Lorbeerkranzes, das Symbol für den unsterblichen Dichterruhm, wird als ein falsches Zeichen für Kleist und – vor dem Hin- tergrund der Novemberwitterung – als heuchlerisch gedeutet. Das Immergrüne der Lor- beerkränze auf »jenem Stein«, dem kalten Grabstein, der vom frühwinterlichen Reif be- deckt ist, wirkt »gleißnerisch«, steht ohne jedwede Berührung mit der Realität des Novemberwetters isoliert da. Als »gleißnerisch« erscheint damit die Art der Verehrung Kleists, die sich auf dessen dichterischen Leistungen beschränkt. Die literarische Wür- digung Kleist richtet ihr Augenmerk allein auf die Kunst, als wäre der vor hundert Jah- ren elend dahingeschiedene Dichter nur ein Gegenstand plastischer Gestaltung. Sie voll- zieht sich ohne innere Anteilnahme an seiner menschlichen Tragödie und bezieht sich ausschließlich auf den »Dichtername[n]«, also auf seine Werke. Zech nimmt hier Bezug darauf, wie Kleist 1911 verehrt wird, was auch die Bürger mittlerweile getan haben. Auch die Bürger haben mittlerweile ihren Kleist entdeckt und ihm ein Denkmal gesetzt. Zechs Kritik gilt also dem Versuch der Kleistverehrung, ihn in den herrschenden bürgerlichen Kulturbetrieb einzuverleiben. Die Kleistverehrung mit »Lorbeerkränzen« wertet Zech als typisch bürgerlich ab, da sie nicht über eine epigonale ästhetische Nach- ahmung hinausgeht (»deines Dichternamens Züge«), weil es den Dichtern an geistiger Tiefe, schöpferischem Können und an antibürgerlichen Impulsen fehlt (»Wie Runen«). Dagegen setzt er erneut die Forderung nach »purpurrote[n] Rosen«. Der Gegensatz der ersten Strophe zwischen »warm«–»kalt« wird damit wieder aufgegriffen. Während in der ersten Strophe die Rosen als eine ideale Verklärung der Wirklichkeit der November- tristesse entgegengestellt werden, wird das Gegenbild zur Kälte im zweiten Quartett die »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 63 gängige Kleistverehrung, die ohne innere Beteiligung an dessen menschlichen Schicksal bleibt. Damit wird hervorgehoben, dass Kleist sein trauriges Schicksal zu Lebzeiten auch in der Gegenwart nicht erspart bleibt. Nicht nur von der Gesellschaft bleibt er ver- kannt und verachtet, was in der ersten Strophe in dem der kalten Novemberwitterung ausgesetzten einsamen Bild seines Grabes evoziert wird, sondern auch von seinen Dich- tergenossen, die ihm unwissend und ohne Verständnis dafür, was er wirklich war, näm- lich eine »purpurrote[n] Rose«, gegenüberstehen. Die folgenden Terzette dienen der Erklärung des Widerspruchs, warum der verehrte Dichter nicht in einer ihm würdigen Weise gewürdigt wird. Das erste Terzett nähert sich dem wahren Wesen Kleists durch eine biographische Deutung. Hier baut sich der Ge- gensatz wiederholt auf, dass der Dichter den Menschen mit »wunderwarme[m] Herz- blut« entgegengetreten sei, in der Realität aber immer in Kälte und Fremde gelebt habe. Kleist kehrte bereits mit einundzwanzig Jahren der friederizianischen Armee den Rük- ken, brach dadurch mit seiner preußisch-junkerlichen Herkunft. Seitdem fand er zeitle- bens nie Anschluss an die bürgerliche Klasse. Auch literarisch gelang ihm kein Durch- bruch zur öffentlichen Anerkennung, wobei die Ablehnung durch Goethe eine nicht unwichtige Rolle spielte und die Kleistrezeption in der Folgezeit nachhaltig beeinfluss- te.166 Die intensivierende Alliteration (»fröstelnd fremden Feuern«) bringt eben dieses Gefühl des Fremdseins Kleists in seiner Zeit nachdrücklich zum Ausdruck. Er, der »fremden Feuern« unterlag, der sich also bei fremden Menschen einquartieren musste, nie eine Heimat hatte, hat sich umgekehrt den Menschen, die ihn umgaben und sich ihm gegenüber arrogant verhielten, den »aufgeblähten Knechten«, zugewandt. Er hat ihnen arglos und ohne Misstrauen die Hand gegeben, was ein Zeichen des Vertrauens war, und als Zeichen der Hinwendung ihnen zugehört. In der Folge wird diese innere Grund- haltung mit einer correctio-Formel erneut intensiviert: Er hat ihnen nicht nur Hand und Ohr, sondern noch mehr gegeben, sein »Herzblut«. Das ist der Ausdruck einer bedin- gungslosen Hinwendung, mit der man sich sehr intensiv jemand anderem zuwendet oder in eine Sache alles hineinlegt, was man hat. Das ist also Kleists Leistung, dass er sich der Welt, die ihn verachtet hat, trotzdem mit dieser Wärme zugewandt hat, und das mit großer Liebe und Aufgeschlossenheit, obwohl er heimatlos und ein immer Fremder war. Dieser oben beschriebene Gegensatz des Oktetts − der Temperaturgegensatz von Kälte und der Witterung, die die Rosen benötigen − erklärt sich durch das Sextett, in dem dieser starke Gegensatz in der Biographie Kleists abgesichert wird.

166 1826, 15 Jahre nach dem Tod Kleists, bemerkt Johann Wolfgang von Goethe: »Mich erregte dieser Dichter, bei dem reinsten Vorsatz einer aufrichtigen Teilnahme, immer Schauder und Abscheu, wie ein von der Natur schön intentionierter Körper, der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen wäre.« (zit. n. Sembdner, S. 240) »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 64

Im zweiten Terzett wird durch »nun« der Blick von der Vergangenheit in die Ge- genwart gelenkt, in der Kleist, hundert Jahre nach seinem Tod, verklärt wird und im Grunde außerhalb der Zeit steht. Er steht außerhalb der Zeit (»vor der Gezeiten Tor«), ist im Jenseits angekommen. »ein Welterlöser und Erlöster« – in dieser Doppelformel ist er der aus den Banden der Welt Herausgelöste und zugleich ein Erlöser wie Christus, der Messias. Die wesentliche Stilisierung in diesem Gedicht ist die Apotheose Kleists. Zunächst wird in der ersten Strophe in Form einer Widmung gefordert, Rosen auf sein Grab zu legen, und dann, dass diese Rosen gegen die Widrigkeiten der Witterung blü- hen müssen. In November blühen keine Rosen, aber hier sollen sie direkt am Grab blü- hen, was unmöglich scheint. In diesem Widerspruch zwischen Kleist und der Welt wird seine spätere Verklärung in der letzten Strophe vorbereitet. Eine Verklärung – das »wunderwarme Herzblut« legt es nahe – zu einem Messias, zu einer Erlösergestalt, die im Expressionismus nicht selten bedichtet wird. Als ein solcher dient Kleist in diesem Dichtergedicht Zechs. Im Sextett wird ihm attestiert, dass er den Menschen sein warmes Herzblut geliehen hat. Er steht als Welterlöser und als -erlöster da, wird in Christusfiguration apotheotisch hineingesetzt. Der Gegensatz »warm«–»kalt« spielt in beiden Terzetten eine entschei- dende Rolle für die Apotheose. Schon im Oktett wird diese dadurch vorbereitet, dass die Kontrastierung im Kontext des Widerspruchs zur konventionellen Würdigung Kleists ausgetragen wird. Der mit dem »blanke[n] Morgenreif besternte« kalte Stein wird geschmückt mit Lorbeerkränzen, also mit einer Pflanze, die Zeichen dauerhaften Grüns ist: der Lorbeer verwelkt nicht, aber die Rose blüht einmal prächtig auf und ver- welkt dann. Dafür entfaltet sie um so mehr Pracht, Wärme und Liebe. Die Forderung der »purpurroten Rosen« nimmt also die Metaphorik des »wunderwarme[n] Herz- blut[s]« im Sextett vorweg, indem mit der kräftigen Farbe des »purpur« die Farbe des Blutes, des Herzblutes, assoziiert wird. Die Wärme und Liebe, das ist die Botschaft, die das »Ich« des Gedichts Kleist gerne entgegenbringen würde als Hommage, als Wid- mung: nämlich die Liebe, die Kleist den Menschen und der Welt gegeben haben könnte. Zu dieser Aussage verdichtet sich die syntaktische und metrische Struktur des Sonetts. Der umarmende Reim des ersten Quartetts wird im zweiten nicht in vollem Umfang wiederaufgenommen, sondern nur die Außenreime, was in der deutschen Sonettdich- tung eigentlich nicht gewöhnlich ist. Die Innenreime des Oktetts wechseln von Quartett zu Quartett – von »besternte«/»entfernte« zu »Züge«/»Lüge«. Die beiden Quartette ha- ben also das Reimschema von abba/acca, mit der Besonderheit, dass die Außenreime einen Rahmen bildet, der sehr stark durch den identischen Reim (»blühn« / »nieder- sprühn« – »Grün« / »blühn«) betont wird. Der Übergang vom Oktett zum Sextett wird bestimmt durch die unmittelbare syntaktische Anknüpfung, durch das anaphorische »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 65

»Dir«. Im ersten Terzett wird also kein eigener neuer Satz gebildet, sondern es wird die- sem Dativ ein Relativsatz angeschlossen:

Dir müssen Rosen, purpurrote Rosen blühn Dir, der du fröstelnd fremden Feuern unterlagst (V. 8f.)

»Dir« wird zweimal aufgenommen und prägt die Form des ganzen Gedichts: Es kommt sowohl im ersten Terzett als auch im zweiten in identischer Form vor und wird im Schlussvers nochmals aufgenommen, so dass sich die unmittelbare Ansprache, die An- rede an ein Du, gegen Ende des Gedichts stark verdichtet. Während sie am Anfang mit dem Possessivpronomen (»Auf deinem Grab« (V. 2) und »deines Dichternamens« (V. 6)) eher unauffällig wirkt, wird sie gegen Ende durch die Eingangsstellung und die damit verbundene metrische Betonung auffällig – das ganze Gedicht ist im sechshebi- gen Jambus verfasst, mit Ausnahme der beiden Tonbeugungen durch das anaphorische »Dir«. Und mit dieser Betonung geht eine immer stärkere Verklärung des Dichters Kleist zur Erlöserfigur einher. Das »Heut« im ersten Vers wird in der variierten Wie- deraufnahme durch das »Dir« ersetzt, das dann gegen Ende immer häufiger wiederkehrt und die starke Zuneigung des lyrischen Ichs, das sonst als ein solches nicht in Erschei- nung tritt, aber eine Beziehung zu dem verehrten Dichter herzustellen versucht, intensi- viert. Indem es den irrealen Wunsch nach dem Erblühen der purpurroten Rosen in der frühwinterlichen Kälte ausdrückt, versucht es, eine symbolische Beziehung zu diesem unerreichbar fernen Dichtergott Kleist herzustellen, die durch das Symbol der Wärme und Liebe ermöglicht wird. Daher wirkt der Refrainvers mit der Forderung nach Rosen als Verbindungsglied zwischen den beiden und als Gegensatz zur konventionellen bür- gerlichen Verehrung Kleists durch die Zeitgenossen, die in Kleist zwar einen großen Dichter sehen, aber keinen großen, pathetischen Menschen. Ein Blick auf die Dichter- gedichte auf Kleist, die von den Repräsentanten der öffentlichen Kultur geschrieben sind, genügt, um zu erkennen, wie sich Zechs Kleistbild von der herrschenden bürgerli- chen Kleistrezeption abhebt. In dieser erscheint Kleist als der herrschende Dichterfürst, der dem unwissenden Volk herabschauend »die Geißel« schwingt167, oder als »ein Kö- nig ohne Land«, der über die fehlende dichterische Anerkennung und das Unverständnis seines Werks klagt.168 Dagegen wird der Dichtername in Zechs Gedicht nur einmal er-

167 Vgl. Hans Kyser, Kleist-Epilog. 2. Die lebenden Dichter sprechen, in: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, 20. Nov. 1911. Auch wiederabgedruckt in: Sembdner, S. 354–355: Wir aber, seine Freunde, hätten wir Erzengelstimmen euch zu rühren, hätten wir Die Geißel, die der Herr im Tempel schwang Zu züchtigen, Schächer euch, um euren schnöden Dank! 168 Herbert Eulenberg (1876–1949), Zum 21. November 1911, in: Der Zeitgeist. Beiblatt zum »Berliner Tageblatt«, 20. Nov. 1911. Auch wiederabgedruckt in: Sembdner, S. 352–353: »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 66 wähnt (V. 6), ansonsten tritt hier Kleist nicht als Dichter hervor. Die traditionelle Ver- ehrung eines Dichters lehnt Paul Zech also ab und bedichtet ihn eher als einen Men- schen, der selbst denjenigen, die ihm fremd geblieben sind und ihn verachtet haben, große menschliche Wärme entgegenbringt. Das »wunderwarme[] Herzblut« ist somit das wesentliche Merkmal des Dichters Kleist und bildet den Höhepunkt seiner Stilisie- rung, die mit dem pathetischen »Oh mehr« eingeleitet und dann mit einer dichten Allite- ration intensivierend dargestellt wird. Mit der Parallele zu Jesus, der alle Menschen ge- liebt hat, ganz gleichgültig ob sie ihm Liebe zurückgegeben haben oder nicht, und damit eigentlich kein strafender Gott ist, stellt Zech den Dichter Kleist mit großen menschli- chen Qualitäten dar, als jemanden, der selbst sein letztes Herzblut zu geben bereit ist. Diese Eigenschaft begründet die Sonderstellung Kleists, der als Welterlöser strahlend außerhalb der Realität, außerhalb der Zeit steht. Seine Besonderheit ist nicht auf seine Dichtung zurückzuführen, da eine solche Welterlösungsphantasie in seinen Dramen, Er- zählungen oder Gedichten kaum zu finden ist. Von der dichterischen Leistung ist im ganzen Gedicht so gut wie nicht die Rede, was in Dichtergedichten des Expressionis- mus nicht ungewöhnlich ist. So erscheint auch Georg Büchner, der wie Kleist zu den im Expressionismus verehrten Dichtervorbildern gehört, in einem expressionistischen Dichtergedicht als eine Figur, die in ihren menschlichen Eigenschaften deutliche Paral- lelen zur Christusfigur aufweist:

Du, das Herz von unser aller Leiden, Du, der Zorn von unser aller Grimm, gingst du nicht zu jedem, sprachest: Nimm! Was ich immer habe, sei uns beiden!

In die Armut zogst du Helden weihen, Dem Gemarterten liehst du den Kranz. – Deiner Kinder grauser Totentanz Riß dich hin in ihre Riesenreihen.169

Der Dichter Büchner zeichnet sich durch die menschliche Qualität der pathetischen Hinwendung (»gingst du nicht zu jedem, sprachest: Nimm! | Was ich immer habe«) aus, wie sie Zechs Kleist eigen ist. In den expressionistischen Dichtergedichten werden Dichtervorbilder mehr als eine großartige menschliche Gestalt bedichtet denn als ein Dichter, der eine hervorragende ästhetische Errungenschaft vollbracht hat, was sich auch in den folgenden Interpretatio-

Den Sänger, der nicht Heim noch Lorbeer fand, Der heute noch, ein König ohne Land, Aus dem durchschoss’nen Mund erhebt die Klage. […] Ihr lerntet mich zu achten, nicht zu lieben, Die Glut, die euch in meinem Werk verblieben, […]. 169 Franz Theodor Csokor, In memoriam Georg Büchner, in: Der Strom 3 (1913/14), S. 199. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 67 nen der Dichtergedichte zeigen wird. Mit der Forderung nach dem »wunderwarme[n] Herzblut«, das Kleist im behandelten Gedicht attestiert wird, stellt Zech die sozial- ethische Qualität als die Bedingung für das Dichtertum dar und schreibt ihr die ent- scheidende Bedeutung für das dichterische Selbstverständnis zu. Mit dem genannten Argument nimmt er den Dichter Kleist bewusst aus allen Zusammenhängen des tradi- tionellen Dichterkanons heraus und gibt damit, wenn auch nicht explizit, seine Forde- rung nach einem neuen Kriterium für die Bildung des Dichterkanons zu erkennen. Denn die Fokussierung auf Kleist als eine große menschliche Gestalt legt den Anspruch nahe, dass Kunst ausschließlich als Ausdruck der Persönlichkeit ihres Schöpfers gesehen wer- den sollte und der ›wahre‹ Künstler erst aus dessen intensiver Zuwendung zum Leben entstehen kann, wie Kleist nach Zechs Deutung. Der Gegensatz »kalt«-»warm« zielt nicht zuletzt auf diese Vorstellung ab und bringt die zeitgenössische Kleistverehrung in Assoziation mit dem Bild der Kälte, die in dem Immergrüne der »Lorbeerkränze« als Bild für die Beziehungslosigkeit zum Leben, für die indifferente Kunstdoktrin, veran- schaulicht wird. Sie verehren ihn mit Lorbeerkränzen, als ständen allein dessen Werke und ästhetische Leistung im Blickpunkt des Interesses und dessen Leben außerhalb des Würdigungsbereiches, da Werk und Leben nicht in eins zu setzen seien. Dagegen wer- den die »purpurrote[n] Rosen« gefordert als Zeichen dafür, dass man ihn in einer Weise, die Kleist würdig ist, verehren sollte. Mit außerordentlicher Sensibilität und vertrauens- voller Zuwendung zur Welt und den Mitmenschen wäre Kleist dann eine Gegenfigur zum kalten, ›bürgerlichen‹ Ästhetizismus. In der Kleistrezeption durch Paul Zech zeich- net sich also ein Dichterbild ab, das die Figur des wahren, echten Lebens repräsentiert und auf neue Art und Weise das Pathos des Lebens gegen die Kälte der Konventionali- tät stellt. Mit der Orientierung an Persönlichkeit und Lebensschicksal, die somit einen der wesentlichen Züge in der expressionistischen Vorbilderrezeption bildet, versucht Zech, sich von der herrschenden dichterischen Tradition abzusetzen. Die Auseinandersetzung mit Dichtervorbildern bedeutet in dieser Hinsicht auch ein Stück Selbstdarstellung und -verständigung, was vor allem vor dem Hintergrund der Ausgangslage der sich formierenden expressionistischen Avantgarde zu sehen ist. Das dichterische Selbstverständnis erschließt sich also zunächst über die Verdammung der bürgerlichen Kunst der späten wilhelminischen Ära. Dies zeigt sich deutlich in den ex- pressionistischen Gegenaktivitäten, die gegen die anlässlich der Hundertjahrfeier von Kleists Freitod durch Kulturbetrieb und Presse, aber auch durch die von etablierten lite- rarischen Größen initiierten Aktivitäten gerichtet sind. So kritisierte Herwarth Walden, der Herausgeber des Sturms und zugleich Mentor von zahlreichen aufstrebenden jünge- ren Dichtern des Expressionismus, eine vom Berliner Tageblatt initiierte Rundfrage über die gegenwärtige Bedeutung Kleists, an der sich die Repräsentanten des öffentli- »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 68 chen Kulturbetriebs beteiligten. Das Verkannt-Sein zu Lebzeiten bildet nach Walden eine der grundlegenden Eigenschaften von »großen Dichtern« wie Kleist. Damit spre- chen Waldens Ausführungen dem herrschenden bürgerlichen Kulturbetrieb jeglichen Anspruch auf eine wahre Kunst ab und heben zugleich die Antibürgerlichkeit als ihr wesentliches Kennzeichen hervor.170 Der um sieben Jahre jüngere Kurt Hiller, der um diese Zeit bereits den von ihm selbst gegründeten »Neuen Club« verlassen und sich dem Sturm-Kreis Waldens angeschlossen hatte, schreibt in noch schärferem Ton über den Plan, eine Kleist-Stiftung (den späteren Kleist-Preis) ins Leben zu rufen, welcher vor allem durch die prominenten Vertreter der zeitgenössischen Literatur befürwortet und unterzeichnet war171:

Von den Repräsentanten der literarischen Kultur, jenen einzigen, denen man die Entscheidung dar- über, ob ein Jünger »die Bürgschaft eines bedeutenden Könnens in sich trägt«, allenfalls anvertrauen könnte, hat fast niemand den Aufruf unterschrieben. Also kennzeichnet sich die Sache als ein Institut zur Förderung der Seichtheit, Behäbigkeit, Süßlichkeit; der Spießerei und Plauderei und talentierten Unursprünglichkeit; des Verlognen, Mediokren, Inferioren; der Epigonie jener Unterzeichner; kurz- um: des Kitschs. Herr Fritz Engel, Prälude der Stiftung, ist folglich keineswegs auf dem Holzweg, wenn er »unser werktätiges Bürgertum«, das an der »Dichtkunst in allen ihren Arten« sich »in er- wünschten Feierstunden« »erholt« (– »erholt«!), zur Beteiligung an der Stiftung auffordert. Aber, daß dieses, der wirklichen Kunst feindliche, Unternehmen seine Niedrigkeit und Widrigkeit mit dem Na- men Kleist zu verdecken sucht, ist eine Schweinerei, der unter allen Schwindeln die Krone gebührt, und auf die in einem Kulturstatt Zuchthaus stünde.172

Die Kritik Hillers, der zu den Gründungsvätern des »Neuen Clubs« gehört, gilt weniger der Stiftung des Kleist-Preises als solcher, sein Angriff richtet sich vielmehr gegen die Unterzeichner des Gründungsaufrufs zur Stiftung. Die namhaften Vertreter der Literatur um die Jahrhundertwende – vor allem Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler,

170 Trust (d.i. Herwarth Walden), Der Zeit-Geist-Kleist, in: Der Sturm Jg. 2 (1911/12), H. 89, S. 708: »Der Ulkredakteur Herr Fritz Engel, der auch den Zeitgeist beherrscht, ist über die Bedeutung des Dichters Heinrich von Kleist nicht klar. Er wandte sich in dieser Verzweiflung an die bedeutendsten Vertreter der deutschen Nation, nämlich an […] Man gewinnt durch sie zwar keine Vorstellung von Kleist, aber Herr Engel versiert durch sie das Recht auf den Ulk. […] Herr Fritz Engel […] hat einem großen Dichter alles angetan, was er kleinen Dichtern der Gegenwart antun kann: ihn durch Tages- weltberühmtheiten lieben und loben zu lassen. Die großen Dichter der Gegenwart werden erst nach hundert Jahren von ihm auf dieselbe Weise beleidigt werden«). 171 Vgl. Bericht über den Gründungsaufruf zur Kleiststiftung: »Ein Aufruf, den u. a. Otto Brahm, Hugo v. Hofmannsthal, Fritz Mauthner, und Arthur Schnitzler unterzeichnet haben, will eine Kleist-Stiftung ins Leben rufen, die ringende poetische Talente durch rechtzeitige Hilfe davor bewah- ren soll, im Lebenskampf unterzugehen. Im Gegensatz zu anderen Stiftungen […] soll hier nichts ent- scheiden als die Erkenntnis des entwicklungsfähigen Talentes und die Absicht, ihm die Bedingungen der Entwicklung zu gewähren, indem ihm für einige Zeit eine Sicherung gegen den lähmenden Druck der wirtschaftlichen Sorgen geboten wird. Die Kleist-Stiftung soll insbesondere jene Talente retten und schützen, die gemäß ihrer inneren Veranlagung oder infolge ihrer Lebensverhältnisse sich in den wirtschaftlichen Organismus des Alltagslebens noch nicht hineinfinden können und dennoch die Bürgschaft eines bedeutenden Könnens in sich tragen. ›Persönlichkeiten von literarischem Urteil, Le- benserfahrung und vorurteilsloser Empfänglichkeit‹ werden aufgrund von Talentporben die Kräfte namhaft machen, denen die Stiftung beistehen soll« (Das literarische Echo, Berlin, 1. Dez. 1911) 172 Kurt Hiller, Gegen die Kleist-Stiftung, in: Der Sturm, November 1911, S. 355–56. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 69 also die Repräsentanten vom Ästhetizismus der Jung-Wiener –, identifiziert er als »me- diokren« Kreis, gegen den ein Kampf im Sinne und Namen Kleists geführt werden muss. Die Spitze des Angriffs zielt letztendlich darauf ab, ihnen jegliches Recht auf die Rezeption Kleists und damit auf Dichtung überhaupt abzusprechen. Neben Mittelmä- ßigkeit attestiert er ihnen auch Unproduktivität (»der […] talentierten Unursprünglich- keit; des Verlognen, Mediokren, Inferioren; der Epigonie jener Unterzeichner«), um mit dem Verdikt über sie als die »der wirklichen Kunst feindliche[n]« die Notwendigkeit eines neuen Anfangs nahezulegen. An diesem Beispiel expressionistischer Kritik an der bürgerlichen Kleist-Rezeption zeigt sich, dass die Verehrung vorbildlicher Dichter im Expressionismus auch mit dem Bestreben gepaart ist, sich von der übermächtigen Tra- dition zu lösen. Sie gilt zwar äußerlich den toten ›Dichter-Ahnen‹, diese dienen jedoch als ein Medium, über das die lebenden ›Dichter-Väter‹, die für die jüngere Generation der Expressionisten schließlich arrivierte Konkurrenten bedeuten, angegriffen werden können.

2.2.2 Johannes R. Becher: Der Ringende (1911) und Kleist (1912/13)

Johannes R. Becher (1891–1958) bekannte sich schon als Obergymnasiast zu Kleist als seinem Vorbild. Seine Kleistverehrung ging so weit, dass sein fehlgeschlagener Ver- such zu einem gemeinsamen Selbstmord mit seiner Geliebten in 1910 als Parallele zum Doppelselbstmord Kleists mit Henriette Vogel am Wannsee in Berlin gesehen werden muss. 1911 begann Becher, direkt nach dem Abitur, seine Dichterlaufbahn schließlich mit einer Kleist-Hymne Der Ringende, die er anlässlich des hundertsten Todestags sei- nes Dichtervorbildes geschrieben hatte und die unter der Mitwirkung seines Freundes Heinrich F. S. Bachmair (1889–1960), des Verlegers der frühexpressionistischen Zeit- schrift Revolution und Die neue Jugend, zur Veröffentlichung kam.173 Das Debüt fand zwar wenig Resonanz beim Publikum, um so mehr aber bei den Kritikern und Literaten (»Das ist Blut von seinem [Kleists; sic] Blute und Geist von seinem Geist«174). Am An- fang des Gedichts erscheint Kleist in der Gestalt des Germanenführer Arminius, dessen Sieg er 1808 als Gleichnis wider die neuen Cäsaren zur Hermannsschlacht verdichtet hatte:

173 Bachmair, der um diese Zeit wie Becher in Berlin studierte, gründete im Oktober 1911 seinen Verlag mit der Veröffentlichung der Kleist-Hymne seines Freundes Becher; vgl. Jens-Fietje Dwars, Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Berlin 1998, S. 46. 174 Vgl. ebd., S. 46f. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 70

War’s nicht in der Nacht, Da der Blitz spritzende Garben schoß (V. 1–2)

In der Nacht, da ein finsterer Wüterich seine blutnarbige Hand Um dich blaues Land, mein deutsches Vaterland Schloß … (V. 5–7)

Im schimmernden Bild urfreier Gigantengewalt, Brechender Sturm, Trutzschild geilsteiler Tyrannengewalt: ARMIN?! – (V. 13–16)175

Aber die nachfolgenden Verse zeigen, dass die Anrufung nicht dem Helden des Germa- nen gilt, der gegen die Bedrohung des »finstere[n] Wüterichs« Napoleon kämpft.176 Der Feind ist die Verlorenheit in einer Welt, die sich im Bild des Meeres als Symbol für die Sinnlosigkeit des Daseins zu erkennen gibt:

Urgrund endloser Schwermut! Deine Seele, schlummernde Seele War wie das Meer, Das ewig trunken, in sich versunken: Meer … (V. 38–42)

An der »endlosen Schwermut«, der sich Kleist hingab, sollte das Ich brechen und schei- tern; sie wird in der folgenden Strophe durch das Bild einer »gelbfahlen Wüste« ersetzt, in der es orientierungslos und vergeblich den Ausweg sucht, und in der es beinahe zu Tode erschöpft und mit letzter »Wollust« die Erde nackt umschlingend sterben will. In dieser verzweifelten Situation erscheint Kleist und kommt dem Todgeweihten als Lei- densgenosse entgegen. Kleist, schon vom Tod gezeichnet, erteilt sein letztes Vermächt- nis, bevor er in den Armen des Ichs stirbt:

»Ohhh Einsamkeit! Sieh, oh, das Feuermal meines Leids! Meinen brandigen Körper! Oh ich trank den Kelch einer bitteren Gottheit. – Zwischen weißer Sonne und roter Erde: du mußt dich im Feuer verbrennen um deine Kraft zu erkennen, mußt dich in glutheißen Höllen- und Himmelsmartern quälen,

175 Johannes R. Becher, Der Ringende. Kleist-Hymne, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Johannes-R.- Becher-Archiv der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, Bd. 1: Ausgewählte Gedichte 1911– 1918, Berlin 1966, S. 7–12. 176 Kleist schrieb drei Tage vor Napoleons Einzug in Berlin an seine Schwester: »Es wäre schrecklich, wenn dieser Wüterich sein Reich gründete. Nur ein kleiner Teil der Menschen begreift, was für ein Verderben es ist, unter seine Herrschaft zu kommen. Wir sind die unterjochten Völker der Römer. Es ist auf eine Ausplünderung von Europa abgesehen, um Frankreich reich zu machen.« (in: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe, vier Bände, hg. v. Klaus Müller-Salget u. a., Bd. 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811, Frankfurt/M., 1997, S. 364. [Hervorhebung v. Verf.] »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 71

bis deine Seele ganz leichtleis zu glühn beginnt, deine Wunden und Zähren Flammen sind.« […] »Fallen, oh, durch höllische Kraft! Aufstehn so in göttlicher Kraft!« […] »Liebe – – –« Er sank. Rang im Aufschrei der letzten menschlichen Möglichkeit: »Schwester – – – – – – – « Traummatt schob ich meine Hand unter sein Haupt und wachte.177

Die leidende Teilhabe am Göttlichen, dass nämlich der »Kelch einer bitteren Gottheit« getrunken wird, wird zum Grundzug von Kleists Leben und Werk stilisiert: die Fremd- bestimmung des Daseins, die tragische Entfremdung im Innersten des eigenen Gefühls, und das Streben nach der Sprengung der eigenen Fessel. Diese kommen in fast allen Er- zählungen und Dramen Kleists zum Ausdruck, als das »Bewusstsein im Ausnahmezu- stand«, als das »Zerbrechen des Bewusstseins angesichts einer übermächtigen Wirk- lichkeit« oder als »seine Erschütterung und schließliche Behauptung«.178 In Amphitryon ist es die Liebe zum Absoluten, die das Liebespaar Amphitryon und Alkmene, trotz der sinnlichen Verwirrungen durch die göttliche Intervention, fest zusammen hält. Hier ge- rät das Bewusstsein der Liebenden Amphitryon und Alkmene dadurch in die Tragik und Komik der Verstrickung des Bewusstseins, dass sie dem Absoluten als etwas, was ei- gentlich den Göttern zusteht, begegnen. In Penthesilea scheitern die Heldin Penthesilea sowie der Held Achill an den unaufhebbaren Widersprüchen des menschlichen Daseins, die sie beide vergeblich zu versöhnen suchen. Die ehernen Gesetze ihres Staates, den permanenten Ausnahmezustand des Krieges, der für die Amazonen Penthesileas die Existenzgrundlage ihres Systems bildet, stellt Penthesilea in Frage, nachdem sie die Liebe als etwas Ungeheuerliches und Unvorhergesehenes, als etwas, das den Regeln des Systems zuwiderläuft, erlebt. Ihr Versuch, ihre Liebe zu Achill und die Umstände mit- einander zu verbinden, zerreißt sie. Die Existenz ihres Geliebten Achill zerbricht eben- falls daran. Achills Welt gerät aus den Fugen und seine Mitstreiter in Panik, weil Achill Penthesilea am Anfang des Stückes nicht tötet. Doch auch er vermag seine Liebe nicht zu leben, vermag sich nicht wirklich zu unterwerfen, sich zu lösen, auch er will verei- nen, was ihn zerreißen wird. Kleist setzt sich also in seinen Werken mit dem unheimli- chen Faktum des Bewusstseins und mit seinem problematischen Verhältnis zur Wirk-

177 Ebd., S. 11 (V. 100-111; 132-133; 136-141). 178 Vgl. Karlheinz Stierle, »Amphitryon«. Die Komödie des Absoluten, in: Walter Hinderer (Hg.), Kleists Dramen, Stuttgart 1997, S. 47. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 72 lichkeit auseinander.179 Er macht somit seine Dramen zum Exerzierfeld und Schauplatz der kühnsten metaphysischen Spekulationen, die in solchen konkreten dramatischen Konstellationen veranschaulicht werden. Den biographischen Hintergrund dafür bildet seine sogenannte »Kant-Krise«. Die Erkenntniskritik Kants trifft und zerschmettert sein Weltbild, das auf der Überzeugung basiert, dass »Bildung« »das einzige Ziel« des Be- strebens ist und »Wahrheit der einzige Reichthum, der des Besitzes würdig ist«.180 In dieser Hinsicht ist Kleist auch der Dichter einer philosophischen Erfahrung, die sich dem philosophischen Diskurs entzog und die ihre Darstellung nur mit den Mitteln der Dichtung finden konnte. Scharfsinnig erfindet Kleist Wirklichkeiten, in denen das Bewusstsein nicht mächtig genug sein kann, und schildert seine Torturen poetischer Dichte. Becher greift in seiner Kleist-Hymne diese Zerrissenheit Kleists, die durch die Erschütterungen des Bewusstseins ausgelöst wird, auf und überträgt sie auf seine qual- volle Zeiterfahrung (»Wo ist mein Weg?! Da? Dort ? Oder da? oder dort?! –«), die in dem Bild der trostlosen, sinnentleerten Konventionen (»Felstrümmer ragen | blöd und stumpf aus der kargen | gleichförmigen Trostlosigkeit«) als die vom Nihilismus gepräg- te Dekadenzsituation der Gegenwart zur Erscheinung tritt. In seiner Darstellung Kleists ragt dieser zwar nicht als ein klassischer Held heraus, dem es wie Goethe gelingt, die Widersprüche in sich zu versöhnen, aber was ihn auszeichnet, ist die Fähigkeit, ohne Angst vor dem Tod bis zur Grenze des Menschenmöglichen durchzudringen. Sein Ver- mächtnis, das grenzenlose Leid zum reinen Ausdruck zu steigern, verleiht dem sinnent- leerten Dasein der Gegenwart eine Sinnhaftigkeit. Dieses Leidenspathos ist der wesentliche Kern der letzten Aussagen Kleists im Ge- dicht und zeigt letztlich Becher als seinen Seelenverwandte, weil dieser in seiner Selbst- stilisierung mit der kleistschen Eigenschaften ausgestattet wird: sich selbst verbrennend (»in die Erde noch | die letzte Kraft betten, den kochenden | Sand mit der letzten, mit all der letzten Wollust umschlingen, | […] | in der wir glühten…«) und die Schrecken der Einsamkeit durchstehend tritt er als Nachfolger Kleists auf, der selbst nach dem Fallen »durch die höllische Kraft« auch fähig ist zum »Aufstehn so in göttlicher Kraft«. Kleists Liebe zum Tode wird also als der Ausdruck eines höchsten Kraftbewusstseins gedeutet, nicht als eine kränklich schwache Sehnsucht nach dem Jenseits. Bechers zweites Dichtergedicht auf Kleist entstand zwischen 1912 und 1913, er- schien in seiner ersten Werkausgabe, Verfall und Triumph,181 die in je einem Band Pro- sa und Lyrik von 1912 und 1913 vereint.

179 Vgl. hierzu Karlheinz Stierle, Das Beben des Bewußtseins. Die narrative Struktur von Kleists »Das Erdbeben in Chili«, in: David E. Wellbery (Hg.), Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modell- analysen am Beispiel von Kleists »Das Erdbeben in Chili«, München 1985, S. 54–68. 180 Heinrich von Kleist, ebd., S. 204. 181 Bechers Erstlingswerk erschien im Sommer 1914 bei dem Hyperion-Verlag in Berlin. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 73

Kleist

Schakale winseln Dächer in den Öden. Der Abend dünn in aschene Nacht zerrinnselt, Aus blindem Hafen die Sirene flötet. Leuchtfeuer matt wie grüne Sterne blinzeln.

5 Er stehet auf und schlägt den Mantel um, Der sich im finsteren Regen klatschend ballet. Durch öliges Tor er schiebt den Buckel krumm, Die Fingernägel er im Sturm verkrallet.

Um seine Paukenfüße wirbeln Lehme. 10 Petroleum schillernd um das Haupt ihm spritzet, Aus dem, scharlachenes Rund, das Auge blitzet.

Verdüstert von der Schattenhäuser Feme… Es platschen Gäule durch des Mondes Pfütze… Er auf dem Bock der Kohlenfuhre sitzet.182

Das Dichtergedicht ist in der Sonettform geschrieben und wird metrisch durch den für das Sonett typischen fünfhebigen Jambus bestimmt. Dieser wird allerdings häufig durch Doppelsenkungen unterbrochen:

Der Abend dünn in aschênê Nacht (V. 2) Der sich im finstêrên Regen (V. 5) Durch ölîgês Tor (V. 7) Aus dem, scharlachênês Rund, (V. 11)

Eine Reihe von Doppelsenkungen und häufige schwebenden Betonungen (»Ér stéhet áuf« (V. 5)) zeigen eine gewisse Lösung der metrischen Regeln. Auch die Abweichun- gen von der strengen Reimordnung tragen zur formalen Auflösung der Sonettordnung bei: Der umarmende Reim als Reimschema des Oktetts existiert nicht, in den beiden Quartetten bildet sich Kreuzreim, die von Quartett zu Quartett wechseln und sich klang- lich weniger in Reimen denn in Assonanzen widerspiegeln (»Öden«–»flötet« (V. 1 u. 3); »um«–»krumm« (V. 5 u. 7)). Während die Vokale übereinstimmen, wechseln die Konsonanten, so im ersten Quartett von »zerrinnselt«–»blinzeln« (V. 2 u. 4) mit den Endigung »t« und »n« entgegen dem Reimschema. Aber die assonierenden Vokale bleiben metrisch bestimmend, so dass hier der Kreuzreim zugrunde liegt, wenn dieser teilweise auch nur rudimentär erkennbar ist. Dagegen wird gegen Ende des Gedichts ei- ne relative klare Sonettform aufgebaut, indem die beiden Terzette beinahe gleiche Rei- me aufweisen. Mit »spritzet«–»blitzet«–»Pfütze«–»sitzet« (V. 10, 11, 13, 14) bekom- men vier Verse denselben Reim, wobei »Pfütze« einen unreinen Reim darstellt, der aber, da die deutsche Metrik »ü« und »i« als gleichen Reimvokal akzeptiert, ohne

182 Johannes R. Becher, Verfall und Triumph, Gedichte, Berlin 1914, S. 109. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 74

Schwierigkeit ins Reimschema der Terzette von e-f-f/e-f-f hineinpasst. So wird die So- nettform zwar nicht wirklich aufgelöst, sie wird jedoch durch assonierende Vokale, die die Reimfunktion ersetzen, durch schwebende Betonungen und Doppelsenkungen auf- gehoben. Besonders auffällig im Vergleich zum ersten Dichtergedicht ist der Zeilenstil, wie wir ihn aus expressionistischen Reihungsgedichten kennen. Bilder, die zunächst einzeln stehen, ergeben im Verlauf des Gedichts ein gemeinsames Bild, eine gemeinsame Vor- stellung. Dazu kommt die syntaktische Ambiguität, die vor allem durch grammatische Verwirrung zustande kommt, und das besonders in der ersten Strophe. Im ersten Vers (»Schakale winseln Dächer in den Öden«) weiß man nicht genau, wie die Satzglieder syntaktisch einander zuzuordnen sind: winseln Schakale Dächer, oder winseln sie Dä- cher in die Öde hinein, oder winseln sie auf den Dächern? Die grammatischen Bezüge sind nicht eindeutig zu bestimmen. Diese Verwirrung der Grammatik geht auch mit der Inkohärenz bildlicher Bezüge einher. Die »Schakale« gehören nicht gerade in die deut- sche Hafen- oder Industrielandschaft, die in den folgenden Versen assoziiert wird, son- dern eher in die Wüste. Eine Katze auf den Dächern würde da glaubwürdiger wirken. Die aasfressenden Schakale, die in der kargen, düsteren Wüstenlandschaft heimisch sind, sind hundeähnliche Tiere, die in der Nacht heulen. Mit winselnden, heulenden Schakalen hat man eher ein tropisches Bild vor Augen, das hier mit ungewöhnlichen Metaphern für die dämonische Nachtstimmung symbolisch wirkt: die Nachtstimmung einer modernen großen Hafenstadt, die mit dem Bild von Öde und Leere eine unheimli- che Atmosphäre erzeugt (V. 1–4). »Der Abend« »zerrinnselt« in die »aschene Nacht«, wie der Straßenschmutz in den Rinnstein abfließt. Mit den ungewöhnlichen Attributen wie »aschen« und »zerrinnselt« wird eine Nachtstimmung evoziert, auf die die Vorstel- lung des Verfalls und des Dämonischen zu übertragen ist. Bechers Kleist-Sonett weist also viel deutlicher stilistische Züge des Expressionismus als das erste auf, und auch viel deutlichere als das Dichtergedicht Zechs. Eine solche Dämonisierung der Nacht in der Industrielandschaft findet man ähnlich auch bei . In seinem Großstadt- gedicht »Der Gott der Stadt« werden ähnliche Techniken der Dämonisierung angewen- det:

Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen. Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt. Die Stürme flattern, die wie Geier schauen von seinem Haupthaar, das im Zorne stäubt.183

183 Georg Heym, Der Gott der Stadt, in: Georg Heym. Dichtungen und Schriften, hg. v. Karl Ludwig Schneider, Bd. I: Lyrik, München 1964, S. 192. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 75

Wie bei Becher wirken die tropischen, aasfressenden Tiere (»Geier«) dämonisierend und deuten auf etwas dem Menschen Fremdes und Feindliches hin. Mit ihnen erzeugt auch die unheimliche Nachtstimmung (»betäubt«) die Verfremdung der gegenständli- chen Wirklichkeit, sowohl der Natur wie des vom Menschen Geschaffenen. Zur Ver- fremdung tragen noch dazu die personifizierenden Verben und Attribute184 bei, die in der Dichtung Heyms in Fülle auftauchen. Sie spielen auch in Bechers Gedicht eine be- deutende Rolle für den bildlichen Ausdruck. Die neblige Hafenlandschaft, die für den Betrachter unsichtbar erscheint, wird als Attribut auf den Hafen selbst übertragen, und dieser wird dadurch personifiziert. Und die »Sirene flötet«, obwohl sie natürlich keine Person ist. Den Dingen wird selbständige Aktivität zugeschrieben, die sie nicht haben. Durch die merkwürdigen, scheinbar unpassende Verben oder Attribute werden die ei- gentlich akustischen und optischen Reize, die normalerweise sehr stark auf die Sinne wirken, wie durch ein Schleier der Nacht nur noch sehr vermittelt und auch nur verein- zelt wahrgenommen: die winselnden Schakale, der zerrinnselnde Abend, der blinde Ha- fen, die flötende Sirene – die akustischen wie optischen Wahrnehmungen, die gestört erscheinen, spielen in der ersten Strophe die Hauptrolle. Aus ihnen ergibt sich dann das Bild einer Industrielandschaft, in der kein menschliches Ich, oder kein menschliches Objekt und Subjekt zu erkennen ist: eine von Sachen belebte Stadtlandschaft, aber keine Landschaft, die menschliche Züge trägt, eher das Gegenteil: wenn die Schakale winseln, ist alles tot und es bleibt nur Aas und Sterben. Als Eingangsbild des Gedichts wird da- mit im Untergang befindliche Welt, eine Welt in der Agonie, dargestellt. Die attributive Personifikation am Ende des ersten Quartetts (»Leuchtfeuer matt«) zeigt jedoch, dass diese eigentlich starken Reize wie Schakale, Leuchtfeuer und Sirene, die ganz hell auf die Menschen einstrahlen und insgesamt ein dämonisches Bild der Stadt ergeben sollen, nur sehr distanziert wahrgenommen werden. Auch die Warnsigna- le wie »Sirene« und »Leuchtfeuer«, die als Symbole der Apokalypse in diese Verfalls- stimmung der modernen Industrielandschaft übertragbar wären, sind nur schwach wahr- nehmbar. Damit wird eine Gegenbewegung gegen die menschenlose tote Stadt des zweiten Quartetts begonnen. Hier stemmt sich eine menschliche Gestalt gegen den dro- henden Untergang. Wie aus dem Titel herauszulesen ist, ist der »Er«, der aufsteht, Kleist, obwohl das im Gedicht nicht ganz eindeutig erscheint, da er hier kein Merkmal eines Dichters aufweist. Das zweite Quartett macht deutlich, dass die Struktur des gan- zen Gedichts auf dieses »Er« ausgerichtet ist. In der ersten Strophe fehlt jede menschli- che Gestalt, sie wird ausschließlich von personifizierten Dingen und Abstrakta erfüllt, bis das »Er« im Anfangsvers der folgenden Strophe diese in Gegensatz zur ersten stellt.

184 Vgl. ebd.: »Die letzten Häuser in das Land verirrn«; oder »Die großen Städte knien um ihn her«. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 76

Die äußerliche Zweiteilung der Sonettform löst sich damit inhaltlich auf und wird se- mantisch umstrukturiert: das zweite Quartett und die beiden Terzette werden durch die- ses »Er« in eine Einheit eingebunden, was darin deutlich wird, dass es jeweils ihren An- fangs- und Schlussvers einleitet und somit ihren Rahmen bildet. Diese elf Verse beziehen sich also inhaltlich aufeinander und werden durch die Gestalt Kleist be- herrscht, die jetzt aufersteht. Es ist im Gedicht nicht zu ermitteln, wo die Gestalt wohnt oder herkommt. »Er« präsentiert sich dabei deutlich als jemand, der dem Elementaren trotzt: Die Fingernägel, die man gewöhnlich in einen anderen Menschen oder in einen Gegenüber verkrallen kann, was man nicht loslassen will, verkrallt er in den Sturm und zeigt sich imstande, es mit den Elementen aufzunehmen. Der Eindruck von über- menschlichen Zügen wird schon zu Beginn des zweiten Quartetts durch einen rein phy- sischen Akt vorbereitet (»Er stehet auf und schlägt den Mantel um«). Vor der Folie der apokalyptischen Stimmung der ersten Strophe gewinnt das Elementare und damit zu- gleich das Übermenschliche an Bedeutung, zumal »Er« als einziges menschliches We- sen auftritt. Auch das anschließende Terzett (V. 9–11) gilt der Darstellung seiner über- menschlichen Größe, die allerdings bis fast ins Übermenschliche gesteigert wird. Die Darstellung gibt der Figur zwar Attribute eines Fabrikarbeiters oder eines Koh- lenwerkarbeiters, sie gewinnt jedoch im Lauf des Gedichts übermenschliche Züge eines Herrschers. Es häufen sich die Bilder, die die übermenschlichen Züge als ihr wichtigstes Merkmal zu erkennen geben. In ihnen äußert sich eine gewaltige Kraft, die über das Maß des Menschenmöglichen hinausgeht. Das zweite Quartett und das erste Terzett steuern so auf die Verbildlichung einer gewaltigen Energiefreisetzung zu: Ein »öliges Tor«, das er mit eigener Kraft aufschieben kann, ruft zusammen mit »Petroleum« das Bild einer großen Kohlenwerk- oder Hochofenanlage hervor, deren Größendimension um so deutlicher in Kontrast zu »Er« als einem menschlichen Wesen steht. Dement- sprechend präsentiert sich seine Statur in gigantischen Ausmaßen (»seine Paukenfüße«). Die Übermenschlichkeit steigert sich dann am Ende des Terzetts zum Außermenschli- chen: Er hat ein »scharlachenes Rund« des Auges, das, die anderen Menschen nicht an sich heranlassend, »blitzt«. Die Farbe des Auges ist völlig ungewöhnlich, denn kein Mensch hat scharlachrote Augen. Die Farbe der Augen assoziiert ihn mit einem Teufel von gewaltiger Struktur, wie sie vielleicht in der dämonischen Gottesfigur der Stadt im Gedicht Heyms wiederzufinden wäre. In der letzten Strophe (V. 12–14) wird die düstere Stimmung der ersten Strophe wie- der aufgegriffen. Die Figur Kleists ist von seiner Umgebung isoliert, und das weniger dadurch, dass er ihr gegenüber misstrauisch ist und darum keinen direkten Kontakt mit ihr sucht. Die Häuser der Menschen stehen alle im Schatten, suchen sich vor ihm zu verbergen. Die Umgebung schottet sich von ihm ab und bleibt vor ihm verschlossen, als »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 77 stünde er vor einem Femegericht, das willens ist, ihn zu verurteilen. Im Bild der mit »Pfütze[n]« gefüllten Straße entsteht wieder die Düsterkeit der großstädtischen, indu- striezeitlichen Wirklichkeit der ersten Strophe, die dort wie der im Rinnstein abfließen- de Straßenschmutz wahrgenommen wird (»Der Abend dünn in aschene Nacht zerrinn- selt«). Das chaotische Bild der Untergangslandschaft in der ersten Strophe wird in der letzten Strophe noch zusätzlich mit der Vorstellung des Statischen verbunden, was ein Bild der bewegungslosen Leblosigkeit (»Schattenhäuser«) ergibt. In dieser Welt des Verfalls, die im ganzen Gedicht durch die Metapher von Dunkelheit und Leblosigkeit charakterisiert wird, bildet die Kleistfigur ein einziges Gegenbild. Er hat Licht (»Aus dem, scharlachenes Rund, das Auge blitzet«) und bringt Bewegung in die erstarrte Welt hinein, indem er Gäule antreibt und Petroleum schillern lässt. Sein Bild als Kutscher am Ende des Gedichts weist darauf hin, dass er irgendetwas irgendwohin hinbringt. Kleist sollte dann jemand sein, der in dieser »Schatten«-Welt für Licht und Wärme sorgt. Sei- ne Darstellung in der zweiten und dritten Strophe legt dies nahe. Der Akt der Energielieferung ist dabei als eine Reaktion auf die ihm gegenüber feindliche Umgebung dargestellt. Vielleicht wäre das ein entscheidender Punkt, an dem sich das wichtigste Merkmal der Kleistfigur herauskristallisiert. Die »Häuser«, die er mit der »Kohlenfuhre« erreichen will, verschließen sich ihm gegenüber (»der Schatten- häuser Feme«). Das passt sicher zum Bild von Kleist als Gescheitertem, der zu Lebzei- ten verkannt blieb und die Menschheit nicht erreichen konnte. Die Kleistfigur in Be- chers Gedicht wird von derartigen Verzweiflung und Isolation nicht verschont. Die Physiognomie der Industriestadt erscheint ihm wie in der Eingangsstrophe unverändert als feindlich, und das »verdüstert« seinen Geist zusätzlich. In diesen Versen bleibt es aber offen, wozu das führt und ob er die Menschen erreicht, die in schattenhaften Häu- sern und Straf- oder Geheimgerichten irgendwo sitzen. Trotzdem will er in diese vom Tod gezeichnete Welt hinein. Er steht auf, er bringt eine »Kohlenfuhre« in Bewegung, die immerhin der Welt Energie zuführen kann. Diese Kleist-Figur bringt Energie in die Welt. Seine energischen Aktivitäten, die er in den vorangegangenen Strophen erzeugt hat, wollen Brennmaterial holen und sie im Wagen transportieren. Er schiebt ein »öliges Tor« auf, um den Wagen zum Kohlentransport zu holen. Mit der Energiezufuhr für die Welt und die Menschheit gewinnt sein Handeln eine schöpferische Bedeutung, die in mythische Dimensionen gesteigert wird. Die Anspielung auf die mythische Figur des Prometheus, der den Göttern das Feuer raubt und es den Menschen schenkt, ist hier be- merkbar, denn wie dieser ist er auch für den Erhalt des Feuers zuständig. Mit dem über- großen Riesentor und dem »Lehm« gewinnt die Umgebung um ihn Züge des Elementa- ren, und er ist der einzige, der es mit dieser ganz unwirklich wirkenden Umgebung aufnehmen kann. Dementsprechend hat er dämonische, halbteuflische und halbgöttliche »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 78

Züge, die in der Darstellung seiner körperlichen Erscheinung veranschaulicht werden. Er hat übergroße Füße (»seine Paukenfüße«) und ist von solch gigantischer Statur, dass er den »Buckel krumm« machen muss, um durch die Tor zu gehen. Aus diesem Zu- sammenspiel der mythischen Umgebung mit den ebenfalls mythischen, zum Teil ar- chaischen Zügen seiner äußeren Erscheinung geht er als eine mythologische Idealgestalt hervor, die am ehesten mit einer mythologischen, ins Dämonische abgewandelten Figur des Prometheus vergleichbar ist. Die hyperbolische Überhöhung ins Mythische wird schon am Anfang des zweiten Teils, zu Beginn der zweiten Strophe, mit dem prosai- schen Satz »Er stehet auf« eingeleitet. Das »e« in der Verbform »stehet« könnte man als metrische Füllung verstehen, jedoch verleiht dieses im Deutschen eigentlich nicht not- wendige, eingefügte lutherische »e« dem Satz fast einen biblischen Charakter – man fühlt sich fast an Jesus Christ erinnert, der einen Gelähmten zum Aufstehen bringt (»Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!«185). Damit und auch mit der Doppel- hebung am Satzanfang (»Ér stéhet«) gewinnt der Satz an Gewicht und gibt vor der Folie der dem Verfall geweihten Welt der ersten Strophe dem gerade Aufstehenden die Aura eines Erlösers. »Er stehet auf und schlägt den Mantel um«, diese Geste zeigt große Ent- schlossenheit, in die Welt hinauszugehen. Von dem »Aufstehen« ist auch in dem schon erwähnten ersten Dichtergedicht Bechers auf Kleist, »Der Ringende. Kleist-Hymne«, die Rede:

Plötzlich schrie er auf im harten Zug des bleichen Todes: […] Fallen, oh, durch höllische Kraft! Aufstehn so in göttlicher Kraft!186

»Fallen« und »Aufstehen« sind die neuen Eigenschaften, die Becher seinem Dichter- vorbild Kleist zuschreibt und die in einem antithetischen Parallelismus der Aussage Kleists in den zitierten Versen veranschaulicht werden: das ausgesprochen starke Lei- denspathos und der entschlossene Wille zur Überwindung des Verfalls. Die Kleist-Figur ist in diesem zweiten Gedicht das einzige menschliche Wesen, das sich der elementaren Übermacht des Verfalls stellt und es mit dieser Apokalypse aufnimmt. Diese beiden Qualitäten sind es, was man das ›neue Pathos‹ des Expressionismus nennt. Dieses zeigt sich vor allem darin, dass an der Kleistfigur zwar gewisse Merkmale des Messias nicht zu übersehen sind, er hier aber keine strahlende Lichtgestalt darstellt, keinen Messias, der auf die Welt kommt und prophetisch die Erlösung verkündet. Kleist als Retter und Befreier der Menschheit von den irdischen Leiden wäre auf dieses Bild des Dichters kaum übertragbar. Wie in der zweiten Strophe veranschaulicht wird, ist er eine so ge-

185 Lukasevangelium, 5, 24. 186 Johannes R. Becher, Der Ringende. Kleist-Hymne, ebd., S. 11. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 79 waltige riesige Gestalt, dass er nicht durch das Tor hindurch passt und sich deshalb krümmen muss. Zusätzlich zu dem eindrucksvollen Widerstandsakt des »Aufstehens« wirkt es widersprüchlich. Er ist eher eine geknickte Gestalt, wenn er den Buckel krumm macht, und leidet selbst an der Welt. Er gewinnt erst dann wahre Größe, wenn er sich den Elementen wie dem Sturm aussetzt und sie durchleidet. In diesen Leidenszügen und der bedingungslosen Bereitschaft zum Schmerz, die schon im ersten Dichtergedicht Be- chers unverkennbar sind, kommt das expressionistische neue Pathos187 zum Ausdruck. Was das zweite Dichtergedicht Bechers von seinem ersten und auch von dem Zechs, unterscheidet, ist die nachdrückliche Präsenz der Kraftmetaphorik. Für die Attribute der Kleist-Figur, die sich einer dem Tod zugeneigten, dekadenten Welt stellt und willens ist, sich auch darin zurechtzufinden, werden Metaphern des Energischen eingesetzt. Die Gesten von physischer Aktivität, die besonders in der zweiten und dritten Strophe zum Ausdruck kommen, werden inmitten der vor Tod starrenden Umgebung als einzige Be- wegungen präsentiert und bringen so Dynamik in diese statische Welt. Das entschlosse- ne Aufstehen und das Umschlagen des Mantels im Regen und Sturm stehen als symbo- lischer Akt für die mentale Stärke da, die als die Willensstärke näher bestimmbar ist. Diese symbolischen Gesten erfahren verschiedene Intensitätsgrade der Kraftarbeit, in- dem die Kleist-Figur die Züge eines Fabrikarbeiters annimmt. Das Buckel-krumm- machen zum Aufschieben eines riesigen Tor und noch dazu die kraftvolle Anstrengung selbst inmitten der widrigsten Arbeitsverhältnisse (»Um seine Paukenfüße wirbeln Lehme«; »Es platschen Gäule durch des Mondes Pfütze«) sind reine Kraftäußerungen, die signalisieren, dass es sich hier um einen Menschen handelt, der vor Kraft, die zum Zeichen der Stärke gebündelt werden muss, und die mental sowie physisch ist, strotzt. Zu der menschlichen Qualität des zechschen Kleist kommt hier in dessen Charakterisie- rung also noch eine andere hinzu: physiologische Stärke, die sich in der strotzenden Energie zeigt und im entschiedenen Willen zum Ausdruck kommt. Sie dient hier quasi als Beweis für die zur Schau gestellte Fähigkeit zum extremen Leiden und wird so Kennzeichen des expressionistischen Pathos. Leidenspathos aus der Stärke, das ist die Paraphrasierung dessen, was Nietzsche in seiner späten Schaffensphase als das Dionysische bezeichnet hat, mit dessen Konzepten er zentrale Lehren seiner späten Philosophie – »Wille zur Macht«, »Übermensch«, »Wiederkehr« und schließlich »amor fati« – verbindet. Seine Umdeutung des Begriffs ›Dionysisch‹ im Spätwerk hebt den Gegensatz zwischen dem Apollinischen und dem

187 Das ›neue Pathos‹ als eines der expressionistischen Schlagwörter wird von den Expressionisten selbst plakativ eingesetzt. So veranstaltete der »Neue Club«, die Keimzelle des Berliner Expressionismus, ihre öffentlichen Sitzungen unter dem Namen des »neopathetischen Cabarets«, und Paul Zech und Hans Ehrenbaum-Degele gründete 1913 in Berlin eine Zeitschrift »Das neue Pathos«. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 80

Dionysischen, der in der Geburt der Tragödie konstitutiv ist, auf und integriert das Apollinische in das Dionysische. War in der Schrift zur Tragödie die Überwindung des Leidens noch das Werk Apollos, so ist es nun die »dionysische Welt«, die das Leiden durch seine Bejahung überwindet.188 Die vorbehaltlose Bejahung des Leidens ist also das zentrale Moment des Dionysischen, wie es in der Spätphilosophie Nietzsches darge- stellt ist, und zeigt sich vor allem in der Vorliebe für das Tragische. Und diese ist wie- derum »selbst schon ein Instinkt der Macht«. Denn die Lebensdeutungen, ob etwas als schön oder hässlich empfunden wird, muss nach seiner sogenannten Physiologie der Kunst auf die Frage des Geschmacks zurückgeführt werden, also danach gedeutet wer- den, wie sich der moralische Wert menschlicher Existenz bestimmen lässt. Diese Psy- chologie des dionysischen Künstlers hat in Nietzsches späten Notizen Vorrang. Die physiologische Bedingung solcher Künstlerschaft sei nach Nietzsche der Rausch. In ihm werde das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle wach:

Z u r P s y c h o l o g i e d e s K ü n s t l e r s . – Damit es Kunst giebt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der R a u s c h . Der Rausch muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu kei- ner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft: vor Allem der Rausch der Geschlechtserregung, diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches. Insglei- chen der Affekte kommt; der Rausch des Festes, des Wettkampfs, des Bravourstücks, des Siegs, […] endlich der Rausch des Willens, der Rausch eines überhäuften und geschwellten Willens. – Das We- sentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man an die Dinge ab, man z w i n g t sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, – man heisst diesen Vor- gang I d e a l i s i r e n .189

Im Rausch als Zustand der Kraftsteigerung ist das Schaffen mit einer »Tortur des Schaf- fenmüssens«, der physiologisch bedingten Kraftentladung, vergleichbar. Das »erhöhte Machtgefühl« führt zur »innere[n] Nöthigung, aus den Dingen einen Reflex der eigenen Fülle und Vollkommenheit zu machen«.190 Dann gilt selbst der Schmerz nicht mehr »als Einwand gegen das Leben«, und darum wirkt Kunst als Gegenbewegung gegen Resi- gnation. Vom Rausch herkommend deutet also Nietzsche die Möglichkeit des Umgangs mit der Sinnlosigkeit und und Grausamkeit des Seins:

Gegenbewegung der K u n s t . Pessimismus in der Kunst? – der Künstler liebt allmählich die Mittel um ihrer selber willen, in denen sich der Rauschzustand zu er- kennen giebt; […] alle distinktiven Sachen, alle Nuancen, insofern sie an die extremen Kraftsteige- rung erinnern, welche der Rausch erzeugt, wecken rückwärts dieses Gefühl des Rausches. die Wir-

188 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Juni – Juli 1885, in: KSA 11, S. 611: »[…] sich selber be- jahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wie- derkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt –: diese meine d i o n y s i s c h e Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, […]« 189 Nietzsche, Götzen-Dämmerung. Streifzüge eines Unzeitgemässen, 8, in: KSA 6, S. 116. 190 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888, in: KSA 13, S. 356. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 81

kung der Kunstwerke ist die E r r e gung des kunstschaffenden Zustandes, des Rausches … das Wesentliche an der Kunst bleibt ihre Daseins-V o l l e ndung, ihr Hervorbringen der Vollkom- menheit und Fülle […] Was bedeutet eine p e s s i m i s t i s c h e K u n s t ? … Ist das nicht eine contra- dictio? – Ja. […] Die Tragödie lehrt n i c h t »Resignation« … Die furchtbaren und fragwürdigen Din- ge darstellen ist selbst schon ein Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet nicht … Es giebt keine pessimistische Kunst … Die Kunst bejaht. Hiob bejaht.[…] die Dinge sind häßlich, die sie zeigen: aber d a ß sie dieselben zeigen, ist aus L u s t a n d i e s e m H ä ß l i c h e n …191

Vor dem Hintergrund der Lehre über das Dionysische in der Spätphilosophie Nietz- sches ist Bechers Stilisierung Kleists zu einer entschieden willensgeprägten und ener- giestrotzenden Figur als die Hyperbolisierung der Eigenschaften des Dionysischen in- terpretierbar, als die Zuspitzung dieser »Exuberanz der inneren Spannungen«,192 in der selbst der Schmerz noch »Stimulans« ist, um rückhaltlos die Lust am Dasein zu äu- ßern .193 Bechers Kleist ist also im Kontext der Rezeption Nietzsches zu interpretieren und schließt sich an die Strömungen der vorexpressionistischen Nietzscherezeption an. Da zeichnet sich eine Grundeigenschaft der nach 1900 einsetzenden Rezeption der Spätphilosophie Nietzsches ab, die vor allem darauf abzielt, sich mit der nachdrückli- chen Bezugnahme auf die Lehren des Willens zur Macht und der eben erwähnten Um- deutung des Begriffs ›Dionysisch‹ gegen die ästhetisch geprägten Nietzschedeutungen um die Jahrhundertwende (»Artisten-Evangelium«) abzusetzen und sich dadurch selbst zu den ›wahren Erben‹ Nietzsches als Überwinder des Nihilismus der Moderne oder der »décadence« zu stilisieren. Dabei liefert Nietzsche mit seiner antimetaphysisch gepräg- ten Spätphilosophie das weltanschauliche Fundament und auch zugleich das theoreti- sche Argumentationsmuster, mit dem sich die Notwendigkeit einer Hinwendung zum Sozial-Ethischen und damit auch einer ethischen Fundierung der Kunst rechtfertigen lässt. Diese Funktion Nietzsches als Berufungsinstanz, die für die Notwendigkeit, mit der Tradition zu brechen, symbolisch ist, deutet sich bei Becher schon 1912, also zwei Jahre vor dem Erscheinen seines ersten expressionistischen Werkes Verfall und Triumph, an. Nach seiner Rückkehr nach München schrieb Becher einen Aufsatz über Richard Deh- mel194 in der Zeitschrift Die neue Zeit, die sein Freund Heinrich F. S. Bachmair gründe- te. In seiner Rede über Richard Dehmel setzt er sich mit dessen zuletzt veröffentlichten lyrischen Epen Zwei Menschen (1903) und Verwandlungen der Venus (1907) auseinan-

191 Ebd., S. 241. 192 Ebd., S. 356. 193 Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke 5, in: KSA 6, S. 160. 194 Johannes R. Becher, Rede über Richard Dehmel, in: Die Neue Zeit. Beiträge zur Geschichte der mo- dernen Dichtung, hg. v. Heinrich Franz Bachmair, Erstes Buch, München u. Berlin 1912, S. 31-42. Die Schrift wurde zwar in der Redeform geschrieben, ist aber als Rede vermutlich nie gehalten wor- den (vgl. Johannes R. Becher, Gesammelte Werke, Bd. 15: Publizistik I, 1912–1938, Berlin und Weimar 1977, S. 689 (Anmerkungen zum Aufsatz)). »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 82 der und versucht das Unzeitgemäße im Werk seines einst eifrig verehrten »Meisters«195 aufzudecken. Trotz seiner Anerkennung von Dehmels Verdienst, die Kunst der Gegen- wart aus dem lethargischen Epigonentum der nachklassischen Ära erweckt und dadurch zugleich einen großen Impulse für einen Neuanfang gegeben zu haben, ist er für Becher letztlich ein Gescheiterter, der dem Anspruch für die Überwindung der Dekadenz nicht gewachsen ist, für die er seinerzeit euphorisch (»schon vor Erscheinen der Gesänge die Trompete geblasen, als gelte es, einer messianischen Erscheinung den Weg zu berei- ten«196) gefeiert wurde. Die »geradezu dämonisch schillernde Flucht von Geschmacklo- sigkeiten und Trivialitäten«197 und »jene Unausgeglichenheit der Diktion an, die […] zu jener wehmütigsten Stilvermischung führen mußte zwischen feierlichsten Pathos, Ge- dankenlosigkeit und albernster Stimmungsduselei«198, sind für Becher die Resultat der Ratlosigkeit und Verzweiflung, die Dehmel in seinen letzten Werken dazu treiben, in das gewohnte ästhetische Kunstideal der Tradition zu flüchten (»die ewig erneute Wie- derkehr der großen rastlosen Sehnsucht nach makelloser Schönheit und Vollendung«), darüber aber zugleich sprachlich hinwegzutäuschen. Denn Dehmel ist vergleichbar mit einem, »den der Dämon bestürmte zu umarmen. Er riß sich hin. Aber dem Gehetzten er- starb auf endlich dargebotenen Lippen der große, der ersehnte Kuß.«199 Becher will also dem vitalen Lebenskult Dehmels, der in literarischen Kreisen als Möglichkeit der De- kadenz-Überwindung große Resonanz fand, den gleichen Makel zusprechen, der dem ästhetizistischen Kunstideal angehängt wurde, nämlich den Vorwurf einer Flucht vor der Wirklichkeit. Dehmel gehört nämlich aus Sicht der jungen Generation zu den mor- biden, hoffnungslosen Zeugen einer versinkenden Zeit, als deren Gegenpol sich der Verfasser der »Verwandlungen der Venus« zu erkennen gab. Die Skepsis wird zunächst ausgelöst durch die Dissonanz zwischen Dehmels Welt- anschauung und der eigenen krisenhaften Wahrnehmung der Gegenwart (»[…] das er- habene Gefühl all dieser irdischen Herrlichkeit und Schönheit vollkommen und ganz vertraut damit an seinem Herzen. […] Doch alle Offenbarung, die wache Gebärde die- ser umfangreichen, bunten Erdenwelt bleibt einzig ihm. –«200). Und den Mangel an stili- stischem Zusammenhalt in seinen epischen Werken (»wehmütigsten Stilvermischung«)

195 Bechers Briefe an Dehmel aus den Jahren 1909/10 zeugen von seinen Bemühungen, den »größten le- benden Dichter« als Bezugsperson für eigene literarische Tätigkeit zu gewinnen. So bittet der Ober- primaner ihn, für den »Absolviaalmanach irgendein Motto oder Gedicht zur Verfügung [zu] stellen«. (Vgl. Bechers Brief an Dehmel vom 11. März 1910, in: Metamorphosen eines Dichters. Johannes R. Becher. Gedichte, Briefe, Dokumente 1909–1945, hg. u. mit einem Vorwort v. Carsten Gansel, Berlin 1992, S. 49) 196 Becher, Rede über Richard Dehmel, S. 38. 197 Ebd., S. 38. 198 Ebd., S. 36. 199 Ebd., S. 40. 200 Ebd., S. 35. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 83 führt Becher auf Dehmels Zaudern zwischen »berauschender Entzückung« und »ver- zweifelter Bedrücktheit« zurück, also darauf, dass Dehmel in seinem Unterfangen, mit der Dekadenz des lebensfernen Ästhetizismus zu brechen und sich wieder dem Leben zuzuwenden (»[Dehmel (sic)] setzte wieder an die Stelle des nur Mühelos-Verträumten das helle männliche Recht der bitter erkauften empirischen Erkenntnis«), scheitert und wieder auf das lebensabgewandte Schönheitsideal zurückgreift. Dehmels scheinbar grellen Gestus des Traditionsbruchs und des Neuanfangs, der mit der Thematisierung der erotischen Zeugungskraft in Verwandlungen der Venus scheinbar gegen die bürger- liche Moral rebelliert, wird in eine eher mäßige Rückbesinnung auf das klassische Kunstideal zurückgestuft, um ihn dadurch doch als den unter der Last der Vergangen- heit leidenden Erben erscheinen zu lassen, in dem die Verbindung zur Tradition wie- derhergestellt wird (»Goethes Lyrik: […]; Schillers Dichtung […]; Verlaine […] sie le- ben auf, sie leben fort in ihm«201). Die Beschreibung eines Gegenbildes, das Becher dem gescheiterten Vorbild entge- genhalten will, leitet er mit einem Zitat aus Also sprach Zarathustra Nietzsches ein.

Meine Damen und Herrn! (Nietzsche. Zarathustra. Von den Erhabenen) Wohl liebe ich an ihm den Nacken des Stiers: aber nun will ich auch noch das Auge des Engels sehn. Und man vergegenwärtige sich nur im Gegensatze zu unserem Dichter und dem ihm so seltsam we- sensverwandten Hebbel oder Strindberg: der ekstatisch entrückten Gestalten Hölderlins, Novalis’, Mozarts, Mörikes, Rimbauds, Nietzsches, Hodlers oder Hauptmanns, und man wird erkennen das all diesen in so hohem Grade Gemeinsame: ein Ewig-Jugendliches, die verhaltene Kraft, die untrüglichen Zeichen aller seelischen Kultur, ein tief Gelassenes; und die lässig souveräne Geste des Verschenken- könnens; und jene unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten, […]202

Was hier der Unentschlossenheit und Verkrampftheit Dehmels entegegengehalten wird, ist die Anspielung auf die Eigenschaft des dionysisch-tragischen Künstlers im Sinne des späten Nietzsche. Bechers Kritik an Dehmel als einem Erneuerer richtet sich gegen des- sen ununterbrochene Sehnsucht und Trauer nach der verlorenen Lebenseinheit, die er in seiner Dichtung mit lebenspathetischen, stimmungsbeladenen (»Stimmungsduselei«), mystizistischen Bildern zu überspielen sucht. Dem als lebensmüde zu entlarvenden Vorbild, dessen Schwäche sich vor allem im Zaudern vor dem durch den Verlust des geschlossenen Horizonts klaffenden, »dämonischen« Daseinsabgrund zeigt, hält Becher »die lässig souveräne Geste des Verschenkenkönnens«, die vor einer unerschöpflichen Kraft (»ein Ewig-Jugendliches«, »jene unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten«) strotzt, entgegen. Das sind die Attribute, die Nietzsche in Zarathustra dem Typus der Dekadenzüberwindung zuschreibt (»Mit lässigen Muskeln stehn und mit abgeschirrtem

201 Ebd., S. 34–35. 202 Ebd., S. 39. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 84

Willen: das ist das Schwerste euch Allen, ihr Erhabenen!«203). In Zarathustra wird der Wille zur Erkenntnis im Kapitel »Von den Erhabenen«, das die von Becher zitierte Stel- le enthält, als Jagd nach Wahrheit im »Walde der Erkenntnis« bezeichnet. Der Erken- nende ist von einem erhabenen »Helden-Willen« bestimmt, aber zum Scheitern verur- teilt angesichts der endgültigen Einsicht in die grausame Wahrheit des Daseins, was nach Nietzsche den »europäischen Nihilismus« der Moderne charakterisiert. Diesem Willen zur Wahrheit stellt Nietzsche den Geschmack entgegen (»Aber alles Leben ist Streit um Geschmack und Schmecken!«204). Die Wahrheiten sind voller Dornen, aber sie sind ohne Rose, ohne das Schöne.205 Die eigentliche Erlösung bringt nur die Verwand- lung des Helden in kindliche Unschuld, die der dionysisch-tragische Künstler mit seiner vorbehaltlosen Bejahung des Lebens und aus der »Überfülle des Lebens«, die zum »Überschuss[] von zeugenden, befruchtenden Kräften«206 führt, verkörpert. Dehmel, der zwar den Aufbruch in die neue Welt einleitete, aber mit der inneren Zerrissenheit zwischen dem Alten und dem Neuen dem Anspruch der durch Dekadenz geprägten nachmetaphysischen Moderne nicht gewachsen ist, fehlt eben diese Überwinder- Qualität:

Darum mögen auch an dieser Stelle insbesondere jene Äußerungen außer Betracht gelassen sein, bei denen aller Mangel an abwägender Güte, distanzierter Bedachtheit und frommer Gerechtigkeit, kurz, aller Natürlichkeit und frohbereiter, phantasievoller Kindschaft im höchsten Sinne, allem Begnadeten und reichem Blühen, sich so qualvoll erweist: ich meine die sämtlichen Prosen, Kinderbücher und dramatischen Versuche. Sie seien hier nur dem Umriß der Persönlichkeit eingeordnet als das schmerz- liche Wollen, sich Umfang zu verschaffen, aus tiefem Stolz und heißer Herrscherlust. […] das Bildnis dieses ringenden Mannes, […] ein starker Sohn der überraschen Zeit, der mit dem großen, heldenmü- tigen Anspruch, dem wahrhaft erhobenen Gefühl begann, zersank machtlos, die reinen Höhen seiner gewaltigen, trunkenen Jugend verließ er zu den verödeten Strecken einer ältlichen Verbitternis hin, wo er endet. Seine frühen Kämpfe, die er heftig um jene ewigen Güter führte, haben ihn vorzeiten des tiefsten Muts benommen, seine Kraft gebrochen, ihn brach gelegt. […] aus jenem Wirrsal von Perver- sionen, Verworfenheiten, Lastern, unerhörtesten Demütigungen stieg nicht jenes Verzückte, jenes Ätherische, Vergeistigte auf, nicht jene Wollust des Nur-Gedenkens, jene Ahnung des Himmlischen aus den überwehten Grüften einer irdischen Unzulänglichkeit, nicht jenes Zeitlos-Ewige aus den ver- borgenen Gründen einer traurigen Erdenzeit: behaftet noch mit dem leisen Grabgeruch der Verwe- sung … […] Und in diesem Sinne scheitert er zugleich mit vielen der Besten seiner Generation.207

Becher weist dem einst zum Vorbild erkorenen Dehmel die Funktion eines Übergangs vom lebensfernen Ästhetizismus zur willentlichen Hinwendung zum Leben zu. Die lite- rarische Bedeutung Dehmels misst er ausschließlich an diesem Übergang, an dem Vor- gang des ästhetischen sowie mentalitätsgeschichtlichen Paradigmenwechsels. Aus die-

203 Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Der Zweite Teil. Von den Erhabenen, in: KSA 4, S. 152. 204 Ebd., S. 150. 205 Vgl. ebd: »Behängt mit hässlichen Wahrheiten, seiner Jagdbeute, und reich an zerrissenen Kleidern; auch viele Dornen hiengen an ihm – aber noch sah ich keine Rose.« 206 Vgl. Nietzche, Fröhliche Wissenschaft, Fünftes Buch: Wir Furchtlosen, §370, in: KSA 3, S. 425. 207 Becher, Rede über Richard Dehmel, S. 40. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 85 ser Perspektive kritisiert er Schwächen und Stärken Dehmels, um dann in deutlichem Rückgriff auf den Anfang der Rede sich selbst als ›wahren Erben‹ Nietzsches prophe- tisch zu stilisieren. Seine Rede leitet Becher mit einem deutlichen Verweis auf ihren programmatischen Charakter ein, der erst aus der Auseinandersetzung mit der Proble- matik des Kunstprogramms seines Vorbildes Dehmel herausgebildet208 wird. Für ihn bleibt das Problematische an Dehmels Kunst nicht auf dessen Werk und Person be- schränkt, sondern darin zeigt sich die Problematik seiner Zeit (»einen Künstler […], aus dessen dumpfer Benommenheit, aus dessen schmerzhaften Krämpfen, mit dessen Blut sich diese neue, Ihre Zeit gebar«209). Über seinen deutlichen Verweis auf das Dionysi- sche (»das Dithyrambische, das meine Rede umschließt, mit dem sie den Anfang nimmt und in das sie wieder einmündet«) kontextualisiert sich die Problematik Dehmels als die der Zeit und die Rezeption der dionysischen Konzeption Nietzsches, womit Becher das Ziel, das er in der Rede verfolgt, relativ deutlich zu erkennen gibt:

das Dithyrambische, in dem Ihnen oft die Unterschiede zwischen Er und Ich vielleicht zunächst will- kürlich und aufs erste unerklärlich aufgehoben scheinen, sei nur als Ausdruck jenes offenen Dankes gedacht, der mich an dieser Stelle und im Auftrag einer jüngsten Generation dem Künstler verpflich- tet. So fühle ich mich hier auch berufen, die eigene pathetische Ergriffenheit in einem mehr oder min- der starken Grade auf Sie zu übertragen.210

Bechers »eigene pathetische Ergriffenheit« ist wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass sein einstiges Vorbild selber euphorisch als Nietzsche-»Jünger« auftrat und sich später dann von ihm distanzierte.211 Er will dem vitalen Lebenskult Dehmels den Cha- rakter der Dekadenzüberwindung im Sinne des späten Nietzsche nehmen und dem le- diglich die Bedeutung eines Übergangs zuschreiben, um sich selbst am Ende seiner Re- de als den ›wahren Deuter‹ des Dionysischen und damit als potentiellen Überwinder der Dekadenz der Zeit zu profilieren.

Doch seine ewig eminente: anregende Bedeutung wird sich erst in jenem Großen manifestieren, der diese neue, unsere Zeit restlos in sich beschließt. Der Dehmels Chaos zur Welt gebiert. Der sich aus allem Verfall seinen Triumph erbaut. In einer blühenden Zukunft …212

208 Ebd., S. 33: »Und ich glaube, indem ich als mehr denn nur getreues Echo dieses Geistes hier vor Ih- nen erscheine, auch auf diese Weise eine Art künstlerischen Bekenntnisses ablegen zu dürfen, wozu mich in besonderem Maße noch die eigentümlichen Umstände, die dieser Rede zugrunde liegen, er- mächtigen.« 209 Ebd. 210 Ebd. 211 Der junge Dehmel tritt im Zarathustra-Gedicht (»Nachruf an Nietzsche«) als Jünger Nietzsches auf, schickte die Erstausgabe seines Buches Erlösungen samt Widmung an Nietzsche. (Richard Dehmel, Gesammelte Werke, Bd. 1: Erlösungen, Gedichte und Sprüche, Berlin 1906, S.) 1902 spricht er dann rückblickend von der »völlige[n] Ernüchterung« und macht Nietzsche den Vorwurf, am Leben vorbei gedacht zu haben. (Vgl. Richard Dehmel, Offener Brief an den Herausgeber der »Kultur«, in: ebd., Bd. 8: Betrachtungen über Kunst, Gott und Welt, 1909, S. 128.) 212 Becher, Rede über Richard Dehmel, S. 41. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 86

Vor der Folie der Schwäche Dehmels als Übergangsfigur, der inneren Zerrissenheit zwischen dem Alten und dem Neuen und der daraus resultierenden Flucht von der Wirklichkeit ins lebensfernen Kunstideal, hebt Becher die entschlossene Hinwendung an die Wirklichkeit und die die Gegensätzlichkeiten aufhebende, synthetische Kraft als die erforderlichen Qualitäten des potentiellen Überwinders hervor. Die lebensfeindli- chen Verfallserscheinungen der Moderne »restlos in sich« zu beschließen und trotzdem mit der unerschöpflichen Kraft daraus den »Triumph« zu erbauen, das macht den Unter- schied zwischen Dehmel und Becher, den beiden Nietzsche-Deutern, aus, auf den ein- gangs der Rede hingewiesen wird. In der die Rede abschließende Darstellung des kom- menden »Großen« wird dieser dann in dessen Leidenshaltung gezeigt, in der er alle Stationen des Verfalls der Gegenwart durchschreitet. Die hyperbolische, zuspitzende Darstellung der Leidenshaltung (»[…] die arge Schande; zerfetzte Lippen, traurige Au- gen, den aufgerissenen, geschändeten Mund, voll Blut; verruchte Hände, krampfhaft verstreckt; verzerrt der arme Leib. Man befleckt. […]«213) ist die deutliche Anspielung auf das willentliche Moment des Dionysischen nach Nietzsche, das selbst das Schreck- lichste lustvoll bejahen kann und daher im Grunde keiner apollinischen Blendung, also des Ästhetischen, bedarf. Auf die zweite Eigenschaft des Dionysischen, die schöpferi- sche Kraft, die sich die Überfülle des Lebens zu eigen macht und daraus auch das dio- nysische Daseinsprinzip, greift Becher hier nicht eindeutig zurück. Aber die assertori- sche Aussage, der diese Selbstbeschreibung unmittelbar folgt, nämlich dass das schwächere Vorbild seinem stärkeren Jünger sein Vermächtnis erteilt haben sollte (»Du aber läßt uns zurück, berührt von dem Rauschen des gewaltigen Flügelschlags, der uns Inbrünstige dem hellen Licht entgegenträgt«214), legt dies nahe und wird in der anschlie- ßenden Selbstbeschreibung des Passionsweges des Jüngeren mit einem Habitus der kompromisslosen Selbstpreisgabe an die feindliche Realität assoziiert. Die Koppelung von entschlossener Leidensbereitschaft mit der Kraftmetaphorik, die sich hier andeutet, findet zwei Jahre später, wie wir bereits in der Interpretation des Dichtergedichts auf Kleist gesehen haben, einen noch deutlicheren Niederschlag. Das Leidenspathos aus der Überfülle des Lebens, dieser Grundzug in der Umdeutung des Dionysischen in der Spätphilosophie Nietzsches, bildet bei Becher also das ent- scheidende Kriterium für ein neues dichterisches Verständnis. Bei ihm gewinnt dieses expressionistische ›neue Pathos‹ in der souveränen Lebensbeherrschung einen entspre- chenden konkreten Gehalt. Ausgehend von der Zeitdiagnose, dass die Gegenwart nur ein Übergangsstadium bildet, wie es am Gedichtsanfang in dem Bild der vom Unter- gang gezeichneten Welt präsentiert wird, heißt nun die dichterische Devise, sie durch-

213 Ebd., S. 42. 214 Ebd. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 87 schreiten zu müssen, um aus deren Überwindung einen wirklichen Neuanfang herbeizu- führen. Dementsprechend wird in Bechers erstem Gedichtband Verfall und Triumph von 1914 der Verfall der Gegenwart nicht als ewige Kategorie angesehen, sondern der Ver- fall geht seinem Kulminations- und Endpunkt entgegen. So ist in seinem Dichtergedicht auf Charles Baudelaire,215 das im selben Gedichtband veröffentlicht wurde, auch davon die Rede. Aus der antibürgerlichen Haltung und der daraus entstehenden Verfallsästhe- tik Baudelaires, den Becher neben Kleist und Rimbaud zum vorbildlichen Dichter erko- ren hat,216 stilisiert Becher ihn als einen Seelenverwandten, der sich wie Kleist bewusst der gefahrvollen Verfallswelt aussetzte. Diese »Brüder« zeichnen sich dadurch aus, dass sie zwar zu Lebzeiten zum Scheitern verurteilt waren, aber für die kommenden Jünger die Rolle eines Wegbereiters spielen (»Schwarzer Engel meine Schritte leitet«), damit diese dem Untergang entgegenwirken und einen Triumph daraus schaffen können (»Daß wir Leuchten seien letzter Nacht! | Wir, die aufgebaut an des Verfalls Ende«217). Der Bildung dieses expressionistischen Selbstverständnisses hat, wie bereits im Ka- pitel zur Nietzscherezeption des »Neuen Clubs« und auch oben gezeigt wird, der diony- sische Philosoph Nietzsche Pate gestanden. Dabei wirft die Auseinandersetzung Be- chers mit Dehmel als seinem einstigen Vorbild ein bezeichnendes Licht auf die Doppelfunktion Nietzsches als Berufungsinstanz für die expressionistische Avantgarde. Mit seiner Zeitdiagnose von der dekadenten Moderne und auch mit seiner Selbststilisie- rung als Überwinder der Dekadenz gibt Nietzsche für die expressionistische Generation nicht nur die Identifikationsfigur ab, sondern erlaubt auch die gemeinsamen Verständi- gung über ihn. Neben dieser Integrationskraft ist es für die expressionistische Nietz- scherezeption charakteristisch, dass er mit der breiten Resonanz seiner Philosophie den Expressionisten als eine kulturelle Autorität dient, die sie in ihrer Bemühung um die Be- freiung von den starren Normen der ästhetischen Tradition gegen die mächtige Väter- generation einsetzen. Vor allem die letztere Funktion wird in den expressionistischen Parodien auf Dichtervorbilder als einer der strategischen Grundzüge der expressionisti- schen Avantgarde bemerkbar, worauf im folgenden Kapitel eingegangen wird. Die expressionistische Vorbilderverehrung steht also im Kontext ihrer Bemühungen, von der übermächtigen Tradition unabhängig zu machen. Für das Verlangen einer men- talitätsgeschichtlichen Neuorientierung, die von der von den Umbrüchen der Moderne hart getroffenen expressionistischen Generation als zeitgemäß empfunden wurde, dient Nietzsche mit seiner Spätphilosophie dazu, den Bruch mit der Tradition und somit einen

215 Becher, Baudelaire, in: ders., Gesammelte Werke, S. 50. 216 Vgl. Becher, Das Dreigestirn, in: ebd., S. 148: »Rimbaud, Kleist und Baudelaire – | (… um deren Haupt des Ruhmes Binde weht…) | Euch grüßt der Dichter, der zerrauft und leer, | Ein Bettler orgelnd auf dem Platze steht«. 217 Ebd., S. 51 [kursiv von Becher]. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 88

Paradigmenwechsel zu legitimieren, der vor allem die Aufnahme der Großstadtproble- matik der Moderne in das dichterische Sujet fordert und sie als das Zeichen der nietz- scheschen dionysischen Lebensbejahung und Hinwendung zum Leben verstehen will. Die Verehrung der Dichtervorbilder aus der Vergangenheit dient auch zu einem ähnli- chem Zweck, hat aber hinsichtlich der Herausbildung eines Gruppenbewusstseins eine noch konkretere Funktion, nämlich die Notwendigkeit, einen solchen Paradigmenwech- sel literarhistorisch zu untermauern, und das abgesehen davon, ob ihre Darstellung in den expressionistischen Dichtergedichten genau einer Dichterbiographie entspricht. Dass die bedichteten Dichter meistens frühverstorben und zu Lebzeiten verkannt ge- blieben waren, kommt nicht nur dem Habitus der expressionistischen Avantgarde ent- gegen, die vom unbürgerlichen studentischen Milieu geprägt ist und sich der eigenen Außenseiterposition innerhalb des literarischen Feldes bewusst war. Sie bieten mit sol- chen biographischen Hintergründen darüber hinaus die Möglichkeit, dass sich die junge expressionistische Generation als ihr verheißungsvoller Erbe deklarieren könnte. Denn das Merkmal des Unvollendeten durch den frühen Tod hinterlässt einen freien Raum, den die expressionistischen »Jünger« als deren Vermächtnis besetzen könnten, wie wir am Beispiel der Kleist-Hymne Bechers oder seiner Rede auf Dehmel (»Doch seine ewig eminente: anregende Bedeutung wird sich erst in jenem Großen manifestieren […]«218) feststellen konnten.

2.3 Kleist-Verehrung im Spätexpressionismus – Hans Franck, Kleist (1919)

Kleist

Woran ich starb? Daß ich euch nicht verwirrt. Wo ich euch segnen wollte mit dem Grauen, behalft ihr euch mit Tätscheln und mit Krauen! Als wär ich nicht durch eure Welt geirrt,

5 habt ihr gelacht, getollt, getanzt, gegirrt! Ihr saht mich meine Wortgewitter brauen und schlugt derweilen Räder gleich den Pfauen. Woran ich starb? Daß keiner mich verwirrt!

Warum hab ich euch nicht mit Skorpionen 10 gepeitscht? Warum euch nur mit Kinderruten gekitzelt? Wer stäupt nun euch bis zum Bluten,

da ich es nicht vermochte? Aus diesen Zonen kann ichs gestehn: Ich hätte dir mit Küssen, mein Volk, die Wunden überzahlen müssen.219

218 Ebd., S. 41 219 In: Die Rheinlande. Monatsschrift für deutsche Kunst und Dichtung, Bd. 29 (1919), S. 259. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 89

Das Dichtergedicht Hans Francks an Heinrich von Kleist unterscheidet sich von denje- nigen Zechs und Bechers durch die Redesituation, also durch die Art und Weise, wer wen anspricht. Paul Zech spricht in seinem Dichtergedicht den verstorbenen Dichter an dessen Grabstein selbst an. Der 100. Todestag von Kleist bildet den äußeren Anlass. In dem Dichtergedicht Johannes R. Bechers bilden sich keine Anknüpfungspunkte, was die Redesituation betrifft. Darin wird der Dichter weder angesprochen, noch spricht er selbst. Es wird berichtet über ihn, es gibt weder ein Ich noch ein Du. Statt dessen wird seine Gestalt in der Er-Form geschildert, was wenig gemeinsam hat mit typischen Zü- gen des historischen Kleist. In Hans Francks Dichtergedicht spricht hingegen Kleist selbst, der aus dem Jenseits eine Rede an seinen Zeitgenossen hält. Hans Franck dichtet also in der Rolle Kleists und lässt ihn selbst sprechen. In diesem Rollengedicht wird Kleist präsentiert als einer, der aus dem Jenseits an sei- nen Zeitgenossen spricht, die ihn nicht so wahrgenommen hätten, wie er es gerne ge- habt hätte: Er wäre gern ein Störfaktor in der bürgerlichen Normalität gewesen (»Woran ich starb? Daß ich euch nicht verwirrt.«, V. 1). Er starb also daran, dass er seine Zeitge- nossen nicht aufrütteln konnte. Er spricht wie ein verkannter Prophet, wie ein Prophet, der von seinen Zeitgenossen nicht erhört worden ist. Das ist offensichtlich der Grund, den er für sein Sterben angibt. Am Anfang spricht er nicht so sehr an die Gegenwart, 1919, sondern an die imaginäre Gegenwart, in der er selbst gestorben ist. Und er geht den Gründen nach, warum er als junger Mensch aus dem Leben geschieden ist Das Gedicht besteht aus je zwei Quartetten und Terzetten, ist also von der Strophen- form her ein Sonett, was auch bei den Dichtergedichten Zechs und Bechers der Fall ist. Das Oktett ist sehr stark gerahmt von dem Vers 1 und 8:

Woran ich starb? Daß ich euch nicht verwirrt. (V. 1) Woran ich starb? Daß keiner mich verwirrt! (V. 8)

Die Rahmenverse des Oktetts sind fast identisch, die Reimwörter auch. Die Abwei- chung voneinander ist inhaltlich: der Eingangsvers, »Daß ich euch nicht verwirrt« wird unten dann am Schluss des Oktetts semantisch invertiert: »Daß keiner mich verwirrt!«. Im Oktett wird allerdings das traditionelle Reimschema des Sonetts noch stärker ein- gehalten als bei Zech, insofern er den Außenreim (»verwirrt«–»geirrt«, »gegirrt«– »verwirrt«) beibehält und auch den Innenreim (»Grauen«–»Krauen«, »brauen«– »Pfauen«), während Zech diesen wechselt. Es ergibt sich im Oktett ein Reimschema von abba und abba, also ein umarmender Reim, wie er ganz traditionell für das Sonett ist. Und Francks Sonett kommt auch in den Terzetten dann mit drei Reimen aus, die dem Schema cdd−cee folgen, so dass sich ein Paarreim am Ende ergibt. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 90

Das ganze Gedicht ist sehr stark durch die beiden Fragen gekennzeichnet, die anaphorisch je die erste Strophe und die dritte einleiten. Dadurch lässt sich das Gedicht in zwei Teile aufteilen: die ersten beiden Strophen bilden den ersten Teil, die letzten beiden den zweiten. Jeder Teil besteht aus Fragen und Antwort darauf. Im ersten Teil stellt Kleist Fragen an ein Volk, an eine Vielzahl von Personen (»euch«), und kommt am Schluss der zweiten Strophe zu Antwort auf die Frage, warum er aus dieser Welt scheiden müsste (»Woran ich starb? Daß keiner mich verwirrt!«, V. 8). Die Frage rich- tet sich konkret darauf, welche Rolle er für die Menschheit erfüllen sollte und warum er es nicht konnte. Darum geht es im ganzen Gedicht, denn Kleist stellt sich als einen ge- hörten Prophet vor. Die erste Frage beantwortet Kleist mit irritierenden Gegensätzen:

Daß ich euch nicht verwirrt. Wo ich euch segnen wollte mit dem Grauen, behalft ihr euch mit Tätscheln und mit Krauen! (V. 1–3)

Kleist habe es also nicht geschafft, »euch« aus der bürgerlichen Normalität herauszurei- ßen und aufzuschrecken. Es werden hier zunächst irritierende Gegensätze formuliert, denn es ist einigermaßen ungewöhnlich, wenn man sagt, ich starb daran, dass ich euch nicht verwirrt habe. Eher würde man sagen, jemand stirbt vielleicht daran, dass er alle anderen verwirrt und ins Ungewisse gestürzt. Dies könnte man vielleicht eher als To- desursache akzeptieren. Die merkwürdige Umkehr, dass »ich euch nicht verwirrt« habe, ist hier aber eher als eine Leistung für sich selbst zu interpretieren denn als sein eigener Anspruch an sich selbst: er kam mit dem Anspruch auf die Welt, die Zeitgenossen auf- zurütteln, sie herauszuholen aus ihrer Normalität, aus ihrer Selbstsicherheit, ja sie gar zu verunsichern. Er spricht tatsächlich wie ein Prophet oder wie ein Engel, der auf die Welt gekommen ist, der die Menschen segnen wollte, aber nicht mit Wohltaten, sondern mit »Grauen«. Mit dieser semantischen Umkehrung der Vorstellung vom prophetischen Segnen kommt Kleist dem bekannten historischen Dichterbild Kleists näher als bei Paul Zech. Franck interpretiert Kleist als einen Dichter, der die Welt in seinen Texten mit grauenvollen Einsichten konfrontiert hatte. Damit alludiert Franck vor allen Dingen an Penthesilia, was am Gedichtschluss in der Assoziation von der Nähe zwischen Verlet- zung (»Wunde«, V. 14) und der Liebe (»Küssen«, V. 13.) angedeutet wird. Das Schei- tern seines prophetischen Vorhabens, seine Umwelt mit dem grauenhaften Einblick in die Fürchterlichkeit der Welt zu segnen, wird darauf zurückgeführt, dass das offensicht- lich bei den Zeitgenossen nicht ankam. Denn sie haben sich beholfen mit »Tätscheln«, also mit Beschwichtigung, und ihn schlicht ignoriert (V. 5–8). Die Zeitgenossen haben ihn nicht wahrgenommen, als wäre er nicht durch die Welt geirrt. Die asyndetische Reihe (»habt ihr gelacht, getollt, getanzt, gegirrt!«) illustriert, dass sie trotz der Prophetenworte besinnungslos ihr Leben weitergelebt haben und dass »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 91

Kleist damit mit seiner Aufgabe gescheitert ist, sie aus diesem Betrieb des Lebens her- auszuführen. Die dichterische Aufgabe besteht also darin, der Welt diese Einsicht mit »Wortgewitter[n]« zu vermitteln. Mit der metaphorischen Ausdrucksweise »Wortgewit- ter«, die auf die Welt herabgeregnet sind, rückt Kleist dem Dichter näher. Zugleich überlagert sich hier die Vorstellung eines christlichen Gottes und die eines Zeus als an- tiker Figur, der häufig mit diesem Bild des Blitzes als ein strafender Gott über die Welt hinwegzieht. Kleist erscheint hier praktisch als ein Gott, der durch das Gewitter spricht. Zu diesem Bild eines strafenden Gott stehen die Menschen im krassen Kontrast: »Ihr […] schlugt derweilen Räder gleich den Pfauen«. Das ist ein Bild der Eitelkeit der Welt. Der Pfau gilt als der Vogel, der sein schönes Rad, seine schöne Federn, zeigt, gilt als das Symbol der Eitelkeit. Mit Arroganz und Ignoranz treten die Menschen dieser Welt gegenüber. Er hat sozusagen den Menschen wie ein strafender Gott grausame »Wort- gewitter«, grausame Einsichten mitzuteilen, und die Menschen haben sich nicht darum geschert. Das ist die erste Erklärung auf die Frage, der in immer neuen Antworten nachgegangen wird. Zu der Frage, die am Eingang des ersten Teils gestellt wird, gibt Kleist sofort eine Antwort und versucht sie dann in den Mittelversen, dem zweiten Quartett, zu erklären, nämlich dass »ich« »euch nicht verwirrt« habe. Die Metaphern wie »Segen« oder wie »Wortgewitter« sorgen für die Stilisierung Kleists zu einer Figur, die aus göttlicher Sphäre herabgekommen wäre, oder eine von Gott erweckte Figur, die zu den Menschen kommt, aber von diesen ignoriert wird. Am Ende des Oktetts kehrt er dann etwas merkwürdig die Fragerichtung um: »Wor- an ich starb. Daß keiner mich verwirrt!« Als die zweite Erklärung für den frühen Tod gibt er also die Kontaktlosigkeit an. Die Menschen haben einerseits die Einsichten, die Kleist ihnen gebracht hat, nicht wahrgenommen, andererseits aber gibt es auch keinen richtigen Austausch zwischen den Menschen, den Zeitgenossen, zu den Kleist gekom- men ist, und ihm selbst. Er steht mit seinen Einsichten, seinen »Wortgewittern«, seinem »Grauen«, das er im Kopf hat und das sein Werk ausprägt, steht er allein. Zwischen ihm und seinen Zeitgenossen gibt es keinen Kontakt. Dieser Topos von ›Kleist, dem ver- kannten Dichter‹, also von einem Dichter, der nicht rezipiert worden ist – was nicht so ganz stimmt, da es immer und durch das 19. Jahrhundert Kleist-Leser gab – bildet den Ausgangspunkt für die Analyse dessen, warum er aus der Welt geschieden ist und mit der Welt nicht in Kontakt treten konnte. Einerseits weil die Welt ihn ignoriert hat, und andererseits weil er nicht zu der Welt finden konnte, keinen gefunden hat, an dem er sich hätte abarbeiten können. Nach den stark als Einheit präsentierten Quartetten, die abgeschlossen sind gegen- über dem Rest, werden dann in einer neuen Reihe von Fragen, drei weitere Fragen ge- stellt, die jetzt mit Enjambements aus der Verseinheit ausbrechen (V. 9–12). Mit der »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 92

Eingangsstellung erhalten »gepeitscht« und »gekitzelt« jeweils besonderen Akzent. Die Fragen sind eher eine Selbstbefragung, warum er seine Umwelt nicht noch stärker ge- fordert hat, nicht noch stärker als ein strafender Prophet. Erneut wird die biblische An- spielung auf den strafenden Gott mit dessen Propheten erweckt. Im Alten Testament werden diese strafenden Propheten von Gott immer wieder zu den Menschen geschickt, wenn sie an ihren Aufgaben versagen. Sie sollten wiederholt ein Strafpredigt halten, bis die Menschen sie erhören. Erst dann wird ihre göttliche Aufgabe erfüllt. So gibt Kleist sich hier Rechenschaft über sein Scheitern und zugleich die Erklärung dafür, warum er die Menschen nicht doch härter angegangen ist, was in den Metaphern der Schlagwaf- fen und giftigen Skorpionenspitzen veranschaulicht wird, und warum er sich begnügte mit den »Kinderruten«, die hier die Liebe Kleists zu Menschen symbolisiert. Kleists Selbsterklärung lautet, er habe sie gewissermaßen nur gekitzelt, ihnen nicht genug Strafpredigten und Peitschenhiebe gegeben. Er sei sozusagen zu harmlos gewesen. Die Einsicht in die Notwendigkeit für die Anwendung der noch stärkeren Mittel, die ihn zu den ignoranten Menschen führen könnten – diese Aussage könnte, auf die dichterische Aufgabe übertragen, darauf hindeuten, dass die Dichter oder deren Werke trotz der eit- len Leserschaft in der Anklage zu harmlos und nicht kräftig genug geblieben wären. Diese Erklärung ist in diesen beiden Fragen implizit enthalten. Und nach diesen beiden Fragen kommt der Sprecher im Grunde jetzt auf die Gegen- wart. Die Überleitung dazu wird angezeigt in »nun« in Vers 12, in dem Kleist fragt, wem er eigentlich jetzt diese Rolle, die er für die Menschheit selbst nicht erfüllen konn- te, anvertrauen sollte, also wer jetzt diese Rolle erfüllen könnte (V. 11–12). Kleist ist also daran gescheitert, die Menschheit so, wie sie wegen ihrer Schlechtigkeit verdient, zu bestrafen. Er geht aus der Welt und fragt nun: wer macht das »jetzt«? Die Frage ist in zwei Richtungen interpretierbar, und zwar einerseits als Frage, ob keiner es schafft, weil keiner so groß ist wie Kleist als Dichter. Aber man kann es auch umgekehrt als Auffor- derung lesen, das, was Kleist nicht vollendet hat, jetzt zu vollenden. Abschließend gibt Kleist eine Antwort aus dem Jenseits und legt ein Geständnis ab, in dem er erstmals ei- ne deutlichere Anrede findet, eine Apostrophe an »mein Volk«. Vorher hat es Kleist immer nur in der Form des Plurals der zweiten Person angesprochen, die sich wiederho- lend (»ihr«; »euch«; »eure Welt«) durch die beiden Quartette und das erste Terzett zieht. Nun folgt eine deutliche Anrede, ein Geständnis, was er als Mensch, der selbst in dieser Welt war, den Menschen nicht geben konnte. Erst aus dem Jenseits kann Kleist dieses Geständnis ausdrücken:

[…] Aus diesen Zonen kann ichs gestehn: Ich hätte dir mit Küssen, mein Volk, die Wunden überzahlen müssen. (V. 12–14)

»Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 93

Nach diesem Geständnis − »Ich hätte dir mit Küssen, mein Volk, die Wunden überzah- len müssen« − hätte er dem »Volk« eigentlich noch mehr Wunden zufügen müssen, und um diese Verwundungen zu kompensieren, hätte er die Welt noch mehr lieben müssen. Mit »Überzahlen« ist die Forderung gemeint, dass man dem Volk noch mehr »Küsse« entgegenbringt als man ihm die Wunden beigebracht hat. Das ist Kleists Einsicht in sein Scheitern: Er hat vor einer noch größeren, der Welt angemessenen Strafe zurückge- schreckt, weil er dann diese Strafe hätte kompensieren müssen mit einer noch stärkeren Zuneigung und Zuwendung, die in diesem Begriff der »Küsse« steckt. Es lässt sich eine Verwandtschaft zu dem Dichtergedicht von Paul Zech herstellen, der Kleist ebenfalls als »Welterlöser« und als einer, der der Welt sein letztes warmes »Herzblut« gibt, dar- stellt. Beiden gemeinsam ist das dichterische Selbstverständnis, das von dem Dichter Kleist ein sozial-ethisches Bild herausgreift. In Francks Gedicht allerdings gibt der Dichter Kleist das Bild eines Gescheiterten ab, der die Einsicht in sein Scheitern verrät oder ein Geständnis seines Scheiterns ablegt, und zwar in dem Widerspruch, dass er ei- nerseits der Welt große Strafe und Wunden hätte zufügen müssen, mit seinen Werken die Menschen geißeln und bestrafen müssen und dass das andererseits in ihm selbst das Liebesbedürfnis der Welt gegenüber noch so stark gesteigert hätte, dass er ihm nicht hätte nachkommen können. Darin spiegelt sich die ›Hassliebe‹, wie sie Penthesilea ge- gen Achill entwickelt, wenn sie ihren Liebsten mit Hunden verfolgt, letztlich zer- fleischt, aber zugleich unendlich liebt. Diese Ambivalenz steckt in Kleist: Er empfindet Hass und Liebe zur Welt, muss letztlich an dieser ambivalten Haltung scheitern. Hans Franck deutet den Dichter Kleist als einen an diesen inneren Widersprüchen Gescheiterten und gibt so Kleists Auftrag an die expressionistischen Dichter der Ge- genwart weiter. Sie sollen dieses ambivalente Verhältnis zur Welt aushalten, welches Kleist in seiner Zeit nicht aushalten konnte, und das nun in der jetzigen Gegenwart zu praktizieren ist. Die Spätexpressionisten entwickeln ihr dichterisches Selbstverständnis darin, dass sie das, woran der Prophet Kleist gescheitert ist, erfüllen. So wäre die Frage, »Wer stäupt nun euch bis zum Bluten, | da ich es nicht vermochte?« eine rhetorische Frage. An die Dichter der Gegenwart stellt Hans Franck zumindest die Forderung im- plizit, dass man jetzt die Dichter finden muss, die Kleists Leben und Werk vollenden sollen. In der Bereitschaft, diese große Spannung, an der Kleist im Dichtergedicht Francks gescheitert ist, auszuhalten, ist erneut das expressionistische Lebenspathos wieder zu erkennen, welches aus der biographischen, sozial-ethischen Deutung der Dichtervorbilder erwächst und auch in frühexpressionistischen Dichtergedichten an Kleist prägend ist. In gruppensoziologischer Hinsicht eröffnet die Verallgemeinerung Kleists zum Typus des Seherdichters eine Traditionslinie, in die andere Propheten treten können. Damit wird eine typologische Verbindung zwischen der expressionistischen »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 94

Avantgarde und Kleist vorbereitet, der mit der Unzeitgemäßheit die Signatur des ›wah- ren Dichters‹ trägt und in solcher Funktion zu Präfiguration der Expressionisten wird.

3. Die Dichtergedichte als parodistische Überwindung der Vorbilder 3.1 Kurt Pinthus’ Parodien auf die »Dichterväter« der klassischen Moderne

Kurt Pinthus (1886–1975) ist der Herausgeber der berühmten expressionistischen An- thologie Menschheitsdämmerung, die zu einem literarischen Standardwerk wurde und mit einer Einleitung die Entwicklungsgeschichte des literarischen Expressionismus auf- zeigt. Er war einer der prominentesten Expressionisten und als Vermittler und Vorreiter dieser literarischen Bewegung aktiv. Als literarischer Berater des Rowohlt Verlags und als Lektor im Kurt-Wolff-Verlag stand er ständig in engem Kontakt mit den Vertretern des literarischen Expressionismus wie Johannes R. Becher, Gottfried Benn, Max Brod, Theodor Däubler, Albert Ehrenstein, Kurt Hiller, , und Paul Zech, denen er zu Veröffentlichungen verhalf.220 Bevor er aber einer der prominentesten Schriftsteller und Journalisten des Expressio- nismus wurde, versuchte er sich zunächst an Lyrik. 1912 gründete er die Zeitschrift Neuer Leipziger Parnaß und war somit an der Bildung der Keimzelle des Leipziger Ex- pressionismus maßgeblich beteiligt. Daran mitgewirkt haben vor allem die Expressioni- sten , mit dem ihn seit 1909 eine enge Freundschaft verband, und die aus Österreich stammende Dichterin Elsa Asenijeff. Zu dieser frühexpressionisti- schen Zeitschrift steuerte Pinthus selbst ein Gedicht bei, dem, da es ein Gruppenbildes der sich formierenden Leipziger Expressionisten zeichnete, ein Hauch von Expressio- nismus nicht abzusprechen ist:

An meine Freunde

Wir: rascher rauschend im Raum und glüher als lichte Kometen. Wir: Kenner seltner Weine, Früchte, Geflügel, sanfter Pasteten. Wir tragen vor brüllenden Menschenmassen aufreizende Fahnen. Wir fliegen höhnend auf in zartgeäderten Aeroplanen. Wir hüllen uns zitternd in tausend Schleier der Einsamkeit. Wir ballen das Leben zu kleinen Kugeln und liegen aussaugend über Ländern und Menschen wie Berge breit. Wir schauern vor Spinnen und ziehen in ferne Kriege ohne Grauen. Wir ruhen im Mondschein, in fremden Häusern bei schluchzenden, girrenden, stöhnenden Frauen.

220 Vgl Klaus Schuhmann, Walter Hasenclever, Kurt Pinthus und Franz Werfel im Leipziger Verlag (1913–1919). Ein verlags- und literaturgeschichtlicher Exkurs ins expressionistische Jahr- zehnt, Leipzig 2000, S. 38. (Leipzig – Geschichte und Kultur; Bd. 1) »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 95

Wir lohen wie Schmiedefeuer in kaltem Sturm und starren wie Eisberge in müder Schwüle. Wir: unsrer Zeit harte Fürsten und süße Dirnen weltlicher Gefühle. Wir: weise Greise zugleich und wütende Jünglinge, alberne Kinder. Wir lesen nachts vergessne romanische Schriften und mystische Bücher der Germanen und Inder. Wir tanzen in dunstigen Sälen des Volks und schreiten graziös im Frack übers Parkett. Wir wandern bettelnd zu Fuß nach China und schwelgen wie orientalische Fürsten träge und fett. Aller Zeiten Geheimnisse wissen wir, stark wie Athleten, wie bleichsüchtige Mädchen matt. Leuchttürme wir, mit grellem Strahl das wirre Dunkel scheidend in Türme, Meere, Kaufhäuser, Liebesschlachten und dröhnende Stadt.221

In einem jugendhaft provokanten Selbstporträt präsentiert Pinthus sich und seine Freun- de als Kenner des aktuellen und traditionellen Kulturwissens und auch als in den herr- schenden künstlerischen Strömungen versiert, die deren stilistische Manierismen längst gemeistert haben sollen. Die Selbstprofilierung gipfelt in der Synthese von Gegensätzen wie denen von feiner Kunst und »hart[em]« Leben der Moderne. Von den gesamten sechszehn Versen zählt das Gedicht in neun Versen (V. 7–15) demonstrativ ein synthe- tisches Vermögen auf, das den Widersprüchen entgegengestellt wird, welche im großen aus einem Gegensatz der lebensmüden Dekadenz und des vitalen Lebensgefühls beste- hen (»Wir lohen wie Schmiedefeuer in kaltem Sturm und starren wie Eisberge in müder Schwüle.«, V. 9; »unsrer Zeit harte Fürsten und süße Dirnen weltlicher Gefühle«,V. 10; »stark wie Athleten, wie bleichsüchtige Mädchen matt«, V. 15 usw.). Außer der Auf- zählung von Oppositionen, die das »Wir« zu synthetisieren behauptet, geht das Gedicht nicht näher auf die Verdeutlichung des Programms ein. In Vordergrund steht das pro- grammatische Pathos, sich diesen Gegensätzen zu stellen und somit den ganzen Umfang des Lebens unmittelbar am eigenen Leib zu erleben, wie es besonders im Schlussvers deutlich artikuliert wird: »Leuchttürme wir, mit grellem Strahl das wirre Dunkel schei- dend in Türme, Meere, Kaufhäuser, Liebesschlachten und dröhnende Stadt«. Die Ein- flüsse von der Lebensphilosophie Nietzsches222 und besonders vom Pathos des Nietz-

221 In: Neuer Leipziger Parnass, Leipzig 1912, S. 23. 222 Nietzsche-Einflüsse auf den Leipziger-Kreis um Pinthus sind auch in dem Dichtergedicht an ihn er- kennbar, welches Else Asenijeff in derselben Zeitschrift veröffentlichte (Neuer Leipziger Parnass, S. 7.): An Friedrich Nietzsche Hoher Geist ins Rätselhafte umgeboren, Gib uns des Angedenkens treue Kraft, Nach weiten Zielen sollen erzne Schritte wandern Hinaus aus enger Dumpfheit schwerer Haft. Dein Leben und die langen Jahre haben wir verloren – Und noch ist nichts geschehen ! Nur spruchgefällig, doch tatenschlaff ist unser Leben! Von Menschengröße träumt die Zeit, von Heldinnen. Doch wir vertändeln weiter unser Erben=Schicksal. Die Welt ist voll von breitgetretenem Geschwätz, Ein Sumpf der Worte. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – Doch hoch in Lüften, vogelklein dem Blick, Ein zitternd Gebälk, »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 96 scheschen ›dionysisch-tragischen‹ Künstlers sind hier sichtbar, die in einem ein Jahr später veröffentlichten Artikel noch deutlicher zum Ausdruck kommen:

Wir Jüngeren lieben das Essentielle; […] wir sind Psychologisten, Analytiker, nur um eine stärkere Synthese des Zersetzten zu mixen. Wir jüngeren Dichter und Schriftsteller sind meist beruflos, weil wir das Leben tausend Getrennter in uns gehäuft, getürmt zu leben haben; […] Wir lassen es durch uns rinnen wie durch Siebe, und bauen aus dem Gesiebten, wie Kinder aus Sand: Städte, Häuser, Menschen, Landschaften, Lust und Mord. […] und wir sollten uns nicht schämen, zu gestehen, wie wir einst alle für Wilde schwärmten, Es genügt, des ferneren den Namen Nietzsche zu nennen. – Un- terbewußtes steigt oft als brillierender Blitz auf: der Aphorismus. […]223

Das Leben ohne Auswahl und so, wie es ist, in sich aufzunehmen und bejahen – zu die- sem entschlossenen Lebenspathos, »alle Tänze« des harten Lebens »mit dem Knie«224 tanzen zu wollen, kommt Pinthus erst auf dem Wege einer Auseinandersetzung mit den Vertretern der ästhetischen Strömungen um die Jahrhundertwende nach. Wie sehr die produktive Auseinandersetzung mit der Tradition und Dichtung der Vä- ter die expressionistische Formierung prägt, beweisen die nachgelassenen Dichtungen von Kurt Pinthus im Deutschen Literaturarchiv. Sie sind unveröffentlicht und in der ex- pressionistischen Forschung unbemerkt geblieben. Pinthus’ Dichtergedichte stammen aus dem vorexpressionistischen Zeitraum von 1904 bis 1910225 und sind in handschrift- licher Fassung erhalten. Geschrieben sind sie auf losen Notizblättern (11x17,5cm) und ungeordnet in einem unsortierten Konvolut enthalten.

Stefan George

Von meinen müden händen gleiten tropfen Wie rasche rosse meine pulse rasen Wie wilde wächter meine schönen schläfen klopfen In meinem hirne wallen tausend blonde blasen.

Der Klarheit unsichtbarer Ströme preisgegeben – Da steigt die Hoffnung einer neuen Zeit empor. 223 K. Pinthus, Glosse, Aphorismus, Anekdote, in: März 7, II (1913), H. 19, S. 213f. 224 Walter Hasenclever, Unsentimentale Liebesgeschichte, in: Neuer Leipziger Parnass, S. 14: Wir spannen Drahtseile aus an metallnen Himmeln. […]. Wir jagen mit Revolvern auf fliegenden Schimmeln! Wir tanzen alle Tänze mit dem Knie. Wir umarmen brüllend Den und Die. Wir fahren in allen Expreßzügen. Wir heulen wie Hunde durch unser Dutzend Seelen. 225 Pinthus’ Dichtergedichte sind alle undatiert. Auf einigen der Notizblättchen (Frühling und der Cyklus Der Künstler), die zusammen mit Pinthus’ Dichterparodien im selben Konvolut, in dem ausschließ- lich »Gedichte und Gedichtentwürfe« gesammelt liegen, steht das Datum »1904«. Man könnte davon ausgehen, dass die poetischen Versuche Pinthus’ 1904 einsetzten. Pinthus debütierte 1912 als Lyriker mit den Gedichten, die er im Sammelband des Leipziger Expressionismus Neuer Leipziger Parnass veröffentlichte. Ein Jahr danach veröffentlichte er in der expressionistischen Zeitschrift Das neue Pa- thos zwei Gedichte Verlöbnis und Das Kabel (in: Das neue Pathos 1 (1913), H. 2, S. 22 u. H. 5/6, S. 32). »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 97

Und wie ich auf dem schlanken stuhle einsam sitze Und langsam rühre in dem trüben Tranke Wie purpur-blumen blüht in mir nur der gedanke: Ich schwitze!226

Heine

Du bist wie ein Chemisette So weiß und zart und rein, So wie mein Chemisette Lagst du mir am Herzelein.

Ich seh dich an, und Wehmut Zieht mir ins Herz hinein: Man trägt jetzt kein Chemisett mehr, Drum muß geschieden sein!

Leb wohl Chemisett und Liebchen! Ich bin ein moderner Mann! Ich schaff’ mir jetzt Oberhemden Und ein neues Liebchen an!227

Arno Holz

Auf einer grünen Wiese steht ein Schaf… Die Sonne blendet mich… Ich blinzle. Das Schaf blökt… Ich fasse mich – an meine Stirne. – – – – – – – – Schaf!

226 Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, A: Pinthus, Konvolut: Gedichte und Gedichtentwürfe, un- gezählt, 71.546. Titel unterstrichen. Z. 1: Von meinen müden Händen gleiten Tropfen] Von meinen müden Händen Z. 2: rosse] Rosse Z. 7: purpur=blumen] blumen 227 Ebd. In der Handschrift war der Titel des Gedichts »Heine« unterstrichen. – Als Vorlage dient Hein- rich Heines Gedicht Du bist wie eine Blume aus dem Zyklus Die Heimkehr in: Buch der Lieder. (Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 1: Buch der Lieder, Hamburg 1975.) Du bist wie eine Blume, So hold und schön und rein; Ich schau dich an, und Wehmut Schleicht mir ins Herz hinein. Mir ist, als ob ich die Hände Aufs Haupt dir legen sollt, Betend, daß Gott dich erhalte So rein und schön und hold. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 98

Mombert: (Der Glühende. Nur Daß ich wachte)

Nur, daß ich schlief… Und träumte. (Denn könnte solches Schreckgesicht wohl wahr sein?) – Ein Dichter mit Haar wie Schilf – nur schwarz. Und einem Rock, der saß wie purpurne Schlagsahne – nur schwarz. Und einem Auge tief und düster wie ein totes Faß – nur schwarz, Der Dichter trug ein Lämpchen in der Hand Und irrte schwankend – wie ein Hund von 1000 Jahren – In eines unendlichen Urkellers Gewölben. Und neben ihm, da ging sein schmaler Schatten, Aber riesengroß mit einer krummer Nase, An der ein kristallklares Tröpfchen hing – Wie eine Leuchtkugel – Die in einsamer Nacht… hoch…hoch…hoch… Über der greisen Menschen müden Häupte steht. dies Tröpfchen aber war die Welt Ja. die Welt. – – – Da erschrak der Glühende düster Und das Lämpchen zerbrach, Das klirrte, wie wenn ein altes Mädchen einsam in der Wüste Sahara weint.228

Dehmel: (Liegt eine Stadt im Thale)

Noch liegt die Stadt im dunklen, Doch trüber brennen die Laternen Die Sterne milder Funkeln Und grau wirds in den Fernen.

Dem Mann erschien so fremd die Stadt, Und jedes Haus so sonderbar. Ihm war als ob vor Tag und Jahr – Der Weg war damals nicht so glatt – Er hier schon mal gewesen war.

Jetzt schimmert es von Lichten. Er mußte sich verschnaufen – Da ging dem Mann ein Lichtlein auf: – Er war nicht mehr ganz nüchtern Und hat statt nach Buereau sich Zur Neustadt hin verlaufen.229

228 Ebd. Der Titel »Mombert« ist in der Handschrift unterstrichen. Z. 4: Ein Dichter] Dichter nachträglich eingefügt Z. 5: Und einem Rock, der saß wie ] der saß nachträglich eingefügt. 229 Ebd. Z. 9: Er hier] Er schon Z. 11: nachträglich eingefügt Z. 13: Er war] Er sah Z. 14: Buereau] vorher eingeklammert und unterpungiert Z. 15: Zur Neustadt] Nach Neustadt : Neustadt] eingeklammert und unterpungiert »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 99

Lilienkron: (Nach dem Balle: Setz in des Wagens Finsternis)

Setz in des Autos weiten Bauch Getrost Dein nacktes Bein, Chauffeur nun stürm’ durch Feld und Strauch Tief in die Nacht hinein. – Heut habe ich viel Sekt geschluckt – Nun stille, Kleine, nicht gemuckt – Und neidisch hat der Mond geguckt Die Huppe quäckt so sonderbar. Wir sausen durch die tote Welt… Du schläfst, dein ungekämmtes Haar Mir über Frack und Weste fällt So saß ich stille – nicht gezuckt! – Ich hab mich nicht einmal gejuckt Der Mond hat gelb vor Neid geguckt Da tönt von Ferne Hahnsgeschrei Das Auto stinkt vorbei am Teich Ich sehs: die Ente legt ein Ei Mir wird auf einmal gar so weich – Ich hab mich eng an sie gedrückt Da – plötzlich ist sie von mir weggerückt Der Mann hat uns ins Auto ‘spuckt!230

3.1.1 Parodien auf Detlev von Liliencron, Alfred Mombert und Richard Dehmel – Biographische Deutung der »Dichterväter«

Von den oben genannten drei Vertretern der literarischen Strömungen um die Jahrhun- dertwende ist Detlev von Liliencron der älteste (1844–1909), der zwar von einigen na- turalistischen Lyrikern als ›moderner‹ Dichter hochgeschätzt wurde, in einer breiteren literarischen Öffentlichkeit aber lange Zeit unbekannt blieb. Er wurde erst ab der Jahr- hundertwende, insbesondere anlässlich seines 60. Geburtstages 1904, als moderne Stimme unter dem Epigonentum der zeitgenössischen Lyriker entdeckt. Mit seinem ei- genen lyrischen Ton, der ihn von der gekünstelten Klassizität des Münchner Dichter- kreises um Emanuel Geibel und Paul Heyse ebenso trennt wie von den naturalistischen Anfängen des um fast zwanzig Jahre jüngeren Arno Holz, galt Liliencron zu seiner Zeit als Pionier. Besonders hohe Achtung fand seine poetische Leistung, endlich mit der

230 Ebd. Titel »Lilienkron« unterstrichen Z. 7: der doppelt unterstrichen Z. 8: Die Huppe quäkt] Die Huppe kracht : so sonderbar.] Der Motor kracht Z. 14: der Mond] Der hat g Z. 18f.: der Abstand zwischen den beiden Zeilen wird mit einem wellenartigen Schrägstrich versehen. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 100 klassizistischen lyrischen Sprache der Gründerzeit zu brechen und eine neue Möglich- keit des lyrischen Sprechens erschlossen zu haben:

das was uns […] sofort gefangen nahm: die starke Wirkung bei gänzlichem Ausbleiben jeglichen Li- teraturgeschmacks. Wir alle mußten uns unsäglich mühn, als Hans zu verlernen, was Hänschen ge- lernt hatte, wir waren verschüttet unter Papier, erkannten das und arbeiteten mit Händen und Füßen, um herauszukommen, aber eben das strengte so an, daß es mehr müde als frisch machte. Liliencron war als Literat die Unverbrauchtheit selbst.231

Mit einer ihm eigenen »unmittelbare[n] Natürlichkeit«232 gelingt es ihm, auch der All- tagssprache einen poetischen Reiz abzugewinnen. Es muß wohl diese allgemein herr- schende Anerkennung des Lyrikers Liliencron durch den zeitgenössischen Literaturbe- trieb gewesen sein, die den Dichteranwärter Pinthus zu einer parodistischen Auseinandersetzung mit dem »Dichterbaron« angeregt hat. Als Vorlage seiner Parodie diente Liliencrons Gedicht Nach dem Balle, was Pinthus in der Überschrift deutlich zu erkennen gibt (»Lilienkron: (Nach dem Balle: Setz in des Wagens Finsternis)«).

Detlev von Liliencron, Nach dem Balle

Setz in des Wagens Finsternis Getrost den Atlasschuh! Die Füchse schäumen ins Gebiß, 5 Und nun, Johann, fahr zu! Es ruht an meiner Schulter aus Und schläft, ein müder Veilchenstrauß, Die kleine blonde Comtesse.

Die Nacht versinkt in Sumpf und Moor, 10 Ein erster roter Streif. Der Kiebitz schüttelt sich im Rohr Aus Schopf und Pelz den Reif. Noch hört im Traum der Rosse Lauf, Dann schlägt die blauen Augen auf 15 Die kleine blonde Comtesse.

Die Sichel klingt vom Wiesengrund, Der Tauber gurrt und lacht, Am Rade kläfft der Bauernhund, All Leben ist erwacht. 20 Ach, wie die Sonne köstlich schien, Wir fuhren schnell nach Gretna Green, Ich und die kleine Comtesse.233

231 Ferdinand Avenarius, Lilincron, in: Der Kunstwart 7 (1904) H. 1. S. 229f, hier S. 230. 232 Anton Lohr, Ein moderner Lyriker, in: Anton Loher, Streiflichter auf die Moderne Literatur, Dillin- gen 1900, S. 37f: »Was unsere Dichter von Liliencron lernen können, ist namentlich die unmittelbare Natürlichkeit, das Leben, die Kraft und Frische, die kraftvoll Originelles zu Tage fördert, und dieses innere Leben dann auch in einer entsprechenden, ursprünglichen, allem Gewöhnlichen und Abgedro- schenen abholden Form zur Gestaltung bringt.« 233 Detlev von Liliencron, Werke, hg. v. Benno von Wiese, Erster Band: Gedichte, Epos, Frankfurt/M. 1977, S. 273–274. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 101

Pinthus übernimmt die Strophenform der Vorlage, variiert sie jedoch in der inhaltlichen Gliederung: Während Liliencrons Gedicht aus drei siebenversigen Strophen besteht, macht Pinthus aus drei Siebenzeilern zwei Strophen, die je achtzehn- und dreiversig sind. Die kurze Schlussstrophe folgt der Naturimpression und Schilderung der Gelieb- ten nicht mehr und bricht damit, indem ihr ein drastisches Ende der Schlussstrophe ent- gegengesetzt wird. Ansonsten hält er sich an Liliencrons strenge Reimgebung in den Endreimen: So imitiert er das Reimschema des Referenztextes, in dem für jede Strophe dem Kreuzreim des Quartetts ein Paarreim und ein Refrain des Terzetts (»Die kleine blonde Comtesse«) folgt, lässt aber durch den Strophenumbau den liedhaft schwingen- den Rhythmus der Vorlage nicht zum Zug kommen. Der volksliedhafte Refrain, der im Gedicht Liliencrons strukturbildend an jedem Strophenende wiederkehrt, wird reduziert auf drei Endreime, die jeweils in den Versen 7, 14 und 21 vorkommen:

Und neidisch hat der Mond geguckt (V. 7) Der Mond hat gelb vor Neid geguckt (V. 14) Der Mann hat uns ins Auto ‘spuckt! (V. 21)

Das Metrum der Vorlage, den alternierenden drei- bis vierhebigen Jambus, behält auch die Parodie bei. Ausnahmen sind Vers 18, der letzte der ersten Strophe, wo die alternie- rende jambische Bewegung mit zwei Doppelsenkungen ins Stolpern gerät (»Mir wird auf einmal gar so weich –«), und Vers 20, der mit fünf Hebungen der längste der Par- odie ist. In der metrischen Struktur der Vorlage, dem jambischen Versmaß und der konse- quenten Reimbindung, folgt Pinthus aber unverkennbar Liliencron, der die Parodie sprachlich wie formal prägt. Die Differenzen entstehen inhaltlich, indem Pinthus sie in der Form des Rollengedichts parodiert und die nächtliche Fahrt des lebenslustigen Dichters mit einer »Comtesse« aus eigener Perspektive schildert. Dieser Perspektiven- wechsel aktualisiert die poetischen Natureindrücke einer Kutschfahrt mit einer Gelieb- ten zur Autofahrt in der Moderne und banalisiert sie zu einem heimlichen Liebesaben- teuer. Diese Banalisierung wird zunächst eingeleitet mit den drastischen Ersetzungen von Liliencrons Ausdrücken. So wird im Vers 1 die »Finsternis« für den Innenraum des Wagens durch den »Bauch« »des Autos« ersetzt, der »Atlasschuh« der Geliebten durch das »nackte Bein« und schließlich der »Veilchenstrauß« für die Gräfin aus feiner Ge- sellschaft durch ein Bauernmädchen (»Dein nacktes Bein«, V. 2; »dein ungekämmtes Haar«, V. 10). Der Begabung Liliencrons, exakte Beobachtung und sinnliche Nuancen, wie sie das Gedicht Nach dem Balle charakterisieren und dem Dichter zu poetischem Ruhm verhalfen, widmet sich Pinthus nur an wenigen Stellen wie im Vers 17 (»Ich sehs: die Ente legt ein Ei«). Selbst in seiner Imitation der liliencronschen Naturwahr- »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 102 nehmung, die ganz auf das Momenthafte und Unmittelbare gerichtet ist, weicht er von dessen stilistischer Manier ab, indem er dem impressionistischen, sekundenschnellen Erfassen und Aneinanderreihen der momenthaften Stimmung die expressionistische Simultaneität entgegenstellt:

Chauffeur nun stürm’ durch Fels und Strauch Tief in die Nacht hinein – (V. 3–4)

die Huppe quäckt so sonderbar. Wir sausen durch die tote Welt… (V. 8–9)

Da tönt von Ferne Hahnsgeschrei Das Auto stinkt vorbei am Teich (V. 15–16)

Auch wenn Pinthus hier Liliencrons registrierende Wiedergabe geschärfter Sinnesein- drücke sowie die ihm eigene Saloppheit nachahmt, übertreibt er die sprachlichen Ma- nierismen in übertriebener Weise: Die Burschikosität, die bei Liliencron vorzüglich in der direkten Übernahme der Alltagssprache vorkommt, wird drastischer (»Wir sausen durch die tote Welt«),234 und aus dem sinnenfrohen Andichten der Natur in verknappter

234 Auch in dem Dichtergedicht Heinrich Franz Bachmairs auf Liliencron, In memoriam Detlev von Lili- encron (in: Die Bücherei Maiandros 4/5 (1913), S. 3), die eine Einzeltextparodie auf dessen bekannte Gedicht Tod in Ähren ist, macht Bachmair aus dem heroischen Soldatentod der Vorlage die Bitterkeit des einsam im Feld Sterbenden: In Memoriam Detlev von Liliencron Die holsteinische Heide … Der Abend schleicht her, auf den Fußspitzen, langsam, lautlos, und schmückt Bäume, Sträucher und Gras mit tiefroten glänzenden Schleiern … Dort auf der Erde liegt ein sterbender Offizier. »Warum läßt man mich auf dem Schlachtfelde allein liegen?« Die Flut rillt leis heran, grüßt stumm den Toten und weicht scheu zurück, seinen Schlaf nicht zu stören. − − − Hinter einem Strauch steht der Tod und schlägt mit seiner Sichel sich selbst den morschen grinsenden Schädel ab. Hart fällt er auf einen Feldstein und zerbirst. In die sommermorgenliche Stille der Heide klingt der Hohenfriedeberger. Dann der Torgauer. Fanfaren − drei Salven Amen. Vgl. Detlev von Liliencron, Tod in Ähren (Detlev von Liliencron, Werke. Bd. 1: Gedichte und Epos, hg. v. Benno von Wiese, Frankfurt/M. 1977, S. 185) Tod in Ähren Im Weizenfeld, in Korn und Mohn, Liegt ein Soldat, unaufgefunden, Zwei Tage schon, zwei Nächte schon, Mit schweren Wunden, unverbunden. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 103

Form, welches bei Liliencron noch im konventionellen Rahmen bleibt, wird die expres- sionistische Simultaneität sichtbar, die Disparates gleichzeitig miteinander verknüpft (»Die Huppe quäkt so sonderbar«; »Das Auto stinkt vorbei am Teich«) und die auch sinnliche Wahrnehmung transgrediert. Von Liliencrons Naturschilderung in hergebrach- ter lyrisch-gefühlvoller Weise bleibt keine Spur. Pinthus’ Angriff gegen Liliencron artikuliert sich noch deutlicher in der biographi- schen Deutung des Dichters. So zielt die Parodie auf Liliencrons geheime Liebschaften, welche die eigentliche bildmotivische Kongruenz der beiden Gedichte – nächtliche Fahrt in die Natur bis in die Morgendämmerung – in den Hintergrund drängt. Mit der Darstellung der Geliebten (»Dein nacktes Bein«, V. 2; »dein ungekämmtes Haar«, V. 10) weist Pinthus auf zahlreiche Liebschaften des Freiherrn hin, die überwiegend aus den unteren Bevölkerungsschichten stammten. Das abrupte Ende der Schlussstrophe, in dem er von einem Dritten (oder von dem »Chauffeur«) wegen seiner Lüsternheit be- schimpft wird (»Der Mann hat uns ins Auto ‘spuckt«, V. 21), reißt den verspielten Dichter aus dessen Illusion. Statt in den phantasiereichen Träumen, zu den sich Lilien- cron in Nach dem Balle von den Natureindrücken weiter stimulieren lässt (»Ach, wie die Sonne köstlich schien, | Wir fuhren schnell nach Gretna Green, | Ich und die kleine Comtesse.«, Nach dem Balle, V. 19–21) zu schwelgen, wird er mit der Wirklichkeit konfrontiert. Kritisiert wird damit das ethische Defizit eines Dichters, der stets ver- schuldet war, trotzdem in Gedichten von einem Schloßherrndasein mit Pferden und Hunden und von siegreichen Kriegern träumte und für den die Dichtung nichts anderes als Lebensersatz bedeutete. In seiner Parodie entlarvt Pinthus somit Liliencron als einen naiven Volksdichter, dessen romantische Auslegung von einem dichterischen Selbstverständnis herrührt, das die Welt gleichsam vom Fenster der Kutsche aus sieht und daher eher naiv und unver- bindlich ist als zeitgemäß und ernst. Zu diesem kritischen Urteil bei den jüngeren Ex- pressionisten trugen auch Liliencrons poetische Heroisierung eigener Kriegserfahrun- gen und die spätere dichterische Anerkennung durch die preußische Öffentlichkeit235

Durstgequält und fieberwild, Im Todeskampf den Kopf erhoben. Ein letzter Traum, ein letztes Bild, Sein brechend Auge schlägt nach oben. Die Sense sirrt im Ährenfeld, Er sieht sein Dorf im Arbeitsfrieden, Ade, Ade du Heimatwelt – Und beugt das Haupt, und ist verschieden. 235 Der expressionistische Dichter und Verleger Alfred Richard Meyer, der Benns berühmten Zyklus Morgue und andere Gedichte in eigenen Serien der Flugblätter veröffentlichte, setzt in seinem Dich- tergedicht, das in der Form der Personenparodie den Dichter Liliencron parodiert, diesen mit dem mi- litärischen Konservatismus Preußens fast gleich: »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 104 bei. In dieser Hinsicht zielen die stilistischen Abweichungen in der Parodie Pinthus’ auf die Kritik eines Dichtertypus, welcher ganz in einer Stilmanier aufgeht ohne existentiel- le Deckung, die sich für die expressionistische Avantgarde als ein entscheidendes Krite- rium für das neue Dichterdasein herauszubilden beginnt. Die banalisierende Substitution der Inhalte, wie sie in der Parodie auf Liliencron verwendet wurde, bildet auch in dessen Gegengesang auf Alfred Mombert das wichtige parodistische Verfahren. Hier hat er dessen Gedicht Nur daß ich wachte…, das 36. Ge- dicht aus dem Zyklus Der Glühende aus dem Jahr 1896, interpretiert und macht den pa- rodistischen Charakter seines Gedichts dadurch kenntlich, dass er das Incipit Mombert zitiert (»Mombert: (Der Glühende. Nur Daß ich wachte)«).

Alfred Mombert, Nur daß ich wachte…

NUR daß ich wachte. Nur daß ich eine Fackel trug, die zuckend rot den dunklen Gang beblutete, den steinernen Gang, in dem wir wandelten. 5 O wie ich wachte! O jeder Nerv und jeder Zoll ist wach. Und während ich hieroben gespannt die Wand beschaue, fühl’ ich tiefinnen hinaus – zurück den dunklen Gang! – und weiß auch: ich fühle – weiß selbst, daß ich weiß! – 10 Kristalle – Kristalle – leuchtende Kristalle! – Die Seele erblindet am eignen Glanze!… Der ganze Gang ward von mir ausgewuchert, ist ein Gewächshaus, drin meine Seele haust – ist nichts als Ausdruck! Außenform, 15 die meine Seele launenvoll sich schuf! – Doch damals ward zugleich ewiger Schmerz geboren: ward der Gewalt ihr ewiges »Halt!« geboren:

Bismarck und Liliencron Göttingen. Bürgerstraße. Korpshaus Hannovera. Da oben irgendwo die Silhouette: Otto von Bismarck. Detlev von Liliencron hebt hellen Auges den Pokal voll kalter Ente: »Daß du da bist, gibt meinem Trank besonderes Aroma! Deine Spitznamen: Kindskopf, Kassube, Barribal Knistern aus jeder Perle meines Schaumweins. Eine Leiter her! Ich muß hinauf zu dir, um dir ganz nah zu sein. Jaja, es ist des alten Hardesvogtes alter Mantel! Er wirft dir eine wunderbare Welle deutsches Meer entgegen, Duftige Musik von Immortellen, tausendfach von hohen Ufern. Möwen kreischen silbernen Fluges aus Tiefen auf. Gewimmel von Strandschwalben hebt mich über die letzte Leiterstufe. Hurra! Rest Weg! Fiduzit!« Scherben. Schweigen. Andacht. Niemand wird aus diesem Glas mehr trinken. (In: Romantik 2 (1920), H. 5, S. 2. Auch in: A. R. Meyer, Die Sammlung, Berlin-Wilmersdorf 1921, S. 11.) »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 105

Sie weiß es nicht, warum sie also formte, warum nicht anders… 20 Und wann ich jetzt die blutende Fackel ans Gewölb stieß, wußte ich: Das war in der Seele lange vorher schon getan: Von einer Urhand, die manchmal aus Urtiefen die blutende Fackel ans Gewölb stößt… 25 Und jetzt lausch’ ich dem allerspätesten fernsten Echo… Nur: ich wachte. Sie aber, düster Volk von Männern, magre Weiber, greishafte Kinder schritten schlafend, geschlossene Augen hinter mir, 30 graue Gesichter schmerzlos stumpf, etwas seitlich neigten die schweren Häupter. Nur wann ich manchmal die blutende Fackel ans gewölb stieß, glühende Kohlen brannten auf sie nieder, auf Gesichter schmerzlos stumpf geneigt: 35 Es zuckte leise darunter – ach so leise… Eine Spannung – ach so leise… Ein Wissen, das kaum schon Atmen ist – 40 ach so leise… Das allerfrüheste fernste Glänzen des Bewußt-Seins – ach so leise…236

Im Vergleich zu seiner Einzeltextparodie auf Detlev von Liliencron, in der er sich me- trisch an die Vorlage hält, imitiert Pinthus die Vorlage hier nicht metrisch. Auch im Strophenbau ist keine Parallelität vorhanden. Momberts Gedicht besteht aus zwei lan- gen Strophen mit je 24 und 17 Versen, während Pinthus daraus ein Gedicht mit einer einzigen Strophe aus 21 Versen macht. Stattdessen zitiert er mehrfach wörtlich aus dem Referenztext und gibt dadurch zu erkennen, dass dieser parodiert wird. Leitmotivisch wirkt vor allem die Übernahme des Anfangsverses des Bezugstextes, »Nur daß ich wachte«, der dort jede Strophe einleitet (V. 1 u. 25). Dabei invertiert Pinthus semantisch das Verbum, macht also aus »wachte« »schlief«:

Nur daß ich wachte (Mombert, V. 1 u. 25)

Nur, daß ich schlief… (Pinthus, V. 1) Dadurch wird in Pinthus’ Parodie Momberts visionäre Erfahrung vom Schöpferischen aus dem eigenen Ich auf ein Traumereignis reduziert. In den folgenden Versen rückt nicht Momberts visionäre Welt, sondern er selbst und die Beschreibung des Menschen Mombert in den Vordergrund:

236 Alfred Mombert, Gesamtausgabe in 3 Bänden, Bd. 1: Dichtungen, Gedicht-Werke, hg. v. Elisabeth Herberg, München: Kösel 1963, S. 90–91. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 106

(Denn könnte solches Schreckgesicht wohl wahr sein?) Ein Dichter mit Haar wie Schilf – nur schwarz. Und einem Rock, der saß wie purpurne Schlagsahne – nur schwarz. Und einem Auge tief und düster wie ein totes Faß – nur schwarz, (V. 4–7)

Aber riesengroß mit einer krummen Nase, An der ein kristallklares Tröpfchen hing (V. 11–12)

Seine spärlichen Haare, krumme Nase und tief eingehöhlten Augen – Mombert war sei- nerzeit durch seinen einzigartigen Lebensstil bekannt: Er führte ein zurückgezogenes, einsames Leben und lebte fast vierzig Jahre lang allein in demselben Haus in Heidel- berg, welches von ihm allein bewohnt wurde. Sein Arbeitszimmer in Heidelberg soll wie ein Museum ausgesehen haben. Alte geheimnisvolle Bücher und Lehren waren sei- ne Lust.237 Kosmische Astralmythen interessierten ihn ebenso wie die Formen des jüdi- schen oder indischen Denkens, Nietzsches Thesen ebenso wie die Gnosis. All diese bil- den Momberts symbolische Welt, die in sein Werk eingegangen ist, was dem Zugang zu seinem Werk erschwert. Es gibt sonst noch einige weitere wörtliche Zitate: die drei anaphorisch betonten Substantive »Kristalle« banalisiert Pinthus zu einem kristallklaren Nasenschleim (»ei- ner krummen Nase, | An der ein kristallklares Tröpfchen hing«, V. 11–12). Und »die blutende Fackel«, die in Momberts Gedicht ein Dichter-Führer hält, wird bei Pinthus zu einem »Lämpchen« pervertiert.

Der Dichter trug ein Lämpchen in der Hand Und irrte schwankend – wie ein Hund von 1000 Jahren – In eines unendlichen Urkellers Gewölben. (V. 7–9)

Die »blutende Fackel«, die der Dichter hält und die im Referenztext dreimal vorkommt, wird in der Parodie von Pinthus zum bedeutungslosen »Lämpchen« verballhornt. Das- selbe Verfahren liegt auch dem Diminutiv des »Tröpfchen[s]« zugrunde. In Diminuti- ven entwertet Pinthus bedeutungsvolle Wörter der Vorlage als belanglos und trivial. Auch das »Gewölb« der »Urtiefe«, welches bei Mombert auf den entscheidenden Au- genblick der poetischen Inspiration hindeutet, der geistigen Begegnung mit einem welt- lichen Ursprung, die unmittelbar poetisch in Anschauung umgesetzt werden sollte, wird in eines unendlichen Urkellers Gewölben konkretisiert:

Und wann ich jetzt die blutende Fackel ans Gewölb stieß, wußte ich:

237 Vgl. Clemens Heselhaus, Deutsche Lyrik der Moderne. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache. Von Nietzsche bis Yvan Goll, 2. durchges. Aufl., Düsseldorf 1962, S. 50; Alfred Mombert. Verschol- lene und Vergessene, Eine Einführung in sein Werk und eine Auswahl von Hans Hennecke, Wiesba- den, 1952. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 107

Das war in der Seele lange vorher schon getan: Von einer Urhand, die manchmal aus Urtiefen die blutende Fackel ans Gewölb stößt… (Mombert, Nur daß ich wachte, V. 20–23)

Wie die Diminuierung zielt die Konkretisierung der ursprünglich visionär dargestellten Situation im Referenztext auf deren Trivialisierung. Obwohl Pinthus den Prätext Mom- berts nicht metrisch nachahmt, folgt er im Sprachlichen Momberts Wortmaterial und parodiert zugleich. Aus der Situation des Dichters, der die blutende Fackel hält und den poetischen Augenblick einer Weltschöpfung leitet, wird der Dichter mit einem »Lämp- chen«, aus dessen Schatten komischerweise die Nase tropft. So wird der prophetische Anspruch der Dichters, den Momberts Gedicht erhebt, hier komisiert und ad absurdum geführt. Die Komisierung erfolgt auf dem Wege der semantischen Inversion. Dieses Verfah- ren signalisiert der Eingang des Gedichts durch die Verben »schlafen« (V. 1) und »träu- men« (V. 2). Beide Verben beziehen sich auf die identischen Versenden in der ersten Strophe des Referenztextes: »NUR daß ich wachte.« (V. 1), »O wie ich wachte!« (V. 5) und »O jeder Nerv und jeder Zoll ist wach« (V. 6). Im Momberts Gedicht bleibt aber im Gegensatz zum »wachen« Geist des Dichters die Außenwelt stumm und müde:

Nur: ich wachte. Sie aber, düster Volk von Männern, magre Weiber, greishafte Kinder schritten schlafend, geschlossene Augen hinter mir, graue Gesichter schmerzlos stumpf (V. 25–29)

Einzig wacht und schafft hier der Dichter im Gegensatz zu den anderen Menschen. Pinthus übernimmt auch Momberts Reflexion über die Umwelt (»Die in einsamer Nacht […] | Über der greisen Menschen müden Häupte steht«, V. 14–15) und stellt diese Aus- sage auf den Kopf: »Nur, daß ich schlief… | Und träumte.« Und wie Mombert die Be- deutung des Wachseins durch die dreimalige Wiederholung in der Form des Verbums und des Adjektivs betont, imitiert Pinthus diese identischen Versenden mit der Wieder- holung des Adjektivs »schwarz« an drei Versenden:

Ein Dichter mit Haar wie Schilf – nur schwarz. Und einem Rock, der saß wie purpurne Schlagsahne – nur schwarz. Und einem Auge tief und düster wie ein totes Faß – nur schwarz. (V. 5–7)

»Wach«, »Kristall« und »die blutende Fackel« – Pinthus nimmt also Bezug auf diese drei Wörter, die im Referenztext die mystische und gleichzeitig ästhetisch geprägte Weltanschauung Momberts symbolisieren, und zwar in der überbetonten Form, wie Mombert damit verfährt, um schließlich erkenntlich zu machen, dass er das parodiert. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 108

Mit der Farbmetapher »schwarz« präsentiert Pinthus den Dichter des Glühenden wie ei- nen Toten, da dieser von allem Leben verlassen ist. Dessen Welt ist nur »schwarz«, und »düster«, da sie im dunklen Urkeller liegt: was er sieht, ist nur sein »Schatten«, bedeutet für ihm aber die Welt an sich. Aus dieser Schattenwelt sieht er das Universum und seine Wahrheit. Sie gehört der Nachtwelt, wo all das menschliche Leben schläft. Nur in dieser menschenverlassenen Welt fühlt er sich zu Hause, hier ist auch seine Dichtung angesie- delt. Dementsprechend hält sich seine poetische Vision nur im Licht der Lampen. Sie erhebt sich »hoch« über die Menschen, ist aber »einsam«, weltabgewandt und Schatten halt. Sogar die angebliche Schöpfungskraft ist nur Täuschung. Was er sieht, ist nur eine Scheinwelt, der Schatten, den das kleine Licht eines Lämpchens wirft. Mit dem »Kristall« als »kristallklares [Nasen]Tröpfchen« parodiert Pinthus Mom- berts Vorliebe für Edelsteinmetaphern, die in dessen Gedichten als ein wesentliches Stilelement fungiert, welches die »Vergeistigung«238 des Irdischen in weltlichen Berei- chen anzeigt. Seltene und kostbare Edelsteine wie Saphir, Topas oder Opal und eben Bergkristall signalisieren bei Mombert die kosmischen Welten, die im Gedicht evoziert werden sollen.239 Die »Kristalle« als Imagination künstlicher Gegenwelten, denen ge- genüber das »düster[e] Volk« der irdischen Welt nur »stumpf« bleibt, werden in der Gestalt des Nasentropfens semantisch invertiert unter dem Aspekt des organisch- natürlichen Lebens. Der »blutende[n] Fackel«, die bei Mombert zusammen mit den »Kristalle[n]« die dichterische Schöpfungskraft und -schmerzen evoziert, setzt Pinthus ein »Lämpchen« entgegen, welches der in sich zurückgezogener Dichter im wirklichen Leben in die Hand nehmen würde, wenn er sich in einem dunklen Keller umschauen sollte. Pinthus überträgt das stereotype Pathos von Momberts Metaphern auf triviale Alltagssituation, versetzt den Schauplatz der dichterischen Inspiration von der Halle der »Urtiefen« in die »Gewölbe« eines »Urkellers«. Aus solcher Trivialisierung lässt sich die kritische Absicht von Pinthus erschließen: Momberts Werk bleibe auf sich selbst bezogen, mache allein das eigene Dichtertum zum Gegenstande schöpferischer Reflexi- on, weil es nicht mit dem wirklichen Leben umzugehen wisse. Seine absolute, konse- quente Beschäftigung mit dem Schöpferischen im eigentlichen sei nicht mehr als ein Traum und habe mit dem wirklichen Leben nichts zu tun. Auffällig ist in der Parodie von Pinthus das Moment biographischer Deutung, das sich schon in seiner Liliencron-Bearbeitung abzeichnete. »Schlafrock« und »Urkeller« weisen auf die bekannte Menschenscheu und Weltabgewandtheit Momberts hin. Das

238 Heide Eilert, Die Vorliebe für kostbar-erlesene Materialien und ihre Funktion in der Lyrik des Fin de siècle, in: Roger Bauer u. a. (Hgg.), Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt/M. 1977, S. 435f. 239 Vgl. Alfred Mombert, ebd., S. 422, 471. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 109 sich selbst genügende Dichtertum wird also beurteilt nach dem Kriterium der Dek- kungsgleichheit des Werks mit dem Leben. Dieses expressionistische Dichterverständnis bildet auch in der Parodie auf Richard Dehmel den entscheidenden Prüfstein. Hier versetzt Pinthus das einst von vielen jungen Dichteranwärtern der expressionistischen Generation verehrte Vorbild vom hohen Berg in das Tal der Neustädte herunter. Im Referenztext Die stille Stadt, den Pinthus in der Überschrift angibt, steht der Dichter Dehmel in der Gestalt eines Bergwanderers der unheimlichen Atmosphäre der Stadt im Tal gegenüber und beschreibt sie:

Richard Dehmel, Die stille Stadt

Liegt eine Stadt im Tale, ein blasser Tag vergeht; es wird nicht lange dauern mehr, bis weder Mond noch Sterne, nur Nacht am Himmel steht.

Von allen Bergen drücken Nebel auf die Stadt; es dringt kein Dach, nicht Hof noch Haus, Kein Laut aus ihrem Rauch heraus, kaum Türme noch und Brücken.

Doch als den Wandrer graute, da ging ein Lichtlein auf im Grund; und durch den Rauch und Nebel begann ein leiser Lobgesang, aus Kindermund.240

In seiner Einzeltextparodie imitiert Pinthus Dehmels Gedicht in Strophenform und Me- trik. Beide Gedichte bestehen aus drei Strophen, allerdings verkürzt Pinthus die erste Strophe um einen Vers, aber erweitert dafür die dritte um einen Vers. So bleibt die Verszahl gleich. Dehmels drei- bis vierhebigen Jambus übernimmt Pinthus. Dabei herrscht in der zweiten Strophe durchgehend das vierhebige Versmaß, während im Prä- text nur zwei von den fünf Versen vier Hebungen aufweisen. Auch die Stabreime, die bei Dehmel besonders in der zweiten Strophe konzentriert vorkommen, imitiert Pinthus ebenfalls in der mittleren, und zwar an Versenden und im Vers:

es dringt kein Dach, nicht Hof noch Haus, Kein Laut aus ihrem Rauch heraus, (Dehmel, V. 8–9)

[…] so fremd die Stadt, […] so sonderbar Ihm war als ob vor Tag und Jahr

240 Gesammelte Werke von Richard Dehmel, Bd. 3: Weib und Welt, Berlin 1907, S. 118. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 110

– Der Weg war damals nicht so glatt – […] schon mal gewesen war. (Pinthus, V. 5–9)

Abweichungen von der Vorlage finden eher auf der inhaltlichen Ebene statt: So wird der Referenztext inhaltlich zweigeteilt, und zwar in den ersten Teil mit den ersten bei- den Strophen, in denen von der Perspektive des Wanderers, der vom Berg aus in die Stadt hinunterblickt (»Liegt eine Stadt im Tale«, V. 1; »es dringt kein Dach, nicht Hof noch Haus«, V. 8), die Stadtlandschaft vom nebligen Tal aus geschildert wird, und in den zweiten Teil, also die dritte Strophe, in der die Stimmung des Wanderers und das Laternenlied der Kinder unten im Tal als das Gegenbild zur grauenerregenden Abend- stimmung im kalten Novembernebel im Mittelpunkt stehen. Bei Pinthus ist es der Dich- ter Dehmel selbst, der sich inmitten der Stadt befindet, statt wie in der Vorlage ihr ge- genüberzustehen. Das gibt Pinthus deutlich zu erkennen, indem er seine Parodie mit der Überschrift Dehmel: (Liegt eine Stadt im Thale) versieht. Die Parodie hebt also die in der stillen Stadt Dehmels gebildete Distanz zwischen diesem und der Stadt auf, themati- siert dessen Begegnung mit dem irritierenden Nachtbild einer modernen Stadt (»Doch trüber brennen die Laternen | Die Sterne milder Funkeln«, V. 2–3; »– Der Weg war da- mals nicht so glatt –«, V. 8). Dabei macht er aus dem »Lichtlein« der Laternen in Kin- derhänden die Strassenlaternen, deren Lichter in Morgendämmerung (»Noch liegt die Stadt im dunklen«, V. 1) schimmern und den Dichter zur Irritation treiben. Die polemische Absicht, die hinter der Darstellung Dehmels als eines angesichts des Anblicks der modernen Stadt weltfremden Naiven stecken müsste, lässt sich wohl vor dem Hintergrund der zeittypischen Abwendung von der Großstadt verstehen. Die Groß- stadtkritik setzte nach 1890 auf breiter Front im literarischen Feld ein. An ihren Spitze stellte sich Richard Dehmel mit seinem Gedicht Predigt ans Großstadtvolk (1893). Die Verdammung der Stadt war um 1900 ein allgemeines zeittypisches Phänomen, das sich im literarischen Feld gegen den Stadtkult der Naturalisten richtete. So argumentierte Rilke ganz im Zeichen der zeittypischen Verdammung der Stadt, wenn er in seinem Stundenbuch oft das städtische Dasein zum Gegenstand einer beschwörenden Anklage wählt. Moderne Städte seien der Ort, an dem die Menschen langsam »sterben wie in Ketten«.241 Auch bei den prominenten Vertretern des literarischen Lebens wie Bruno Wille oder Julius Hart, der noch 1882 in seinem Gedicht Vom Westen kam ich… Berlin so enthusiastisch begrüßte, wird die Großstadt zum Inbegriff der Lebensfeindlichkeit der modernen Welt.242 In seinem Gedicht an das Großstadtvolk schafft Dehmel zwi-

241 Rainer Maria Rilke, DENN, Herr, die großen Städte sind…, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 1, hg.v. Rilke-Archiv, Frankfurt/M. 1955, S. 101–102. 242 Vgl. Gunter Martens, Vitalismus und Expressionismus, Ein Beitrag zur Genese und Deutung expres- sionistischer Stilstrukturen und Motive, Stuttgart 1971, S. 83. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 111 schen dem Leben in den Großstädten und dem auf dem Land Gegensätze, wie in seinem Gedicht Die stille Stadt die grauenerregende Anblick der Stadtlandschaft im nebligen Tal dem Naturmensch »Wanderer« entgegensteht:

Richard Dehmel, Predigt ans Großstadtvolk

Ja, die Großstadt macht klein. Ich sehe mit erstickter Sehnsucht durch tausend Menschendünste zur Sonne auf; und selbst mein Vater, der sich zwischen den Riesen 5 seines Kiefern- und Eichen-Forstes wie ein Zaubermeister ausnimmt, ist zwischen diesen prahlenden Mauern nur ein verzaubertes altes Männchen. O laßt Euch rühren, ihr Tausende! 10 Einst sah ich euch in sternklarer Winternacht zwischen den trüben Reihen der Gaslaternen wie einen ungeheuern Heerwurm den Ausweg aus eurer Drangsal suchen; dann aber krocht ihr in einem bezahlten Saal 15 und hörtet Worte durch Rauch und Bierdunst schallen von Freiheit, Gleichheit und dergleichen. Geht doch hinaus und seht die Bäume wachsen: sie wurzeln fest und lassen sich züchten, und jeder bäumt sich anders zum Licht. 20 Ihr freilich, ihr habt Füße und Fäuste, Euch braucht kein Forstmann erst Raum zu schaffen, Ihr steht und schafft Euch Zuchthausmauern – so geht doch, schafft Euch Land! Land! rührt Euch! vorwärts, rückt aus! –243

Die Gegenüberstellung der Gegensätze, die nach Dehmel zwischen dem naturhaften Land- und dem großstädtischen Leben bestehen, bestimmt die ganze Struktur des Ge- dichts: Die Antithese zwischen Land und Stadt wird dargestellt in »groß« und »klein«, »Individuum« und »Masse«, »innen« und »außen«, und schließlich »Freiheit« und »Un- freiheit«. Diese Oppositionen führen zu der schematischen Aussage des Gedichts, dass in der Großstadt alles schlecht sei und in der Natur alles gut. Diese persönliche Über- zeugung gestaltet Dehmel in Bildern, die ebenfalls polarisierend wirken: dem »stern- klar[en]« Nachthimmel auf dem Lande stehen die »trüben […] Gaslaternen« der Groß- städte gegenüber, im Vergleich zu den ins Freie wachsenden »Bäume[n]« erscheinen die Großstadtbewohner wie »ungeheuer[er] Heerwurm«. Der Rückzug aus der Stadt, die Flucht in die ursprüngliche Natur, das weltabge- schiedene Leben auf einer ›Insel der Seligen‹ erscheint dem Autor des Triumph des Le- bens – wie der Mehrzahl seiner Zeitgenossen – als einzige Möglichkeit, der Bedrohung durch Zivilisation und Technik zu entgehen. Daraus schließt der Prediger, dass das

243 In: Deutsche Großstadtlyrik, hg.v. W. Rothe, Stuttgart 1973. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 112

Großstadtleben eine Gefahr für den Menschen bedeutet, und dass die einzige Rettung für die Stadtbewohner darin besteht, aus den Städten zu ziehen und sich auf dem Land niederzulassen (»so geht doch, schafft Euch Land! […] | vorwärts, rückt aus! –«, V. 23– 24). Um dem »Großstadtvolk« diese Botschaft zu übermitteln, verleiht er seinen Worten die Glaubwürdigkeit des Erlebten durch den Hinweis auf seinen Vater (»und selbst mein Vater, | der sich zwischen den Riesen | seines Kiefern- und Eichen-Forstes | wie ein Zaubermeister ausnimmt, | ist zwischen diesen prahlenden Mauern | nur ein verzau- bertes altes Männchen«, V. 4–8). Dazu trägt auch die von ihm gewählte Form der Pre- digt bei: Wie ein Pfarrer von der Kanzel herab appelliert und belehrt er. Sein Standort wird also bestimmt durch die Distanz, hier vom »Großstadtvolk«, dort in der stillen Stadt von der »Stadt«. Pinthus hebt sie aber in seiner Parodie auf, indem er den Apolo- geten für das vitale Leben inmitten der Stadt umherirren lässt. So zweifelt Pinthus an der Behauptung Dehmels in dessen Predigt, dass die Aufforderung zum Rückzug aus der Großstadt eben die Schlussfolgerung aus persönlichen Erfahrungen mit dem Groß- stadtleben sei, und rüttelt daran. Wie es in der Predigt gezeigt wird, verbindet Dehmel, der als der prominenteste Vertreter des vitalen Lebenskultes galt, diesen verstärkt mit der Kritik an der Großstadt. Nach Pinthus ist Dehmels Unbehagen über das moderne Großstadtleben auf dessen mangelnde Bereitschaft und Vermögen, sich damit richtig auseinanderzusetzen, zurückzuführen. Diese Schwäche zeigt sich in der Parodie darin, dass Dehmel in der Wahrnehmung der Fülle und Gleichzeitigkeit der großstädtischen Reize völlig versagt (»Jetzt schimmert es von Lichten. | Er mußte sich verschnaufen –«, V. 10–13) und den Überblick verliert (»Und hat statt nach Buereau sich | Zur Neustadt hin verlaufen.«, V. 14–15). In den Strassenlaternen (»Doch trüber brennen die Later- nen«) wird die Anspielung auf die »trüben Reihen der Gaslaternen« im Predigt ans Großstadtvolk (V. 11) erkennbar. Mit den Parodien auf Mombert und Dehmel setzt sich Pinthus mit dem zeittypischen monistischen Lebenskult auseinander, der sich konsequent von der mit Sensibilität ge- frachteten Stilkunst des Ästhetizismus abwandte und damit im literarischen Feld in der Opposition zur Dekadenz stand. In dem zeitgenössischen vitalen Lebenskult, der eine neue unmittelbare Konfrontation mit der Welt jenseits der skeptischen Reflexion auf- fordert, stellt er zwar eine Alternative zur Produktivität und somit Vitalität gefährden- den Dekadenz des skeptischen Wien dar, aber das so proklamierte Einheitsgefühl mit der Welt bleibt nur ein Erlebnis der Sinne, also ›Stimmung‹,244 die Pinthus in seinen Parodien entweder als einen Mombertschen individuellen Privatmythos interpretiert

244 Vgl. Monika Fick, Sinnenwelt und Weltseele, der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, S. 361f. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 113 oder als eine Dehmelsche Flucht vor der gesellschaftlichen Umwandlung in die Natur.245 Den beiden ist die soziale Unverbindlichkeit gemeinsam, die Pinthus als den Mangel an Bereitschaft, sich dem Leben entschlossen zu stellen, kodifiziert. Dazu wendet er in sei- nen Parodien auf die Vertreter des monistischen Lebenskultes sowie auf Liliencron ein Verfahren an, das als eine Umkehrung von deren poetischen Stilen zu bezeichnen ist: Bei aller Vielfalt der literarischen Richtungen, die im literarischen Feld um die Jahr- hundertwende herrschte, bildet sich die Poetisierung der profanen Wirklichkeit als ein gemeinsamer Zug heraus, und Pinthus’ poetisches Verfahren besteht eben in deren Um- kehrung, also die bereits nach ästhetischen Gesichtspunkten ausgewählten, wie im Traum wahrgenommenen Erscheinungen der äußeren Welt in die profane Welt zu über- tragen und damit zu banalisieren, wie sie in der Inversion des Verbs »wachen« in »träu- men« etwa in der Parodie auf Mombert beispielhaft gezeigt wurde. Pinthus’ Parodien auf die Dichter-Väter der klassischen Moderne veranschaulichen beispielhaft, wie sich die Jüngeren der expressionistischen Generation über die parodistische Auseinanderset- zung mit den ›Dichtervätern‹ dieser zeittypischen Problematik, also der Entkopplung des Ästhetischen von der ethischen Verbindlichkeit, vergewissern und auf diesem Wege zum neuen Selbstverständnis eines expressionistischen Lebenspathos gelangen.

245 Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch der Expressionist René Schickele in seinem Gedicht Groß- stadtvolk (in: René Schickele, Weiss und Rot, 1910 Berlin, S. 116–117), das er als die Antwort auf Dehmels Predigt ans Großstadtvolk schrieb und in dem er das großstädtische Leben als unumgängli- che Wirklichkeit erklärt und im Gegensatz zu Dehmel (»vorwärts, rückt aus!–«) zum Bleiben (»Nein, hier sollt ihr bleiben!«) auffordert: René Schickele, Großstadtvolk Nein, hier sollt Ihr bleiben! In diesen grdrückten Maien, in glanzlosen Oktobern. Hier sollt Ihr bleiben, weil es die Stadt ist, wo die begehrenswerten Feste gefeiert werden der Macht und die blaß machenden Edikte erlassen werden der Macht, die wie Maschinen – ob wir wollen, oder nicht – uns treiben. Weil von hier die bewaffneten Züge hinausgeworfen werden auf mordglänzenden Schienen, die alle Tage wieder das Land erobern. Weil hier die Quelle des Willens ist, aufschäumend in Wogen, die millionen Nacken drücken, Quelle, die im Takte der millionen Rücken, im Hin und Her der millionen Glieder bis an die fernsten Küsten brandet – Hier sollt Ihr bleiben! in diesen bedrückten Maien, in glanzlosen Oktobern. Niemand soll Euch vertreiben! Ihr werdet mit der Stadt die Erde Euch erobern. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 114

3.1.2 Personenparodie auf Stefan George – Parodie auf die ästhetizistische Dichterschule des fin de siècle

In seiner Parodie auf Stefan George handelt es sich um eine Personenparodie, die nicht wie eine Einzeltextparodie auf eine bestimmte Vorlage Bezug nimmt, sondern auf den Dichter George und zugleich auf dessen Werk. Die Überschrift macht schon deutlich, dass hier die dichterische Persönlichkeit Georges im Vordergrund steht, während Pinthus in anderen Dichtergedichten das Incipit des Referenztextes zitiert.

Stefan George

Von meinen müden händen gleiten tropfen Wie rasche rosse meine pulse rasen Wie wilde wächter meine schönen schläfen klopfen In meinem hirne wallen tausend blonde blasen.

Und wie ich auf dem schlanken stuhle einsam sitze Und langsam rühre in dem trüben tranke Wie purpur-blumen blüht in mir nur der gedanke: Ich schwitze!

Metrisch imitiert Pinthus die formale Strenge Georges: Die erste Strophe ist kreuzweise gereimt, die zweite umarmend. Das Festhalten an der strengen Reimgebung in den End- reimen, das für George typisch ist und in seinen Gedichten für eine formale wie inhalt- liche Ausgeglichenheit sorgt, wird damit imitiert. George-Anklänge sind auch in dem Reimpaar »tropfen«–»klopfen« (V. 1 u. 3) zu erkennen, das in dessen bekanntem Ge- dicht aus dem Jahr der Seele, Wir schreiten auf und ab im reichen flitter, vorkommt.246 Im ganzen Gedicht herrscht der alternierende Jambus, dessen strenge Regelmäßigkeit bis auf den letzten Vers beibehalten ist. Die charakteristischen Stilmittel Georges wie die exklusive Art der Interpunktion, die konsequente Kleinschreibung sowie der Reich- tum an Assonanzen und Alliterationen sorgen für einen pathetischen und trotzdem ge- tragenen Ton, der genau dem einzigartigen Stil Georges entspricht und das ganze Ge- dicht beherrscht. Doch der letzte einsilbige Vers, formal wie inhaltlich aus den übrigen fünf- bis sechshebigen Versen heraus, unterbricht den eintönigen Rhythmus und zwingt eine Zäsur auf. Diese fast gewaltsame Brechung ist der äußere Reflex Pinthus’ gegen George, der in der Parodie weniger formal als inhaltlich zum Ausdruck kommt.

246 Vgl. die erste Strophe des Gedichts Wir schreiten auf und ab im reichen flitter (in: Stefan George, GA [wie Anm. 12], S. 122: Wir fühlen dankbar wie zu leisem brausen Von wipfeln strahlenspuren auf uns tropfen Und blicken nur und horchen wenn in pausen Die reifen früchte an den boden klopfen »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 115

Inhaltlich lässt sich die Parodie in zwei Teile gliedern. Die erste Strophe widmet sich ganz der Schilderung von der organischen Reaktion auf das Schwitzen und von deren Empfindungen durch das Ich, während in der zweiten dessen äußere Erscheinung darge- stellt wird. Mit der »purpur-blume« alludiert Pinthus die ikonographischen Elemente des Algabal-Zyklus (»Wie zeug ich dich aber im heiligtume […] Dunkle grosse schwarze blume?«247) und auch des um die Jahrhundert bekannten Eingangsgedicht zum Jahr der Seele, Komm in den totgesagten park. Das Bild des Dichters in der zweiten Strophe, der »auf dem schlanken stuhle ein- sam« sitzt und mit einem gemessenen und ruhigen Gestus »langsam« in einem Getränk rührt, erweckt assoziativ den einsamen Alleinherrschers des »Unterreichs«, Algabal, und das damit verbundene Bild des selbstgenügsamen und einsam-elitären »Dichter[s]«, der selbstgewiss »einsam in dem weiten schattensaal« träumt und »mit seinen geistern die rede tauscht«.248 Diese Herrscherpose des Dichters gerät in Diskrepanz zur Triviali- tät der ersten Strophe, die durch die Darstellung der körperlichen Begleiterscheinungen hervorgerufen wird. Auch der getragene Ton, der durch die strenge Einhaltung des al- ternierenden jambischen Versmasses gewährleistet wird, erscheint angesichts des hier zu behandelnden »unpoetischen« Sujets fehl am Platz. Die banalisierende Substitution des georgeschen Sujets, welches sich vorzüglich dem ästhetischer Gestaltung Würdigen widmet, rückt nicht den Dichter, wie er in der Selbstdarstellung Georges in eigenen Ge- dichten durchscheint, in den Vordergrund, sondern einen Menschen, der kaum einen warmen Sonnenstrahl vertragen kann, gar darunter leidet. Die Empfindungen dieses »müden«, lebensschwachen Menschen stehen in der Parodie Pinthus’ als lyrische Aus- sage im Zentrum, werden direkt in der Ich-Form wiedergegeben (»meine Händen«, »meine Pulse«, »meine…schläfen«, »meinem Hirne«). Die stilistische Kritik erfolgt in Form einer Übertreibung. Pinthus’ Parodie auf George ist angesichts ihrer verhältnismäßig überlangen Verse vor allem als ein Langzei- len-Gedicht anzusehen. Außer dem letzten Vers sind alle einzelnen Verse fünf- bis sechshebig und werden vom alternierenden Jambus rhythmisch beherrscht, dessen strenge Regelmäßigkeit bis auf den abrupten Gedichtsschluss kaum ein Atemholen zu- lässt. Neben der strengen Metrik übertreibt Pinthus ein weiteres Stilmittel Georges. Die Euphonik, für die bei George vor allem die rhythmisch-lautlichen Wiederholungsstruk-

247 Stefan George, Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme, ebd., S. 47. 248 Vgl. Stefan Georges Selbststilisierung im Gedicht Im Park (ebd., S. 10.): Der dichter dem die vögel angstlos nahen Träumt einsam in dem weiten schattensaal… Der dichter auch der töne lockung lauscht. Doch heut darf ihre weise nicht ihn rühren Weil er mit seinen geistern rede tauscht: Er hat griffel der sich sträubt zu führen. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 116 turen von Assonanzen und Alliterationen sorgen, werden in der Parodie überstark her- vorgehoben: Fast in jeder Zeile werden die Wörter durch Alliterationen und Assonan- zen aufeinander bezogen. Doch sorgt bei Pinthus dieses Stilmittel nicht mehr für eine besondere Festigkeit in der formalen wie inhaltlichen Ausgeglichenheit und Ebenmä- ßigkeit, wie es bei George der Fall ist, sondern ruft nunmehr belanglose Lautwiederho- lungen hervor, die kaum noch von einer ebenmäßigen Architektonik zeugen. Pinthus parodiert also die stilistischen Merkmale Georges durch groteske Übersteigerung, die dessen eigentümlichen Stilmittel zu Bedeutungslosigkeiten zersingt. Der destruktive Antrieb, der sich in der parodistischen Übersteigerung ausdrückt, verhilft aber zugleich dazu, die eigene stilistische Eigenständigkeit zu erkennen. Die wenigen Gedichte, welche Pinthus später als Lyriker in expressionistischen Zeitschrif- ten veröffentlichte, sind allesamt langzeilige Gedichte mit unregelmäßigem Versmaß.249 Diese sind also auf seine Auseinandersetzungen mit der herrschenden ästhetischen Norm des Formprimats, wie er sich in der Formstrenge Georges manifestiert, zurückzu- führen. Freilich gelangte Pinthus im Expressionismus kaum zum poetischen Ruhm und widmete sich schließlich allein publizistischen und journalistischen Aktivitäten. Neben der parodistischen Auseinandersetzung mit George zeigt Pinthus’ Parodie in stilistischer Hinsicht noch auffällige Züge. Formal richtet sich seine Parodie zwar gegen Stefan George, doch sind darin auch die stilistischen Manierismen des Ästhetizismus um die Jahrhundertwende, vor allem der Jung Wiener, wiederzuerkennen. Vor allem er- innern die auffällige Häufung von »Wie«-Vergleichen an die polysyndetischen Satzver- bindungen eines Felix Dörmanns oder eines Hofmannsthals:

Wie rasche rosse meine pulse rasen (V. 2) Wie wilde wächter meine schönen schläfen klopfen (V. 3) Und wie ich auf dem schlanken stuhle einsam sitze (V. 5) Wie purpur-blumen blüht in mir nur der gedanke (V. 7) In der zweiten Strophe ist es die Konjunktion »und«, die zusammen mit »Wie« alle Sät- ze der Parodie auf George miteinander verbindet:

249 Vgl. das Gedicht von Kurt Pinthus Das Kabel (in: Das neue Pathos, 1 (1913), H. 5/6, S. 32.): Hingespannt nach Amerika von Europa schwebst du im Ocean, Gedrehter Draht, Wolle und Kupferfäden: ein starres, versunkenes Tau, Du Kabel, zwei Welten bindend; versöhnend wie Vater und Sohn die Frau, Unendlich singend, in schwellendre Flut, ein ewiger Schwan. Millionen rufen durch dich zu Millionen über das Meer, Sie melden Geburten, schicken sich Küsse, bitten um Brot; Fürstn und Bürger lauschen bebend, wenn lautlos du sprichst zu uns her: Völkerschlachten, Bankerott, Überschwemmung, plötzlichen Tod. Dein Wort sprüht schneller als Blitz, springt über Treppen durch Mauern und Tor, Stummes Kabel, von seltsamen Fischen geneckt, himmelhoch von Finster und Fluten Und nur ein ertrunkner, zerfressener Leib lauscht mit knöchernem Ohr, Denn das seltsame Tau, ungerührt, Länder und Städte erschreckt. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 117

Und wie ich auf dem schlanken stuhle einsam sitze Und langsam rühre in dem trüben tranke Wie purpur-blumen blüht in mir nur der gedanke Ich schwitze!

Polysyndeta »und« oder »wie«-Vergleiche sind die bevorzugten Stilmittel des Wiener Ästhetizismus. Sie charakterisieren die Lyrik des jungen Hugo von Hofmannsthal, der in polysyndetischer Reihe wie etwa in Ballade des äußeren Lebens die Welt der Er- scheinungen zusammenzuhalten sucht,250 oder wie in den Terzinen den transitorischen Moment von Sinneswahrnehmungen festzuhalten sucht:

Die Stunden! wo wir auf das helle Blauen Des Meeres starren und den Tod verstehn, So leicht und feierlich und ohne Grauen,

Wie kleine Mädchen, die sehr blaß aussehn, […]251

Pinthus imitiert also die Form des polysyndetischen Nebeneinanders in der Manier Hofmannsthals und illustriert die Sinneswahrnehmungen durch Vergleiche. Auch Apo- siopese, die ebenfalls zu den stilistischen Merkmalen des Wiener Ästhetizismus gehört, findet bei Pinthus übermäßige Verwendung:

Jetzt schimmert es von Lichten. Er mußte sich verschnaufen – Da ging dem Mann ein Lichtlein auf: – (Dehmel, V. 10–12)

Chauffeur nun stürm’ durch Feld und Strauch Tief in die Nacht hinein. – Heut habe ich viel Sekt geschluckt – Nun stille, Kleine, nicht gemuckt – Und neidisch hat der Mond geguckt Die Huppe quäckt so sonderbar. […] Das Auto stinkt vorbei am Teich Ich sehs: die Ente legt ein Ei Mir wird auf einmal gar so weich – (Lilienkron, V. 3–8 u. 16–18)

250 Vgl. H. v. Hofmannsthal, Ballade des äusseren Lebens, in: ders., Gedichte und kleine Dramen, Frank- furt/M. 1977, S. 15: Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben, Und alle Menschen gehen ihre Wege. Und süße Früchte werden aus den herben Und fallen nachts wie tote Vögel nieder Und liegen wenig Tage und verderben. Und immer weht der Wind, und immer wieder (V. 1–7) 251 Hofmannsthal, Terzinen über Vergänglichkeit (II) (ebd., S. 20). »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 118

Nicht nur stilistische Manierismen Hofmannsthals, sondern auch dessen sprachlich be- kannte Wendungen entlehnt Pinthus aus dessen Gedichten, um sie auf seine Parodien auf ›Dichterväter‹ zu verwenden. Hofmannsthals Bezeichnung für das dem Jungen Wien eigenen Dekadenzgefühl oder für die ästhetischen Sensationsmomente, »sonder- bar«,252 imitiert in der Parodie Dehmel und Liliencron:

Dem Mann erschien so fremd die Stadt Und jedes Haus so sonderbar. Ihm war als ob vor Tag und Jahr

– Der Weg war damals nicht so glatt – Er hier schon mal gewesen war. (Dehmel, V. 5–9)

Und neidisch hat der Mond geguckt die Huppe quäckt so sonderbar. Wir sausen durch die tote Welt… (Lilienkron, V. 7–9)

Von Felix Dörmann, neben Hofmannsthal einer der prominentesten Jung Wiener, hat Pinthus in der Parodie auf George den Vergleich abgeborgt: »Wie rasche rosse« (V. 2)

Wie tolle Rosse rasen die Gedanken und sie zerstampfen Dir und mir das Herz (Felix Dörmann, Sensationen 35)

Von meinen müden händen gleiten tropfen Wie rasche rosse meine pulse rasen (Pinthus, Stefan George, V. 1–2)

In seiner Parodie auf Stefan George hat Pinthus also Zitate aus den Werken der promi- nenten Jung Wiener: Er zitiert charakteristische Bilder und Vergleiche und kombiniert sie auch. So richtet sich seine Parodie zwar förmlich gegen Stefan George, aber auch gegen alle George-Anhänger und gegen die Wiener Ästheten – also gegen den Ästheti- zismus der Jahrhundertwende. Pinthus ›schlägt‹ also in der Parodie George, meint aber den gesamten modernen Ästhetizismus. Er präsentiert darin Stefan George schließlich im Licht der dekadenten Problematik um die Jahrhundertwende: Der Dichter beobachtet

252 Vgl. Hofmannsthal, Vor Tag (ebd., S. 10): Und darum sei der Himmel so beklommen Und alles in der Luft so sonderbar. Nun geht die Stalltür. Und nun ist auch Tag (V. 36–38; Hervorhebung v. Verf.) oder: Zu einem Buch ähnlicher Art (ebd., S. 46) Merkt auf, merkt auf! Die Zeit ist sonderbar, Und sonderbare Kinder hat sie: Uns! Wer allzusehr verliebt ist in das Süße, Erträgt uns nicht, denn unsre Art ist herb, Und unsre Unterhaltung wunderlich […]« (V. 1–4; Hervorhebung v. Verf.) »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 119 sich und eigene Empfindungen, bringt so seine distanzierte Haltung zum Leben zum Ausdruck. Darin manifestiert sich eine »Zweiseelenkrankheit« der gesteigerten Nerven- kultur, die als ein Nebeneinander von Anempfinden und Analyse des Gefühls, einer Ichspaltung in Subjekt und Objekt, zu charakterisieren ist. Mit dieser Kritik an Georges ästhetischer Dichterauffassung verknüpft Pinthus auch seinen Angriff gegen dessen sti- listische Antiquiertheit. Das drastische Ende (»Ich schwitze!«) lässt Georges antikisie- rende Sprechweise in einer so trivialen Alltagssituation als völlig unangemessen er- scheinen. Der Form des polysyndetischen Nebeneinanders als Ausdruck des Übermaßes an Reflexion setzt Pinthus eigene knappe und unmittelbare, also expressive Ausdrucks- weise ohne verschnörkelte Attribute entgegen, die keine so lange Verszeile benötigte, um auszusagen, dass man schwitzt.

3.2 Destruktive Überwindung der »Dichterväter« im Zeichen des »Übervaters« Nietzsche – Gottfried Benns parodistisches Dichtergedicht auf Stefan George, Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke (1912)

Wie viele der Expressionisten hat Gottfried Benn sich nicht von Anfang an gegen die traditionelle Dichtung gewandt, sondern zunächst ihre Themen und Ausdrucksformen übernommen. Ein eindruckvolles Zeugnis dafür liefern seine zwei frühen Gedichte, die 1910 in der kulturkonservativen Zeitschrift Die Grenzboten erschienen, Rauhreif und Gefilde der Unseligen. Die beiden Gedichte zeigen, dass Benn keineswegs mit der kri- tisch-revolutionären Opposition gegen Naturalismus, Impressionismus und Symbolis- mus begann, sondern zunächst an den zeitgenössischen Kult des Schönen und des Le- bens anknüpfte.

Rauhreif

Etwas aus den nebelsatten Lüften löste sich und wuchs über Nacht als weißer Schatten eng um Tanne, Baum und Buchs.

Und erglänzte wie das Weiche Weiße, das aus Wolken fällt, und erlöste stumm in bleiche Schönheit eine dunkle Welt.

Gefilde der Unseligen

Satt bin ich meiner Inselsucht, des toten Grüns, der stummen Herden; »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 120

ich will ein Ufer, eine Bucht, ein Hafen schöner Schiffe werden.

Mein Strand will sich von Lebenden mit warmen Fuß begangen fühlen; die Quelle murrt in gebendem Gelüste und will Kehlen kühlen.

Und alles will in fremdes Blut aufsteigen und ertrunken treiben in eines andern Lebensglut, und nichts will in sich selber bleiben.253

In beiden Gedichten ist das Erproben des ästhetizistischen Manierismus unverkennbar, und auch eine Stilform, deren Nähe zum Jugendstil sich nicht verleugnen lässt. Es herrscht ein stimmungsvoller und der Naturlyrik verpflichteter Ton vor, welcher in der Einfühlung des lyrischen Subjekts in einen durch Harmonie, Schönheit und Lebensein- heit geprägten Weltzusammenhang gipfelt. In sinnlichem Wahrnehmen, das die Farbe mit einem taktilen Adjektiv versieht, um den betreffenden Gegenstand zu entgegen- ständlichen und zugleich zu verselbständigen (»Und erglänzte wie das Weiche | Weiße, das aus Wolken fällt, | und erlöste stumm in bleiche | Schönheit eine dunkle Welt«, Rauhreif), und auch in den stilistischen Mitteln wie Distinktion (»Satt bin ich meiner Inselsucht, | des toten Grüns, der stummen Herden;«, Gefilde der Unseligen), wie sie besonders dem frühen Hofmannsthal eigen ist, erkennt man den Einfluss des Wiener Ästhetizismus.254 Noch deutlicher als die ästhetische Manier der Wiener Moderne sind aber die stilistischen Merkmale von Stefan George erkennbar. In Rauhreif ist es der Stabreim in der ersten Strophe, »Baum und Buchs«, der an den Georges »Von birken und buchs« aus dessen bekanntestem Gedicht Komm in den totgesagten park und schau erinnert. Während in Rauhreif die experimentellen Züge mit den Anregungen und Mu- stern, welche bei den prominenten Lyrikern um die Jahrhundertwende zu finden sind, vorherrschen und daher die George-Anklänge verdeckt bleiben, kommen diese in Gefil-

253 Erstveröffentlicht in: Die Grenzboten 69 (1910), Heft 7 (14. Februar 1910), S. 312. Wieder in: Gott- fried Benn, GEF [wie Anm. 146], S. 19. Zu den Frühgedichten Benns vgl. Theo Meyer, Gottfried Benn und der Expressionismus. Unter besonderer Berücksichtigung der Lyrik, in: Gottfried Benn, hg. v. Bruno Hillebrand, Darmstadt 1979, S. 379–408; 381ff; Max Bense, Versuche über Prosa und Poe- sie, Zu Gottfried Benns frühen Publikationen, ebd., S. 59–68; Horst Fritz, Gottfried Benns Anfänge, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 12 (1968), S. 383–402. 254 Die Spuren, welche auf die Nähe des jungen Benn zum Werk Hugo von Hofmannsthals hinweisen, finden sich schon in seinem frühen Prosastück Gespräch (1910). In diesem Dialog über die Möglich- keiten der Literatur werden Verse aus Hofmannsthals Terzinen über Vergänglichkeit zitiert, ohne als konkrete Quelle angegeben zu werden: »Seine Empfindungen sind ganz durchdrungen von dem Ge- fühl des ewigen Flutens und Weitermüssens und Aufsteigens in neue Formen, er weiß, ›d a ß a l l e s gleitet und vorüberrint‹…« (Gottfried Benn, Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 4: Auto- biographische und vermischte Schriften, hg. v. Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1961, S. 185) Vgl. Hugh Ridley, Gottfried Benn. Ein Schriftsteller zwischen Erneuerung und Reaktion, Opladen 1990, S. 60f.; Horst Fritz, Gottfried Benns Anfänge, S. 385f. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 121 de der Unseligen intensiver zum Zug. Das Gedicht ist in der von George bevorzugten Gedichtform aus drei vierversigen Strophen geschrieben und erzeugt mit dem getrage- nen Rhythmus der jambischen Vierheber den erhabenen und pathetischen Ton, der George zu eigen ist. Dazu tragen vor allem die Klangfiguren wie Alliterationen (»Satt«– »Inselsucht«; »schöner Schiffe«; »gebendem | Gelüste«; »Kehlen kühlen«; »ertrunken treiben«) und Anapäst der gleichen Vokalklänge (»Gelüste«–»kühlen«; »aufsteigen«– »treiben«) bei. Aber auch in den der Alltagssprache fremden Archaismen und erlesenen Ausdrücke (»Inselsucht«; »toten Grüns«; »die Quelle murrt in gebendem | Gelüste«; »Kehlen kühlen«) ist der georgesche Stil unverkennbar. Doch gleichzeitig deutet sich schon an, dass sich der Reflex gegen George kaum un- terdrücken lässt. Während das Gedicht Rauhreif mit dem ästhetisierenden Verklärungs- prozess vom Dunklen, Erdhaften hin zur Sphäre des Geistig-Schönen (Erlösung »einer dunklen Welt« in »bleiche Schönheit«) endet, steht im Gefilde der Unseligen die Vital- sphäre dem Bereich der Insel, die als »stumm« und »tot« charakterisiert wird und somit an die »bleiche Schönheit« im Rauhreif erinnert, gegenüber – unverkennbar eine An- spielung auf die im George-Kreis rezipierte Ikonographie der Toteninselbilder von Ar- nold Böcklin. Mit dieser Insel des Leblosen kontrastiert das Wunschbild des »Hafen[s] schöner Schiffe« und des »Strand[es]« »von Lebendem«, also die Bereitschaft, die le- bensferne Inselwelt mit vitalistischem Leben zu füllen. Die inhaltliche Opposition zwi- schen der leblosen künstlichen Schönheit (»des toten Grüns«) und der Sehnsucht nach Leben korrespondiert metrisch mit Tonbeugungen, die im Gegenbild der zweiten Stro- phe einsetzen und den glatten Rhythmus der vorigen Strophe mit Doppelsenkungen be- leben:

Mein Strand will sich von Lébĕndĕn mit warmen Fuß begangen fühlen; die Quelle murrt in gébĕndĕm Gelüste und will Kehlen kühlen.

Anders als es der Titel des Gedichts nahe legt, handelt es sich also weniger um die Land- schaft der »Unseligen« als um den Wunsch des Ich, die artifizielle Lebensferne der ersten Strophe zu überwinden, wenn sich auch das ganze Gedicht formal wie motivisch nicht über die vom großen Vorbild geprägte Konvention hinauswagt.255 Dennoch ist das Ge- filde der Unseligen ein Zeugnis dafür, dass Benn sich früh der beginnenden Diskrepanz zwischen dem Schönheitsideal des Ästhetizismus und dem Leben bewusst war: Ein Aussagesatz eröffnet das Gedicht, dessen prädikatives »Satt«, das durch Inversion be- tont ist, die Unzufriedenheit mit der »Inselsucht« unverkennbar zum Ausdruck bringt;

255 Vgl. Gerhard Sauder, Gottfried Benn: »Morgue und andere Gedichte«, in: Der Deutschunterricht 42 (1990), H. 2, S. 55ff. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 122 die folgenden Strophen illustrieren die Wunschwelt des Ich und begründen sie mit der Unvereinbarkeit von der ästhetischen Lebensferne mit dem Leben (»und nichts will in sich selber bleiben«). Ein weiteres Gedicht, Herbst, das wohl vor Morgue und andere Gedichte entstanden ist und somit zur frühen lyrischen Phase Benns gehört, liefert weitere Hinweise darauf, dass Benn sich in dieser Zeit »in einem poetischen Spannungsfeld zwischen Konvention und eigenständigen Neuansätzen«256 befindet und sich dabei vor allem mit dem großen Vorbild George poetisch auseinandergesetzt hat, bevor Morgue und andere Gedichte erschien. Herbst

Todstumme Felder an mein Dorf gelehnt. Vereinzelt trösten Wegwart und Skabiose. Indes am Zaune sich zur Erde dehnt blütenverwaist, rankenden Zweigs die Rose.

Nirgend mehr Purpur oder junge Glut. Nur in der Georginen Sehnsuchtsaugen brennt noch des Sommers wundervolles Blut. Bald wird auch dies die Erde in sich saugen. −257

Das Gedicht, das in einer Königsberger Zeitung veröffentlicht258 wurde, ist ein Herbst- Gedicht, das das Motiv des Herbstes in einer Weise variiert, die an das bekannteste Herbstgedicht Georges, Komm in den totgesagten park und schau:, erinnert. Es fehlen zwar hier die Reimwörter, die auf die des Referenztexts eindeutig Bezug nehmen und sie in parodistischer Weise substituieren würden. Aber in sprachlicher wie thematischer Hinsicht zeigt Benns Gedicht manche Elemente, die eindeutig für den parodistischen Charakter des Gedichts sprechen. So scheint das Eingangsgedicht zum Jahr der Seele zunächst dort auf, wo es metrisch imitiert wird. Das Reimschema des Park-Gedichts (»schau«–»blau« / »gestade«–»pfade«) wird übernommen, die Kadenz in den beiden Strophen ist im Kreuzreim verfasst.

Komm in den totgesagten park und schau: Der schimmer ferner lächelnder gestade, Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade.259

256 Huber-Thoma, Lyrische Novitäten, 1986, S. 268. 257 Das Gedicht wurde erstmals veröffentlicht in: Junge Dichtung. Gesammelt von Walther Heymann. Sonntagsbeilage der Königsberger Hartungschen Zeitung Nr. 564 vom 1. Dezember 1912. Vgl. auch Harald Steinhagen, Herbst. Ein frühes Gedicht Gottfried Benns, in: P. Raabe u. M. Niedermayer (Hgg.), Gottfried Benn. Den Traum alleine tragen. Neue Texte, Briefe und Dokumente, Wiesbaden 1966, S. 7–10. 258 Dieses Gedicht gehört zu den Gedichten junger Lyriker, die die Königsberger Hartung’sche Zeitung vorstellte. Vgl. Gerhard Sauder, S. 57f. 259 Stefan George, GA II, S. 121. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 123

Es wechseln sich hier wie dort in der jeweiligen Strophe ein männlicher und ein weibli- cher Reim (»Gelehnt«–»Skabiose«–»dehnt«–»Rose«) ab. Auch den jambischen Fünf- heber des Park-Gedichts imitiert Benn, wenn auch die alternierende metrische Bewe- gung in der zweiten Strophe das Gleichgewicht verliert und stolpert. Insgesamt zeichnet sich das Gedicht jedoch durch einen ruhigen Rhythmus und getragenen Ton aus, der schließlich durch die schwebende Betonung zu Anfang der ersten Strophe eingeleitet wird (»Tódstúmme Félder án mein Dórf geléhnt«), wie im Herbst-Gedicht Georges (»Kómm ín den tótgeságten párk und scháu:«; »Dórt nímm das tíefe gélb . das wéiche gráu«). Auch thematisch imitiert Benn das dichterische Sujet des Referenztexts: den ›Herbst‹. Es ist eine Art »Paraphrase« der Vorlage, und zwar aus einer eigenen Perspek- tive: Der eigene Standort (»mein Dorf«) wird artikuliert und zugleich abgegrenzt gegen die Perspektive des Park-Gedichts als Enklave des Schönen. In dieser Hinsicht ist das Gedicht auch die weitere Auseinandersetzung mit der Thematik der »Inselsucht« aus Gefilde der Unseligen und deutet auf deren Konsequenz hin. Im Gefilde der Unseligen war mit dem Einwand gegen die »Inselsucht« die Klage gegen die Enklave des Schönen gerichtet. »Tod« und »stumm« waren die Attribute der abgeschlossenen Welt des Schö- nen :

Satt bin ich meiner Inselsucht, des toten Grüns, der stummen Herden;

Die Attribute »tod« und »stumm« werden übertragen auf das Profil des georgeschen Parks, der eine vom Leben abgeschottene Enklave ist: »Todstumme Felder an mein Dorf gelehnt«. In »todstumm« kann man auch einen Zusammenhang mit der bekannten, pro- vokativen Äußerung Georges, »totgesagt«, herstellen. Seine Ablehnung des ästheti- schen Konzepts von George wird quasi zur treibenden Kraft, das Gedicht wird dement- sprechend mit dem provokativen Urteil »todstumm« eingeleitet. Es zeigt sich in Herbst, dass die herbstliche Stunde weiter vorangeschritten ist und sich der »totgesagte Park« in die »todstummen Felder« verwandelt hat. Die dort noch nicht ganz verwelkten »späten rosen« haben in Benns Gedicht bereits ihre Blüten verloren. Auch die Blumen wie »Wegwart« und »Skabiose« können diesem natürlichen Verfallsprozess nicht standhal- ten und gehören selbst zu diesem öden Landschaftsbild. Sie können ihre bescheidene Blütenpracht nicht mit ihren ausgesuchten und fremdklingenden Namen wettmachen. Sie dienen dazu, Georges Auslese bei der Wortwahl zu imitieren und zugleich dessen Unangemessenheit angesichts des öden Spätherbstbildes zu zeigen. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 124

In der Vergewisserung des natürlichen Verfallsprozesses im Spätherbst, die nun in der zweiten Strophe der Darstellung der öden spätherbstlichen Landschaft der ersten folgt, findet ein Übergang von der realistischen Ebene zu einer abstrakten statt:

Nirgend mehr Purpur oder junge Glut. Nur in der Georginen Sehnsuchtsaugen brennt noch des Sommers wundervolles Blut.

Angespielt wird hier mit »Purpur« auf den fast wundervollen Naturvorgang, der sich in der ersten Strophe des Park-Gedichts von George abspielt:

Komm in den totgesagten park und schau: Der Schimmer ferner lächelnder gestade . Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade.

Das »unverhoffte blau« der Wolken, das in Georges Gedicht wiederentdeckt wird, wird parodiert mit dem »wundervolle[n] Blut«, das in den »Sehnsuchtsaugen« der »Georgi- nen« brennt. Den georgeschen Farbwert, der in den ästhetizistischen Wahrnehmungs- muster registriert wird, verkörperlicht Benn in dem Bild des »Bluts«. Und während Georges Herbstgedicht noch auffordert, den »purpur« zu sammeln, wird bei Benn doch der »purpur« negiert: »Nirgend mehr Purpur«. Bei George heißt es: »Vergiss […] nicht | Den purpur«. Insofern könnte man sagen, dass es sich im Herbst eigentlich um einen Widerruf von Georges Herbstgedicht handelt. Während George in seinem Herbstgedicht die spätherbstliche Jahreszeit noch als den Höhepunkt des Ästhetischen feiert, indem er darauf hin heraufschwört, dass sich die Natur noch in einer reichen Dekadenz befinde, ist bei Benn der Herbst »tot« und »stumm«: Die Blumen sind »blütenverwaist«, und der »purpur« wird ausdrücklich negiert. Der »Purpur« des vergangenen Sommers ist nur noch in den Augen der Dahlien wach, und wenn man den Blumennamen (»Georginen«) als eine Parodie auf den paronomastischen Dichternamen »George« liest, ist dann der abrupte Übergang von der realen Landschaftsbeschreibung der ersten Strophe zum ab- strakten Farbwert (»Purpur«) und Begriff (»junges Glut«) am Anfang der zweiten Stro- phe nur noch vor der Folie des ästhetischen Programms von George in Komm in den totgesagten park und schau: zu verstehen. Mit dem »Purpur« spricht Benn also auf »um die ranken wilder reben« im bekannten Park-Gedicht des Vorbildes an und schließt sich damit an eines der ikonographischen Elemente dieses Gedichts an. Der bewusst für die Dahlien gewählte seltene Name Georgine ist nicht nur die parodistische Anspielung auf die Vorliebe Georges für seltene Wörter,260 sondern auch ein verschlüsselter Hinweis

260 So etwa in Die gärten schliessen aus dem Zyklus Algabal greift George vorzüglich auf die Herbst- blumen mit fremdklingenden Namen zurück, um die Bedeutung der späten Stunde und der Todesnähe zu evozieren: »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 125 auf dessen Eingangsgedicht zum Jahr der Seele: Nur die Dahlien, die Georginen als ›Königin des Herbstes‹, erweisen sich als ein letzter Abglanz des Sommers, der in Kür- ze ebenfalls schwinden wird, wenn sie auch glauben, sich dem Prozess des natürlichen Kreislaufs verschließen zu können. Diese künstlerische Überzeugung vertritt George eben im genannten Gedicht: Es sollte ihm noch einmal gelingen, die spätzeitliche Stun- de aufzuheben und den Sommer augenblicklich zurückzubringen, indem die leidvolle Erfahrung vom Sterben der Natur zum Anlass künstlerischer Schöpfung gesteigert wird. Der Bezug des Blumennamens auf George ist somit mehr als bloss »spekulativ«,261 zu- mal Benn bei der paronomastischen Verwendung des Blumennamens »Georgine« für den Dichter George kein Einzelfall bleibt. So trägt etwa Die Verkündigung, der satiri- sche Text des Expressionisten Carl Einstein, den dieser anlässlich des Ersterscheinens der Zeitschrift des George-Kreises Das Jahrbuch für die geistige Bewegung schrieb, im Entwurf den ironisch gemeinten Untertitel »Georginen und andere Blumenstücke«, der nachträglich gestrichen wurde.262 Diese Satire spricht für den »Wandel in der Beurtei- lung der Dichtung und Kunsttheorie Georges«,263 den Einstein als »das zwischenzeitli- che Vorbild« betrachtete,264 weil dieser jenen einerseits einmal als Überwinder der De- kadenz gefeiert, andererseits aber aufgrund von dessen rigider Kunstauffassung und der sich immer stärker aufdrängenden Frage nach sozialer Verbindlichkeit mit immer mehr Skepsis (»dilettantische Mythenproduzenten«) betrachtet hatte.265 In diesem Sinne ist Benns Gedicht Herbst als Distanzierung vom einstigen Vorbild George zu betrachten, eben als eine Parodie auf dessen ästhetische Verklärung und Idealisierung des Herbstes. Die Aussage des Gedichts läuft darauf hinaus, es gebe den schönen Herbst nur noch in der »Georginen Sehnsuchtsaugen«, das heißt in Georges Ästhetik, aber nicht mehr in der expressionistischen Ästhetik Gottfried Benns. So gese- hen ist das Gedicht eine sehr verborgene Parodie, denn es bewegt sich in sehr konven- tionellen Bahnen und gestaltet in der Darstellung einer melancholischen Abschieds- stimmung im Sommer bereits vorhandene Muster nach. Nur für den eingeweihten Leser

Graue blätter wirbeln nach grüften. Dahlien levkoien rosen In erzwungenem orchester duften Wollen schlaf bei weichem moosen. (GA II, S. 48) 261 So kritisiert Günter Heinz Manfred Durzaks Bemerkung, dass im gewählten Namen der Dahlien die Anspielung auf den Meister enthalten sein könnte (Manfred Durzak, Zwischen Symbolismus und Ex- pressionismus. Stefan George, Stuttgart u. a., 1974, S. 135), als »reizvolles Aperçu«. Vgl. Günter Heinz, S. 159. 262 Vgl. Klaus H. Kiefer, Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschich- te der europäischen Avantgarde, Tübingen 1994, S. 69 u. 80. 263 Heidemarie Oehm, Die Kunsttheorie Carl Einsteins, München 1976, S. 134. 264 Vgl. Kiefer, ebd. 265 Vgl. ders., S. 71 u. 80. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 126 ist es auf den zweiten Blick als eine deutliche Absage an das Gedicht komm in den tot- gesagten park und schau: erkennbar. Die Gewissheit des Endes, die im Abschlussvers (»Bald wird auch dies die Erde in sich saugen −«) erkennbar wird, bildet weiterhin den entscheidenden Antriebsmoment für den Bruch Benns mit der ästhetischen Tradition und Konvention und kommt dann in einer übersteigerten Form in dem Gedicht Mann und Frau gehen durchs Krebsbaracke zum Ausdruck, das 1912 veröffentlicht wurde und als Durchbruch Benns zum expressionistischen Stil gilt. Von der Gewissheit im Herbst geht Benn in der Krebsbaracke noch einen radikalen Schritt weiter und verwan- delt die Übergangsschönheit zum Verfall. Seine Parodie auf Georges programmatisches Herbstgedicht ist eine brutale Demolierung von dessen ästhetischen sowie weltanschau- lichen Konzept.

Gottfried Benn, Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke

Der Mann:

Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße und diese Reihe ist zerfallene Brust. Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

Komm, hebe ruhig diese Decke auf. 5 Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte das war einst irgendeinem Mann groß und hieß auch Rausch und Heimat.

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust. Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten? 10 Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht. −

Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern. Kein Mensch hat so viel Blut.− Hier dieser schnitt man erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß. −

15 Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen sagt man: Hier schläft man sich gesund. – Nur sonntags für den Besuch läßt man sie etwas wacher. −

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal 20 wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht. −

Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort. Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft. −266

266 Das Gedicht wurde erstmals in Morgue und andere Gedichte, im März 1912 veröffentlicht. Wieder- abdruck in: GEF, S. 28. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 127

Stefan George, Komm in den totgesagten park und schau:

Komm in den totgesagten park und schau: Der schimmer ferner lächelnder gestade, Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade.

5 Dort nimm das tiefe gelb, das weiche grau Von birken und von buchs, der wind ist lau, Die späten rosen welkten noch nicht ganz, Erlese küsse sie und flicht den kranz,

Vergiss auch diese letzten astern nicht, 10 Den purpur um die ranken wilder reben Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.267

Während Herbst seinen parodistischen Charakter überwiegend in der inhaltlichen Imita- tion von Motivik und Sujet gewinnt, stellt das später entstandene Gedicht Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke eine parodistische Nachbildung im Sinne einer all- gemeinen Imitation von Motivik, Metaphorik, Vokabular und Prosodik Georges dar. Metrisch betrachtet lässt der hohe Grad der Verwandlung die Vorlage nahezu ver- gessen. Während das Eingangsgedicht zum Jahr der Seele aus drei vierversigen Stro- phen besteht, zeigt Benns Parodie eine eigenständige Strophenform. Bis zur vierten Strophe, die genau die Mitte des Gedichts bildet, wechseln sich eine dreiversige Strophe und eine vierversige ab. Die folgenden drei Strophen unterscheiden sich mit ihrer drei- versigen Strophenform von den vorangegangenen, und so wird eine zweiteilige Struktur erkennbar: Die Strophen 1 bis 4 bilden den ersten Teil und zeigen Parallelen zum Ge- dicht von George, während die Strophen 5 bis 7 mit ihrer eigenständigen Strophenform fast den Eindruck eines Bruchs vermittelt. Die auffälligste Abweichung von der Vorlage besteht in einem konsequenten Reimverzicht. Von dem kunstvollen Reimschema268 des Herbstgedichts ist keine Spur geblieben. Die Strophen 1 bis 4 imitieren sprachlich und stilistisch auffällige Figuren und Wen- dungen aus dem bekanntesten Gedicht des Jahrs der Seele269. Benns Parodie imitiert die Form des Rollengedichts, wie sie im Prätext vorkommt. Analog dazu bleibt die Frau im

267 Stefen George, GA II, S. 121. 268 Die Reimfügung in Komm in den totgesagten park gibt die Zusammenhänge des ästhetischen Pro- gramms Georges kunstvoll wieder. Der Kreuzreim in der ersten Strophe bringt das Miteinanderver- flochtensein von Naturphänomenen zum Ausdruck, die paarweise Reimfügung in der zweiten Strophe bildet ab, was vor dem poetischen Eingreifen des Dichters noch getrennt war, schließlich geben die umschließenden Reime in der dritten Strophe das Bild des Kranzes selbst wieder. Vgl. Rupert Hir- schenauer u. Albrecht Weber, Wege zum Gedicht, München u. Zürich, 7. erw. Aufl. 1968, S. 269f. 269 Vgl. Peter Rühmkorf, Strömungslehre 1, Reinbek 1978, S. 153; Michael Winkler, Benn’s Cancer Ward and George’s Autumnal Park: A Case of Lyrical ›Kontrafaktur‹, in: Colloquia Germanica 13 (1980), S. 258–264. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 128

Gedicht Benns sprachlos wie das Gegenüber Georges. Imitiert wird auch die getragene, fast vornehme Sprache der Vorlage, die nicht zuletzt durch schwebende Betonungen an Versanfängen zustande kommt:

Komm in den totgesagten park und schau: […] Dort nimm das tiefe gelb […]

Auch bei Benn tragen schwebende Betonungen dazu bei, dass der gesamte Ton getragen erscheint und nicht in eine aufdringliche, auffordernde Tonlage gerät, was auch durch das auftaktige Verseinsetzen gewährleistet wird.

Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße […] Komm, hebe ruhig diese Decke auf. Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte […] Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust. Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten? Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht. −

Nicht nur in metrischer Hinsicht (»Schwebung«) findet der Eingangsvers Georges Re- sonanz: Um das imperativisch beschwörende »Komm« zu voller Wirkung zu bringen, setzt Benn mit einer schwebenden Betonung ein und erinnert so nicht nur an die signifi- kante Parallele zwischen Inhalts- und Ausdrucksform. In beiden Texten wird appelliert, die Dopplung des Imperativs (»Komm, hebe«, V. 4; »Komm, sieh«, V. 8) deutet den Bezug auf Georges Gedicht an, woran Benn offensichtlich gelegen sein muss. Beiden Texten ist ein – bei Benn wiederum forcierte – imperativisch-deiktische Gestus eigen. Benns Gedicht ist auch im Aufbau der Strophen parallel konstruiert. Im totgesagten park waren plötzlich Schimmer, Helle und Buntheit da. Der Dichter findet in der erster- benden Natur noch so viel Leben und Farbe, dass er daraus ein schönes Bild formen kann. Die fernen himmlischen Gestade wirken erhellend auf das Irdische, und wilde Lebenskraft wird in den Kranz gewunden. Von dem fernen lächelnden Gestade geht ein Schimmer aus, von den Ranken wilder Reben her leuchtet der Purpur auf. Das unver- hoffte Blau der reinen Wolken findet seine Entsprechung in dem grünen Leben in der Schlussstrophe, das im Herbst ebenso überraschend ist wie das Himmelsblau. Gerade diese Beobachtungen zeigen den Sinn der Beziehung zwischen der ersten und der drit- ten Strophe besonders deutlich: Das, was der Dichter dort gesehen hat, wird hier im Ge- bilde des Kranzes festgehalten und bewahrt. Oder kann man die Zusammenhänge um- kehren: Der Dichter hat aus sich heraus eine Herbstvision geschaffen, für ihn ist der Naturvorgang nur ein Zeichen, das die aus seiner Seele erwachsende Möglichkeit be- legt. Diese Parallelität zeigt sich auch strukturell: In der ersten Strophe stehen die Sub- »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 129 jekte im zweiten (»Der schimmer«) und dritten Vers (»unverhofftes blau«) und im drit- ten Vers das Objekte an den entsprechenden Stellen (»Den purpur«, V. 10; »was übrig blieb von grünem leben«, V. 11). Das Verbum am Anfang des vierten Verses ist in der ersten Strophe ein Indikativ (»Erhellt«), in der dritten ein Imperativ (»Vergiss«). Im er- sten Vers der beiden Strophen, der jeweils mit einem Imperativ beginnt, fallen Vers- und Satzende zusammen (»Komm in den totgesagten park und schau:«, V. 1; »Vergiss auch diese letzten astern nicht«, V. 9). Diesen bedachten Aufbau des Referenztextes imitiert Benn ebenfalls. In der Krebsbaracke bilden die erste und die vierte Strophe ei- nen Teil des Naturvorgangs und die zweite und die dritte den des menschlichen Tuns: Was in der ersten und vierten gesagt wurde, soll in der zweiten und dritten bestätigt werden durch aktives Wahrnehmen (»Komm, sieh«; »Fühl ruhig hin«). In der zweiten und dritten Strophe, die beide vom Imperativ eingeleitet werden, fallen im ersten Vers Vers- und Satzende zusammen, wie es am Anfang der ersten und dritten Strophe des Referenztextes der Fall ist:

Komm in den totgesagten park und schau: […] Dort nimm das tiefe gelb . das weiche grau […] (Komm in den totgesagten park und schau, V. 1; 5)

Komm, hebe ruhig diese Decke auf. […] Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust. […] (Krebsbaracke, V. 4; 8)

George veranschaulicht in der zweiten Strophe den Vorgang des schöpferischen Han- delns des Dichters. Der Gnadenaugenblick, der im »totgesagten park« dank des im Herbst nicht mehr zu erwartenden Sommerblaus (»Der reinen Wolken unverhofftes blau«) erlebt wird, gibt dem Dichter den Anstoß zur Schöpfung. Das Suchen und Sinnen beim Brechen von Zweigen und Blumen wird als ein bedachtsamer Akt dargestellt, der dadurch sinnfällig gemacht wird, dass nach jeder Handlung eine Pause entsteht (»Dort nimm das tiefe gelb . das weiche grau . | Von birken und von buchs . der wind ist lau .«). Die kommen mit ähnlicher Wirkung auch in Benns Parodie zum Ausdruck. In jeder Strophe des ersten Teils führen Zäsuren dazu, dass sie im Zusammenwirken mit schwe- benden Betonungen am Strophenanfang ein getragenes Sprechen erzeugen und so den Durchgang der Verfallsstationen in der Krebsbaracke als einen bedachtsamen Akt er- scheinen lassen. Dies zeigt sich besonders in der dritten Strophe deutlich, die das dich- terische Handeln von »Nehmen«, »Erlesen«, »Küssen« und »Flechten« im Park- Gedichts mit den Wahrnehmungsakten von Sehen und Fühlen ersetzt:

»Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 130

Dort nimm das tiefe gelb . das weiche grau Von birken und von buchs . der wind ist lau . Die späten rosen welkten noch nicht ganz . Erlese küsse sie und flicht den kranz . (Komm in den totgesagten park und schau, V. 5–8)

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust. Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten? Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.− (Krebsbaracke, V. 9–11)

Wie George die Unterbrechung durch die Zäsuren dazu nutzt, das, was in der ersten Strophe erlebt wird, in der Natur sich widerspiegeln zu sehen und somit das Gesehene zu bestätigen, legt Benn hier in der dritten Strophe hinter jedem Satz eine Pause ein, um sich der Feststellung der ersten Strophe von den »zerfallene[n] Schößen und Brust« nachdrücklich vergewissern zu lassen. So ist die Resonanz der georgeschen Dreiteilung − Naturgeschehen, menschliches Tun und Kunstaktivität − in Benns Parodie nicht zu übersehen. Wie im Park-Gedicht das Geschehen in der ersten Strophe und das Handeln des Dichters in der dritten Strophe einander entsprechen, bestätigen in der Krebsbarak- ke die Strophen zwei und drei die Aussagen der sie einrahmenden beiden Strophe. Inso- fern kann man sagen, dass Benns Gedicht wenigstens bis zur Strophe vier die charakte- ristischen Züge des Referenztextes auf formaler Ebene imitiert und diese parodistische Nachahmung auf eine parodistische Absicht schließen lässt. Und Benns Parodie zeugt von einem ausdrücklich destruktiven Antrieb. Er reicht bis zur Mitte des Gedichts, also Strophe vier, und folgt dem Referenztext, nämlich den Sta- dien der Vollendung des georgeschen ästhetischen Konzepts im Park-Gedicht. Die erste Strophe bildet die Antwort auf die des Referenztextes, und die lautet, dass solcher wun- derlicher Naturvorgang und das damit verbundene dichterische Erlebnis nie und nimmer möglich seien. Benns Gedicht fängt mit dieser Antwort an, sucht in den folgenden Stro- phen, sie zu verifizieren. Der erste Teil, in dem Benn Georges stilistische Eigenheiten – den ruhigen, getragenen Ton und Rhythmus und die erhabene Pathetik – konzentriert, dient vor allem dazu, die Widersprüchlichkeit von dessen ästhetischen Konzept und ge- künstelten Manier hervorzuheben und sie schließlich als bloßen Unsinn zu decouvrie- ren. Hier erfolgt dies inhaltlich und stilistisch. In letzterer Hinsicht hat Benn es vor al- lem auf die getragene Pathetik des Georgeschen Tons abgesehen, welchen George im totgesagten park künstlerisch anspruchsvoll zur Schau stellt. Dies ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass in der Krebsbaracke der apodiktische Gestus als eines der auffällig- sten Stilmerkmale Georges durch die anaphorisch betonten Imperative und Deiktika in den Vordergrund gerückt und damit überbetont wird. George setzt an den Anfang des Gedichts einen Imperativ, durch den sowohl der Leser als auch die begleitende Freun- din aufgefordert werden, zum Schauplatz des Geschehens zu kommen, und leitet so mit »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 131 gebieterischen Zurufen die schlichte Handlung des Kranzwindens Schritt für Schritt ein. In der Krebsbaracke leiten die anaphorisch betonten Imperative die zweite Strophe und die dritte ein, in denen der deiktische Gestus Georges eine noch forciertere Form erhält. Dazu verwendet Benn vor allem die Nahdeiktika wie »hier« und »diese«, die ihm dazu dienen, George an Authentizität zu übertreffen. Die lokale Deixis »hier« wirkt dank der temporal deiktisch wirkenden Präsenzform (»Hier diese Reihe sind«, »und diese Reihe ist«) stark performativ. Bei George hat das betonte »Dort«, das wie das »Komm« des ersten Verses in der Senkung des ersten Jambus steht, das gleiche Gewicht wie »Komm« und »schau«, und dadurch wird der wundervolle Naturvorgang in der ersten Strophe mit dem Geschehen der zweiten und dritten bedeutungsvoll verknüpft. George verbindet also den Naturvorgang mit menschlichem Tun und weist darauf hin, dass »Dort«, in dem »totgesagten park«, der Kranz gewunden werden soll.

Komm in den totgesagten park und schau: […] Dort nimm das tiefe gelb . das weiche grau Von birken und von buchs . der wind ist lau . Die späten rosen welkten noch nicht ganz . Erlese küsse sie und flicht den kranz .

Benn imitiert diesen deiktische Gestus Georges. Aber bei ihm erzeugt die Überprägnanz der Deiktika eine intensive Nähe zur »Krebsbaracke« als Ort des Geschehens und be- wirkt zugleich – mit dem Fortschreiten der Lektüre – den Eindruck einer szenischen Vergegenwärtigung. Die Frage, die dadurch im Lauf des Gedichts immer wieder aufs Neue gestellt wird, ist, ob es in dieser Krebsbaracke immer noch möglich ist, einen »Rosenkranz« »im herbstlichen gesicht« zu flechten. Sie beantwortet sich, scheint mir, über die Art und Weise, wie die georgesche Ästhetik der Übergangsschönheit an die er- barmungslose Maschinerie des physischen Lebens aufgeliefert wird, von selbst. Und zugleich wird somit deren widersprüchliche Charakter sichtbar gemacht. Georges ästhe- tisches Programm, in der Kunst die ideelle Schönheit aus den Elementen der Natur nachzugestalten, muss angesichts der Omnipräsenz des physischen Verfalls scheitern. In »Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht−.« parodiert Benn Georges künstlerische Anweisung in der mittleren Strophe (»Dort nimm«, »Erlese küsse sie und flicht den kranz«) auf eine fast brutale Weise. Die Kritik von Georges ästhetischem Pro- gramm, wie es in dem Eingangsgedicht zu Jahr der Seele demonstriert wurde, beginnt schon in der ersten Strophe. Dessen provokative Aufforderung »Komm in den totgesag- ten park und schau« beantwortet Benn mit der Schilderung des omnipräsenten Verfalls in der Krebsstation. Die Eingangsverse widersprechen darüber hinaus auch dem hohen ästhetischen Anspruch des Referenztextes, der den Wert des Worts betont und dement- sprechend das bedachtsam gewählte Wort sucht, welches Schönes, Kostbares, Edles »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 132 oder Vorzügliches suggerieren soll. »zerfallene Schöße« und »zerfallene Brust« sind das Gegenstück zur ästhetisch wohlbedachten Wortwahl Georges (»gestade«, »weiher« und »pfade«), können in den hohen Sphären der Dichtung Georges kaum Platz finden. Auch metrisch spiegelt sich Benns Haltung gegen Georges ästhetisches Prinzip des Formprimats wieder, was schon zu Beginn des Gedichts zu spüren ist. Die Strophen zwei und drei, die durch die stilistischen Figuren von Deixis und Imperativ am meisten dem Gedicht Georges entsprechen, werden von der ersten und der vierten Strophe ein- gerahmt, die beide mit dem anaphorischen Hebungsprall das George eigene jambische Metrum durchbricht. Das einleitende »Hier«, das in der ersten, vierten und letzten Stro- phe anaphorisch und somit leitmotivisch wiederkehrt, markiert inhaltlich die Frontstel- lung gegen das »Dort« im Referenztext (»Komm in den totgesagten park und schau: | […] | Dort nimm das tiefe gelb […]«), die durch die Assonanz mit der nachfolgenden Nahdeixis »diese« (»Híer díese«, V. 1 u. 11) auch klanglich akzentuiert wird. Benn for- ciert damit Georges Manier weiter, leitet aber darüber hinaus schon am Eingang des Gedichts den Bruch mit dem Vorbild onomatopoetisch ein. Die rhythmische Unruhe geht mit der strophischen einher. Während noch die zweite Strophe der metrischen Regelmäßigkeit des Bezugstexts entspricht, wird die Parallel- bewegung nicht einmal bis zur nächsten Strophe durchgehalten, die wie die vorange- gangene Strophe mit einem anaphorischen Imperativ eingeleitet wird und daher den gleichen metrischen Aufbau erwarten lässt. In seinem Herbstgedicht lässt George in der ersten und der dritten Strophe jeweils hinter dem zweiten Vers eine Pause entstehen und hält dadurch am Versende eine ansteigende rhythmische Bewegung aufrecht, um schließlich jeweils den dritten Vers durch ein Enjambement in den vierten Vers hinü- berzuziehen. Diese metrische Kunstfertigkeit imitiert Benn zwar in der appellativ einge- leiteten zweiten Strophe, aber in der dritten wird die Strophenlänge um einen Vers ver- kürzt, und der von Vers zu Vers hinübergleitende Rhythmus wird durch den Interrogativsatz im zweiten Vers und dann durch die harte Fügung im dritten Vers re- gelrecht gebrochen:

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust. Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten? Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht. − (V. 8–10)

Die Abweichung von der rhythmischen Bewegung im totgesagten park wird im zweiten Teil, in den Strophen fünf und sechs, immer größer, und von einer einheitlich herr- schenden Metrik, wie sie den Referenztext auszeichnet, bleibt kaum eine Spur. In der Weiterführung des monologartigen Gesprächs bleibt die sprachliche wie thematische Entsprechung zu Georges Herbstgedicht nicht mehr gewahrt. Die letzten drei Strophen, die eher als eine Reihung der knappen Sätze denn als metrisch geregelte Verse anzuse- »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 133 hen sind, fallen sprachlich und thematisch aus dem Rahmen der Parodie, lassen sich kaum mehr als Parodie bestimmen. Diese Veränderung erfolgt in den vorletzten beiden Strophen durch die forcierte Brechung des Rhythmus, die mit den rhythmischen Zäsu- ren durch die Satzpunkte inmitten des Verses erzwungen wird.

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. − Den Neuen sagt man: hier schläft man sich gesund. − Nur sonntags für den Besuch läßt man sie etwas wacher. − Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht. − (V. 17–22)

Die Enjambements, die in jeder von diesen beiden Strophen durchgängig verwendet werden, machen die Bildung einer metrischen Einheit per Vers kaum möglich, tragen somit zur Destruktion der traditionellen metrischen Struktur mit bei. Der getragene Ton des ersten Teils wird weiterhin beibehalten, aber dessen gleitende Bewegung wird un- terbrochen durch die harte Fügung, welche schon in der dritten Strophe einmal zum Vorschein kommt (»Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht. −«). Knappe Sätze innerhalb eines Verses sorgen für die rhythmischen Brüche und Zäsuren, bilden eine Reihung von sentenzhaften Äußerungen. Diese Kurzsätze werden fast ellip- tisch knapp formuliert und folgen dann in asyndetischer Parataxe hart aufeinander. Auch die Parenthese macht die Verse fast prosaisch. Geschildert wird in den letzten drei Strophen die Verfallsatmosphäre in der »Krebs- baracke«. Die Darstellung der Bewegungslosigkeit, die im Bild eines komaartigen Schlafens der Krebskranken zum Ausdruck kommt (»Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. − Den Neuen | sagt man: hier schläft man sich gesund«), erweckt Bilder des To- des. Der Verfall erreicht hier das Stadium von Bewegungs- und Leblosigkeit. Auch die menschliche Tätigkeit assoziiert nur noch den Tod (»Du siehst die Fliegen. Manchmal | wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht. −«). Die Tendenz zum prosaischen Ton kulminiert in der letzten Strophe, die die einzige ist, in der jedes Satzende mit einem Versende zusammenfällt.

Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort. Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft. −

Hier verlässt Benn den Realismus und geht von der realistischen Ebene der Intensivsta- tion der Krebskranken in eine visionäre über. Wie in den vorletzten beiden Strophen setzen sich harte Fügungen durch (»Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort.«). Es dominieren reflexive Verben (»ebnet sich«, »gibt sich«, »schickt sich«), die einen na- turhaften Vorgang ohne menschliches Einwirken heraufschwören. Der Mensch ist also »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 134 gar nicht mehr da, und hier wird auch kein Du mehr angesprochen, während noch in den vorangegangenen Strophen Menschen vorkommen (»Du siehst«, »wäscht sie die Schwester«). Das Bild der Leblosigkeit, das dort zu dominieren beginnt, gewinnt end- gültig die Oberhand. Und es ist die einzige Strophe, die nur mit männlichem Ausklang endet. Jeder Vers beginnt und endet hier einsilbig. Insofern fällt sie formal und inhalt- lich heraus: durch die Dominanz der reflexiven Verben, durch die Abwesenheit des Menschen und durch die Vision einer anderen Zeit. Übrig bleibt nur noch der gleiche Sprachgestus, der getragene Ton. In dieser Strophe, in der Form und Inhalt auf unerhör- te Weise übereinstimmen, zeichnet sich die Kontur eines eigenen lyrischen Sprechens am deutlichsten ab. Hier gewinnt eine gewisse Dynamik, die schon im zweiten Teil des Gedichts eingesetzt hat, mehr an Fahrt, und somit wird das Gedicht verstärkt expressio- nistisch. Und der expressionistische Stil Benns, der sich hier in der letzten Strophe be- sonders deutlich artikuliert, verdankt seine Entstehung der Destruktion des ästhetischen abstrakten Werts, der mit dem realen Leben unvereinbar ist. Aus der Opposition dazu entwickelt sich ein Stil, der nach dem Prinzip der Verkörperlichung verfährt. Die Do- minanz der Körperlichkeit illustriert das Unbehagen gegen das chiffrierte Gedicht Georges, gegen dessen symbolistischen Stil und seine suggestive Darstellungsweise. So findet Benn zu einem eigenen Stil, der mit der ästhetischen Mittelbarkeit, die durch die reflexive Vermittlung und lebensferne Abstraktheit bedingt ist, bricht und in der Kör- perlichkeit und, besonders in der letzten Strophe, in den in der harten Fügung aufeinan- derfolgenden Kurzsätzen deutlich zum Ausdruck kommt. Benns Parodie auf das Herbstgedicht Georges spitzt sich im ganzen Schritt für Schritt auf den Widerruf dessen zu, was George darin versprochen hat: »was übrig blieb von leben«, zum »kranz« zu winden. Benn macht daraus ein ganz drastisches Ende, welches in gewisser Weise materieller ist als im totgesagten park. Bei George sind es nur noch die Farben, die am Ende übrig bleiben:

Der Schimmer ferner lächelnder gestade . Der reinen wolken unverhofftes blau (V. 2–3) das tiefe gelb . das weiche grau (V. 5) Den purpur um die ranken wilder reben (V. 10)

Auch »gesicht« hat etwas Visionäres, und überhaupt ist das Gedicht Georges auch vi- sionär. Die Schönheit, die George im herbstlichen Park entdeckt, ist die, die verblasst und fast leblos ist. Nicht der Sommergarten oder Frühlingsgarten, wo alles bunt ist und summt und das Leben glüht, sondern der Garten, in dem alles kraftlos ist, reizt den Äs- theten George, der selbst da noch Leben entdeckt: »Der schimmer« der »gestade«, die nicht lachen, sondern in schwachen Bewegungen »lächeln«, ein »blau« von den »reinen Wolken«, das sich in den »weihern« wiederspiegelt, ist ein schwaches Licht, und der »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 135

Wind ist »lau«, kein Sturm ist da − alles ist gemäßigt und geschwächt. Was in Georges Gedicht dargestellt ist, ist die Ästhetik des Übergangs. Gefeiert wird eine Schönheit, die schon dem Tode nahe ist. George sagt, der Park gilt als tot, aber es gibt noch Leben zu entdecken, das letzte Leben, das in dem im »kranz« zu bewahrenden herbstlichen Bild zu gestalten ist. Er fordert von seinem Gegenüber, dem Ästhetischem der Vergänglich- keit entgegenzusteuern, indem die ästhetische Beziehung zur Natur durch die Verwen- dung und Erhaltung ausgesuchter Naturgegenstände im »kranz«, also in einem Kunst- werk, wiederhergestellt wird. In seinem Ästhetizismus ist der Künstler berufen, das, »was übrig blieb«, durch Kunstwerke zu erhalten. So bleibt bei George auch das Ende noch ästhetisch. Benn aber endet hoffnungslos. Er findet zwar auch eine Ästhetik des Übergangs, aber eine brutale vom Leben zum Tod. Krebskranke haben keine Schönheit mehr. Für die Feier der Schönheit des Übergangs, wie sie im Gedicht Georges erfolgt, gibt es kei- nen Platz. Zu diesem Schönheitskult, der der Schönheit, die eigentlich dem Tode nahe ist, gewidmet ist, bezieht sich das Gedicht Benns und parodiert ihn in der opponieren- den Haltung dazu. Sein parodistisches Verfahren ist dabei Drastik durch Hässlichkeit:

Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten? Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht. − (V. 9–10)

Die Metaphern von »kranz« und »rosen«, die im Referenztext die Kunsthandhabung und das Kunstwerk symbolisieren, werden hier auf fast brutale Weise pervertiert. Dra- stisch wird die Schönheit durch die Hässlichkeit ersetzt, und diese besteht aus Körper- lichkeit. Benns parodistisches Verfahren ist also kurz als die Technik von Hässlichkeit, Brutalität und eben Körperlichkeit zusammenzufassen. Im Referenztext ist alles unkör- perlich. Benn verkörperlicht alles. Er überträgt die Ästhetik der Farben in Körperlich- keit, stellt dem abstrakten Werten aus Farben Körperliches entgegen, das unter der Per- spektive des physischen Verfalls präsentiert wird. Die Körperlichkeit im Verfallsstadium illustriert Benns Kritik an dem ästhetischen Programm Georges, das den ästhetische Wert im Park-Gedicht der Zeitgebundenheit enthebt. In Anspielung auf den Bibelsatz (1. Mose 3, 19: »Denn du bist Erde und sollst zur Erde werden«) wird in dem letzten Abschnitt der Kreislauf als ein universelles Gesetz ausgesprochen. Benn macht also aus Georges Übergang den Verfall. Und das schöne Sterben wird zum vitali- stischen Gesetz des Werdens und Vergehens. Das wär alles, was der letzte Satz gibt: Erde wird zur Erde (»Erde ruft. −«). Benn erweist somit die Widersprüchlichkeit von Georges ästhetischem Konzept, in- dem er dessen Ästhetik angesichts der Hässlichkeit der Wirklichkeit nicht zur Geltung kommen lässt. Denn mit der verkrebsten Brust ist ein »Rosenkranz« im Sinne Georges »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 136 nicht mehr zu verflechten. Aber nicht nur das: Benn zeigt auch die Schwäche des Äs- theten Georges, der sich nie dem wirklichen Leben stellt und eher davor flüchtet. Der tragende Begriff in dessen Herbstgedicht ist ›Kunst‹, nicht ›Leben‹. Nur unter ihrem Aspekt erfolgen die Wahrnehmung, innere Verarbeitung und das Bedürfnis nach Ver- . wandlung des Gegebenen zum Kunstwerk. Das »tiefe gelb das weiche grau« interes- sieren als Eigenschaft »von birke und von buchs« insofern, als sie elementar herausge- griffen werden und als Bestandteile der Komposition eines Kunstwerks dienen. »birke und buchs« werden auf ihre Verwertbarkeit für den Künstler hin begutachtet. So klam- mert der ästhetisierende Blick alles aus, was für den Künstler unbrauchbar ist. Dement- sprechend findet in seinem Gedicht alles Hässliche keinen Platz. Diesem »paradies arti- ficiel«270 wirken in der Krebsbaracke gleich am Anfang des Gedichts die anaphorisch emphatisierte Deiktika wie »hier« und »diese« entgegen, welche Merkmale der konkre- ten Äußerungssituation enthalten. Die lokale Deixis wie das anaphorische »Hier«, des- sen Referenz nur aus der pragmatisch situierten Sprechsituation heraus ermittelbar ist, betont die lokale Gebundenheit der »Krebsbaracke« und kehrt fast wie leitmotivisch im ganzen Gedicht wieder.

Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße (V. 1) Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern. (V. 11) Hier dieser schnitt man (V. 13) sagt man: Hier schläft man sich gesund. − (V. 16) Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett. (V. 21)

Das leitmotivartig prägende »Hier« stellt den Gegenpart zur Lokal-Deixis »Dort« im Herbstgedicht Georges dar. Diese bezieht sich auf den spätherbstlichen Park, jene auf die Krebsbaracke. Im Vergleich zu dem »Dort« in der Vorlage erweckt sie den Ein- druck des Unmittelbaren und Gegenwärtigen. Sie bringt eine opponierende Haltung zum ästhetizistischen Abstand vom Leben zum Ausdruck und stellt, häufig im Zusam- menwirken mit der Deixis »diese«, in ständig sich erneuernden, imperativistisch spre- chendem Duktus also die Allgemeingültigkeit des ästhetischen Konzepts Georges in Frage, die nur noch im abgeschlossenen Raum wie einem Park gelten soll. Und dessen Prinzip ist eine künstlerische Idee, nicht die Wirklichkeit, sein ästheti- sches Konzept nähert sich Ideellem, ist aber der Wirklichkeit des modernen Großstadt- lebens nicht gewachsen, weswegen er davor flüchtet. Mit diesem Fingerzeig sucht Benn nicht zuletzt seine eigene Stärke zu profilieren, nämlich auch damit souverän poetisch umgehen zu können. Hier zeichnet sich eine Pose ab, sich der Verfallserscheinung an- zunehmen, sie zu bejahen und damit dichterisch auseinanderzusetzen, während sich

270 Vgl. Rainer Gruenter, Stefan George, Komm in den totgesagten park und schau:, in: Frankfurter An- thologie, Bd. 2, 1977, S. 92. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 137

Georges Gedicht der Vergänglichkeit entschieden widersetzt. Den Nihilismus des Ver- falls zu bejahen und nicht in das Reich der Schönheit zu flüchten – mit dieser Berufung auf die Spätphilosophie Nietzsches attestiert sich Benn die Überwindung der Dekadenz. Angesichts der omnipräsenten Verfallserscheinungen in der Intensivstation der Krebs- kranken wird die ästhetische Vision Georges als Lüge bloßgestellt, da sie vor der Grau- samkeit des Lebens ins Reich der Schönheit flüchtet, welches außerhalb des Lebens an- gesiedelt ist. Und auch der Anspruch Georges auf die Vollkommenheit des eigenen ästhetischen Konzepts (»vergiss auch nicht [….] | was übrig blieb von leben«) erscheint im Anblick der hässlichen Realität als unbegründet, da er sich bestimmten Erfahrungen verschließt und dementsprechend aus seinem poetischen Bild alles das ausklammert, was ihm widrig und hässlich scheint. Gegen diesen willkürlichen Akt der Ausgrenzung Georges wird in Benns Parodie eine Pose als Überwinder der Décadence im Sinne Nietzsches sichtbar, nämlich dass man sich dem Leben stellen soll, obwohl es grausam ist, weil es nur um das materielle Gesetz des Kreislaufs geht. Solches Lebenspathos kommt um so mehr zur Geltung, als das reale Leben hässlich, ja grausam sein soll. Das Leben zu bejahen, wie es ist, das zeigt Benn in seinem souveränen Umgang mit der Wirklichkeit in der Krebsbaracke – er betont es ja in seinem posenhaften Gestus, der nicht nur in der Darstellung der organischen Zerfallsprozesse, sondern auch in der Auf- forderung zu deren Anfühlen zur Schau gestellt wird (»Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten? | Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht. −«). Das Lebenspathos, sich dem Leben entschlossen zu stellen, drückt sich in dem Akt des »Fühlens« aus. Anstatt sich ästhetisch vom Leben zu distanzieren, sich mit einer ästhe- tischen Vision vom harten Leben fernzuhalten − »Dort nimm das tiefe gelb . das weiche grau« − und somit nicht eigentlich im Leben, sondern neben dem Dasein zu stehen, zeigt sich der Sprechende in der Krebsbaracke dem Ekelhaften der Wirklichkeit gegen- über furchtlos. Er ist sogar entschlossen, auch das Hässlichste, was das Leben zu bieten hat, dichterisch zu gestalten. Der »Rosenkranz von weichen Knoten« ist in dieser Hin- sicht zugleich die Kritik an dem ästhetischen Konzept Georges und auch ein unver- kennbarer Hinweis auf dessen Äußerung im Herbstgedicht, »Erlese küsse sie und flicht den kranz«, auf die poetische Liebkosung der Sprache, um die sich dessen Herbstge- dicht dreht. Es zeigt sich also, dass sich der entschlossene Wille, sich dem Leben zu stellen, wie ein roter Faden durch die frühexpressionistische Schaffensphase Benns hin- durchzieht, wie es im vorangegangenen Kapitel in dessen Dichtergedicht Der junge Hebbel deutlich zu erkennen war. Und dieses neue Lebenspathos ist zugleich die Umde- finition des Dichtungsverständnisses, dass die Kunst nur aus dem entschiedenen Le- benspathos zu gewinnen sei (»Ich schlage mit Stirn Form heraus«, Der junge Hebbel), und wächst über die Kritik des ästhetizistischen Weltanschauung und Kunstauffassung »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 138 von George heraus. Stilistische Nachbildung und Kritik am Werk des Imitierten ergeben im Gedicht Benns eben jene »Diskrepanz, welche die Parodie konstituiert«.271 Dabei findet auch eine Stilkritik statt, die über eine komisierende Herabsetzung hinausgeht. Benn übernimmt zunächst das Forcierte und Manierierte vom Referenztext, treibt diese zum Zweck ihrer Destruktion ins Groteske und findet auf diesem Wege schließlich zum eigenen Stil, der mit der in harten Fügungen gesprochenen Unmittelbarkeit und Sen- tenzhaftigkeit der Aussageweise und eben mit der Metaphorik der Körperlichkeit als ein Gegenstück zur ästhetizistischen Mittelbarkeit und Reflexiertheit zu bezeichnen ist.

3.3 Die parodistische Überwindung des Wiener Ästhetizismus im Expressionismus – Alfred Lichtensteins Parodie auf Felix Dörmann (Komisches Lied, 1911)

Für die expressionistische Dichtergeneration gilt es einmal, die historische Basis für ih- ren dichterischen Bildungsweg um die Jahrhundertwende kennenzulernen. Im konkreten ist sie die literarischen Strömungen der klassischen Moderne, deren Vertreter zehn bis zwanzig Jahre früher als die expressionistische Avantgarde ins literarische Feld kamen. Es sind vor allem der Symbolismus einerseits, der in Deutschland von Stefan George vertreten wird, und der Wiener Ästhetizismus andererseits, der auch unter dem Namen ›Jung Wiener‹ bekannt war. Die Expressionisten mussten sich, als sie zu schreiben be- gannen, die künstlerischen Errungenschaften dieser Strömungen zunächst einmal erar- beiten. Der große Teil der bedeutenden Schriftsteller des Expressionismus knüpfte mit ihrem mehr oder minder epigonale Züge tragenden Frühwerk an den Ästhetizismus der Jahrhundertwende an. Georges Stil wird von manchen jüngeren Dichtern eifrig nachge- ahmt, für nicht wenige galten »Stefan George und sein Werk« als »Gipfelleistungen«272. Walter Hasenclever und Kasimir Edschmid, die beide im Jahr 1890 geboren sind, wid- meten dem Verfasser des berühmten Gedichtbandes Das Jahr der Seele gar ihre ersten Gedichtbände273, die noch in der frühexpressionistischen Phase veröffentlicht wurden und denen wenig später die dem Expressionismus zuzurechnenden Werke folgten. Aber auch der Einfluss des Wiener Ästhetizismus steht hinter dem des »geistigen Vaters«274 George kaum zurück. Vor allem der lyrische Stil von Hofmannsthal, dem

271 Vgl. Erwin Rotermund, George-Parodien, in: Stefan George. Koloquium, hg. v. Eckhard Heftrich u. Paul Gerhard Klussmann, Hans Joachim Schrimpf, Köln 1971, S. 222. 272 Vgl. Carl Sternheim, Vorkriegseuropa im Gleichnis meines Lebens, Amsterdam 1936, S. 94. 273 Vgl. Wolfgang Paulsen, Walter Hasenclever, in: W. Rothe (Hg.), Expressionismus als Literatur, S. 531–546, S. 531f. 274 C. Sternheim, ebd. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 139 prominentesten Vertreter der Jung-Wiener, drückt vielen Frühwerken der Expressioni- sten seinen Stempel deutlich auf. So lässt etwa eines der frühen Gedichte von Ernst Stadler, Verloren, keinen Zweifel daran, wen sich der damals zwanzigjährige hier zum Vorbild genommen hat:

Des Sommers purpurn Erntelied verschwamm im Wind. Der heiser durch die welken Kronen klirrt, Fremde, seltsame Dinge sind In seinem Sang. Die haben mir den Sinn zerwirrt.275

Stadler übernimmt hier die Verse aus dem Gedicht Hofmannsthals Vorfrühling276 fast wörtlich. Auch in dem Neuen Club, der sich um 1909 in Berlin formiert und als ›Keim- zelle‹ des literarischen Expressionismus gilt, sind reichlich Belege277 dafür zu finden, dass der österreichische Dichter mit seinem Gedichtwerk für die frühexpressionistische Phase um 1910 fast die literarästhetische Norm bedeutet.278 Nicht nur der Gründungs- aufruf für den Neuen Club, in dem Hofmannsthal als einer von dessen geistigen Leitfi- guren benannt wurde279, zeugt davon, sondern auch das Programm der öffentlichen Ver- anstaltungen vom Club, auf dem die Gedichte und Dramen des Wiener Dichters mehrmals standen. Die offene Anerkennung und Bewunderung, die die jungen Dichter der kommenden expressionistischen Generation dem Repräsentanten der Wiener Moderne zeigten, hiel- ten sich aber nicht lange durch, was ganz im Zeichen der Zeit stand, nämlich dass im Lauf des ersten Jahrzehnts von der ästhetizistischen Strömungen um Jahrhundertwende immer mehr distanziert wurde. Früher als die Mitglieder des Neuen Clubs, die meist um 1890 geboren sind, versuchten sich die Expressionisten älterer Jahrgänge von ihnen zu distanzieren. Die kritische Haltung gegen den Ästhetizismus ist beispielsweise in der

275 Der Merker Nr. 1 u. 2, S. 15. Vgl. Helmut Gier, Die Entstehung des deutschen Expressionismus und die antisymbolische Reaktion in Frankreich. Die literarische Entwicklung Ernst Stadlers, München 1977, S. 64ff. 276 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, HGW [wie Anm. 106], Gedichte und Dramen I (1890–1898), S. 17: Es läuft der Frühlingswind durch kahle Alleen Seltsame Dinge sind in seinem Wehn. (Vorfrühling, v. 1–4, u. 25–28) 277 Vor allem bekundeten sich die beiden Wortführer des Clubs, Kurt Hiller und Erwin Loewenson, ihre Bewunderung für Hofmannsthal eifrig. Hiller sah in Hofmannsthal den vorbildhaften modernen Dich- ter seiner Zeit (vgl. Sheppard, S. 13), bei Loewenson wird sogar Goethe als Dichtervorbild hinter ihn verdrängt (Vgl. ebd., S. 42f., Loewensons Brief an Erich Unger vom 16. Juli 1909: »Goethe kann ich […] entbehren, aber Hugo von Hofmannsthal möchte ich nunmehr um keinen Preis dahingeben.« 278 In einem Brief an Erich Unger vom 25. September 1909 erfreut sich Loewenson darüber, dass sich Edgar Zacharias, ein Mitglied des Neuen Clubs, »Hofmannsthalianer mit Psycho und Physis gewor- den [ist]«. Vgl. Sheppard, ebd., S. 79. 279 Im Gründungsaufruf, der in der Berliner Universität ausgehängt wurde, wurde explizit auf Hofmanns- thal Bezug genommen, indem ein Satz aus seinem Prolog zu Mimi zitiert wurde. (Sheppard, S. 182: »›Merkt auf, merkt auf! Die Zeit ist sonderbar‹ sagt Hugo von Hofmannsthal«) »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 140

Rezension von René Schickele (Jg. 1883) deutlich zu erkennen, der schon vor 1910 hef- tige Vorwürfe gegen den Mangel an sozialer Verbindlichkeit280 und die stilistische Ma- nieriertheit281 in der zeitgenössischen Dichtung gemacht hatte. Darin kritisierte er sei- nen gleichaltrigen Freund Stadler, mit dem er einst den elsässischen Dichterkreis Der Stürmer (1901–1902) gründete, mit folgenden Worten:

[…] Der dunkle Kern in der Orgie matter Farben, zärtlicher Musik, das Eigene läßt sich schwer bestimmen, nur daß es lebt, läßt sich fühlen. Kinderaugen blicken in perverse Pracht und gefahrvolle Landschaften und zucken nicht. […] In Moll, ewig in Moll: das scheint Stadlers Naturell. Kontraste und Dissonanzen fehlen. Ich glaube nicht daran, meine vielmehr, daß dies eine Wirkung der Dichtart ist, in der er sich ergeht. Wie er sie empfand, weich, verträumt, gibt er sich wieder. Unfreiheit, Schüchternheit bannten ihn in die Farben und Klänge der Dämmerungen; mir scheint, es gilt allein, das Klima zu wechseln. Man muß eben weit gehen, um seine Heimat zu finden, um den Ort, wo man zutiefst wurzelt, zu begreifen, denn man hat sich zu früh verirrt.282

Schickele erkennt dem Verfasser der Praeludien zwar die handwerkliche Fertigkeit an, die aber über eine geschickte Stilübung der überlieferten Kunstmittel nicht hinausläuft. Er vermisst daher die »Kontraste und Dissonanzen«, welche ihm zum Durchbruch zu einem eigenen Stil verhelfen könnte. Schickele führt die spannungslose Einheit der Praeludien auf die »Dichtart […], in der er sich ergeht«, zurück. Seine Kritik richtet sich also hauptsächlich auf die Imitation des überlieferten ästhetischen Kanons (»frem- den Techniken«, »Empfindungsarten anderer«) und zieht daraus die logische Konse- quenz, der zu folgen nun Stadler aufgefordert wird: Er soll mit der vorhandenen ästheti- schen Tradition brechen und endlich wagen, den eigenen Weg zu gehen (»es gilt allein, das Klima zu wechseln. Man muß eben weit gehen, um seine Heimat zu finden«). Schickele nennt in seiner Rezension des Gedichtbands von Stadler, der 1905 erschienen war, das unmittelbare Vorbild Stadlers nicht namentlich, deutet aber unmissverständlich auf die Einflüsse des Jung Wien (»Orgie matter Farben, zärtlicher Musik«) hin. Da wird Karl Gruber, der ebenfalls Praeludien rezensierte, viel deutlicher. Er spricht von der ly- rischen Neuromantik, »die von Frankreich entzündet am alten Kulturherd Wien ihre be- ste Nahrung gefunden hat«.283 Er nimmt in Stadlers Gedichten das bei den Jung Wie- nern gängige poetische Verfahren, die »inneren Erregungen in sinnliche Reizvorstellungen« zu transponieren, wahr und erkennt darin auch den Einfluss Hof-

280 Vgl. René Schickele, Der Triumph der Lüge, in: Das neue Magazin für Literatur, Kunst und soziales Leben, Jg. 73 (1904), H. 26, S. 805-809. Auch in: Die Aktion 1 (1911), Sp. 846–850. 281 René Schickele, Das hoffnungslose Geschlecht, in: Das Magazin für Literatur des In- und Auslandes, 77 (1908), Januar, S. 64–65. 282 René Schickele, Lyrische Kultur, in: Das literarische Echo, Jg 7 (1905), 15. März, H. 16. 283 Karl Gruber, Das jüngste Elsaß spricht. I. Stadlers »Praeludien«, in: Der Erwinia 12 (1904/05), H. 5, S. 96–102; S. 96. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 141 mannsthals deutlich (»Die Bekanntschaft mit Hofmannsthal ist für Stadler entscheidend geworden«).284 Die zunehmende Distanzierung vom Wiener Ästhetizismus, die sich im literarischen Vorfeld des Expressionismus abzeichnete und wie am Beispiel Stadlers immer mehr die Notwendigkeit bemerkbar machte, »den priesterlichen Mantel« und »die feierliche Grußgeberde Hugo von Hofmannsthals und Stefan Georges«285 abzuwerfen und so zur literarischen Selbstständigkeit zu gelangen, wurde auch in der frühexpressionistischen Gruppierung von Berliner Studenten, dem Neuen Club, deutlich spürbar. Wie sich die Berliner Frühexpressionisten seit 1910 zunehmend von der Wiener Moderne distanzier- ten, das haben einige Forschungen überzeugend dargestellt.286 Gegenüber den vorbildli- chen Dichtern, die in der Formierungsphase der expressionistischen Avantgarde im lite- rarischen Feld mächtig wirkten, stand die jüngere Dichtergeneration mit einem ambivalenten Gefühl gegenüber. Jene sind für diese nämlich vorbildliche Dichterväter, aber zugleich auch arrivierte Rivalen, von deren Übermacht sich die jüngeren befreien sollten. Diesen Übergangsprozess von der Verehrung zur Ablehnung veranschaulichen vor allem die parodistischen Dichtergedichte der Expressionisten. Als Beispiel für diese parodistische Auseinandersetzung soll im folgenden das Gedicht Komisches Lied von Alfred Lichtenstein behandelt werden, das auf Felix Dörmanns Was ich liebe, das sei- nerzeit wohl bekannteste Gedicht der Wiener Moderne, direkten Bezug nimmt. Alfred Lichtenstein (1889–1914) ist mit acht Gedichten in der berühmten expressio- nistischen Anthologie Menschheitsdämmerung vertreten, gilt also als einer der bedeu- tendsten Expressionisten. Das verdankt er vor allem seinem Gedicht Die Dämmerung, das laut Datierung in der kritischen Ausgabe287 am 5. März 1911 geschrieben wurde und am 18. März in der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm erschien. Vor diesem Gedicht, das mit einer dichten Aneinanderreihung von Disparaten von expressionisti- scher Simultaneität zeugt, schrieb er eine Parodie auf Felix Dörmann, die seine parodi- stische Reaktion auf die Wiener Moderne darstellt.

284 Ebd., S. 100 u. 96. 285 Aus einer anderen Rezension über Stadlers Praeludien, welche ein anonymer Kritiker, der wohl Stad- lers Bekannte sein müsste, geschrieben hat. In: Max Geißler, Führer durch die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, Weimar 1913, S. 600. 286 Vgl. Achim Aurnhammer, Verehrung, Parodie, Ablehnung. Das Verhältnis der Berliner Frühexpres- sionisten zu Hofmannsthal und der Wiener Moderne, in: Cahiers d’Études Germaniques 24 (1993), S. 29–50; auch Gregor Streim, Das neue Pathos und seine Vorläufer. Beobachtungen zum Verhältnis von Frühexpressionismus und Symbolismus, in Zeitschrift für deutsche Philologie 117 (1998), S. 239– 254. 287 Alfred Lichtenstein, Gesammelte Gedichte, Zürich 1962, S. 44. Vgl. auch die Kommentierung Klaus Kanzogs über den Nachlass Lichtensteins (Klaus Kanzog, Die Gedichte Alfred Lichtensteins, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 5 (1961), S. 376ff.). »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 142

Lichtensteins Parodie auf Felix Dörmann entstand 1910, also vor dem Gedicht Die Dämmerung. Als Vorlage dient das Gedicht Was ich liebe, das den erst einundzwanzig- jährigen Dörmann zum bedeutendsten Lyriker unter den Mitgliedern des Jungen Wien machte:

Felix Dörmann, Was ich liebe

Ich liebe die hektischen, schlanken Narzissen mit blutrothem Mund; Ich liebe die Qualengedanken, Die Herzen zerstochen und wund;

Ich liebe die Fahlen und Bleichen, Die Frauen mit müdem Gesicht, Aus welchen in flammenden Zeichen, Verzehrende Sinnenglut spricht;

Ich liebe die schillernden Schlangen, So schmiegsam und biegsam und kühl: Ich liebe die klagenden, bangen, Die Lieder von Todesgefühl;

Ich liebe die herzlosen, grünen Smaragde vor jedem Gestein; Ich liebe die gelblichen Dünen Im bläulichen Mondenschein;

Ich liebe die glutendurchtränkten, Die Düfte, berauschend und schwer; Die Wolken, die blitzedurchsengten, Das graue wuthschäumende Meer;

Ich liebe, was niemand erlesen, Was keinem zu lieben gelang: Mein eigenes, urinnerstes Wesen Und alles, was seltsam und krank.288

Dörmanns Gedicht ist als eines der Paradebeispiel für den lyrischen Ästhetizismus der Wiener Moderne zu bezeichnen, die Hermann Bahr in einem Aufsatz aus dem Jahre 1891 als eine neue Kunst, die den Naturalismus überwindet, postuliert: Der Naturalis- mus soll überwunden werden durch »eine nervöse Romantik; […] durch eine Mystik der Nerven«.289 Damit meint er die Darstellung und Analyse von Empfindungen wie Sensationen, die den programmatischen Kern der Wiener Moderne bildet. Als spezifische Äußerungsform der Wiener ›décadence‹-Generation ist neben dieser »Hingabe an das Nervöse« auch die Liebe zum Künstlichen, das als Fluchtraum vor der bedrängenden

288 Felix Dörmann, Was ich liebe, in: ders., Sensationen, Wien 1897, S. 22f. 289 Hermann Bahr, Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887–1904, Ausgew., eingel. u. erläutert v. Gotthart Wunberg, Stuttgart u. a. 1968, S. 87. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 143

Faktizität des natürlichen Lebenszusammenhangs dient, sowie ein »unersättliche[r] Zug ins Ungeheure und Schrankenlose«290 zu charakterisieren. Aber die Nervenkultur des Jungen Wien bedingt nicht nur eine gesteigerte Sensibilität für Reize und Stimmungen, sie geht auch mit einem verfeinerten Sprach- und Formempfinden einher, welches von einem Zug zum exquisiten Ausdruck zeugt. Die verfeinerte Psychologie, die Stimmungen von ihrer Genese bis zu ihrem Aus- druck dokumentieren und analysieren will291 und somit eine äußerst gesteigerte Ner- venkultur ist, wird mittels einer gewissen Manier ausgedrückt, in der das wahrgenom- mene Objekt durch das wahrnehmende Subjekt überfiguriert wird. Auffällig in dieser Hinsicht ist die Fülle pleonastischer Wendungen.

Narzissen mit blutrothem Mund (V. 2) Die Herzen zerstochen und wund (V. 4) Ich liebe die Fahlen und Bleichen (V. 5) So schmiegsam und biegsam […] (V. 10) Ich liebe die klagenden, bangen (V. 11) Ich liebe die gelblichen Dünen (V. 15) Mein eigenes, urinnerstes Wesen | alles, was seltsam und krank (V. 23–24)

Der Wiederholung kommt die Gebärde der Präzisierung zu. Die Wahrnehmung wird verfeinert, was darauf abzielt, den wahrgenommenen Gegenstand mit Bedeutung aufzu- laden. Somit wird die Wahrnehmung dem Wahrgenommenen übergeordnet. Zu dieser Wirkung dient das Stilmittel der Distinktion, die einen vorangestellten Ausdruck nach- träglich unterscheidet. Hier handelt es sich um einen der typischen Züge des Wiener Äs- thetizismus, welcher auch bei anderen prominenten Vertretern des Jung Wien mühelos zu finden ist.292 Solche Präzisierungen der Empfindungen durch die Distinktion leisten vornehmend ästhetische Adjektive, welche das Empfinden des wahrnehmenden Sub- jekts wiedergeben und so den durchgängig subjektiven Charakter des Gedichts illustrie- ren. Überall dominiert das lyrische Ich, das ästhetische Verbindungen mit lebensfernen Bereichen erstrebt: Es sucht sich an kränklichen Pflanzen (»die hektischen, schlanken | Narzissen«) und seltsamen Edelsteinen (»die herzlosen, grünen | Smaragde«), oder an

290 Das junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887–1902, ausgew., eingel., u. hg. v. Gotthart Wunberg, Bd. 1: 1887–1896, Tübingen 1976, S. 426f. 291 Hofmannsthal beschreibt die Übergänge vom Gefühl zur Sprache als eine Stufenlehre: »Vom Gefühlt- werden zum Bewußtwerden, vom Bewußtwerden zum Verstandenwerden und vom Verstandenwerden zum Ausgedrücktwerden, das ist die via dolorosa der Gedanken, mit Geißelung, Dornenkrönung und Schändung«, in: HGW, Reden und Aufsätze III 1925–1933, Buch der Freunde, Aufzeichnungen 1889– 1929, S. 333. 292 So z. B. in Hofmannsthals Terzinen über Vergänglichkeit I: Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen? (V. 3) Daß alles gleitet und vorüberinnt (V. 6) Und dass mein eignes Ich (V. 7) (Terzinen über Vergänglichkeit I, in: HGW, Gedichte, Dramen I, S. 21) »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 144 dämonischen Frauen (»die Fahlen und Bleichen, Die Frauen […] in flammenden Zei- chen«) zu berauschen. Lichtensteins Parodie auf das seinerzeit bekannte Programmgedicht der Wiener Mo- derne imitiert dessen strukturbildenden Merkmale formal wie inhaltlich. Die bekennt- nishafte Aussage »ich liebe« wirkt auch bei Lichtenstein mit ihrer anaphorischen Stel- lung und ständigen Wiederkehr in jeder Strophe strukturbildend. So ist der parodistische Charakter seines Gedichts kaum zu übersehen:

Komisches Lied (An Felix Dörrmann)

Ich hasse die farblose Feinheit Erklügelter Nervenkultur. Ich liebe die bunte Gemeinheit Der schamlosen, nackten Natur.

5 Ich liebe die wulstigen Falten Um Augen mit brandrotem Rand Ich liebe die feisten Gestalten Der Dirnen in geilgrellem Tand.

Ich liebe die buckligen Schreiber, 10 Die schielend zum Erdboden sehn. Ich liebe die kugligen Leiber Der Schwangeren in ihren Wehn.

Ich liebe die Burschen mit wirrem Versoffnen, vertierten Gesicht, 15 Wenn heiser sie johlen bei irrem Oft schon sich verlierenden Licht.

Ich liebe die dicken Athleten Mit bulldoggenstarkem Popo. Ich liebe, die fluchen, nicht beten 20 Und bin vielleicht selbst etwas roh.

Ich liebe die gräßliche Sünde So sehr wie das schuldlose Kind, Weil wir ja doch alle nur blinde Unselige Blödlinge sind.293

Die Parallelität der beiden Gedichte in Strophenform und im dreihebigen Versmaß ist deutlich zu erkennen. Auch die Doppelsenkungen als eines der metrischen Merkmale der Vorlage imitiert Lichtenstein. Die Frequenz und Stellung der den Strophenaufbau bestimmende Anapher »Ich liebe« entsprechen genau dem Referenztext. Die formaläs- thetisch konservative Haltung Dörmanns übernimmt Lichtenstein also, was schließlich

293 Alfred Lichtenstein, Komisches Lied, in: ders., Dichtungen, hg. v. Klaus. Kanzog u. Hartmut Vollmer, Zürich 1989, S. 140. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 145 die inhaltliche Kontrastierung zum Referenztext um so augenfälliger macht. So macht sich der kaum zu unterdrückende Reflex gegen Dörmanns ästhetische Bekenntnis schon in der Überschrift bemerkbar: In der Widmung hat der Parodierende Dörmanns Namen zu »Dörrmann« entstellt. Und anschließend setzt er am Gedichtsanfang der ästhetischen Programmatik der Wiener Moderne ebenfalls seine bekenntnishafte Anti-Programmatik entgegen:

Ich hasse die farblose Feinheit Erklügelter Nervenkultur (V. 1–2)

Wie die beiden Anfangsverse demonstrativ veranschaulichen, äußert sich die program- matische Opposition Lichtensteins gegen den Jung Wiener in der Tat in einer Reihe von Substitutionen. Dörmann richtet seine Liebesbekenntnisse auf die Lebewesen und Din- ge, die aufgrund ihrer dekadenten Eigenschaften in ihm ästhetische ›Sensationen‹ her- vorrufen. Denjenigen, die »seltsam und krank« sind, gilt seine Vorliebe: All diesen ge- meinsam ist die Unbelebtheit, die das lyrische Ich affizieren. Für deren Wahrnehmung wird ein äußerst feines Empfindungsvermögen vorausgesetzt, welches das lyrische Ich als eigene Stärke proklamiert (»Ich liebe, was niemand erlesen, | Was keinem zu lieben gelang:«). In der Tat sind diese ästhetischen Reize eine eigene Schöpfung, eine ästheti- sche Gegenwelt, die sich aus dem Zusammenhang der realen Welt herauslöst. So wer- den aus den Frauen mit bleichem Gesicht ästhetische Reize heraufbeschworen, die sie entrealisieren und sich dann verselbständigen:

Ich liebe die Fahlen und Bleichen, Die Frauen mit müdem Gesicht, Aus welchen in flammenden Zeichen, Verzehrende Sinnenglut spricht; (V. 5–8)

Die Verfeinerung der Wahrnehmung lädt den wahrgenommenen Gegenstand mit Be- deutung auf, ordnet die Wahrnehmung dem Wahrgenommenen über. Das sind eben die »Sensationen«,294 die durch solche Verabsolutierung der ästhetischen Reize gewonnen werden. Diese ästhetische Programmatik, die Dörmann in seinem Gedicht poetisch ge- staltet, münzt Lichtenstein in seiner Parodie drastisch um, und zwar gehaltlich wie for- mal in umgekehrte Richtung: Er bricht mit der raffiniert-exquisiten Ausdrucksweise Dörmanns einerseits und substituiert zugleich die Morbidität und Unbelebtheit der dör- mannschen Liebesobjekte ausschließlich durch Menschen, die vitale Lebenskraft aus- strahlen, andererseits.

294 »Sensationen« heißt der Titel des Gedichtsbands, der das Gedicht Was ich liebe enthält. Das zeigt den programmatischen Charakter, den die Sinnesreize für die Lyrik des Jung Wieners Dörmann gewin- nen. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 146

Das erstere geschieht dadurch, dass die Distinktion und die synästhetischen Bilder, die Beschwörungsformeln eben, die dem lyrischen Ich Dörmanns die selbstverliebten Sinneswahrnehmungen ermöglichen, nicht zur Geltung kommen. Bei Dörmann leisten vornehmlich Adjektive solche Präzisierungen. Synästhesien bereichern die Optik künst- lich und bezeugen die Sehnsucht nach Sinnesreizen:

Ich liebe die schillernden Schlangen, So schmiegsam und biegsam und kühl: (V. 9–10)

Die »Schlangen« werden mit optischen und taktilen Adjektiven versehen und synästhe- tisch bereichert. Die Distinktion mit Farbadjektiven präzisiert und lädt sie mit neuen Sinnesreizen auf. Daraus schafft sich das lyrische Ich einen komplexen Sinnesrausch. Dieser Rauschzustand, den Dörmanns lyrisches Ich von künstlichen Schlangen oder von kränklichen Blumen (»Narzissen mit blutrothem Mund«) erhofft, unterscheidet sich nicht von den Sinnesreizen, die dämonische Frauen auf ihn ausüben. Die metonymische Verkürzung der Frauen auf das Gesicht und der Farbkontrast (»die Fahlen und Blei- chen« V. 5; »in flammenden Zeichen«, V. 7) tragen dazu bei, dass sie als dämonisches Wesen das lyrische Ich in ihren Bannkreis schlagen können. In solchen Gradation durch Distinktion und Synästhesien werden die Sinnesreize von den zu beschreibenden Ge- genständen abgelöst. Dagegen dienen in Lichtensteins Parodie Adjektive ausschließlich zur Beschreibung von Gegenständen, denen sie jeweils grammatisch zugeordnet sind. Die Eigenschaftsworte entsprechen hier mehr dem wahrzunehmenden Objekt als dem Empfinden des wahrnehmenden Subjekts. Abstrakta, wie sie im Referenztext dominie- ren und die Anschaulichkeit der Einzelsensationen leiten, sind in der Parodie äußerst selten. Stattdessen dominieren in der Parodie Konkreta (»wulstig«, »brandrot«, »dick«, »kuglig«). So wird die Subjektivierung des Eigenschaftswortes, wie sie in der Lyrik von Dörmann sowie von Hofmannsthal zuhauf zu finden sind, hier kaum möglich. Diese Auflösung des Beschwörungszaubers, mit dem Dörmann ästhetische Sensationen be- wirkt, entspricht dem poetischen Verfahren, das Lichtenstein ein Jahr später anhand sei- nes Gedichts Die Dämmerung ausführt:

Absicht ist weiterhin, die Reflexe der Dinge unmittelbar – ohne überflüssige Reflexionen aufzu- nehmen. Lichtenstein weiß, daß der Mann nicht an dem Fenster klebt, sondern hinter ihm steht. […]295

295 Alfred Lichtenstein, Die Verse des Alfred Lichtenstein, in: Die Aktion 3 (1913), Sp. 942–944. Vgl. die entsprechenden Stellen in Die Dämmerung: An einem Fenster klebt ein fetter Mann. Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen. Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an. Ein Kinderwagen schreit. Und Hunde fluchen. (V. 9–12) »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 147

Die »überflüssige Reflexion« ist vergleichbar mit dem Vorgang der Wahrnehmungsver- feinerung, in dem anhand der ästhetischen Adjektiven und des Stilmittels der Distinkti- on ästhetische Verbindungen mit lebensfernen Bereichen hergestellt werden. Der da- durch ausgelöste Sinnesrausch isoliert das lyrische Ich vom Leben, das von der selbstgeschaffenen künstlichen Welt zurückgedrängt wird. Dörmanns Gedicht veran- schaulicht diesen Ästhetisierungsvorgang der Jung Wiener, die das Leben nur noch als ›kunstvermittelt‹ ertragen können. Mit dieser stilistischen Manier Dörmanns bricht Lichtenstein, indem Adjektive ausschliesslich als Objekt qualifizierende fungieren, statt die Wahrnehmung des Subjekts in Gradationen zu intensivieren. Damit wird das Mo- ment der Verlangsamung, also der Wunsch nach dem Festhalten ästhetischer selbstver- liebter Sinneswahrnehmungen, im Keim erstickt. Lichtensteins drastisches, unvermittel- tes Sprechen, das mit den trivialen Konkreta und grellen Bildern zur Erlesenheit des ästhetisierenden Sprechens von Dörmann in Kontrast gerät, stellt sich also als das Re- sultat dieses destruktiven Verfahrens heraus, das vor allem auf die Auflösung der cha- rakteristischen Stilmittel Dörmanns abgesehen hat. Der anti-programmatische Charakter der expressionistischen Parodie hebt sich aber mehr im Semantischen als in der Stilkritik hervor. Das von Ästheten verachtete Leben erscheint hier wie dort unverändert hässlich, die Protagonisten Lichtensteins stellen al- lesamt einen Komplex von gesellschaftlichen Randfiguren dar: Dirnen, Bucklige, be- trunkene Burschen, Fluchende. Wenn das lyrische Ich Dörmanns aus der Opposition von natürlicher Welt und künstlichem Paradies letztlich die Loslösung vom Leben hin- strebt, sucht dasjenige bei Lichtenstein die umgekehrte Richtung zu schlagen: es stellt sich dem rauen Leben, bejaht und liebt dieses sogar. Im Gegensatz zur künstlichen Welt bei Dörmann sind es hauptsächlich Lebewesen, die seine Liebesbekenntnisse betreffen. Lichtenstein münzt also dörmannsche Zelebration der ästhetischen Reize drastisch um und macht aus dessen Verabsolutierung der dekadenten Ästhetik ein Bekenntnis zur »unvermittelten Vitalität des Lebens«.296 In dieser drastischen Entgegensetzung zeich- net sich ein ästhetisches Gegenmodel ab, das der ästhetischen Negation der Wirklichkeit im zerstörerischen Sinnesrausch deutlich Absage erteilt: Lichtensteins Verurteilung der Wiener Ästhetik als »farblose Feinheit« (V. 1) entwertet deren ästhetische Programm als blosse Illusion, die real nicht existiert. Als Gegenprogramm stellt der Expressionist »die bunte Gemeinheit der schamlosen, nackten Natur« entgegen. Somit stellt das Ge- dicht den Programmcharakter deutlich dar. Die Farblosigkeit von dörmannschen illu- sionären Einzelsensationen wird durch die real existierenden Menschen ersetzt. Die sind alles andere als erlesene, exquisite Gegenstände der Schönheit: Dirnen, Schwangere,

296 Vgl. Achim Aurnhammer, ebd., S. 44. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde 148 betrunkene Männer, eben die Bestandsaufnahme des rauen Großstadtalltags. In dieser emphatischen Hinwendung zur Vitalität der »nackten Natur« (V. 4), welche in der Grobheit und Hässlichkeit der großstädtischen Wirklichkeit (»die feisten Gestalten | Der Dirnen in geilgrellem Tand«, V. 7–8) wahrgenommen wird und für die raffiniert- dekadente Ästhetik der Wiener Moderne kaum einer poetischen Gestaltung würdig wä- re, bildet sich das expressionistische Lebenspathos heraus, das sich eben der »bunte[n] Gemeinheit« (V. 3) des Lebens bedingungslos stellen will, ohne auswählend und aus- scheidend, also ästhetisch im Leben stehen zu wollen.

IV. Schlussbemerkung

Wie andere literarische Bewegungen um die Jahrhundertwende beruht der Expressio- nismus auf dem Zusammenschluss von Schriftstellern zu literarischen Gruppen. Doch im Unterschied zu dem Kreis um Stefan George, der der charismatischen Persönlichkeit Georges und dessen dementsprechend straffen Führungsstil eine dauerhafte Struktur verdankt, waren die meisten expressionistischen Zusammenschlüsse von Dichtern von kurzer Dauer. Dies zeigt sich vor allem in der Spaltung des Neuen Clubs, der zwar als die Keimzelle des Berliner Expressionismus gilt, aber nicht einmal zwei Jahre bestand. Das liegt darin, dass die expressionistischen Gruppierungen als die Kohorte für eine junge Schriftstellergeneration auf einer recht labilen Kohäsion beruhen und strukturell durch eine lockere Verbindung gekennzeichnet sind – der »Neue Club« ging beispiels- weise aus der studentischen Verbindung »Freie Wissenschaftlichen Vereinigung« her- vor. Die expressionistische Dichterverehrung und -ablehnung, die in den Dichtergedich- ten manifestiert werden, sind, in gruppensoziologischer Hinsicht gesehen, ein Versuch, ausgeprägte politische, philosophische und ästhetische Unterschiede der Frühexpressio- nisten, die deren generationsspezifischen und sozialen Gemeinsamkeiten entgegenstan- den, zu kompensieren und die Gruppenkohäsion zu verstärken. Unter diesem gruppensoziologischen Aspekt kommen ihnen solche Dichtervorbilder entgegen, die jung verstorben und als seinerzeit verkannte Dichtergenie zu betrachten sind. Dichtergedichte an Kleist zeigen, welche Funktion die Dichterehrung erfüllt. Kleist wird stilisiert zu einem Dichtertypus, dessen Leben und Werk deckungsgleich sind. Sein früher Freitod gilt als Kennzeichen des ›wahren Dichters‹ und lässt aber zu- gleich ein Vakuum an Deutungsmöglichkeit für die nachfolgenden Generationen. Die Expressionisten füllen diesen leeren Raum mit ihrem neuen Selbstverständnis von Le- benspathos, sich dem Leben bedingungslos zu stellen, und passen den Dichter in das vi- talistische Programm des Expressionismus ein. Neben der Verehrung der Dichteridole wird auch die Opposition zu den etablierten Autoritäten des literarischen Feldes zur verbindenden Gemeinsamkeit. Sie drückt sich besonders in den lyrischen Parodien auf die lebenden Vorbilder, die als arrivierte Riva- len das dichterische Selbstwertgefühl beeinträchtigen. Aufgrund des Bestrebens der ex- pressionistischen Moderne, die Unzeitgemäßheit der neuklassischen Moderne zu entlar- ven, kommt die Parodie ihrem Gruppenbewusstsein entgegen. In der Form der parodistischen Auseinandersetzung mit ihnen, in der deren eigenen sprachlichen wie sti- listischen Manieren ›zersungen‹ werden, versuchen die Frühexpressionisten sich der Überholtheit der Dichterauffassung und Stilmuster von ›Dichtervätern‹ zu vergewissern Schlussbemerkung 150 und auf diesem Wege zu einer ästhetischen Selbständigkeit zu gelangen.297 Die banali- sierende Substitution der Inhalte sowie die verfremdende Anwendung der stilistischen Eigenheiten auf triviale Alltagssituationen stellen dazu ein vorzüglich benutztes parodi- stisches Verfahren dar, wie sie bereits in den Parodien von Pinthus, Benn und Lichten- stein gezeigt wurden. In rezeptionsästhetischer Hinsicht stellen daher die Parodien eine wichtige Quellengattung dar. Sowohl der kritischen Wendung gegen prominente Vertreter des Ästhetizismus wie auch der typologischen Orientierung der Frühexpressionisten an ihren Dichteridolen, die aufgrund ihres frühen Ausscheidens aus der Welt und ihrer Verkanntheit dem Topos des ›wahren Dichters‹ entsprechen, liegt das expressionistische Lebenspathos zugrunde. Für dieses beruft sich die junge Dichtergeneration des Expressionismus auf die Lebens- philosophie aus dem Spätwerk Nietzsches, der die Flucht des ›décadents‹ vor dem grau- samen Leben mit dessen Lebensschwäche erklärt und dagegen sein hartes Verdikt aus- gesprochen hat. Sein Typus des ›Übermenschen‹, der besonders in dem »dionysisch- tragischen« Künstler zur Erscheinung tritt, wird durch die bedingungslose Bejahung des Lebens gekennzeichnet und kommt dem Gruppenbewusstsein und Bestreben der Früh- expressionisten entgegen, die in den gesellschaftlichen sowie industriellen Umbrüchen der Moderne herangewachsen und somit in die härtere Konfrontation damit geraten wa- ren als wie es bei ihrer Vätergeneration der Fall war. Nietzsches Forderung, sich bedin- gungslos zum Leben zu bekennen, wie es ist, grausam und hässlich, rezipieren sie für ein ihrem Lebensgefühl angemessenes Dichterverständnis und stiften einen neuen Dich- terkanon, der für das eigene Werk geradezu mit eigenem Leben bürgen sollte.298 Die Verehrung der Dichteridole wie Kleist, Novalis und Hölderlin, die aufgrund des biogra- phischen Hintergrundes – frühverstorben und zu Lebzeiten verkannt geblieben – gerade dem expressionistischen dichterischen Selbstverständnis entsprechen, zeugt von dieser

297 Zur zentralen Bedeutung der Parodie für den Stilwandel im Frühexpressionismus, vgl. Aurnhammer, ebd., S. 41f. 298 So erklärt Erwin Loewenson, einer der Gründungsväter des »Neuen Clubs«, in seinem Eröffnungs- vortrag zum Neuen Club Die décadence der Zeit und der »Aufruf« des »Neuen Clubs« (8. Nov. 1909) die Deckungsgleichheit zwischen Person und Werk als eine verbindliche dichterische Norm und ver- leiht ihr einen programmatischen Charakter: »Daraus folgt, daß ich keine ›Aestheten‹ meinte: das sind solche, für die nur aesthetische Probleme existieren, also keine Probleme im eigentlichen, tiefen nach- denksamen Sinn. […] Der Aesthet macht einen Unterschied zwischen sich als Künstlerischen und sich als Menschen; er kultiviert nur den Artifex, alles übrige schiert ihn nicht, und er hat keine Sehn- sucht nach den Klüften der Antworten. Er brauchte nie plötzlich stehn zu bleiben, umringt von Rät- seln, Blitzen und Ewigkeit und die Schlacht der Fragen zu leiten. […] der Aesthet ist ein geistiger Philister. Philosophie dünkt ihm etwas Lebensfernes, Neblig-Abstraktes, Dimensionsloses. […] Ich rede nicht von Menschen, die darum philosophieren, weil es das Fach ›Philosophie‹ gibt, oder weil sie glauben, es ihrer historischen Bildung schuldig zu sein, […] Ich denke an solche, […] die trotz aller Verfeinerung aesthetischer Hochkultur noch die Notwendigkeit fühlen, die Dinge des Daseins mit dem Blick des Verstehens zu durchglühn« (in: Sheppard, S. 185f.). Schlussbemerkung 151 sozial-ethischen Deutung der Dichtervorbilder, die in den expressionistischen Dichter- gedichten manifest wird. Besonders in den parodistischen Dichtergedichten dient das biographische Deutungsmuster als entscheidendes Argument gegen den Ästhetizismus der neuklassischen Moderne. Gründend auf diesem neu gewonnenen Selbstbewusstsein wird deren Dichtung als bloße Manier diskrediert, weil sie sich mit ihrer ästhetizistisch geprägten Welt- und Dichtungsauffassung nicht dem Leben stellen. In dieser Hinsicht verhilft Nietzsche der expressionistischen Avantgarde also zur Kompensierung der feh- lenden Autorität, auf die sie in der Konkurrenz mit den übermächtigen ›Dichtervätern‹ wie Hofmannsthal und George angewiesen waren.

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VI. Anhang

1. Dichtergedichte des Expressionismus

Die Dichtergedichte werden nach folgenden adressatenspezifischen Kategorien geord- net: Erstens Gedichte an die »Ahnen«, das sind die Dichterinnen und Dichter, die vor 1900 gestorben sind; zweitens »Väter«, das sind die während des Expressionismus noch lebenden Dichter der vorangehenden Generation; und drittens »Brüder und Schwester«, das sind die Weggefährten und Angehörigen der expressionistischen Be- wegung. Als »Adressaten« bzw. »Empfänger« gelten die Dichterinnen und Dichter, die Gegenstand lyrischer Hommagen, Parodien und Dichtergedichte sind oder denen Rollengedichte in den Mund gelegt sind. Innerhalb der drei Abschnitte sind die Gedich- te alphabetisch nach diesen Adressaten sortiert. Sind mehrere Gedichte auf einen Adres- saten nachgewiesen, so sind diese intern nach dem Alphabet ihrer Verfasser angeordnet. Gedichten an mehrere Adressaten werden einmal abgedruckt und zusätzlich unter allen anderen Adressaten durch Querverweise erfasst.

1.1 Ahnen

ANDERSEN, HANS CHRISTIAN (1805–1875)

Franz Janowitz (1892–1917)

Der Schwan. Dem Andenken Andersens

Nicht wie des Schwanes sind die Flügel der Seele, nicht weiß und treu zu jeder Stunde wie seine, wie des noch feuchten Schwänleins Flügel sind, nur Sehnsucht und Zerbrechlichkeit, die Flügel auf Erden der Seele.

Am Boden hockend, den niedrigen Vögeln nah, in fremder Welt, mit irrem Blick, am Abend, sahst du sie schon, umspottet und gezaust, wenn die Sterne kamen und alle verscheuchend sie furchtbar aufschrie?

Wenn oben die Stimme ertönt, die Orgel der Heimat, wie spannt sie den Flug und raset auf und nieder, dem Käfigvogel gleich, wenn ferne der heimwärts eilenden Brüder Ruf aus Wolken ihm klein in das Ohr dringt. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 159

Doch schließt sich das Tor und sperren verhüllte Fernen die Winke der Heimat: In herbstlicher Nacht des dornigen Strauches Fluten ist schwankend ihr Nest im Sturm der Tiefe. Unter dem Flügel glüh’n die unsterblichen Augen.

Wenn einst das Wort ertönt, das wiedererkannte, Erinnerung aufbricht ans Gestern des irdischen Tags, dann wachsen im Liede die Flügel und wissen den Weg. So landet kein Schwan im unendlichen See wie dort mit aufhörenden Flügeln sie in der ewigen Hand!

F. Janowitz: Auf der Erde. München: Wolff, 1919, S. 49.

ARNIM, BETTINA VON (1785–1859)

Alfred Richard Meyer (1882–1956)

Bettina von Arnim, Brief an den Fürsten Hermann Pückler-Muskau, 25. Sept. 1833

Gehirnsinnlich! Wer? Ich! Die Briefe, Fürst, retour! Ich mich in Rasereien bacchisch hochgeschraubt, die selbst ich Achtundvierzigjährige nicht geglaubt? Mein Herz ein Labyrinth – und deshalb Psyche-Hur?

Den Kopf an deiner Schulter, Kuß der Hände nur, du – einzig Lauscher nach der Uhr, die dir erlaubt bei Schinkel den Besuch. Wem hab’ ich dich geraubt? In Muskau nun der bösen Stunde schleimige Spur!

Daß mich in Vetschau grüner Schwindel noch befiel. Der Fürstin Eifersucht war mir kein Pappenstiel. Din Wort, das mich aus Semilassos Park verwies, brennt seine Schwefelsäure. Freund, das war zu viel! »Gesellschaft« – bei der heiligen Theresia lies – »ist freundlich Feindschaft, höflich Schmach«. Schluß! Ich verzieh’s.

Romantik 2 (1920), H. 5, S. 1–2.

ASSISI , FRANZ VON (1181–1226)

Kurt Pinthus (1886–1975)

Widmungen. Zu einem Buch »Franz v. Assisi« v. H. Hesse, an Walter Hasenclever

Er war ein Wanderer wie wir – Und Sterne, Blumen, Gott und Tier, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 160

Der Menschen Glück, der Menschen Not, Sind das unendliche Brevier, Aus dem wir beten bis zum Tod…

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: Pinthus, Kurt: Gedichte und Gedichtentwürfe. ungezählt, A: Pinthus, 71.5461. In einer zweiten Fassung auf dem nächsten Blatt finden sich fol- gende Varianten:

Widmungen an Hasenclever, als Widmung in das Buch »Franz v. Assisi« v. H. Hesse […] Aus dem wir singen bis zum Tod.

1910

BAUDELAIRE, CHARLES (1821–1867)

Johannes R. Becher (1891–1958)

Baudelaire

Schwarzer Engel meine Schritte leitet. Groß Gespenst im Fluche des Jahrhunderts. Bruder, den ich aufgelöst umarm. Atem feucht, den ich erschauernd spür. Schwarzer Engel meine Schritte leitet.

Blinket wohl ein Herbst in mattem Golde. Schlägt ein giftiger Dunst aus nassem Wald. Nebelhauche blanke Fenster trüben. Mauern sprengen Fäulnis, Brand und Frost. Blinket wohl ein Herbst in mattem Golde.

Such ich im Wirrwarr der Gebüsche. Ruf ich dich an Sees verwachsenem Ufer. Kauerst du im Abendhorizonte. Der sich färbt mit deiner Greuel Blut. Such ich dich im Wirrwar der Gebüsche.

Atem feucht, den ich aufgelöst umarm. Groß Gespenst im Fluche des Jahrhunderts. Schwarzer Engel meine Schritte leitet. Atem feucht, den ich erschauernd spür.

Fressen Schatten Gier an meinen Schultern. Saugt aus meinen Adern Natternbrut. Balanciere ich durch klitschige Gassen. Himmel dräut als Eises starrer Klotz. Fressen Schatten Gier an meinen Schultern.

Und mein Weib stelzt in der nächtigen Runde, Wüst verschminkt in Bogenlampe Glanz. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 161

Ein Klavier bespeit mich mit Geklimper. Rausch mich trostlos Traurigen verschwemmt. Und mein Weib stelzt in der nächtigen Runde.

Bruder, den ich aufgelöst umarm. Groß Gespenst im Fluche des Jahrhunderts. Schwarzer Engel meine Schritte leitet. Atem feucht, den ich erschauernd spür. Bruder, den ich aufgelöst umarm.

Hoch der Grube schwankt der Sterne Lüster. Unsere Lippen leiern schauernd das Gebet. In Gefängniszellen toben wir zerprallend. In den Krankenhäusern humpeln wir zerstückt. Hoch der Grube schwankt der Sterne Lüster.

Wir, die aufgebaut an des Verfalls Ende. Hinfällig, in Azur ragende Gerippe. Daß der Blitz des Zorns uns bald entzünde, Daß wir Leuchten seien letzter Nacht! Wir, die aufgebaut an des Verfalles Ende.

Groß Gespenst im Fluche des Jahrhunderts. Schwarzer Engel meine Schritte leitet. Atem Feucht, den ich erschauernd spür. Bruder, den ich aufgelöst umarm. Groß Gespenst im Fluche des Jahrhunderts.

J. R. Becher: Verfall und Triumph. Gedichte. Berlin: Hyperionverlag, 1914, S. 22–23. Wieder in: J. R. Becher: Lyrik, Prosa, Dokumente. Eine Auswahl, Wiesbaden 1965, S. 20–21; J. R. Becher: Ausgewählte Gedichte 1911–1918. Berlin: Aufbau, 1966, S. 50–51.

Johannes R. Becher (1891–1958)

Das Dreigestirn

Wenn wir im Dunkel schlagen uns zum Flusse, Der Hagel Schauer übers Haupt uns brechen: Erwählte Führer ihr der irdischen Fahrt, Als Flammen Türme in der Wetter Schwall!

Da Leuchten in der Wolken Höhle kriechen, Gerüste zucken nieder im Verfall. Wir rufen euch, wir dünne Schar der Siechen, Die heulet mit der Donner gellem Hall.

wie Balsamschalen, die einst Engel streuten, Schafft Ruhe ihr dem aufgereiztem Land, Daß wild die Pferde vor den Droschken scheuen, Und euer Denkmal loht als Feuers Brand. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 162

Rimbaud, Kleist und Baudelaire – (…um deren Haupt des Ruhmes Binde weht…) Euch grüßt der Dichter, der zerrauft und leer, Ein Bettler orgelnd auf dem Platze steht,

Verwahrlost und vertrottelt zu der Helle, Dem Lichte zu wie ein Insekte irrt, Bis sich sein Lumpenflaus entzündet, grelle Er Bundesstern in euerem Bilde schwirrt.

J. R. Becher: Verfall und Triumph. Gedichte. Berlin: Hyperionverlag, 1914, S. 162. Wieder in: J. R. Becher: Ausgewählte Gedichte 1911–1918. Berlin: Aufbau 1966, S. 148.

Franz Theodor Csokor (1885–1969)

Grabmal eines Poeten (Steinbild Baudelaires, Friedhof Montparnasse, Paris)

Wie er im Urgewand der Laken liegt, umkreist ihn Rast, die alles Rasen dämpft – Auf dieser Stirn hat Gott und Tier gekämpft, und über Gott hat hier das Tier gesiegt.

Am Kreuz des Fleisches blieb er ausgereckt im bittern Mund der Sehnsucht weißes Lob. Wollust des Abgrunds hat sein Haupt befleckt, das sich zum Scheitel aller Sterne hob.

Ein Heiland war er ohne Himmelfahrt, ein Moses mit gebrochnem Führerstab, Gott gab ihn hin, der sich dem Blut ergab, und eine Hure hat ihn aufgebahrt.

Doch stets sind Rosen frisch auf seinem Grab –

F. Th. Csokor: Immer ist Anfang. Gedichte von 1912 bis 1952. Innsbruck: Österreichische Ver- lagsanstalt, 1952, S. 60.

Hans Havemann (1887–1985)

Baudelaire

qualenberausschte, tiefentrunkene, fernensehnende Melancholie, die unterm Stachel des Unentrinnbaren muss sich betäuben, irren Flugs empor sich schleudert in Jubel-Ekstase, todwunde Fledermaus Hoffnung dann an Wänden hinflattert, O wie krank am Sein, von Traumgewalt durchschüttert, goldtriefend mit leeren Händen – arm und reich, gross in wissender Pein – einsam Liebender Du.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Havemann. Einzelgedichte. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 163

BOCCACCIO, GIOVANNI (1313–1375)

Paul Mayer (1889–1970)

Boccaccio bei der Nachricht vom Tode seines Vaters

Schafft Wein herbei; der mich gezeugt, ist tot. Bringt Astiwein, der Stumme munter macht, Laßt Fackeln lohen, denn ich will die Nacht Töricht und glücklich meiner Freiheit weihen. Ich kann nicht heucheln und »peccavi« schreien Um einen, der mein Wesen so verkannt, Daß er zuerst an eines Krämers Tisch, Hernach ans corpus juris mich gebannt.

Bringt Becher her; verflucht zu tausend Malen Des heil’gen Vaters weise Dekretalen. Im Reichtum schwimm ich, wie im Teich der Fisch. Das hat der Alte wahrlich gut gemacht; Zeit seines Lebens sammelt er Dukaten Für seinen Sproß, der seiner Vorsicht lacht, Von Bacchus und Frau Venus wohlberaten.

So singt Horaz, der längst mein Meister war: »Weinfeuchte Kränze schlingt in euer Haar; Genießt den Tag, die Parzen warten schon. Die letzte Weisheit ist des Zechers Lohn.«

Laßt sie doch schwatzen nur vom Antichrist, Das ist ein Fraß für Nonnen und für Narren. Bevor der letzte Tag gekommen ist, Will ich mit Würfeln, Mädchen und Guitarren

Dem Weltenuntergang entgegenharren. Von Kuttenheuchlern weiß ich euch Geschichten, Von Keuschheitsknechten, so die Triebe hehlen, die nie bekennen und doch nie verzichten Und insgeheim vom Baum der Lüste stehlen.

Mich aber soll des Lebens Wellenspiel Wohin es mag, in bunte Fernen tragen, Denn dies ist Jugend: Leben ohne Ziel, Im Rausche gleiten in das Unbekannte, Wahllose Sehnsucht tief ins Blut gebettet Und Trieb und Wille so in eins gekettet, Daß jede Stunde eine gottgesandte, Und jeder Tag Notwendigkeit erscheint.

Die Aktion 3 (1913), Sp. 1037–1038. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 164

BÖCKLIN, ARNOLD (1827–1901)

Jakob van Hoddis (1887–1942)

Boecklin

Leicht widerlegt mit Deinem Geschwätz Ein schlauer Professor künftig Empirisch das Hegelsche Gesetz Was ist das ist vernünftig.

Daß seine Theorie so schwach, Du darfst darob nicht lachen. Der eine weiß, so wird’s gemacht, Der andre kann es machen.

Und weißt du So wird’s von dem einen gemacht Schwapp! Hast du beim andern Was falsches gedacht.

Du fragst, ob er ein Maler sei? Das hab ich nie gesagt Doch sagst du, daß er kein Künstler sei, Wirst du als Wälscher verklagt.

Ist das Monographengelichter Einem erst mal auf der Spur, Wird ein Maler gar zum Dichter, Zum »Gipfel« der ganzen deutschen »Kultur«.

J. v. Hoddis: Dichtungen und Briefe. Hrsg. v. Regina Nörtemann. Zürich: Arche, 1987, S. 204 (aus: Epigramme und Satyren. 1905 bis Januar 1906).

BÜCHNER, GEORG (1813–1837)

Franz Theodor Csokor (1885–1969)

In memoriam Georg Büchner

Brannte dir nicht unter deinen Händen Das Papier? – Floß deine Feder nicht Schwarzes Blut? – War nicht im Tageswenden Stets ein neuer Teil von dir zunicht?

Du, das Herz von unser aller Leiden, Du, der Zorn von unser aller Grimm, gingst du nicht zu jedem, sprachest: Nimm! Was ich immer habe, sei uns beiden! Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 165

In die Armut zogst du Helden weihen, Dem Gemarterten liehst du den Kranz. – Deiner Kinder grauser Totentanz Riß dich hin in ihre Riesenreihen.

Und die Schatten, die du schufest, sogen Dir das Blut aus deiner nackten Brust. Um sein Höchstes ward in dir betrogen Dein Jahrhundert – und hat’s nicht gewußt.

Der Strom 3 (1913/14), S. 199. Wieder in: Dietmar Goltschnigg: Franz Theodor Csokors Beiträge zur Rezeption Georg Büchners. In: Immer ist Anfang. Der Dichter Franz Theodor Csokor. Hrsg. v. Joseph P. Strelka. Bern u. a. 1990, S. 25–37, hier S. 26–27.

A. Rudolf Leinert (1898–1969)

Georg Büchner

So irrend durch die Heimat hasten! Fremd, die ihm freund. Und Mädchen segnen keimverwebter Stunden. Urfeind dem Wort, das ohne Tat zerprahlt!

Doch: wenn in Nächten Scheibenmond hinstreunt, Der Länder Lümmeln sehnend übermalt, Wächst Wissen –: Neu-Gehirne tasten Gen Mensch-Erwerden, frei und ungebunden!

Da riß sein Herz!.. Mit jenem Blut der Wünsche Ziel bezahlt.

A. R. Leinert: Gott-Mensch Geburt. Dresden: Dresdner Verlag von 1917, 1918, S. 6.

Paul Mayer (1889–1970)

An Georg Büchner

Du unsres Wollens Ahnherr, leuchtend Feuer, Du Waldbrand, der durch alle Zeiten loht. Du Sternenfackel, rotes Abenteuer, In Dir rauscht unser Blut, rast unsre Not.

Du warst in uns, da uns an allen Fronten Der Tod ein Nachbar ward, ein Kamerad, Du warst in uns, da wir die Jugend sonnten In Sinnenspiel, in Träumen, erster Tat. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 166

Verschwistert sind wir, wie der Tod dem Leben, Du, unsrer Seele Keim und Kern und Kranz. Dein Weckruf klang: Es wirbeln die Epheben, Die Lorbeertrunknen, in den roten Tanz.

P. Mayer: Der Kreuzzug. Neue Gedichte, Verse. Heidelberg: Verlag Hermann Meister, 1922, S. 31.

BÜRGER, GOTTFRIED AUGUST (1747–1794)

Alfred Richard Meyer (1882–1956)

Gottfried August Bürgers Tod

Mit Tamarinther Wolken wochenlang zu Tod kuriert, Magres Skelett, das Bürger heißt, ins Leere stiert. Ein Medikus spricht was von Quasia, Eisen, Stahl. Noch einmal wird ein fernes Frauenbildnis fahl. »Die Nachtfeier der Venus« – noch nicht gut genug. Von Lethes dunkler Quelle weht ein kalter Zug. Elysium – wie an Elise das anklingt! Elysium – Matthissons Vers in ihm aufschwingt: »Psyche trinkt und nicht vergebens! Plötzlich in der Fluten Grab Sinkt das Nachtstück ihres Lebens Wie ein Traumgesicht hinab.« Die Kinder – Das Skelett bäumt sich. Der Mund versagt. Ein letztes Gurgeln möchte Stimme sein, die klagt. Um Stift und um Papier müht zitternd sich die Hand. Der Freund entzündet hastig zweier Kerzen Brand. Die Augen wenden sich. Die Lippe lallt: »Mein Sohn –« Ein Ruck. Und eines Menschen Seele ist entflohn.

Romantik 2 (1920), H.5, S. 1.

BYRON, GEORGE GORDON (1788–1824)

Theodor Däubler (1876–1934)

An Byron

So großer Lord, der Sonne liebster Dichter, Dich Byron, ehrten Menschen, liebten Feen; Gefeiter Jäger, Blicke auch von Rehen Zerbrach dein Herz; du sterntest sie als Lichter.

Dein starkes Atmen trotzte warm dem Richter – Im Heuchlerland – über entkrampften Ehen: O glücklich warst du nie – bei Wonnewehen – Entschminkte rasch dein Morgenstrahl Gesichter. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 167

Dich feire ich, du bist ein Held geworden: Mein Dichter, wo du bliebst, erfreut, verwöhnt, Verläßt mich niemand, wird kein Freund mich morden.

Wer ehrte mein Gedicht, daß ers verhöhnt? Doch weil ich froh – verwitternd unter Horden, Die du befreit hättest – auch fast verpönt.

Th. Däubler: Attische Sonette. Leipzig: Insel, 1924. Wieder in: Expressionismus. Lyrik. Hrsg. v. Martin Reso in Zusammenarbeit mit Silvia Schlenstedt und Manfred Wolter. Mit einem Nachwort von Silvia Schlenstedt. Berlin und Weimar 1969, S. 108.

Gustav Sack (1885–1916)

A la Byron

Es lohnt sich nicht, ach Kind, es lohnt sich nicht; denn meiner Seele tiefe Apathie fragt nichts darnach, ob du dein Angesicht erröten läßt, erbleichen läßt – oh flieh

dies Haupt, das nie in seinem müden Hirn dein süßes Bild voll Liebe tragen wird, oh meide diese hochmutsvolle Stirn, auf die sich nie des Frohsinns Hauch verirrt,

auf die sich niemals deine weiche Hand im Dämmerlichte tröstend legen darf, küß nie den Mund, des Zauber längst entschwand, denn gramvoll ist sein Wort und ätzend scharf

sein Hohn. – Wenn du die Blicke auf mich warfst, ich bitte dich, laß fürder mich allein, Grasaffen gibt’s wie Sand am Meer, du darfst mich gerne frostigem Vergessen weihn.

G. Sack: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Hrsg. v. Paula Sack. Bd. 2. Berlin: S. Fischer, 1920, S. 24.

CONRADI, HERMANN (1862–1890)

Alfred Richard Meyer (1882–1956)

Der sterbende Conradi

Würzburg. Kapuzinergasse sieben, zwei Treppen. Der Dichter Hermann Conradi im Bett. Repetiert sein piget, pudet, paenitet, läßt seine Menschen- und Weltschleimerei steppen. Auf dem Tisch die Broschüre: »Wilhelm II. und die junge Generation«, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 168

für »Adam Mensch« die staatsanwaltliche Konfiskation. Es ist zum vor die Hunde gehn! Soll man mal nach dem Wetter sehn? Ein Schoppen Wechenheimer bei Treutlein? Vielleicht macht der, daß man den Doktorhut endlich erreicht. Oder ob man das doch überhaupt lieber läßt, besser verreckt? Hol’ es die Pest!

Romantik 2 (1919/20), H.5, S. 2. Wieder in: A. R. Meyer: Würzburg im Taumel. Arabesken. Berlin-Wilmersdorf: Selbstverlag 1911; A. R. Meyer: Die Sammlung. Berlin-Wilmersdorf: Selbstverlag,1921, S. 99.

DANTE ALIGHIERI (1265–1321)

Paul Mayer (1889–1970)

Dantes Tod

Wozu nur war der Seele Fahrt und Reise Durch Hölle, Himmel und das Fegefeuer? Wozu der Aufstieg in der Sterne Kreise? Wars Gottes Wille oder Abenteuer?

Das Weltall schuf mich, daß sein Lob ich preise Mit allem was darin: Mord-Ungeheuer, Tragische Paare, sanft verzückte Greise Und Völker ohne Zucht und ohne Steuer.

Was ist die Welt? Es ist doch nur die eine Geliebte Stadt; sie ist der Kern, das All. In ihr sind heilig Bettler, Hunde, Steine.

Ich glühe durch die Zeiten: Nie verkannt Berührt kein Wandel mich und kein Verfall. Bekränzt, vergöttert sterb ich und – verbannt.

P. Mayer: Wanderer ohne Ende. Ausgewählte Gedichte. Berlin-Grunewald: F. A. Herbig Verlags- buchhandlung (Walter Kahnert), 1948, S. 36.

DOSTOJEWSKI, FJODOR MICHAILOWITSCH (1821–1881)

Johannes R. Becher (1891–1958)

An Dostojewski

Es donnert Wind. Gewaltige Bahnen ziehen. Denn deine Flächen, Erde, sind durchbraust. Du preist den Marsch aus unverfälschten Knien. Das Urwald-Menschgesicht ist aufgetaucht: Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 169

Mit Traum-Geschrei und angstzerknüllten Blättern. Es furcht der Mond durch eine letzte Nacht. Den Luft-Raum aber wunsch-kühn zu durchklettern Bin wunderbar ich plötzlich auferwacht.

In dieser Zeit verruchen Böen ankern – Wer setzt den Mast auf das gejagte Schiff?! Stern der Legende: Der Gewalt-Gedanke Verfärbt im Blitz-Sturm Deiner Ewigen Schrift.

J. R. Becher: Um Gott. Leipzig: Insel, 1921. Wieder in: Expressionismus. Lyrik. Hrsg. v. Martin Reso in Zusammenarbeit mit Silvia Schlenstedt und Manfred Wolter. Mit einem Nachwort von Silvia Schlenstedt. Berlin und Weimar 1969, S. 111.

Rudolf Fuchs (1868–1918)

Dostojewski schreibt

Mein Lieber Maikow! es bröckelt. Im Erdgeschoß in der Schmiede klopft man und hämmert man bis in die Nacht. Anna Grigorjewna ist schreckhaft erwacht und fuhr in die Höh − doch sah sie mich schreiben, hüllt fester ins Tuch sich, um warm zu bleiben. − Seit mich aus der Heimat die Schulden vertrieben, bin ich nur ein Flüchtling auf Erden geblieben. Ich kann mich nicht fassen und nichts kann mich binden, ich bring’s nicht zu Wege, mich selber zu finden. Mir ist zuweilen, als wär ich gestorben, ich weiß nicht, wie’s kam, daß ich es erworben, dies Recht, hier auf Erden als Geist noch zu wohnen, mich, Geist, zu vergeuden und Geist, mich zu schonen. Glauben Sie mir, wenn ich es so fühle, schwinde ich hin aus dem Jammerasyle, bin auf der Wiese die bläuelnde Flamme, bin Laubwaldgewoge, des Steppenwinds Amme, bin Murmeln der Wolga, der Frachtsegel Bauschen, ja, das bin ich wahrlich, dies dreifache Rauschen des Waldes, des Wassers und Rauschen des Blutes. − Mein lieber Maikow: Sie fragen, was Gutes es an sich habe, in Baden zu spielen und, daß man verliere, im voraus zu fühlen? Es hat nichts Gutes. Hier sitz ich geduldig, bin einige Monate Miete schuldig, die flackernde Seele mit traurigen Schwingen schämt sich vor Anja, der scheinbar Geringen. Dies ist kein Verhängnis, nicht Schicksal, noch Wille, das sind die Gezeiten, die reifen in Stille: Da sind wir daran, zu erblühn und zu spenden, jetzt wieder zu frieren, vertieren und enden, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 170

und hätt ich den Scheitel mit Jordan gesegnet, mir klebten die Haare, von Sorgen verregnet. Und wiegte mich oben die himmlische Welle, ich stieße hinunter, wo just meine Stelle. So war mir’s ergangen. Ich will nun versuchen, was in mir sich wandelte, schaffend zu buchen. Es wettert. Noch weiß ich mich tief zu versenken. Laß rasen! Ich werde es göttlich beschenken. Nur leben noch will ich in meiner Welt! Schicken Sie, Maikow, o schicken Sie Geld …!

R. Fuchs: Die Prager Aposteluhr. Gedichte, Prosa, Briefe. Ausgewählt, kommentiert u. mit einem Nachwort versehen v. Ilse Seehase. Halle u. Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 1985, S. 48–49.

Camill Hoffmann (1878–1944)

Fedja Michailowitsch [Dostojewski]

Ach dieser Morgen, Ende Januar! Aprilen scherzende Sciroccodüfte Aufsprengen unter Rippen mir die Grüfte, Verschüttet und vergessen! Wieder ist, was war!

So leuchtete die Luft, als von Dominicus In Prag ich, monatlich ein Heft, »Casatis Abenteuer Am dunkeln Kongo« heimtrug, angezehrt vom Feuer Des Unbekannten und der Ferne Rätselgruß.

Die Wolken flogen, und das Herz entflog! Die Straßen stürzten eng, erst auf den Schanzen Schien holder Tag Lichtfahnen aufzupflazen, Sie wehten breit zum Strom, der um Ruinen bog. Raddampfer schaufelten, Rennpferde, lang gestreckt, Durchschnitten glatt das grüne Tuch der Wiesen, Zwei Flößerjungen Okarina bliesen, Ein Taubenschwarm entschwirrte aufgeschreckt.

Fedja Michailowitsch, mein liebster Freund, Kam mit erhobnen Armen mir entgegen: »O Glück, so wollen wir uns in die Sonne legen, Die Welt ward nicht erschaffen elend eingezäunt!

Sieh, wie die Wolke silbertrunken fliegt, Unendlich aufgebaut erblaun die Himmelsräume! So sei Unendlichkeit das Maß der Träume! O fühl’ es, wie sich Erde selig an uns schmiegt!«

Fedja Michailowitsch, entflammter Geist, Wie sind wir oft mit Wolken, Sternen, Vögeln, Das Herz entankert, auf! mit Purpursegeln In fabelferne Länderein gereist! Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 171

Geschieht’s nicht täglich auf dem Vysehrad, Daß dort zwei Menschen brüderlich erbrennen, Um Freundschaft süß und Freiheit Gott zu nennen? Zu Füßen Prag, die schmerzenreichste Stadt!

Deutsche Dichter aus Prag. Ein Sammelbuch. Hrsg. u. eingeleitet v. Oskar Wiener. Wien u. Leip- zig: Strache, 1919, S. 151–152.

Walter Rheiner (1895–1925)

Beim Lesen Dostojewskijs

Wie grüner Mond den Horizont umschleicht, geht jener durch die Straßen, dinghaft, bloß. Nacht-Himmel welkt (o schwarze Riesen-Rose!), er aber geht und geht, geneigt, gebeugt

über sein totes Herz. Er trägt es hin. Die Stirn, ein Gletscher, birst. Der Haar-Wald kohlt. Es heftet sich ein Stern an seine Sohle; die Arme flattern; Schulter-Regen rinnt.

Erhebt das Haupt, und: sieh den Mund! er glüht, stummes Orchester!, Sonne schon verkrustet! Tür-Nischen beben. Dumpf zerbricht die Brust! Er lehnt an der Laterne, sieht und sieht.

Und sieht die Finsternis, die uns umschleicht wie grüner Mond, wie totes Herz das wandert. Und er ist er und er ist tausend andere… Er geht und geht, zur Finsternis geneigt.

Die schöne Rarität 2 (1918/1919), S. 170.

Erich Schuster(-Schönfels) (1902–1977)

Dostojewsky

Maisonne lag auf grüner Flur und samtnem Rain, da wollt der Heiland Jesus Christ zum Himmel ein. Erlös uns, Gott und Herre.

Mariensohn, du Gotteskind, dein’ Mutter klagt in Schmerzen: Verloren wieder, zweimal tot. Wer hilft dem armen Herzen? Bleib bei uns, Herre, bleib.

Vergebens fleht. Weil er den Tod von Angesicht erblickte, dankt er dem Vater, der ihm Hilfe schickte. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 172

Der Weltenheiland! Schwach und wehe ward er nur, als er ja Wolkenmajestät zum Himmel fuhr: Erlös dich, Gott und Herre.

Die Rheinlande. Monatsschrift für deutsche Kunst und Dichtung 29 (1919), S. 256.

Alfred Wolfenstein (1883–1945)

Dostojewski

Wir können nicht sehen, was er ist … Ob Angesicht der Sonne … oder das In ihrem Rücken, böses Düstern …

Die Fernen bis in der Seelen Mitte durchmißt Sein ruhloses Wort und entzündet sie wie Glas Zu weißen Nächten … nach Dunkel wie nach Licht lüstern …

Und zwischen der steigenden heiligen Fom frißt Brückenloser Tiefen Loch, modriger Haß … Seinen Priesterton übermischt ein Flüstern …

Die Aktion 4 (1914), Sp. 330.

THEODOR, FONTANE (1819–1898)

Ferdinand Hardekopf (1876–1954)

Theodor Fontane

Er spielte virtuos, auf schwarz und weißer Taste, Ein Ruhmes-Pseudogramm der kriegerischen Kaste. Servil. Mit Geist. Und dies verdroß die Kaste mächtig. Sie will verherrlicht sein: doch Geist ist ihr verdächtig.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Hardekopf, 70,12 71.1457. »Xenien«. Druck in: Neue Schweizer Rundschau, 1928.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 173

GOETHE, JOHANN WOLFGANG VON (1749–1832)

→ KLASSIKER, DEUTSCHE (Ferdinand Hardekopf: Aus klassischer Zeit).

Franz Richard Behrens (1895–1977)

Goethe

Namen leeren Zitterwellen Wimmel scharen allen Sitz Flügel flattern Schlagen Milde blitzen Augen schlingen Ketten kreisen Krumme schelmen Angst weiss Hals Wölben inseln flüstern inseln Säusel schweben wurzelauf Ure menschen Kraft

F. R. Behrens: Blutblüte. Berlin: Sturm, 1917. Wieder in: F. R. Behrens: Werkausgabe. Bd. 1: Blutblüte. Die Gesammelten Gedichte. Hrsg. v. Gerhard Rühm. München 1979, S. 8.

Hans Franck (1900–1946)

Goethe

Du gingst – sie rannten, jagten in Karossen, sie rühmten kriechend, klebend, sich zu eilen, sie trieben von Verweilen zu Verweilen, sie warfen Ängsteanker, Taumeltrossen –

Du gingst – sie haben Gift in dich gegossen, sie wollten dich ummauern, dich zerteilen; sie banden dich mit Simsons sieben Seilen – Du gingst. – Verfließend bist du nicht zerflossen.

Hinauf zu jenen Gletschergipfelmitten, die nie ein Fuß betrat, bist du geschritten: und immer noch ergingst du kein Genügen.

Mehr! Mehr! begehrend mit den letzten Zügen, bist du aus deinem Leibe fortgegangen – – die Götter haben dich als Gott umfangen.

Die Rheinlande. Monatsschrift für deutsche Kunst und Dichtung 29 (1919), S. 259.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 174

Iwar von Lücken (1874–1939)

Goethe. An seinem Grabe

Schon wieder steh ich hier wie einst Und die Tore sind geschlossen. Und Dein Geist wird lebendig in mir, Deine Maske fällt, Du mir zu großer als daß ich dich lieben könnte.

Von Deiner Sammlung komme ich, Wo die Steine mir lebendig wurden, Und gedenke Deiner, wie das Licht strahlte in Dir, Und Deiner farbigen Liebe. Ach, Reue, die mir sonst nicht eigen, Fühl ich hier an Deiner Stätte, Daß ich, nicht überall Dir folgen könnend, Manchmal sprach ein bitteres Wort. Und dennoch sind Deine Worte auch lebendig in mir, Und auch Dein Fluß hat sich dem meinen vereint. Wie kann man da tadeln Und sich schneiden ins eigene Fleisch? –

Alle, die den Geist erkannten, Umarmen sich selig in Liebe, Und die Mißverständnisse gleichen doch nur Nebelhaften Zeiten, Die schweben herauf hier und da, Die gelben Schleier, wenn die Sonne sich verbirgt. Und das sind Zeiten der Bereitung, Wo Kräfte sich spannen zur neuen Bejahung. Und das soll man fühlen, um es zu vergessen. Und Du kannst doch wohl zürnen nicht, Du, der Du das Geheimnis erkanntest Der Steine selbst und des farbigen Lichts. –

Und wenn sonst nichts wäre.. Hier allein knüpft notgedrungen der Mensch wieder an, Der heutige, der Zerfallene, Zum Aufbau am Menschentum, Das uns wohl fremd geworden. Und ich scheide, scheide beklommen, Daß ich noch nicht so schwingen kann Wie es die Zeit erfordert. Doch nahm ich heut Stärkung mit Als Irrender, in Sehnsucht Suchender Die Brücke, auf der wir wandeln alle, Alle zum ewigen Licht.

I. v. Lücken: Gedichte. Berlin-Grunewald: Horen, 1928, S. 24–25. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 175

Reinhard Johannes Sorge (1892–1916)

Goethe Abend

Aus des Alls und der Sonne Weitesten Kreisen Schlingt dich der goldene Rhythmus des Abends Sanft in den engeren Ring.

Aber hier wie tief Strömt der Erneuerung Ewige Quelle! Weben nicht die geschäftigen Und so heiteren Hände des Weibes Stets den beglückenden Schleier Um des Tages Glut Und ein sicheres Gespinst Um alle Gedanken, Die zu neuem Tag Unmerkbar reifen?

Innige Gewande Um die Eroberungen, Um den zitternden Kampf Hüllt schützend das Weib und zwingt Selbst die wildesten Schreie In der Ruhe tiefströmendes Bette.

Bunt und ruhig Flicht sich die Reihe Reicher seliger Glückgoldener Tage.

Lind und langsam Rieseln blaue Leuchtende Herbstblumen Von allen Stunden nieder.

Doch in der Seele Schlingen sich und steigen Ewig aufwärts im Schwunge Nie gesprochene Gedichte.

Reinhard Johannes Sorge: Werke in drei Bänden. Eingeleitet und hrsg. v. Hans Gerd Rötzer. Bd. 1. Nürnberg: Glock & Lutz, 1962, S. 384–385.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 176

Paul Zech (1881–1946)

Goethe

I Der Wasser- und der Feuerprobe: ohne Widersinn hast Du Dich ihr gestellt, sie überstanden. Du gabst Dein Innen, nicht Dein Aussen hin, obwohl Dich viele Würden daran banden,

in dem vergänglichen Getriebe Deiner Zeit. Das Unvergängliche, das ging Dir näher und in den Bildern und Vergleichen lag auch das bereit, was sterblich ist und Beute für den Mäher.

Du warst ein strenger Lehrer und vor allem Dir, als tragisch anzusehen, das, was hier zu leben, der Menschen Auftrag ist, so lange wir

das Schicksal sind, an dem die Mütter-Mütter weben. Ergriff es uns und nahmen wir es auf als Schuld in uns, und abzutragen in Geduld?

II Du Wächter auf des Turmes hoher Zinne: Du sahst die Erde und Du fandst sie nicht so schuldig, um ins Nebelnichts zu rinnen; Du nahmst sie auf ins milde Abendlicht,

Wie es ein Gott nicht inniger vermag. Kein Wetter konnte Deinen Ruf verhindern, er überschrie den Hagel- und den Donnerschlag, und war so wohlgelitten bei den Kindern,

dass sie sich sicherer fühlten, als im Singen der Mütter, und der Schlaf kam ihnen leicht. Die Sterne, die in Deinen Haaren sich verfingen,

verschwisterten sich mit der inneren Stimme. In uns ist nur das alte Schlimme hellwach und wartet, dass ein Wunder uns erreicht.

III Wars nicht genug, dass wir Dein Werk und Dich besassen, das immer neu erfühlte Uebermasz, das weder Rost noch Motten frassen, und wer`s in seiner Seele ganz besasz,

ihm nicht gelüstete, dem nachzujagen, was auf dem Markt sich feilbot, frech und schlecht? Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 177

Du hast die Welt so weit vorausgetragen, dass selbst das noch nicht hiesige Geschlecht

sein Dasein darauf gründen kann. Dir wars schon kenntlich, was wir erst erahnten in einer fernen und befriedeten Natur.

Erst im Verlieren dieser schnurgeraden Spur, auf jenem krummen Nebenweg, den wir uns bahnten, begann das Unheil und Dein Geist zerrann.

IV Als er zuletzt den Finger hob und schrieb, als sei die Luft zu einer weissen Wand versteinert, auf der das Hingeschriebene stehen blieb, vergrössert eher, als verkleinert,

dies, ihm zum Ur-Laut schon gewordene: Mehr Licht ! : er hat es nicht für sich geschrieben, es lag schon jene Nacht auf seinem Angesicht, der wir von Kind zu Kind entgegentrieben,

hoffärtig und auf Nichts so angespannt bedacht, als auf das unheilvolle Ich, das neben sich kein anderes mehr duldet.

Zu einem Menetekel hat es sich gewandelt, das, was seine Hand hinschrieb, allein von uns verschuldet.

V Sind wir noch soviel wert, Dich wieder anzurufen und Deiner uns zu rühmen als Besitz ? Uns trennen heute schon Jahrhundert-Stufen von Dir auf dem olympisch-hohen Sitz.

Nie waren wir das Erbe wert, wir schlechten Verwalter des uns anvertrauten Pfunds; die Bindung an den ersten der Gerechten, ist nicht mehr gültig, weil wir uns

nicht mühten, sie mit Klauen und mit Zähnen wachsam und wach in seinem Geist zu halten. Was jetzt an uns reisst

und unterm Lid das Bittersalz der Tränen: Das ist die Angst, wohin es uns noch treibt, wenn nichts von Deinem Wesen uns verbleibt. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 178

VI Brau uns den Trank aus Ur-Natur-Essenzen, Magister Faustus, junggebliebener Geist, den keine Zeiten mehr umgrenzen, kein fehlgelebtes Leben mehr umkreist!

Wie sind wir Graugewordenen eingesponnen in diese taub-und blinde Wirrniswelt, wie sind wir alten Hirne leergeronnen und auf das müde Ich allein gestellt!

Brau uns den Trank, dass endlich, im Genesen, abschmilzt von uns das schlimme Hoffnungslos, denn unsere Söhne sind gewesen,

sie starben hin, verwildert, jeder Einsicht blosz, am Abgrund, wo die leeren Schösze klaffen… Brau uns den Trank, die Kraft: uns wieder aufzuraffen.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: Nachlass Paul Zech, 64.690. Aus dem Zyklus Die drei Gerechten. Goethe, Hölderlin, Beethoven. Geschrieben im Exil in Argentinien und in zehn Exemplaren als Weihnachtsgabe für Freunde vervielfältigt, Buenos Aires, im Dezember 1945.

GRABBE, CHRISTIAN DIETRICH (1801–1836)

Klabund (d. i. Alfred Henschke) (1890–1928)

Grabbe

Du, meiner Kindheit stürmischer Befreier. Krank war ich, krank wie du − und ich genas An jenem Tag, da ich »Napoleon« las. − Das war ein Klang, auf ungewohnter Leier.

Das schnob wie Wetter um ein morsch Gemäuer Und scheuchte Fledermaus und Spatz und Eule, Vom Halfter rissen sich im Stall die Gäule, Und zischend schlug der Blitz die Erntescheuer.

Du rangst mit Gott − und wagtest ohne Steuer Auf schwankem Nachen kühn dich durch die Brandung. Dem Sterne folgst du, nicht dem Leuchtturmfeuer, Umflattert von des Sturmes wild Gewandung.

Ein Denkmal dir in Düsseldorf − tut’s not? Wo sie mit Schumann schon und Heine hadern? Du schufst aus deiner Dramen trotzigen Quadern Ein Monument, das über Zeit und Tod. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 179

Man steht als Bürger berghoch über dir, Liest man’s nicht täglich, schmunzelnd, in der Zeitung: Wir sind die Bessern, wir Normalen, wir …? Scherz, Ironie … und tiefere Bedeutung.

Der Komet 1 (1911). Wieder in: Expressionismus. Lyrik. Hrsg. v. Martin Reso in Zusammenarbeit mit Silvia Schlenstedt und Manfred Wolter. Mit einem Nachwort von Silvia Schlenstedt. Berlin und Weimar 1969, S. 14.

GRILLPARZER, FRANZ (1791–1872)

Jakob van Hoddis (1887–1942)

Grillparzer

Dein Vers ist rein und unverfälscht. Nie sah ich in ihrer Bloßheit So ohne Zweck und Nebenzweck Die unbedingte Bosheit.

Am Hosenknopf, am Würmchen klein Erkennst du des Lebens Großheit. Das soll so herzerquickend sein, Warum nicht große Bosheit?

Jedes Ding auch noch so klein Ist schön. Ganz ohne Schranke! Auch, wär er falsch auch und gemein, Ein schöngeformter Gedanke.

J. v. Hoddis: Dichtungen und Briefe. Hrsg. v. Regina Nörtemann. Zürich: Arche, 1987, S. 205 (geschrieben im Zeitraum 1905 bis Jan.1906).

GÜNTHER, JOHANN CHRISTIAN (1695–1723)

Alfred Richard Meyer (1882–1956)

Dem Andenken an Johann Christian Günther

»Oft ist ein guter Tod der beste Lebenslauf!« Als Knabe schlug ich einst, mit flammendem Gesicht Verbot’ne Bücher suchend, dieses Bußgedicht Von Johann Christian Günther tief erschüttert auf.

In stillen Stunden zwingt ein dunkles Denken mich Und weckt zu wachem Leben eine tote Zeit, Des bangen Abends atemschwere Einsamkeit, Wenn wild der Sonnenball, aus Wunden blutend, blich. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 180

Und wieder warf mir jäh im wälzenden Gewühl Der Tage eine schwarze Woge dieses Wort So unerwartet auf, und trübe trieb’s mich fort Aus meines bunten Lebens lust’gem Trauerspiel.

Auf Jenas grauem Kirchhof birgt ein kleines Grab Die rasch verrauschte Jugend und den großen Schmerz Des Dichters Günther. Doch kein Stein, kein Kreuz von Erz Weiß wo er schläft, kein Weidenbaum hängt mild herab.

Wohl sucht’ ich unter welken Epheublättern nach, Auf bleicher Marmorplatten zeitzerfall’nem Bruch, Hartnäckig schweigt Vergessenheit, kein Kirchenbuch Will wissen wo sein Grab, der Großes einst versprach.

Nachdenklich ging ich durch den dunklen Nachmittag: Das Glück, die Freundschaft, Liebe ist nur eitel Schaum, Auch Dichterruhm ist nur ein dummer Erdentraum! – In weißen Nebellüften wehes Weinen lag.

A. R. Meyer: Zwischen Sorgen und Särgen. Gedichte. München: E. W. Bonsels, 1906, S. 41. Wieder in: A. R. Meyer: Die Sammlung, Berlin-Wilmersdorf: Selbstverlag, 1921, S. 9–10 (unter dem Titel Johann Christian Günther).

Klabund (d. i. Alfred Henschke) (1890–1928)

Nachtgesicht. An Johann Christian Günther

Ich bin mit dir gegangen Durch Nebel, Nacht und Wind. Die Tannenwälder sangen, Die Wolken krochen wie Schlangen Über den Himmel hin.

Plötzlich aus goldenem Rohre – Eine Wolke wurde leck – In mondgewebtem Flore Entschwebte Leonore Zu uns hernieder auf den Weg.

Wir gaben uns die Hände Und tanzten und tanzten zu drein. In unsrer Seelen Brände, Dass er die Lust uns schände, Zischte der Tod hinein.

Wir schwankten zu viert in die Schänke Und soffen uns voll, dass es kracht. Wir lagen über die Bänke, Der Tod erzählte Schwänke, Wir haben uns krumm gelacht. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 181

Er klapperte frech mit den Knochen, Wir schmissen den Saufsack hinaus. Er hat sich die Rippen zerbrochen… Leonore kam in die Wochen, Wir beide ins Irrenhaus.

Da sitzen wir nun und staunen Durch die Stäbe uns blind. Wir haben Herrscherlaunen. Wir fressen unsre Kaldaunen, Weil wir hungrig sind.

Klabund: Das heisse Herz. Balladen, Mythen, Gedichte. Berlin: Erich Reiss, 1922, S. 49.

HEBBEL, FRIEDRICH HEBBEL (1813–1863)

Gottfried Benn (1886–1956)

Der junge Hebbel → Textwiedergabe oben, S. 46.

Hans Franck (1900–1946)

Hebbel

Warum muß jede Flamme Fremdes fressen? Warum kann aus sich selber sie nicht sein? Warum wird alles Glühende gemein? Warum muß Leben – Leben sich erpressen?

Ich bin nicht Narr genug, mich zu vermessen, das Meer der Meere zu erpeilen, – allein zeigt einen Einzigen in euren Reihn, der seines Senkbleis seltener vergessen!

Ich leugne nicht; in manchen Träumenächten ward ich verwirrt. Aus meines Wesens Schächten raunten mir Stimmen: »Durch des Daseins Dämmern

weist nur das Sternlein Liebe dir den –« »Raub ist Liebe!« hörte ich – erwachend – hämmern und war der Urweltweise wieder taub.

Die Rheinlande. Monatsschrift für deutsche Kunst und Dichtung 29 (1919), S. 259. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 182

HEINE, HEINRICH (1797–1856)

Rudolf Fuchs (1868–1918)

Heines Geist

Ich habe geschlafen, nun wach ich erregt, es sägt eine Säge im Winde bewegt, sägt, sägt, sägt, sägt.

Und Wachen und Schnee und Schlaf und Gebet ist alles ein Strom, dass die Mühle sich dreht, dreht, dreht, dreht, dreht.

Da steh ich am Marktplatz, die Fenster sind blind, es fährt mir durch’s Haar, mein Gespiele, der Wind, Wind, Wind, Wind, Wind.

Ich streich’ eine Geige, die jubelt so heiß, das sind meine Knochen, die wurden so weiß, weiß, weiß, weiß, weiß.

Ich blas eine Flöte, die klagt in der Ruh, das ist mein Gebein, und es trauert dir zu: Du, Du, Du, Du!

R. Fuchs: Die Prager Aposteluhr. Gedichte, Prosa, Briefe. Ausgewählt, kommentiert u. mit einem Nachwort versehen v. Ilse Seehase. Halle u. Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 1985, S. 43.

Kurt Pinthus (1886–1975)

Heine → Textwiedergabe oben, S. 97 (mit Referenztext ebd., Anm. 227).

Walter Rheiner (1895–1925)

Am Grab Henri Heine (Paris)

Dein Körper liegt im Grabe, tot, zermorscht. Jedoch dein Steinbild leuchtet hell und tief Und lauscht mit einem Lächeln unerforscht Dem brausenden Gesang, der lange schlief,

Doch der nun zu dir kommt. Die Straße wirft Schillernd den Katzenleib in breitem Sprung Zu dir herein, und schäumend schürft Sie neue Erde aus der Dämmerung −

Die Kommenden, die noch im Morgen ruhn, Doch nun sich heben! Auf der Brücke rauscht Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 183

Ein Wasserfall von Menschen, Lichtern, Wagen, Geschrei von Tieren, Bahnen; und ein Tanz

Von Farben flattert auf. O Freunde, lauscht! Die Gräber singen! Toller Türme Kranz! Die Untergrundbahn dichtet wilde Sagen.

Kokotten flimmern. Schwarze Autos ragen Geduckt und stark. Der laute Tanzsaal bauscht Sich voller Rhythmen und zerplatzt im Glanz:

− O Wirbelwelt! O Leben! Kommst du nun?

(seinem lieben Kameraden und Freund Stephan Schaaf gewidmet)

W. Rheiner: Der bunte Tag. Dresden: Dresdner Verlag von 1917, 1919, S. 46. Wieder in: Schrei in die Welt. Expressionismus in Dresden. Hrsg. u. mit einem Nachwort v. Peter Ludewig. Zürich: Arche, 1990, S. 53.

HOFFMANN, ERNST THEODOR AMADEUS (1776–1822)

Max Fischer (1880–1957)

Bunte Schlänglein…

Bunte Schlänglein glitzern am Holunderbaume. Kennst du Dschinnistan? Kennst du Dschinnistan? Holde Feeen schweben im lichten Traume. Kennst du Dschinnistan? Kennst du Dschinnistan?

Höhnend grinsen die Philisterfrazten. Fern ist Dschinnistan. Fern ist Dschinnistan. Gierig greifen die Dämonentazten. Fern ist Dschinnistan. Fern ist Dschinnistan.

Kreisler zieht mit sehnenden Akkorden Hin nach Dschinnistan. Hin nach dschinnistan. Murr ist es auf Erden wohl geworden. Nie nach Dschinnistan. Nie nach Dschinnistan.

Nur in Träumen schwebt das Elfentanzen. Wo ist Dschinnistan? Wo ist Dschinnistan? Erde hat nur schrille Dissonanzen. Wo ist Dschinnistan? Wo ist Dschinnistan?

März 1 (1917), 1. Bd., S. 213 (aus Fischers Aufsatz Über E. T. A. Hoffmann).

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 184

HÖLDERLIN, FRIEDRICH (1770–1843)

Ernst Balcke (1887–1912)

An Hölderlin

ER flog von der Sehnsucht getragen In das Ewig-Schöne hinein, entgegen der Sonne, dem Aether, entgegen dem ewigen Sein.

Er lauscht mit weinendem Auge Der Welten Rätselgesang, wollt lieben, was er sich erlesen, was nie ihm zu lieben gelang.

E. Balcke: Gedichte. Berlin: Reuss & Pollack, 1914, S. 15 (geschrieben 1905).

Gustav Beutler (1892–1918)

An Hölderlin. Epilog zum Fest der Uraufführung vom »Tod des Empedokles«

Manchmal, wenn uns im Kampfe todesmatt Die immertastenden, die Hände, sinken, Und kein Gebet sie mehr erheben kann, Da naht ihr, Götter, euch und schenkt uns Freude Und mischt euch unsichtbar in das Gedränge, Das gleich in Maß und Ordnung sanft sich löst. Doch nur der Fromme mag euch zu erkennen, Der früh in eurem Deinste sich geübt; Ihm lenkt ihr Wagen im Gewühl und -Sinn. Und wenn es euch gefällt, nehmt ihr ihn weg, Damit das Tal der Not ihn nicht behalte Und er nicht, wie des Tales Blüte, welke. Dann ahnen wohl auch, die daneben stehn, Daß einer in die Höhe ward entführt Und blicken ihm, halb Neid halb Ehrfurcht, nach, Dem Götterliebling, den sie niemals kennen, Solang er unter ihnen hofft und darbt.

Vermächtnis. Dichtungen, letzte Aussprüche und Briefe der Toten des Weltkrieges. Zusammengestellt und eingeleitet v. Edwin Redslob. Dresden: Limpert, 1930, S. 146.

Hans Franck (1900–1946)

Hölderlin

Nicht einmal hat dich in den hellen Hallen des Erdentages Taumel angepackt. Du sahst die Lebenden als Petrefakt. Die Steigenden – du sahst sie fallen – – fallen – – Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 185

Wo du sie griffest, waren sie wie Quallen. Und forderten von dir, der du sie nackt gesehen, dem das Wort von Katarakt zu Katarakten strömte, daß ihr Lallen

du Lieder hießest! Bis der HERR Erbarmen mit deinem Herzen hatte und dein Hirn verdunkelte. Da hobst du deine Stirn,

und singend gingst du heim ins Allumarmen. Wenn deine Worte nun in unsern Landen Fremdlinge wurden – Gott hat sie verstanden.

Die Rheinlande. Monatsschrift für deutsche Kunst und Dichtung 29 (1919), S. 259.

Georg Heym (1887–1912)

An Hölderlin

Und du starbst auch, du Sohn des Frühlings? Du, dessen Leben war wie lauter Strahlende Flammen in Nachtgewölben, Aus denen die Menschen stets vergeblich Nach Ausweg und Befreiung suchen?

Du starbst. Denn diese griffen töricht nach deiner reinen Flamme aus Und löschten sie, denn immer ward Das Große diesem Tier verhaßt.

Dir senkte die Moira Unendliches Leid auf den zarten schwingenden Geist herab, Da hüllte der Gott seinem frommen Sohn Dunkelnde Binden um das gemarterte Haupt.

G. Heym: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Karl Ludwig Schneider. Bd. 1: Ly- rik. Hamburg u. München 1964: Ellermann, S. 596.

Hanns Johst (1890–1978)

Hölderlin

Ich werfe die Seele wie eine Lerche Über das Tal meiner Angst. Und ich hauche: Lobsinge, Lerche!

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 186

Ich werfe die Seele wie eine Taube Über die Flut meiner Bedrängnis Und ich stammle: Verheiße, Taube!

Siehe, die Lerche, lobsingt, Und die Taube ist reine Verheißung. Ich aber wandle im Tal, Ich sinke im Geröll der Wogen – ohne Seele, von der Tiefe eingesogen…

H. Johst: Lieder der Sehnsucht. München: Langen, 1924, S. 24.

Klabund (d. i. Alfred Henschke) (1890–1928)

Hölderlin

Die Linien des Lebens sind verschieden, Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen, Was hier wird sind, kann dort ein Gott ergänzen Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

Die Schaubühne 11 (1915), H. 2.

Iwar von Lücken (1874–1935)

In Ewigkeit

Oh, wie lieb ich Dich, Hölderlin, Du in liebender Schönheit Wandelnder, Du das Wort Suchender, das zündende, Ueberzubrücken Zeiten trostloser Irre. Oh dort, wo tiefes Leid bohrte Ein Labyrinth, ein rhythmisches, Dort ruht geheimnisvoll, Unfühlbar und unfindbar dem Ischarioth − Gott.

Die Weltbühne 16 (1920).

Ulrich Rauscher (1884–1930)

Hölderlin

Wie ich voreinst des Heilands Antlitz sah, Bleich auf dem Schweißtuch der Veronika,

Schwebt jetzt dein früh verwüstetes Gesicht, Aus dem nichts mehr als sanfte Blödheit spricht, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 187

Seit leuchtend über deine Kuppelstirn Die Götter flohn mit jagenden Geschirrn,

Erschaudernd vor den namenlosen Schatten, Die deine Schläfen schon umfitticht hatten.

So lieb’ ich dich, o Stern erstorbnen Lichts – Ich wache auf und Krieg ist und sonst nichts.

Ich schlafe ein und tief in meinem Traum Zersplittern dröhnend Erd- und Himmelsraum.

Ich rege mich und gottverlassen ruht Im scheinlebend’gen Leib mein armes Blut. Was dunkelhell aus deinem Wahnsinn schlug, Ist mir Verlaßnem Klang und Glanz genug.

Der in den Irrsinn seiner Zeit verdammt, Dankt dir ein martervolles Bruderamt

Und spricht dir nach wie Sakrament und Eid Dein letztes Wort aus der Trostlosigkeit:

»April und Mai und Julius sind ferne, Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.«

März 1 (1917), 4. Bd., S. 1129–1130.

Eduard Reinacher (1892–1968)

Hölderlin in Hauptwyl

Lenz-Erstehung feiert das Herz im frischeren Wesen, Fröhlicher atmet der Leib im entzückenden Kreis Dieser Hügel, da Bäche und Seen lassen Himmels Blau lesen, Ach, und Vögelgeschrei hell aufjubelnd! Doch leis Zirpen Junge, o weh, wie mir im Busen die Zungen Alter Schmerzen im Nest, so stets neuere heckt!

Sonne, durchleuchte die Brut, und so werde sie mit mir bezwungen, Süß im hauchenden West, der mich freudevoll deckt! Alpenbogen sind Narben im einst erschütterten Busen Unserer Mutter Erd. Aber die Glut ist im Raum Drunten stets. O tanzt, o schreit, ihr lenzenden Musen, Daß entschlumm’re der Berg! Wandelt Feuer in Traum!

E. Reinacher: Harschhorn und Flöte. Gesänge aus der Schweiz, Stuttgart, Berlin u. Leipzig: Deut- sche Verlags-Anstalt, 1926, S. 58. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 188

Walter Rheiner (1895–1925)

An Hölderlin

Schräge Linie im blühenden Raum, Pfosten am Tor halb schwebender Gärten, verflatterter Vogel, firmamentenfern, − Hölderlin, Bruder, du lebst!

Bruder in Nacht, du schläfst. Die Farben schwindender Wolken hüllen dich ein, Buntes Gras deine Stirn. Eine Wunde der brechende Mund des Gedichts.

Mystische Sonne brennt im Haupt; transparente Schläfen künden sie. Regungslos, Insel unsichtbar stehst du in goldenen Lüften: klareres, innen verbrennendes Tier …

Heimat dir zitternde Landschaft, innere. Dunkeler Klang die Brust. Herz regt sich ein Gong. Zähne silbern Geläut in Schädels Wölbung, … magisches Mosaik.

Trunken zwischen den Hügeln versinkst du, Antlitz des toten Freundes, ein irres Signal; ein Moor, phosphorene Flamme − Geflüster im Schilf.

Aus der Morgen gelber Fanfare tönt deine Stimme. Traumschlucht dein Gesang. Wetterleuchten verloren in letzter Vergängnis das Lied. : − Du bists, unendliche Symphonie. Mensch über Göttern!

Die Flöte 2 (1919/1920), S. 120.

Erich Worbs (1893–1975)

Hölderlin

Ein Sonnenstrahl klang durch die Rosenweite. Im Abendglühen sprang die goldne Saite, Zerrißner Ton irrt durch die Welt, Lauscht.. eine Glocke.. in die Nacht in frommen Schauern – Trunken verglüht das Weinlaub an den roten Mauern In Dunkel, das wie heilger Wahnsinn auf die Erde fällt…

Romantik 3 (1920/1921), S. 36. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 189

Paul Zech (1881–1946)

Hölderlin

I Die Wasser sangen sich schon in Dein Ohr, die Wipfel harften sich schon in Dein Wesen, eh Du, vom dunklen Mutterblut genesen, das Klopfen warst, das ihren Schoss durchfror.

Dein erster Schritt schon gab dem Brunnenmund das sternenhelle Fliessen frei nach allen Seiten, und im Verschwenden seiner Ur-Unendlichkeiten ans Nahe, wurde selbst der Himmel rund

und wie ein Ball in Deine Hand gelegt. Wie flog er hoch, Dein Lächeln einzufangen und war im Rückflug unruhvoll bewegt

von dem, was er von oben sah. durch diese Schau bist Du hindurchgegangen, der Nähe fern, dem Allerfernsten nah.

II Der Zwischenraum blieb leer im Finstern liegen, obwohl er voller Schrei, Gebrüll und Wiehern war. Du hast dies unsangbare Jahrmarkts-Jahr nicht ohne Grund erlitten und verschwiegen.

Beschämer Du der Leere bis zur Mauer des Möglichen, zuletzt darüber weit hinaus, dort lag der Tod schon auf der Lauer und krümmte seinen Finger und beschrie Dein Haus.

Er schlief in Dir; die Träume gingen leise und von Verwandlung angerührt darüber hin, bis aus dem Mittelpunkt der immer engeren Kreise

die Stimme sich erhob, die zweier Munde Motiv und Ausdruck war von Anbeginn des Wegs. Gingst Du, ging sie daran zugrunde?

III Sie musste sein und Diotima werden, denn ohne sie, wie hättest Du Dein Sein beenden können?! Nachher die Beschwerden, das Unheil im gehöhlten Stein,

empfingst Du aus der nur erst halbgelösten Natur. Du warst in ihr noch nicht der Kern und seine Süsse. Dich damit zu trösten, dass solch ein Werk allein dem Herrn, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 190

der sie erschuf, so wie sie scheint, Berufung sei und in dem Dornbusch sichtbar Flammenzeichen: das konnte Deinem gründigen Geist nicht reichen.

Du gabst ihm weiterhin die Flügel frei, im Raum des schon von Ur-Nacht Eingekreisten das Letzte, auch den Absturz noch, zu leisten.

IV Wenn aus dem blinden Spiegel das Gespenst, hohlwangig, wirr und grau das Haar, Dich angrinst und Du Dich darin erkennst: wann je in Deinem Leben war

der Scardanelli wirklich? Und was hielt ihn so verborgen wie ein hässliches Gebrest, das nur im Finstern sich bewegt und schielt: »Wie lange noch bringt dieser heile Rest

mich um den Ruhm der schliesslichen Figur?« Ihn wissend zu erleiden, im Gewähren des Schwärenden, war Auftrag der Natur:

Ihr Helles und ihr Dunkles aufzuzeigen. Das wars, was Dich verbraucht hat, wie die Nacht den Mond verbraucht und für den Tag ungültig macht.

V Wie Dich die Zeiten Deines Seins schon missverstanden, entlief Dir auch das folgende Geschlecht, es raste durch den Alltag sich zuschanden, um Herr der Welt zu sein und aller Teufel Knecht.

Es war nicht Deine Welt, die Übersahn sie voller Hochmut als verweste Dinge: »Weh, wer die aufhebt in dem Wahn, sie trügen ihn wie Wolkenflug und Vogelschwinge!«

Was alles musste sich erst bilden und geschehn, bis sich die Enkelkinder angerufen fühlten: Dich als Idol der Menschlichkeit zu sehn!

Der Du voraussahst Sturz und Untergang der Deutschen: Jetzt erst, in dem sturmzerwühlten Herzinnen Aller, schmilzt Dein tröstlicher Gesang.

VI Nur wer zu Dir sich findet und darin beharren will, nur dem kann es geschehen, dass er die Wurzeln findet, sich hineinzudrehen und in Verwandlung flüstern kann; Ich bin! Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 191

Nur wer auf seinem dunklen Augenlid Dein Zeichen trägt und mitnimmt auf die Reise, die auch den Tod noch einbezieht: der fährt nicht mehr in einem irren Kreise

um das heillos Vergangene herum, den treibt es weiter, den Empfänglichkeiten im neuen Geist das Reifsein zu bereiten.

Und frägt man ihn: Mit wem gehst Du jetzt um: Er braucht nicht mehr zu zögern und verschweigen, seitdem Du in ihm bist und er Dein eigen.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: Nachlass Paul Zech, 64.690. Aus dem Zyklus Die drei Gerechten. Goethe, Hölderlin, Beethoven. Geschrieben im Exil in Argentinien und in zehn Exemplaren als Weihnachtsgabe für Freunde vervielfältigt, Buenos Aires, im Dezember 1945.

Fritz Alfred Zimmer (1880–1954)

Friedrich Hölderlin

Wenn im obstroten Hain ferneher welcher Wind Durch das Blätterlaub streicht und von den Hügeln sanft Durch den bläulichen Abend Heimliche Herdenglocken geh’n

Zu des Neckars Gefild und in das schwäbische Tal, (Rebenglück-umkränzt, ewig verklärt vom Glanz Einer einzigen Jugend) − Fühlt der Wanderer seltsamen Sang.

Wie aus sternender Nacht. Wie aus dem Lichtgewölk Über fernem Berg: Reine, süße Kraft Aus den Blütenglocken Einsam klingender Natur:

Funkel-dunkeln Pfads, nur von der Liebe so Mildem Mondlicht betreut, und traum-zweisam stets Singt ein deutscher Fremdling Griechenselig sein hohes Lied.

Singt zum Saitenspiel himmlischer Harfenkunst, Seelisch köstlich verzückt, schwärmendes Weltgefühl, Erdenfeier und Menschenschöne, Lachender Lebensliebe voll −

Reifste Sehnsucht verklingt … Sehnsucht weint und klagt: Ruhlos leidet und kämpft, schicksalgestoßen, der Mensch − Doch aus nächtigem Dunkel Strahlt uns ewig ein göttlicher Stern!

Die Flöte 4 (1921/22), S. 132. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 192

HOMER

Albert Ehrenstein (1886–1950)

Homer

Ich sang die Gesänge der rot aufschlitzenden Rache, Und ich sang die Stille des waldumbuchteten Sees; Aber zu mir gesellte sich niemand, Steil, einsam Wie die Zikade sich singt, Sang ich mein Lied vor mich.

Schon vergeht mein Schritt ermattend Im Sand der Mühe. Vor Müdigkeit entfallen mir die Augen, Müde bin ich der trostlosen Furten, Des Überschreitens der Gewässer, Mädchen und Straßen. Am Abgrund gedenke ich nicht Des Schildes und Speeres. Von Birken umweht, Vom Winde umschattet, Entschlaf ich zum Klange der Harfe Anderer, Denen sie freudig trieft.

Ich rege mich nicht, Denn alle Gedanken und Taten Trüben die Reinheit der Welt.

Albert Ehrenstein: Die Gedichte, Leipzig, Prag u. Wien: Strache, 1920, S. 9.

Jakob van Hoddis (1887–1942)

An Homer

Wie soll mein Lied dir wohlgefällig klingen Da reiner Wohllaut deinem Mund entklang! Wie kann ich jenes Sängers würdig singen Der uns der Menschheit hohe Lieder sang! Vergieb daß ich mit schlichtem Wort erzähle Wie du zerstreut die Nebel meiner Seele.

Des Herzens Stolz war mir zerbrochen die Liebe floh aus meinem Sinn, So flohen Wochen mir um Wochen In Elend und in Dumpfheit hin Des Tages Druck, die Nächte wüster Traum Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 193

Nachrede [1/2 Jahre Später]

Dich hat dein wilder Schwanz gereizt, Nur Geilheit hatte eingeheizt, Nun willst du Wunder wie erschrecken Daß man nicht kann in Reinheit drecken

J. v. Hoddis: Dichtungen und Briefe. Hrsg. v. Regina Nörtemann. Zürich: Arche, 1987, S. 205.

KELLER, GOTTFRIED (1819–1890)

Hanns Johst (1890–1978)

Gottfried Keller

Wie bin ich froh, mein guter Meister, Daß hundert Jahre vor dir Gleichnis sind, Des Todes Unsinn, den beweist, wer Einfalt blieb und reines Menschenkind.

Du schrittst bedächtig deines Weges Hänge, Du stelltest keine Forderung. Du nahmst Nur ganz beschaulich die Gesänge, Die du geschenkt bekamst.

Du trugst sie fast belästigt mit dir her; Bis daß sie prall – nach einem guten Tropfen, Wie Äpfel nach dem Regen niederklopfen – Bis daß sie kellerreif und sommerschwer.

Wie bin ich froh! Der Wein ist recht gekühlt! Wer weiß, ob nicht auf einen kleinen Sprung, Nur auf den längstentbehrten Dämmerschoppen Der Meister von der Seelenwanderung Sich hergezogen fühlt?

Es sind so viele Meiers an der Feder, Die unser Deutsch verkünsteln und verglimpfen; Es täte not, du zögst vom Leder: Dich wieder einmal frei zu schimpfen! – Und schriebest wieder nebenbei …Nun immerhin…so mancherlei!…

H. Johst: Lieder der Sehnsucht. München: Langen, 1924, S. 23. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 194

KLASSIKER, DEUTSCHE

Ferdinand Hardekopf

Aus klassischer Zeit

Lessing schrieb, antithetisch, die unerbittlichste Prosa. Unerbittlicher traf ihn die Prosa des Seins.

Zwei Komödien, klassische, giebt’s: den »Krug« und die »Minna«, Und Tragödien zwei: Lessings und Kleistens Geschick.

In Anakreons Stil begannen so Lessing wie Goethe. Schiller, sich reckend, begann mit virilem Tumult.

Goethe, Direktor, zerbrach den »Zerbrochenen Krug« auf der Bühne, Brach ihn in Akte entzwei. Brach damit nicht nur den »Krug«.

Wieland, schmunzelnd umspielt von seinen unzähligen Enkeln, Reimte Galanterien: Lüstling im häuslichen Kreis.

Klopstock, der heilige Jüngling, wurde hymnisch von Bodmer empfangen; Doch der seraphische Gast war nur auf Mädchen bedacht.

Später, auf nordischem Eis, ist er weihevoll Schlittschuh gelaufen; In den kristallenen Plan ritzte er schwebend das Kreuz.

Auch Jean Paul, dies Idol, wollte stets zu Frauen geführt sein. »Gattinnen gelten hier nichts!« schrieb er aus Weimar beglückt.

Den Dramatiker Werner ergötzten Bataillen von Mädchen; Auf seiner südlichen Fahrt bot sich der Anblick ihm oft.

Unglaubwürdig scheint das?… So lest seine Reisejournale, Deren erbaulichen Text kein Casanova erreicht.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Hardekopf, 71.1453. »Aus klassischer Zeit«. Druck in: Neue Schweizer Rundschau, 1928, unter dem mit dem Titel Zahme Xenien mit folgen- dem, leicht verändertem Wortlaut:

Zahme Xenien

Lessing schrieb, antithetisch, die unerbittlichste Prosa. Unerbittlicher noch traf ihn die Prosa des Seins.

Lustspiele hatte Germanien zwei: den »Krug« und die »Minna«, Und Tragödien zwei: Lessings und Kleistens Geschick.

In Anakreons Stil begannen so Lessing wie Goethe, Tändelnd. – Schiller begann mit virilem Tumult.

Goethe, Direktor, zerbrach den »Zerbrochenen Krug« auf der Bühne, Brach ihn in Akte entzwei. Brach damit nicht nur den »Krug««. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 195

Wieland, Schlafrococo, inmitten unzähliger Enkel, Reimte Galanterien: Großvater und Libertin.

Klopstock, der heilige Jüngling, wurde hymnisch von Bodmer empfangen; Doch der seraphische Gast war nur auf Mädchen bedacht.

Später, auf nordischem Eis, ist er weihevoll Schlittschuh gelaufen; In den kristallenen Plan ritzte er schwebend das Kreuz.

Auch Jean Paul, dies Idol, wollte stets zu Frauen geführt sein. »Gattinnen gelten hier nichts!« schrieb er aus Weimar beglückt.

Den Dramatiker Werner ergötzten Bataillen von Mädchen; Auf seiner südlichen Fahrt bot sich der Anblick ihm oft.

Unglaubwürdig ist das?… So lest seine Reisejournale, Deren erbaulichen Text kein Casanova erreicht.

KLEIST, HEINRICH VON (1777–1811)

→ BAUDELAIRE (Johannes R. Becher: Das Dreigestirn). → KLASSIKER, DEUTSCHE (Ferdinand Hardekopf: Aus klassischer Zeit).

Johannes R. Becher (1891–1958)

Kleist → Textwiedergabe oben, S. 73.

Johannes R. Becher (1891–1958)

Der Ringende. Kleist-Hymne

Wars nicht in der Nacht, da der Blitz spritzende Garben schoß, zornfarbengroß mein dunkel Haus im Geheul wuchtscharfer Donner stand, in der Nacht, da ein finsterer Wüterich seine blutnarbige Hand um dich blaues Land, mein deutsches Vaterland schloß… wars nicht in jener durchstreckten Nacht, daß ich dich erblickte, dich, Grimmiger dich, feuergekrönt, grauenversöhnt dich, Himmlischer dich! Im schimmernden Bild urfreier Gigantengewalt, brechender Sturm, Trutzschild geilsteiler Tyrannengewalt: ARMIN?! – Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 196

O du, Leuchten des lachenden Lichts! Grüßt dein Antlitz nicht im goldenen Rauch allen Frühling?! Über Fluren, silberne Städte hin du Sonnenhauch allklarer Sommer! O du, im Blütenregen!.. O du, auch in Julifülle der Frucht! Die Kraft deines Segens, wie voll! Wie lebendig: wir sehn dich aufrecht durch wogende Felder schreiten, – Ernteglocken läuten – rings, rings über die rotschwül geschwungene Erde: du Sohn allen Frühlings! du Gott der jungen Erde! –

Heroisches Meer! Urgrund endloser Schwermut! Silbernes Tanzen obenhin ohne Sinn auf dem Meer.. Heroisches Meer! Urgrund endloser Schwermut! Deine Seele, schlummernde Seele war wie das Meer! das ewig trunken, in sich versunken: Meer… Deine Seele, schlummernde Seele kennen wir wohl, nennen wir wohl: O du deine Seele, o du meine Seele, Meer du! wehrollendes Meer!…

Grell strahlt die Sonne in das Herz der Erde. Auf kochendem Sand, kahlem Fels glüht der blendende Tag. Die gelbfahle Wüste staubt bei jedem Schritt; staubt und knirscht… Auf rauhem Weg.. Wo ist mein Weg?! Da? Dort ? Oder da? oder dort?! – Felstrümmer ragen blöd und stumpf aus der kargen gleichförmigen Trostlosigkeit … Auf Sand und Fels glüht der blendende Tag.. Oh brennendes Herz! Ohhh Erde! Wo – ist – – mein – – – Weg – – – – – – Ich lege mich auf den Boden und lausche: hör ich, hör ich dein Pochen du Herz der Erde?! Oja! Ohja: dein klägliches Wimmern: Mein Herz! mein Herz!! – Sterben – – – So? Da? – Ich reiß mir die Kleider vom Leib. Sterben – Dann wenigstens nackt sterben, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 197

wenigstens in Lust und Berührung sterben, wenigstens in die Erde noch die letzte Kraft betten, den kochenden Sand mit der letzten, mit all der letzten Wollust umschlingen, in der wir uns mühten, in der wir glühten…

Der purpurgeschwellte Sonnenball schwebt über mich. Ich bin allein. Doch fern, schon seit Mittag ein Schrei, ein Ruf wie von einem Irrenden. Sollte ich nicht einsam sein. nicht – – – allein – – –?! Oder ist alles nur Wahn meines kranken Gehirns oder ein Tier, das unter dem Strich der Sonne heult?! – Doch da! o da! Über den geduckten Felsklumpen schimmert weiß, zart sich abhebend eine hohe Gestalt, nackt, in seidenem Schweiß die Arme ausgestreckt der untergehenden Sonne nach… oder mir zu, oder mir zu… ein Mensch!!! Ja! Ein Mensch im flatternden Haar. Toll über den Sand in nackter Keuschheit und Klarheit. Oh Mensch zu Mensch! Oh Herz an Herz! Ich trage sein Herz, sein Herz in meinem Pochen. O nicht mehr einsam sein, nicht mehr allein gebrochen im Schmerz und Qual??

Aufschluchzend fällt er in meine Arme, stürzt ermattet zu Boden. Da liegt er wie ein Wurm: ausgetrocknet dürr. Krümmt sich stöhnend unter dem Kochen des dampfenden Herds… Laß mich ihn aufreißen! Umsonst. Große rostbraune Brandflecken reihen sich schon um seinen Körper: »Ohhh Einsamkeit! Sieh, oh, das Feuermal meines Leids! Meinen brandigen Körper! Oh ich trank den Kelch einer bitteren Gottheit. – Zwischen weißer Sonne und roter Erde: du mußt dich im Feuer verbrennen um deine Kraft zu erkennen, mußt dich in glutheißen Höllen- und Himmelsmartern quälen, bis deine Seele ganz leichtleis zu glühn beginnt, deine Wunden und Zähren Flammen sind.«

Seine Augen röteten sich. Im Feuer der verschwelenden Sonne blich sein Antlitz seelenblaß. Mühsam stemmte er sich auf die blutrünstigen Knöchel seiner zitternden Arme, grub sich Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 198

brünstig in die warme Erde. Fremd glanzlos wandte er sich ins silberne Licht. Sein Gesicht vergilbte. Die blauen Sterne seiner großen Kinderaugen schwanden. Seltsam feierlich griff er nach meiner Hand: »Einsam sterben – – –«

Laststumpf zuckte seine hohlverzerrte Stahlgebärde. Er kämpfte. Krampfhaft hielt er die strahlende Erde umspannt. Nebel glaste dumpf.. Er sank. Er rang. Plötzlich schrie er auf im harten Zug des bleichen Todes: »Verscharrt wie ein Hund, der ein so reiches Leben trug.« Und dann: »Fallen, oh, durch höllische Kraft! Aufstehn so in göttlicher Kraft!« Dann aus der Tiefe seines ewigsten Verborgenen: »Liebe – – –« Er sank. Rang im Aufschrei der letzten menschlichen Möglichkeit: »Schwester – – – – – – –« Traummatt schob ich meine Hand unter sein Haupt und wachte.

Fühlte bebend meine schmerzhafte Einsamkeit und das grausam lohende Herz der Erde durch diese Nacht. Deine Seele, schlummernde Seele war wie das Meer: oh du meine Seele, oh du deine Seele! o du, Leuchten des Lichts! O du, im Blütenregen! Du Sohn allen Frühlings! Du Gott der jungen Erde! – – –

Wars nicht in der Nacht, da der Blitz Garben schoß, daß ich dich erblickte, dich Himmlischer zornfarbengroß im schimmernden Bild urfreier Gewalt?!

J. R. Becher: Verfall und Triumph. Gedichte. Berlin: Hyperionverlag, 1914, S. 109ff. (geschrieben 1911 anlässlich des 100. Todestags von H. v. Kleist). Wieder in: J. R. Becher: Lyrik, Prosa, Dokumente. Eine Auswahl. Wiesbaden 1965, S. 28ff.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 199

Franz Richard Behrens (1895–1977)

Hochrotglühen. 1915 bei Heinrich von Kleist Gleichrot Johannisbeeren läuten Wehren Kranz Goldblatt laternen Regenglanz

Haßrot Hinter Hecken Splintern Hufe Splittern walchen Eisenrebe

Schamrot Waldnackte Spiegelbirken Hüllen Hauchen Hang hirnt hetze Höhe

Leberot Eradern springt Ahorn Asthell Entsamt entblutet Sonnensaft Gottrot Peitschen schlafen Buchtbinsen Büsche Lodern latten kernen Kinder

Mutrot Brandbuchenbrei Schlingen Brüten Euter beulen Binden

Freirot Tollkirschentau Trotten Trank Brustbrach nadeln Sandalen

Klarrot Morgenmeer Morgensee Mohne Morgen Blüten nüstern neue Nüsse

Der Sturm 8 (1917/1918), Sp. 34. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 200

Hans Franck (1900–1946)

Kleist → Textwiedergabe oben, S. 88.

Walther Heymann (1882–1915)

An Heinrich von Kleist Gedenken

Nun haltet Feier und tragt einen Dank und weiht euch ihm eine Stunde lang.

Eine Stunde für den sonnigsten Tag, da Schwermut um seine Schläfen lag.

Eine Stunde nur, für das furchtbarste Jahr, da sein Herz der Fuß in der Wildnis war.

Und ihr wißt nun, es führte; und seine Hand wies sinkend auf wolkenentzaubertes Land.

Er bahnte sein Leben durchs Dickicht der Qual. Ihr wandert nun singend durchs blühende Tal.

Haltet, gedenket der Zeit, die er trug, und spürt den geflügelten Atemzug.

Der Dichter und die Musen

In eure Haare flecht ich Bänder. Auf eure leuchtenden Gewänder möcht ich der Blumen Schatten streun.

Da geht ihr hin, in heitrem Schweigen, euch zu den klaren Quellen neigen, die euch in Wuchs und Schönheit zeigen. Ich seh euch wiederkehrend winken. Mich dürstet wohl. Doch, wollt ich trinken, ihr ließet die Gefäße sinken.

Auch hab ich noch genug zu lauschen, was die verborgnen Bäche rauschen. So kann ich Ohr und Mund vertauschen.

Und wartet nur; aus meinen Händen wird in der Wasser Weiterfließen sich aller Blüten Seele gießen.

Und eure Schönheit wird dies spenden.

W. Heymann: Von Fahrt und Flug. Gedichte. München: Georg Müller, 1919, S. 46–47. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 201

Paul Zech (1881–1946)

An Heinrich von Kleist → Textwiedergabe oben, S. 59.

MAUPASSANT, GUY DE (1850–1893)

Paul Mayer (1889–1970)

Maupassant

»Ist alles fertig, gleich in See zu stechen?« »Monsieur, die Dame mit den roten Haaren War wieder da, sie hoffte Euch zu sprechen – Sehr dringlich schien’s – bevor wir abgefahren.«

»ich hab’ genug! Wie kann sie sich erfrechen? Sie konnte diesen letzten Weg sich sparen. Salzluft und Meer! Und Küsten, wo Barbaren, Die braun und stark sind, nicht an Frau’n zerbrechen.

Löst jetzt die Anker. Wie die Tiefen rauschen, Hoch wie der Mastbaum ist mein Mut gereckt.«

Das Land vergleitet schon, Windböen bauschen Das Segel, hinter dem Renée versteckt.

Er schäumt in Wut. Doch sie umschlingt sein Knie. »Wirf mich ins Meer, Geliebter, Bel-ami.«

Die Aktion 3 (1913), Sp. 727 (unter dem Titel Maupassant auf seiner Yacht). Wieder in: P. Mayer: Wunden und Wunder. Gedichte. Mit Einleitung von Stefan Zweig. Heidel- berg: Meister, 1913.

MÜLLER, WILHELM (1794–1827)

Franz Zorn (Lebensdaten nicht ermittelt)

Das Wandern ist des Müllers Lust

DAS WANDERN IST DES MÜLLERS LUST, das Stempeln, die der andern. Denn vielen ist es auf der Brust seitdem die Garde fortgemusst nicht mehr so recht nach Wandern, ja wandern. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 202

Vom Hunger haben sie’s gelernt, jetzt sind es drei Millionen. Mit Wohlfahrtsstempeln reich besternt hat man sie aus der Welt entfernt und nicht mit blauen Bohnen, ja Bohnen.

Das ist human in unsrer Zeit und dankbar zu bewerten. Drum: Brüder, übt, so arm ihr seid, nur immer Treu und Redlichkeit im Himmel und auf Erden, ja Erden.

Und laßt den Müllern ihre Lust und laßt sie allen andern. Es können − seid euch dess’ bewußt nicht alle mit geschwellter Brust und vollem Magen wandern, tja wandern.

Der Sturm 20 (1929/1930), Sp. 116.

NIETZSCHE, FRIEDRICH (1844–1900)

Friedrich Adler (1879–1960)

Nietzsche

Ja, göttlich ist das Wollen ohne Ende! In Träumen jede Schranke überfliegen, Der Tiefen Grund, der Himmel Höhn besiegen Und gießen in die Welt des Herzens Brände.

Doch weh, dein Schreiten hemmen tausend Wände, Vom Wege mußt du wider Willen biegen, Dich jedem Augenblick bescheiden schmiegen Und nutzlos sehn das Mühen deiner Hände.

Ob du im Rausche regst den Schwung der Flügel, Dich über Menschlichkeiten stolz zu heben, Und Alpen träumst im stillen Land der Hügel:

Ob du dich fügst gelassen und ergeben Und demutsvoll erträgst des Schicksals Zügel – Die Sphinx ist stumm und ziellos bleibt das Leben.

* Und doch, Dionysos aus unsern Tagen, Ich liebe dich! Und hell ins Licht gehoben Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 203

Durch alle Nebel, die den Blick umwoben, Seh’ ich dein farbenfrohes Banner ragen.

Der Gierden toller Kampf, der Wünsche Jagen, Der Trieb nach Macht, der Lüfte wildes Toben – Du siehst in dem Gewirr den Weg nach oben, Der Menschenseele heißes Flügelschlagen.

Die Erde lehrst du wieder uns erlangen, Und, wieviel Wunden das Geschick gerissen, An ihrer Brust mit tiefer Inbrunst hangen.

Und höher gilt als alles kalte Wissen, Das Leben als der Güter Gut umfangen Und Freude trinken aus den Bitternissen.

Deutsche Dichter aus Prag. Ein Sammelbuch. Hrsg. u. eingeleitet v. Oskar Wiener. Wien u. Leip- zig: Strache, 1919, S. 27–28.

Elsa Asenijeff (1868–1941)

An Friedrich Nietzsche → Textwiedergabe oben, S. 95–96 (Anm. 222).

Theodor Däubler (1876–1934)

Hymne an Friedrich Nietzsche

Am Strande aber steht bewegt ein andrer Sänger, Der zusieht, wie sich haschhaft Wellen überhetzen. Zuerst hält Orpheus ihn für seinen Doppelgänger, Denn oft schon sah er sich zugleich an vielen Plätzen.

Doch späht er scharf, vom andern sich zu unterscheiden: Ja, während jener heiter und alleinsam schreitet, Wird er, der Dichter unterweltlich-tiefer Leiden, Von Tauben und von Rehen, wo er geht, begleitet.

Doch sieht er jetzt: steil kreist auch überm andern Seher Ein Adler hoch und herrlich, ohne leuchtend zu erlahmen. Wie stolz er fliegt! Er kommt der Erde selten näher Und scheint Planetenbahnen sicher nachzuahmen.

Von seiner Seelenhöhe frei, beim Flug, getragen, Läßt er uns fast sein keusches Wesensrätsel deuten, Doch niemand mag ihn wohl nach Sein und Herkunft fragen, Denn schon genügt, was selbstverständlich ist, den Leuten.

Das Ungefüge will, daß man es sich erkläre, Und du erkennst an stummer Ruhe leicht das Tiefe: Zwar zischelt und verrät sich uns die Wut der Meere, Doch tuts der Sturm, und nicht die See, die lieber schliefe! Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 204

So wird auch Orpheus stolz vom andern angesprochen, Wer weiß, ob seinem Wandlertum darnach verlangte? Wohl fügte sichs, daß ihm, in stummen Trauerwochen, Nach frohem Wort aus kühnem Munde bangte.

Der Fremde spricht: »Allmächtig ist des Menschen Freunde, Und bloß an ihr kannst du die eigne Höhe messen, Drum bleibe unbedacht, frohlocke und vergeude Das innre Glück, das wir ureinzig nie vergessen!«

Th. Däubler: Das Nordlicht. »Florentiner Ausgabe« in 3 Bänden. München und Leipzig: Müller, 1910. Wieder in: Th. Däubler: Das Nordlicht. Bd. 1. Leipzig 1921, S. 572f.; Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. I: Texte zur Nietzsche-Rezeption 1873–1963. Mit einer Einführung hrsg. v. Bruno Hillebrand. Tübingen 1978, S. 157–158.

Arthur Drey (1890–1965)

Nietzsche

Was will die Zeit der aufgestürmten Tage, Daß aus den Werken ihrer Söhne werde?! Wenn sie ersticken in der eigenen Klage, Im Elend der Unendlichkeit und Erde. Ein Dichter sang! Und wie aus Orgelkehlen Erströmten Gärten blühender Musik – Doch heimlich schwoll der Neid der düster Scheelen, Die ihn solange hönten, bis er schwieg.

Und immer schwerer ward die Nacht der Tücke. Wo blieb der Jubel von den treuesten Jüngern? Er fühlt jetzt um sich her zu weiter Lücke Die Menschen, die ihn liebten, sich verringern.

So steht der Gott-Menschen in der Welt umher, Ein Schöpfer, den die Schöpfermacht enttäuscht. Was soll er schaffen, wenn das Erdenheer Doch jeden Helfer wütend blind zerfleischt?

Schon wirft das Volk ihm Steine ins Gesicht, Volk eines Lands, dem seine Größe gilt. Und jedes Wort, das sein Gedanke spricht, Verstummt im Sturm, der heulend ihn erfüllt.

Er eilt, und flieht das lebende Gewimmel, In fernes Felsgebirg, sein eigner Feind. Da stößt er Tränentöne in den Himmel, Ein Kind, das nichts mehr weiß, als daß es weint.

A. Drey: Der unendliche Mensch. Gedichte. Leipzig: Wolff, 1919 (Der Jüngste Tag 68/69), S. 35. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 205

Walter Rheiner (1895–1925)

Nietzsche

Entzündet von den Bergen. Über die Erde hingewölbt. Musik. Strahlender Morgen Röte. Apokalyptische Fahrt. Brausend erfüllte Einöde. Baum, der in Flammen blüht. Meerhafte Gebärde.

Inseln schwärmende in der Brust. Akkord, baun sich die Wälder auf über der Stirn. Es leuchtet von innen her, diamantener Firn. Zeit flichst du um dich! Verzauberst den Ort!

Apostolisches Sein! Magier! Frenetischer Klang. Goldenes Blut in Alpine Nächte verströmt. Du versinkst in den Sphären, tieferer Schlafgesang.

Feuer zerstört dein Herz. Gekreuzigt über die Welt, du lachst ein letztes Mal! Dunkel stöhnt ein Schrei.– Du: rasender Tänzer im Sternen-Feld!

W. Rheiner: Ich bin ein Mensch – ich fürchte mich. Vergessene Verse und Prosaversuche. Hrsg. v. Thomas Rietzschel, Assenheim: BrennGlas, 1986, S. 85.

NOVALIS (d. i. FRIEDRICH LEOPOLD FREIHERR VON HARDENBERG) (1772–1801)

Kurt Bock (1890–1949)

Die blaue Blume

Nun sei gewärtig, Freund, der hellen Hand, die nur für dich der Andacht Blaue Blume am Märchenufer goldner Zeiten fand. Die Stunde wartet: Fern im Heiligtume

verträumter Wälder, in Gebet und Leib, im wirren Schrei der überstaubten Gassen, in Nächten lustentrückter Seligkeit erbebst du jäh und schauderst, wie verlassen

dein Suchen zwischen Geist und Chaos lag. Und unter deiner Sehnsucht weiten Schwingen ruft deine Seele nach dem Segenstag, an dem der Menschen feierliches Singen

dir wieder liebend und erlösend naht. Dann wird der Blume Gruß und Glanz dich wecken, du wanderst jung den sonnverklärten Pfad und ganz beseligt mußt du allwärts recken Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 206

des freien Herzens gütiges Geschenk. Und siehe: All die toten Schleier fallen, sei jenes Liedes stündlich eingedenk, das tief erbraust in unsres Himmels Hallen.

Aus Erdengründen ringt sich kühn empor und wächst ein neuer Geist der künft’gen Taten, der Blume Zauber rührt an Gottes Tor und Morgen gießt sich aus auf bange Saaten.

Phaeton 1 (1919/20), H. 1, S. 23.

Rudolf Fuchs (1890–1942)

Novalis

Komm, Bruder, geliebter, spiel’ jetzt auf der Geige mein Bruder, zum Letzten mir auf. Schon trinkt mich der Abend, ich gehe zur Neige und sinke und steige und hebe mich wohlgemut heimwärts hinauf.

Was waren wir, Bruder, was sind wir auf Erden, was sind wir uns wert? Sind wir uns wert sieben irdische Tränen? Gilt unser Sehnen, daß uns der Opferstrahl Wollust verzehrt?!

Ein Vogelflug Lachen fliegt höher als alle Betrübnis der Welt. Die Engel erbrausen in fröhlichem Schalle, weil ich vor ihr Zelt so ein Würdiger walle…

Deutsche Dichter aus Prag. Ein Sammelbuch. Hrsg. u. eingeleitet v. Oskar Wiener. Wien u. Leipzig: Strache, 1919, S. 109–110. Wieder in: R. Fuchs: Die Prager Aposteluhr. Gedichte, Prosa, Briefe. Ausgewählt, kommentiert u. mit einem Nachwort versehen v. Ilse Seehase. Halle u. Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 1985, S. 42.

Otto Gillen-Godesberg (Lebensdaten nicht ermittelt)

Novalis

Das Mädchen entschwebte, ein Engel zu werden, Du wirst ihr Unendliches nicht mehr los, Und wanderst durch Gärten und kannst nicht sterben – Rosen stehn rot, ein tiefer Schoß.

Schon geht dir des Kindes Wesen ein, Wie Atem belebt dich ihr anderes Sein, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 207

Bist herzlich umfangen von Worten und Winden, Und Hände sind, die im Schlaf dich finden.

Die Sterne stehn immer zu Paaren im Raum, Lichtlilien erschließen sich dir im Traum. Nicht ist mehr Wort und Gebärde dein, Will alles der Welt verschenket sein.

Romantik 6 (1925), S. 93.

Toni Schwabe (1877–1951)

Ein Lied vom Tod (an Novalis gegeben)

Sieh, wie zärtlich ist der Tod – Kommt mit weichen leisen Händen, Nimmt dir deine letzte Not, Laß dich nicht vom Leben schänden, Sieh, wie zärtlich ist der Tod.

Flammend rot sind seine Kränze, Und du neigst dich seinen Küssen, Und er führt dich zu der Grenze, Wo du schweigst vor sel’gem Wissen. Flammend rot sind seine Kränze.

Heimat ist für dich der Tod, heimatlos war dir das Leben, Herz, zerbrich nun deine Not – Darfst einmal dein Letztes geben, Darfst – einmal – dein – Letztes – geben.

Romantik 2 (1919/20), H.1, S. 9.

Georg Trakl (1887–1914)

An Novalis

Ruhend in kristallner Erde, heiliger Fremdling Vom dunklen Munde nahm ein Gott ihm die Klage, Da er in seiner Blüte hinsank Friedlich erstarb ihm das Saitenspiel In der Brust, Und es streute der Frühling seine Palmen vor ihn, Da er mit zögernden Schritten Schweigend das nächtige Haus verließ.

Georg Trakl, Dichtungen und Briefe, hrsg. v. Walther Killy und Hans Szklenar, Salzburg, 5. Aufl. 1987, S. 182 (2. Fassung). Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 208

PETRARCA, FRANCESCO (1304–1374)

Ernst Balcke (1887–1912)

Du, mein Petrarka…

Du, mein Petrarka, gossest der verlorenen, geliebten Laura nach den Strom des heißen, entflammten Blutes, und die wehen, weißen Gesänge strömten nach der Auserkorenen.

Du schriest in Nächte, die kein Stern erhellte, das Lied von Deinem tausendfachen Sterne. Du dehntest Deinen Schmerz in jede Ferne, im Dunkel standst Du, das Dein Sang durchwellte.

Dein Stern stand ewig. Meiner mußte bleichen, ich hielt ihn nicht und strahlte tausendfach, wie Du, ihn wieder doch. O! nicht in weichen

Gesängen summt mein Schmerz. Ich peitsch ihn wach zu Dirnenaugen, die den Himmel scheuchen.

E. Balcke: Gedichte. Berlin: Reuss & Pollack, 1914, S. 109.

PLATEN, AUGUST VON (1796–1835):

→ GEORGE, STEFAN (René Schickele: Spuk).

Ernst Wilhelm Lotz (1890–1914)

Dichter

Dir, du guter, du klarer, du edelster Dichter der Deutschen, Sag ich gerührt Dank für solch treuen Gesang, Gräßliche Qualen wie hab ich geschrieen in grausamen Nächten, Freunde, nach einem Schoß, weh zu versenken das Haupt! O aus weitester Nacht kam manchmal tröstend ein Tönen, Leicht wie der frühe Geruch, gut wie des Freundes Gruß. Deinen Versen lauscht ich: Und hörte das Rauschen des Waldes, Wipfelwiegend und kühl, fromm durchhauchend die Brust. Fühlte ich nicht des Freundes Schulter wohl mir am Haupte, Strich nicht treu eine Hand sanft hin über mein Haar? – Platen! Unendliche Qualen ertrugst du wie wenige Menschen, Unsagbaren Trost sangst du wie selten ein Mensch.

E. W. Lotz: Gedichte, Prosa, Briefe. Hrsg. v. Jürgen von Esenwein, München: Ed. Text + Kritik, 1994, S. 84.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 209

RIMBAUD, ARTHUR (1854–1891)

Johannes R. Becher (1891–1958)

Rimbaud

Aus öligem Hafen schwenken jetzt die Schiffe. Im Straßenschachte ein Betrunkener schlappt. Im Schein des vollen Monds, des blankgeschliffenen, Er strolcht durch seine große Stadt verkappt.

Der Engel hütet Kranke. In den Stieren Entschleudert er gewaltigen Aufruhrsang. Die Berge schauernd graus in Nächten frieren, Doch Wiesen psaltern lieblich bunt am Hang. Es werden Arm und Beine amputiert. Im dunklen Bauch des Krebses Blüte verwiert. Da wehet Lenzluft milde durch Spitäler. Er hocket stumm im Flackerschein der Mähler.

Ein finsteres Los ist allen uns gefallen. Nichts ward uns ganz und ungetrübt zuteil Auf Dächergletschern wir verzweifelt wallen. Du zerre uns empor am Führerseil!

J. R. Becher: Verfall und Triumph. Gedichte. Berlin: Hyperionverlag, 1914, S. 147.

Albert Ehrenstein (1884/86?–1950)

Rimbaud

Der Held schreit Die Welt möcht’ ich zerreißen, sie Stück für Stück zerglüh’n an meinem lebensheißen und todesstarken Sinn.

Ich habe Land besessen, und Meer dazu, wieviel! Ich habe Menschen gefressen, und weiß kein Ziel.

Und neue Sehnen wachsen, und neue Kraft ertost. Vorwärts mit tausend Achsen, eh’ mir die Pest raubt West und Ost! Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 210

Abgesang Schwingt urschwarzer Roch dem Land entbogen, stürmt die Erde Sonnendunkel, ist er bald im Tod erzogen, Sternziel, Gral im Weltforunkel.

A. Ehrenstein: Wie bin ich vorgespannt den Kohlenwagen meiner Trauer. Gedichte. Hrsg. v. Jörg Drews. München: Ed. Text + Kritik, 1977, S. 11.

Alfred Richard Meyer (1882–1956)

Arthur Rimbaud

Charleville. Der Abendnebel wirft mich in ein dunkles Haus. Aus dem ging einst der Mensch und Dichter Arthur Rimbaud heraus.

Aus Liebe und aus Enge in die Liebe weitester Welt geboren, Verflucht, verlästert, verlaust, verkommen und verloren. Du Flucher jeder Lyrik, wollüstig einst selbst gefesselt im Sonett. Aufstrom des Herzens, das Verlaine hieß. Hermaphroditisches Bett.

Gott gleicherweis’ wie Tier du. Flibustier. Afrikanischer Handelmann. Mit schwarzem Menschenfleisch, Elfenbein, Gold kam dein Schiff in Marseille an.

Dennoch glückhafter Hafen deiner letzten Sehnsucht war das nie. Erst verachtetest du das Leben und wußtest dich reicher in den Wundern deiner Phantasie.

Dann spiest du jene an und wolltest im Wirbel des Lebens untergehn. Das Leben zerbrach dich Lachenden lachend. Rimbaud, wir haben uns im Abend tief in die Augen gesehen.

Romantik 2 (1920), H.5, S. 3.

SAPPHO (630~612 – 570 v. Chr)

Johannes R. Becher (1891–1958)

Ode der Sappho

! − Zeus’ Tochter: Aphrodite: Herrscherin −: Thronend über den beschneiten Urwäldern der Gewölke. Vibrierend von Chören der Menschen Strahle ich auf zu dir!

… Daß − oh! nicht zerschmettere die Verarmtesten du vollends. Gigantische Unwetter ballend über dem unseren, Dasein welch elendem, der Niemands=Stätte. Blitze, Gehirne knöcherne Räume, explodierende Skalen, auf und nieder wirbeln. Brüllen des Schlachten=Viehs. Stampfen der Donner=Mörser. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 211

Fetztest Gestirn in brennenden Kurven Splitternde Äther durch. Im Sturzflug. Über die meine die zertrichterte Erd herab.

− − − Ja, und morgen überschwingt Azure Triumph=Schein Sappho, und Völker euch! Enzianmeere anschaukelnd zu Hüften runderem Moos=Gebirg. Lichtfontänen spritzen aus ragenden Kelchen der Häupter. Regenbogen Streif Plateau der Stirn umgitternd.

Brüder=Armeeen lagernd in der Knie=Bai. Schmetterling=Segler ankern bei den Inseln euerer Hände. Atem (Duft) −: Wind aufknüpfend der Ärmsten verschleimtes Gefild. Ach, und gleich Strömen balsamischer Würze Hauch Myriaden Poren.

Rings mit Tempeln verbaut. Altären beträuft. Melodische feuer Überschwemmend die Marmorflur aller Fleische. Siehe, Mond fließt auf Wangen. Stern schmolz im Mund. Der Städte schimmernde Türme gedreht nach der Brüste Olymp.

Ebenen bestrickt mit Wäldern, Sappho, züngeln steil auf nach dir. Gletscher bekleiden euch. Tiere nistend in oasischer Falten=Haut. Weit, ja, o weit sprießt buntester Gärten Samt.

Meckernd Kamele schreiten. Plätze Palmhimmel. Göttliche Fabriken. Phantastische Schiffe wallen im Horizont. Unter Wimpern Gebreit Auge mein Salamis. Asias glänzende Mosaik=Küstenlandschaft um Halses Zeder tätowiert.

Liebender Element. Schwester. Urmutter. Ozean Chlamys. Dichter predigen ekstatisch eine hymnische Geographie deinem ewigen und euerem unerhörten heroischen Leib: Sappho! Sappho! Unendliche! Baum der Brüder! Utopie=Menschheit. Hopliten dröhnende Märsche Serpentinen schleiften zu den Pässen der Schultern hoch.

! − Zeus’ Tochter: Aphrodite: Herrscherin −: Also hebe uns auf, unter die Schritte der Menschen gespannt. Asphalten überwölbte: herabgerollt in die labyrinthischen Orkusse. Nebel Schwamm=Gemäuer frißt glänzenden Haar=Schaum.

Wehe uns! Wehe! Und nicht, nie zwitschern euch Flöten sonst mehr. Nie −: daß Helios flammend sonst zückt gen der Finsternis Schlucht. Bettlerinnen scheuernd Blut=Stiegen, Kot=Böden wir. Lippe schlürft: Schimmel=Brot Eiternapf Aasbrei.

J. R. Becher: Ausgewählte Gedichte 1911-1918. Berlin: Aufbau, 1966, S. 414–416. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 212

Edschmid, Kasimir (1890–1966)

Sappho

Die Überkönigliche… durch das dunkle Spülen des Wassers glitt sie überbauscht von losem Haar. Der Leib schien Nacht und Brandung klingend aufzuwühlen, der eh von Hymnen hell und überflogen war.

Sie hielt die Lyra. Stumpf wand aus der Mondspirale sich kalter Schein und hielt mit Riff und Wogen Tausch. Manchmal erblitzten Wellen, wo den Arm die Fahle flocht durch das Instrument aus Elfenbein und Rausch.

Die Vorgebirge ragten gleich von Schmetterlingen besucht vom Mond. Seemöven, Flügel voll von Reif brachen durch fernes Dunkel als gekreuzte Klingen Und schossen plötzlich spitzen Flugs nach jenem Streif, da hingerissen trauernd stand mit Silberschwingen lautlos und träumend über ihr ein großer Greif.

K. Edschmid: Stehe von Lichtern gestreichelt. Gedichte. Hannover: Steegemann, 1919, S. 15.

SCHILLER, FRIEDRICH (1759–1805)

→ KLASSIKER, DEUTSCHE (Ferdinand Hardekopf: Aus klassischer Zeit).

Gottfried Benn (1886–1956)

Der Räuber-Schiller

Ich bringe Pest. Ich bin Gestank. vom Rand der Erde komm ich her. Mir läuft manchmal im Maule was zusammen, Wenn ich das speie, zischten noch die Sterne Und hier ersöffe das ganze feige Pietzengeschlabber und Abel-Blut.

Weil meine Mutter weint? Weil meinem Vater Das Haar vergreist? Ich schreie: Ihr grauer Schlaf! Ihr ausgeborenen Schluchten! Bald sä’n euch ein paar Handvoll Erde zu. Mir aber rauscht die Stirn wie Wolken Flug.

Das bißchen Seuche Aus Hurenschleim in mein Blut gesickert? Ein Bröckel Tod stinkt immer aus der Erde – Pfeif drauf! Wisch ihm eins! Pah!

Die Aktion 3 (1913), Sp. 640–641. Wieder in: G. B.: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung hrsg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt/M.: Fischer, 1982, S. 68. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 213

SHAKESPEARE, WILLIAM (1564–1616)

Walther Heymann (1882–1915)

An Shakespeare

Sag, welche Hand stieß noch den Bruder Wahn beiseit, als er die Türe öffnend schon dicht an dich trat, daß dir bis in den Bart sein Atem fuhr?

Von welchen Südlands Flur nahte dir jenes holden Prinzen Art, – der mit dir Schritt, dir ähnlich angetan, – durch seiner edlen Stimme Ton?

Sahst, hörtest du den Specht ein Aug sich hämmern, drin ein Tierlein rann? – So kriecht die Träne menschliches Geschlecht noch wie ein Würmlein an. Doch sind zuviel der Würmer, stirbt der Baum. Und so die Staaten, die ein Feld gekämmt, wurden von Winden wie von Sonnen ins Land geschlemmt. Wer sie nicht häuft und kehrt, hat Schädel mit nur Würfelstaub gewonnen.

Im Spielhaus drinn’, wenn dann dein Wort anfing, von wo rieb dir der Geist Gift in den Sinn und tötete die neue Königin, die stumm im Wasserlächeln tanzen ging?

Dein Wort ward Schwert. Wo hat’s dir Weg gebahnt, wem ward dein Kuß und Gruß gepunzt, gestanzt an jenem Thron, den königlich geahnt, mit wem geziert du sahst, von wem umschranzt?

Du hast mit einer Feder auf Papier dies so geädert, daß es vor uns ruht wie Baumes Blatt.

Dein träumend Eisen roste nun. Uns rührt der Sonnenstrahl das Blut, das in dir Quelle hat. Du schufest alle uns zu einer Flut, die Ernten trägt und grüßt, verschlingt und reift. Noch wen die eisern große Welle greift, fühlt, deines Feuerhauchs und Schwungs umfahn, wie Sporn den Stich von ihrem Zahn und jubelt, wenn sie aufwärts pfeift.

W. Heymann: Von Fahrt und Flug. Gedichte. München: Müller, 1919, S. 44–45. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 214

GOTTFRIED VON STRAßBURG († um 1215)

René Schickele (1883–1940)

Gottfried von Straßburg

In den stark und klugen Zärtlichkeiten und gelebten Liebesträumen gallischer Konzerte aufgewachsen, schrieb er rotdurchpulstes blankes Deutsch, so schlank wie Schwert und Frauen. Er kannte alle Jahreszeiten und mochte nichts versäumen. Sah wurzelhaft Wildes mit lichtgebadeten Augen, sie mußten sich mit aller Lust der Welt vollsaugen. Es sollte nichts Lebendiges verderben. Und legte er, in seinen Bildern gefangen, die Schreiberhand auf sein Herz, fühlte er den Schlag von Tristans Herz aus Spielen der Anmut und der Kraft sich bäumen, und die Wut zu sterben brach wie schwarzes But aus seinem schönen Schmerz.

So wußte er zu leben. So liebte er zu leben. Sein Fuß ging leicht und schnell wie sein Blick, sein Herz klang hell, ein Glockenspiel im Urwald, Äolsharfe in Gewittern. Unendlich süß zwischen zwei Windstößen und also fortklingend im endlich beruhigten Abend.

R. Schickele: Die Leibwache. Gedichte. Leipzig; Verlag der Weissen Bücher, 1914, S. 54–55.

TASSO, TORQUATO (1544–1595)

Maximilian Brantl (1881–1951)

Tasso

Es naht die Stunde da ich vor dich trete. Mir ist so bang in meinem Glück. Es ist wie jubelnde Gebete doch eine Scheu drängt sie zurück. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 215

Ich will die Augen nicht erheben dich stört vielleicht das laute Licht indes mein Mund mit leisem Beben die fremden Worte zu dir spricht.

Wie eine Saite will ich schwingen der deine Hand die Töne gibt: Und du geruhst auf mir zu singen ein Lied das deine Seele liebt.

M. Brantl: Meeresstille und glückliche Fahrt. Gedichte. München: Selbstverlag, 1909.

UHLAND, LUDWIG (1787–1862)

Erich Mühsam (1878–1934)

Uhland in Wilmersdorf

Am Bleistift leckend, daß ein Vers sich bilde, durchwandelt Ludwig Uhland wieder mal, noch stark im Geist, an Leiblichkeit astral, im Jenseits die parnassischen Gefilde. Skandierend laufen Schiller, Wieland, Gleim, Virgil, auch Wilhelm Busch und Lafontaine den heiligen Hain entlang. Es weht die Mähne, der Lorbeer rauscht, und lieblich strömt der Reim.

Da ruft ihm Dante zu, dem von der Leier laut plätschernd schon der Schweiß des Schaffens tropft: Horch, Uhland, wie es von der Erde klopft! Ich wett’, das ist bei Alfred Richard Meyer! Ja, Dante, du hast recht, − und es gilt mir. Sie laden mich zur Meyerschen Seance. Hin muß ich, Fräulein Arnheim ist in Trance. Gleich, Fräulein, gleich! Ich hol’ bloß noch Papier!

Und Ludwig Uhland nimmt den Flug ins Weite, − zur Bücherei erst − Bleistift im Gewand −; aus einer Lieder büttnem Erstdruckband reißt er heraus des Schmutzblatts Vorsatzseite, womit er Richtung Wilmersdorf entschwebt: Hier Uhland! − Medium Fräulein Arnheim flüstert. Bei Meyers sitzt ein Zirkel geistumdüstert, hohläugig und von Ewigkeit durchbebt.

Der Gast vom Jenseits poltert und entwand sich, und als es hell ward, da war ausgeschleimt ein lyrisch Lied, in Rhythmen und gereimt von Ludwig Uhland, 1920. Acht Jahre lebt jetzt das Astral-Poem des Dichters, der achtmal so lange tot ist. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 216

Nun fragt sich, wer sein Werk zum Butterbrot ißt, will sagen: Wem gehört die Handschrift, − wem?!

Sie streiten, und die irdischen Gerichte, sie stellen fest, was Jenseits-Erbrecht ist. Aufs Materielle will kein Spiritist, auch Alfred Richard Meyer nicht verzichten. Doch im Olymp um Ludwig Uhland her stehn Dichter-Geister aller Zeit und lachen, daß ihnen die astralen Rippen krachen. O Wilmersdorf! − Homerisch lacht Homer!

Erich Mühsam: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Günther Emig. Bd.1: Gedichte. Berlin 1983, S. 537–538.

VILLON, FRANOIS (1431–1484)

Georg Heym (1887–1912)

François Villon

Ein Kerzenschein huscht auf schwarzen Wänden. Ein Vampir steigt aus tiefer Unterwelt Der Gräber auf. Der schwere Deckel fällt Laut hallend nieder aus den ›magren‹ Händen.

Er sieht sich in dem hohlen Dunkel um. Er tritt zu einem Bild: Vor diesem Schrein Hab ich gekniet. Wo abgeschabt der Stein Von vielen Knien ward. Den Kranz herum

Flocht meine Schwester. Das ist lange her. Da war ich noch ein Kind. Hier kniete ich, Wenn ich am Abend in die Kirche schlich, In ihren Schatten. Das ist lange her.

(Jetzt bin ich schon ein Greis. Die Zeit vergeht.)

G. Heym: Das lyrische Werk. Sämtliche Gedichte 1910–1912. Mit einer Auswahl der frühen Ge- dichte 1899–1909. Auf Grund der Gesamtausgabe herausgegeben von Karl Ludwig Schneider, München: DTV, 1977, S. 206 (flüchtiger Entwurf, Januar 1911).

WHITMAN, WALT (1819–1892)

Arthur Drey (1890–1965)

Walt Whitman

Fackelschwinger! Lodernder Titan des keuschen Urwalds! Deine Augen küssen die Welt, und traumschmeichelnd Fließt die weiße Sonne deiner Haare über das Meer – Weltmensch! Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 217

Dein Herz ist zwischen den streitenden Blöcken Liebe In aufgerissener Brust blutenden Brudergefühls – Kinder knien augenmüde vor deiner Jünglingsseele– Traum!

Aus deinen bleichen Tränen blinkt warmer Friede, Und Blumen sind deiner lieben Lippen Worte, Die wir trinken, heilenden Quell – Wunder!

Dein Urgebäude wächst, wilderndes Gold… Es breiten fromme Länder ihre grauen Hände Zum Fang – Einsam stehst du am Saume der Welt – Prophet!

Die Aktion 1 (1911), Sp. 907.

Walter Rheiner (1895–1925)

Walt Whitman

Wälder. Berge. Sternfall. Ströme. Wolken rauschen, grauer Bart. Lager zwischen Gräsern. Tierlaut. Gott der Wildnis. Sonne tönt!

Städte glühen. Staaten wölben. Pflaster knistert. Straßen schwingen. Strahlen-Augen. Himmel-Hand. Meeresküste. Schiff im Fernen.

Baum ins Blaue mächtig kreisend. Reise. Fischfang. Nächtiges Feuer. Herz, draus goldene Stürme stoßen. Ruf’ ins Weltall: Sieg! und: Sieg!

Vater des Planeten. Zeus. Blitz im Auge, mildes Licht. An den Schultern siedeln Dörfer. – O daß deine Hand ich hielte!

Ruhst du unter meinen Schritten? Quillst du, Erden-Leib? Frühling blühst du, Winter sinkst du Welt du, Klang und Sterne.

W. Rheiner: Ich bin ein Mensch – ich fürchte mich. Vergessene Verse und Prosaversuche. Hrsg. v. Thomas Rietzschel, Assenheim: BrennGlas, 1986, S. 82. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 218

ZOLA, EMIL (1840–1902)

Johannes R. Becher (1891–1958)

An Zola

Hinauf, Menschen! Heraus aus euerem Schmutz, den ich nachmale, euerem Elend und euerer Schande, die ich nackt hinstelle. Hinauf mit mir: arbeitend ihr und ich. Wir sind Brüder. Nicht viel Worte davon. Es heißt seine Pflicht tun. Zola

Um dich gruppieren sich die Neuen Städte. Zementene Quadern. Dächer Überfall. Um dich Fabriken klares Frühmeß-Schmettern. Der Donnerzüge steilster Kurvenwall. Um dich gruppieren sich die Neuen Städte.

Es starren Dickicht rund die finsteren Völker: Dornkranz so wie von Höllen widerscheint. Zerzauste Himmel drauf (Ruinen) welken. Die Riesenpyramide aus Gebein. So starren Dickicht rund die finsteren Völker.

Zu dir verstrecken sich die jungen Dichter: Koloß der Arbeit. Krachend aufgetürmt. Hah: Massen wälzen! Von Tribünen spricht er Der Hymnische. (– Du Leite mir und Schirm –.) Zu dir verstrecken sich die jungen Dichter.

Da knospet auf aus deinem Inselgarten – Und strahlt! – der Menschheit blaue Morgenwelt. Du schwebst ihr vor. Zurück aus Orkus-Fahrten. Ein jeder groß und blühend eingestellt. Wir knospen auf aus deinem Inselgarten.

Ja leucht und sprieß und schaukele in den Winden, Purpurenes Schiff! Du faßt wohl alle sie. Asyle platzen und Kasernen schwinden, Durchdrungene von der Brudermelodie. Purpurenes Schiff! Demokratie!!

Zola –: es soll uns selbst der kleinste Traum zersplittern! O Trinität des Werks: Erlebnis-Formulierung-Tat! Gehirn ein Block Kristall heiß durchgeschliffen. Fanfare brüll! Schaut: diese Straß biegt grad Hinein in den Tumult und – durch! Gewitter Sie hängen drum. Emporgestemmt von ewigen Imperativen.

J. R. Becher: Das neue Gedicht. Auswahl (1912–1918), Leipzig: Insel 1918, S. 103–104.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 219

1.2 Väter

ALTENBERG, PETER (1859–1919)

Karl Willy Straub (1880–1971)

In memoriam Peter Altenberg

I Wie Du es sahst – so hatten wir es nie gesehen, Wie sich die Dinge fliehn, sich aneinander hängen, Die sonst es meiden, sich ans Licht zu drängen: – Dir gaben sie in blindem Drang sich zu verstehen.

Des Lebens nebelhafte Fernen wurden Dir zu Nähen, Zu lichten Weiten Dir der trüben Dinge Engen, Was Dir der Tag zutrug, sich sinnlos zu vermengen: – Dir glückte, zu entwirren dunkelstes Geschehen.

In Deines Auges unbestechlich wahrem Spiegel Fing sich das kühle Bild von tausend fremden Dingen, Wie unsre Seelen sie noch nie so rein empfingen

Erlöst in Deines heißen Herzens heil’gem Tiegel: Wir aber heben uns auf unsichtbaren Schwingen Ins große All und sprengen selig alle Riegel…

II Zum Narren prägte Dich der Vielzuvielen träge Sippe, Weil Du den Dingen auf den seichten Grund gesehen. Die mit den fetten Hälsen konnten nie verstehen, Daß Du verachtetest des Bürgers Trog und Krippe.

Ob sie verblaßte, Deine lebensdurst’ge Lippe? Ob sie begann, um eine kurze Frist ihn auflehnen, Als er, der Nimmersatte, sich auf leisen Zehen Dir näherte mit Stundenglas und Hippe?

Ach nein, Du fürchtetest sie nicht, die graue Stunde, Die Dich dem letzten Rätsel näher brachte, Das Deine Luft, es zu enthüllen, oft entfachte.

Dein Leib erschrak nicht vor dem Liebesbunde, Der ihn zum Bräutigam der Erde machte, Die einst ihn zeugte mit geweihtem Munde.

K. W. Straub: Sonette. Heidelberg: Meister, 1920, S. 26–27. Wieder in: K. W. Straub: Die hundert Sonette eines Zeitlosen. 1907–1957. Eine Auswahl, Heidelberg; Meister, 1960, S. 64–65 (unter dem Titel An einen Dichter (Für Peter Altenberg)).

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 220

BROD, MAX (1884–1968)

Franz Werfel (1890–1945)

An Max Brod

Menschen rasseln in Erz und blicken verächtlich und herrschen. Siehe, und dein Geschick fügt sich im menschlichen Wort. Tugend heißt Streben und Kampf. Und weiß doch ein jeder: ich sterbe! Wen wohl riß dieses Wort, weinend in Liebe dahin? Liebend bebt’ ich empor. − Da wies Verachtung und Kälte, Macht und Pflicht und Gesetz mich in den Unsinn zurück. Ja, da griff ich die Stirn und trocken ward Zunge und Gaumen, Doch sie schmelzend in Lust, löste die Seele sich bald. Tränen kamen, den Lippen entrang sich in heiligem Stammeln In die Welten hinaus, seligster Seufzer: Du bist! Irgendwo weiß ich dich atmen, und dein gerundetes Wesen Wirkt bei Tag und bei Nacht treulich durchs Leben mir hin. Nicht mehr sinken die Worte unendlich, ohne zu landen; Denn gekäuselten Mundes fasst sie ein gleiches Gemüt. Was berauscht und verlegen noch keiner dem andern gesprochen, Seele, im zarteren Sein, fühlet der Seele es zu. Einsam bin ich nicht mehr. Ich jauchze, dass wir uns haben. Wunder! In gleicher Zeit und auf gleichem Gestirn!!

F. Werfel: Der Weltfreund. Erste Gedichte (1908–1910). München: Wolff, 1920.

DÄUBLER, THEODOR (1876–1934)

Viktor Bitterlich (Lebensdaten nicht ermittelt)

An Theodor Däubler Ein Schweigen geht durch diese Winternacht. Die Erde lauscht in sich. Ihr Herzschlag zittert. Ihr bleich Gesicht mit blinden Augen wittert. Spürst du den Schnee? Ein Schmerz ist aufgewacht.

Ihr Herzschlag zittert. Schmerz ist dargebracht! Von ihren Lippen gellt ein Schrei und flittert Von Stern zu Sternen, blutend hingesplittert, Und Scham des Lebens überglüht die Nacht.

Und Tränen springen singend durch’s Gefunkel Und Blut verqualmt und Qual ist aufgespaltet Und tausend Sterne brausen in das Dunkel.

Nicht sein! Nicht sein! Ein Mantel wird entfaltet. Und Frost umarmt den Schrei: er starrt und zittert. Schweig auch, mein Herz! Ein blindes Antlitz wittert.

Der Brenner 3 (1912/1913), S. 205. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 221

Jakob Hegner (1882–1962)

ECCE HOMO, ECCE GENIUS (An Theodor Däubler 1911)

Mein Silber und mein Violett erstarben, Dein Gold und Purpur überstrahlt die blasse Glut. Die Nacht hat Blau und Grün und viele Farben, Doch selten goldnes Blut.

Wer Gold hat, muß auch Purpur haben. Denn Gold ist äußerst letzter Himmelsgeist, Wie sollt er leibleer leben und begaben Ein Aug, das irdisch kreist?

Dein Gold erzwingt sich Sonne, nimmt sich Sterne Und blutet Lebens, Sterbens Auf- und Niedergang. Du Vollmondssonne, deine Sternenkerne Sind mehr als nur Gesang,

Sie rieseln greifbar Rotgold auf uns nieder; Begreiflich wird die sonst so unfassbare Nacht, Dein Licht befiehlt. Der Tag schafft finster wieder: Er ist als Nacht erwacht.

Ich ahne mich in seinem Augenschauen Und bin nun unverständlich klar und gut. Da leucht ich selbst aus dunklen Augenbrauen, gedeiht mit Gold und Blut.

Die Aktion 6 (1916), Sp. 155.

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Theodor Däubler

Zwischen dem Spalt seiner Augen Fließt dunkeler Golf.

Auf seinen Schultern trägt er den Mond Durch die Wolken der Nacht.

Die Menschen werden Sterne um ihn Und beginnen zu lauschen.

Er ist ungetrübt vom Ursprung, Klar spiegelt sich das blaue Eden.

Er ist Adam und weiß alle Wesen Zu regen in der Welt. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 222

Beschwört Geist und Getier Und sehnt sich nach seinen Söhnen.

Schwer prangen an ihm Granatäpfel Und spätes Geflüster der Bäume und Sträucher,

Aber auch das Gestöhn gefällter Stämme Und die wilde Anklage der Wasser.

Es sammeln sich Werwolf und weißer Lawin, Sonne und süßes Gehänge, viel viel Wildweinlaune.

Und Evviva, dir, Fürst von Triest!

Zeit-Echo 1 (1915/1916), S. 218.

Mynona (d. i. Salomo Friedländer) (1871–1946)

Fast göttlich ist der schöne Theodor…

Fast göttlich ist der schöne Theodor, Er ist ein Wolf, es heulen mit ihm Engel. Bewirkt sein Barth beim Schwatzen Hemmungsmängel, So steht sein Schelm, sein Ulk doch sehr in Flor.

Auf hohem Block prangt wohl der reinste Tor. Beruhigt euch! Fallt nur nicht gleich vom Stengel! In mäß’ger Geister eingeschränktem Sprengel Zeigt sich mitunter auch ein weißer Mohr.

Statt Herwarth Waldens macht Musik ein Schmidt, Ästhetisch und magnetisch wirket Stahl. Der ganze Zeitgeist wird zur Fastnachts=Posse.

Das Parallelogramm der Kräfte aus Profit Und Genius resultiert berühmt banal, Denn nemo obligatur ultra mosse.

Mynona (S. Friedländer): Hundert Bonbons, Sonette. München: Müller, 1918, S. 84.

Robert Seitz (1891–1938)

An Theodor Däubler

Ekstatischer Beter im Kreise der lichtblauen Sterne, Die Aufgang sind über den Dunkelheiten der Welt. Schon hängt ein silbernes Licht um das Dach einer öden Kaserne. Nun nur noch Glanz! Denn das Haus fällt hin und zerschellt. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 223

Die Straßen sind weiß unter deinen Füßen geworden, Denn alle Helligkeit stieg deines Leibes Treppe hinab. Ein Göttliches nahm dich und stellte dich hin in das Morden. Der Frühling liegt rot auf den Hügeln! Grünender Stab!

Die Träume sind Blüten und rollen wie Perlen ins Weite, Ihr Lauf ist Musik. Du weinst sie, du jauchzt sie, du singst! Die gelben Monde steigen und sind dir Geleite, Der du dich schon in neue Mysterien schwingst.

Nicht kann mehr, Gestalt, mein glimmender Blick dich umfassen. Verschwimmend im Äther, bist du schon Äther und Duft. Ich spüre nur seltsam in diesen aufklirrenden Gassen Ein lila Licht, ein Geheimnis, von dir in der Luft.

R. Seitz: Das Herz in den Augen. Gedichte. : Peters 1921, S. 54.

Franz Werfel (1890–1945)

Einer Chansonette (Th. D.)

In dir beschlossen sahen wir dich gehen! Doch sprich, mit welchem Wunder ging es zu? Die Bühn’ war du, der Walzer auch war du, Und alles fand sein Schicksal und Geschehn

Und dein Couplet. Doch einsam war dein Stehn, Allein dein Knix, dein Singen und die Ruh’ Des Leibs. Von dir und uns was wußtest du? In dir beschossen sahen wir dich gehen!

Heb auf zur Deck’ die Augen, oder zieh Die Worte lang und bebe mit dem Knie! Du wirst es nie, dein Dichter nie verstehn.

Doch soll’s in Tränenstunden einst geschehn, Daß sich dein Wesen, wie’ im Ewigen liegt, Als Falte mir um meine Lippe schmiegt.

F. Werfel: Das lyrische Werk. Hrsg. v. Adolf D. Klarmann. Frankfurt/M.: Fischer, 1967.

DEHMEL, RICHARD (1863–1920)

→ GEORGE, STEFAN (René Schickele: Spuk).

Kurt Pinthus (1886–1975)

Dehmel (Liegt eine Stadt im Thale) → Textwiedergabe oben, S. 98; Referenztext (Richard Dehmel: Die stille Stadt) oben, S. 109. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 224

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Richard Dehmel

Aderlaß und Transfusion zugleich; Blutgabe deinem Herzen geschenkt. Ein finsterer Pflanzer ist er, Dunkel fällt sein Korn und brüllt auf. Immer Zickzack durch sein Gesicht, Schwarzer Blitz. Über ihm steht der Mond doppelt vergrößert.

E. Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Norbert Oellers u. a. Bd. 1.1: Gedichte. Bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki u. a. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag, 1996, S. 147.

Hanns Johst (1890–1978)

Richard Dehmel Deine Hände lohten immer über dir, Flammen vom Altare deines Herzens. Zwischen die Horizonte deiner Augen Spannte sich der Himmel deiner Stirn. Du enthülltest Frauen Und überschüttetest die nackten Mit den sehnsüchtigen Rosen Der Liebe. Du enthülltest Männer Und schultertest ihrer Kraft Den trunkenen Dämon Der Seele. Das Kind aber hütetest du In der roten Wiege der Mutter Und sangst seinem hüpfenden Traum Das lustige Lied der Frühe. Nun sind deine Hände über dich hinausgeflogen. Wandervögel, ließen sie uns verwaisen… Aber deine Gesänge kreisen Über uns. Und haben den Himmel mit dir Wie mit einer tönenden Wolke überzogen.

H. Johst: Lieder der Sehnsucht. München: Langen, 1924, S. 22.

René Schickele (1883–1940)

Großstadtvolk → Textwiedergabe oben, S. 113 (Anm. 245); Referenztext (Richard Dehmel: Predigt ans Groß- stadtvolk) oben, S. 111. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 225

DEUBEL, LÉON (1879–1913)

Paul Paquita (1887–?)

Der Garten der Erkenntnis. In memoriam Léon Deubel

Wohl schaltete er, traun, auf goldner Taste, daß Worte wie erwachte Zellen klirren, die, Hostien in gilbenden Geschirren, sich wenden unter duftendem Damaste.

Was aber fürchtete er − ach −, er fasste Zu schmiedehart ein Hauptjuwel, zu schwirren Und gab sich, ein so Blendender, dem Sbirren, dem dunkeldeutigen, dem Tod, zu Gaste!

Verderben denn die dämmerübersprühte, die üppig aufgesperrte Traumesblüte der Tür Metallkonturen oder schnörkeln

sie nicht die Welt getreu, wo eingesessen, sich spiegelnd in vereisten Glittertressen, die Vögel an den Kupfernarden nörgeln?

Die Bücherei Maiandros 6 (1913), S. 1.

DÖRMANN, FELIX (1870–1928)

Max Hermann-Neisse (1886–1941) → Referenztext (Felix Dörmann: Was ich liebe) oben, S. 142.

Ich liebe…

Ich liebe Verbrechen, ich liebe Skandal, ich liebe Huren und liebe Proleten, ich liebe es, vor den Bauch zu treten, so bin ich nu’mal! Ich liebe alles, was andern fatal, ich liebe Ehebrecher und Diebe, ich liebe sogar die platonische Liebe − ich bin anormal! Ich hasse Sitte und Pflicht und Moral, ich hasse Pastoren und Polizisten, Fürsten, Hebammen und Juristen, so bin ich nu’mal!

Max Hermann-Neisse: Gesammelte Werke. Hrsg. v. K. Völker. Gedichte 3, Frankfurt/M.: Zweitau- sendeins, 1987, S. 39. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 226

Alfred Lichtenstein (1889–1914)

Komisches Lied (An Felix Dörrmann) → Textwiedergabe oben, S. 144; Referenztext (Felix Dörmann: Was ich liebe) oben, S. 142.

EULENBERG, HERBERT (1876–1949)

Walter Hasenclever (1890–1940)

Herbert Eulenberg

Man geht mit ihm in einer Stadt im Dämmern Am Rhein vorüber, und die Stadt wird stumm. Ein buntes Licht taucht manchmal aus dem Dämmern, Man hört sein Herz und das des andern hämmern, Und keiner weiß warum.

Oder man wird ein Held aus alten Zeiten Und schenkt wie Honig seine Kraft ins Land; Läßt aus Träumen und aus Wirklichkeiten Seine großen weißen Flügel gleiten, Und führt sein Schicksal an der Hand.

Oder man ist ein Wald. Ein Gebet. Ein Märchen. Ein Stück Mensch, das lacht und weint. Eine Fahne im Wind, ein Sang von Lerchen, Ein roter Königsmantel im Märchen, Auf den die Sonne scheint.

Und wandert so mit ihm auf leichten Füßen All diese Wunderwege später Ruh; Sieht wo am Saum der Wiesen zwei sich küssen, Und sieht ein Kind und Fraun, die sterben müssen, Und leise geht der Vorhang zu.

W. Hasenclever: Sämtliche Werke, Bd. 1: Lyrik. Bearb. v. Annelie Zurhelle u. a. Mainz: v. Hase & Koehler, 1994, S. 245 (geschrieben 1914).

GEORGE, STEFAN (1868–1933)

Gottfried Benn (1886–1956)

Herbst → Textwiedergabe oben, S. 122.

Gottfried Benn (1886–1956)

Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke → Textwiedergabe oben, S. 126; Referenztext (Stefan George: Komm in den totgesagten park und schau) oben, S. 127. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 227

Alexander Bessmertny (1888–1943)

Stefan George

Stefan George, Deuter meiner Blösse, Der Gipfel wies und talwärts mich verstiess. Ich steige schwer, geworfen durch die Stösse Des Sturmes, den dein Geisterodem bliess.

Die Aktion 3 (1913), Sp. 40.

Alexander Bessmertny (1888–1943)

Ein Epigone spricht

Spröde Madonna empfang meine Krone Rötlicher Ohren ans lauschende Haupt. Wonnige, wolkige Himmelkanone, Die du mit Donnern mich Armen gestaupt.

Similisteine stahl ich Georgen, Gleite mit ihnen prunkend ins Land. Willst du den Barchend zur Toga mir borgen, Geb ich die Steine dir dankbar zum Pfand,

Du nur allein fühlst Anakolute Streck ich den Plattfuss zum Hymnus hinaus. Wär ich kein Wallach du schlachtbare Stute Wär ich im Barte Apollons die Laus.

Die Aktion 3 (1913), Sp. 404.

Ernst Blass (1890–1939)

An Stefan Georges fünfzigstem Geburtstag 12. Juli 1918

Ein seliger Hauch und tiefe Glockenstimmen, von seinen Tagen wundervoll gewährt, durchdringen eines schweren Traumes Glimmen mit Hoffnung, die befreit und neu ernährt. In öder Wetter dunkelstem Ergrimmen erstrahlt ein Glanz verklärend und verklärt, in strenger oder hingegebener Weise ein Leitstern auf der namenlosen Reise.

Der Dichter, der der Menschen Herz erschüttert, erhebt es auch aus tiefverworrener Schlucht. Die Kronen beugen sich, wenn es gewittert, verjüngter stehn sie nach der gestrengen Wucht. Es scheint der Sterne Wandel und Verbleib zu gleichen der Gedichte hehrem Leb Der grüne Lorbeer ewiglich bekränzet Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 228

des Dichters Haupt. Schon wandelt die Gestalt, von einer andern Sonne rein geglänzet, auf schönen Pfaden ruhiger Allgewalt. Sein Werk hat die bedürftige Welt ergänzet, getreulich wuchs es auf, ein ganzer Wald; in flüchtiger Tage Hast und heftigen Mühn: ein Wald der Hoffnung und des ewigen Grün.

Das junge Deutschland 1 (1918), S. 241.

Georg Heym (1887–1912) → Referenztext (Stefan George: Komm in den totgesagten park und schau) oben, S. 127.

November

Der wilden Affenscheiße ganze Fülle Liegt auf der Welt in den Novemberkeiten. Der Mond ist dumm. Und auf den Straßen schreiten Die Regenschirme. Daß man warm sich hülle

In starke Unterhosen schon beizeiten. Nur Bethge haust noch auf dem Dichter-Mülle. Man nehme sein Geschmier. Zum Arschwisch knülle Man das Papier zum Dienst der Hinterseiten.

Die Martinsgans glänzt in der braunen Pelle. stefan george steht in herbstes-staat. an Seiner nase hängt der perlen helle.

Ein gelbes Rotztuch blinkt. Ein Auto naht. Drin sitzt mit Adlerblick die höchste Stelle. Fanfare tutet; Sellerie Salat.

G. Heym: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Karl Ludwig Schneider. Bd. 1: Lyrik. Hamburg u. München: Ellermann, 1964, S. 155 (entstanden November 1910).

Kurt Pinthus (1886–1975)

Stefan George → Textwiedergabe oben, S. 96–97.

René Schickele (1883–1940)

Spuk

Mir träumte von einem Rennen goldner, schimmelbespannter Wagen. Ich sah Achsen brennen, Pferde stürzen, ich wurde getragen, flog an Hunderten vorbei Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 229

und hinein in eine lange Reih, die sich, so schnell die Erde lief, am rasenden Horizonte hielt. »Hallo« Ich blickte umher, ich rief: »Gottlob ihr Herren, daß ihr nicht fielt, wir alle litten um euch Sorge.« Doch wars der alte Glanz, woran ich euch erkannte: die Rosse die Dehmel ins Rennen sandte, die Ställe Rilke und George!«

Doch statt Georges baumelte in seinem Wagen Platens Pagenbein, mit neuem Glanz beschuht: nahtlos. Es fuhr im dunkeln Glorienschein »Allein«. In Dehmels Wagen taumelte ein Embryo mit gelähmtem Zeigefinger. Statt Rilkes stand in goldvergittertem Zwinger ein himmelblauer Zuckerhut, der tönte aller deutschen Reime Litanein.

R. Schickele: Weiss und Rot. Gedichte. Berlin: Cassirer 1910, S. 109. In der 2. Auflage von 1920 (S. 87) hat Schickele das Gedicht um zwei neue Schlussverse erweitert:

Da fuhr ich lachend mit Pauken und Tandaradein als Sieger zu Mosse ins Feuilleton hinein.

Heinar Schilling (1894–1955)

S. G.

O daß wir nimmer jenes tags vergessen da wir im dunkel klängen nachgeflogen heut ist zerbrochnen worts die zeit vermessen

Wie liebten wir die kühn geschwungenen bogen des bunten glases dunkel unserer reime das wellenspiel der windgetriebnen wogen

Vergib daß wir im strom der zeit gezogen o meister – in uns warten doch die keime und sprießen einst wenn uns der sturm betrogen

Bingen, August 1917

Heinar Schilling: Versuche (Opus 1-40). Erster Band. Gedichte. Erster bis dritter Teil. 1913– 1919. Berlin und Dresden: Kaemmerer, 1920, S. 43. Wieder in: Schrei in die Welt, Expressionismus in Dresden. Hrsg. u. mit einem Nachwort v. Peter Ludewig. Zürich: Arche 1990, S. 58. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 230

HARDEN, MAXIMILIAN (1861–1927)

Ferdinand Hardekopf (1876–1954)

Maximilian Harden

Encyclopädisch, mit des Hirns Privat-Bedeutung, Schrieb er, durch dreißig Jahr, die klügste deutsche Zeitung. Dann werd er massacriert, den Schädel traf der Henker: Da jubelte das Volk der Dichter und der Denker.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Hardekopf, 70,12 71.1457. »Xenien«. Druck in: Neue Schweizer Rundschau, 1928.

HAUPTMANN, CARL (1856–1934)

Hanns Johst (1890–1978)

Carl Hauptmann

Du bist zur Erde eingefahren. Lächelnd legst du die Schultern an ihre Scholle. Ungewiß – ob sich die wundervolle Erde, oder der Himmel mit seinen wunderbaren Ewigkeiten von dir tragen lassen wolle.

H. Johst: Lieder der Sehnsucht, München: Langen, 1924, S. 21.

HAUPTMANN, GERHART (1862–1946)

Ferdinand Hardekopf (1876–1954)

Gerhart Hauptmann

Einst immerhim berührt von einem Hauch aus Norden, Ist er zum Megaphon des Mittelstands geworden, Zum öffentlichen Mund der subalternen Meinung, Zum deutschen Rentner-Marx: welch amtliche Erscheinung!

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Hardekopf, 70,12 71.1457. »Xenien«. Druck in: Neue Schweizer Rundschau, 1928.

HILLE, PETER (1854–1904)

Adolf Knoblauch (1882–1951)

Auf Peter Hilles Tod

Wenn du eine Stimme in Lüften über den Wäldern gewaltig hörst, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 231

so denke, mein frischer Jugendknabe, daß du dich von mir abkehren sollst, und nicht wissen des Schweifenden Leben und Ende

Dem männlich-rauhen Schrei des Reihers gehorche des Seespiegels goldene Lanzen lenke in dein Herz Des Reihers rauhe Stimme ist die Meine des Seespiegels goldene Lanzen sind meine Worte, die blitzenden…. Aus Seelenfinsternis hob ich eine Welt − Nächtens, das Rauschen das überm Wanderer webt Verwob ich ins Brausen das ich dir sende einsam, nach meinem Tod!

Im Buche bin ich nicht begraben – Majestätisches Gedröhne, das mit mir Verlorenen einsam dahinzog, Hall der Worte, meine hinkniende Unruhe, Einfältig Getast im hohen Welt-Atem: Das alles vernimm, der du dich an mein Herz niederbückst, den des friedlosen Wanderers Bartgeäst umflicht, um den in gewittternder Einsamkeit Vielhundertjährige Kiefern rot und hart sich recken.

Schau diese schmale, edle Hand, des Schöpfers Hand, legt sich auf dein springendes Herz und erhebt dich vom Tode.

Den Blauen Stern, seine einsame Bahn empfängt der seelenstillbreitende See, das goldene Rotlicht, der Spiegel mit seiner unendlichen Tiefe..

A. Knoblauch: Kreis des Anfangs, Frühe Gedichte. Berlin: Sturm, 1916, S. 109.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 232

HOFMANNSTHAL, HUGO VON (1874–1929)

Alfred Lichtenstein (1889–1914)

Der Barbier des Hugo von Hofmannsthal

So steh ich nun die trüben Wintertage Von früh bis spät und seife Köpfe ein, Rasiere sie und pudre sie und sage Gleichgültige worte, dumme, Spielerein, Sie schlafen schlaff. Und andre lesen wieder Und blicken langsam durch die langen Lider, Als hätten sie schon alles ausgenossen. Noch andre öffnen weit die rote Ritze Des Mundes und verkünden viele Witze.

Ich aber lächle höflich. Ach ich berge Tief unter diesem Lächeln wie in Särge Die schlimmen, überwachen, weisen Klagen, Daß wir in dieses Dasein eingepresst, Hineingezwängt sind, unentrinnbar fest Wie in Gefängnisse, und Ketten tragen, Verworrne, harte, die wir nicht verstehen. Und dass ein jeder fern sich ist und fremd Wie einem Nachbar, den er gar nicht kennt, Und dessen Haus er immer nur gesehen hat.

Manchmal, während ich an einem Kinn rasiere, Wissend, dass ein ganzes Leben In meiner Macht ist, dass ich Herr nun bin, Ich, ein Barbier, und dass ein Schnitt daneben, Ein Schnitt zu tief, den runden frohen Kopf, Der vor mir liegt (er denkt jetzt an ein Weib, An Bücher, ans Geschäft) abreißt von seinem Leib, Als wäre er ein lockrer Westenknopf … Dann überkommts mich plötzlich : dieses Tier. Ist da. (Das Tier.) Mir zittern beide Knie.

Und wie ein kleiner Knabe, der Papier Zerreißt (und weiß es nicht, warum), Und wie Studenten, die viel Gaslaternen töten, Und wie die Kinder, die so sehr erröten, Wenn sie gefangner Fliegen Flügel brechen, So möchte ich oft wie von ungefähr, Wie wenn es eine Art Versehen wär, An solchem Kinn mit meinem Messer ritzen.

Ich säh zu gern den roten Blutstrahl spritzen.

Alfred Lichtenstein: Dichtungen. Hrsg. v. K. Kanzog u. H. Vollmer. Zürich: Arche 1989, S. 21f. Referenztext: Hugo von Hofmannsthal: Der Schiffskoch, ein Gefangener, singt: Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 233

Weh, geschieden von den Meinigen, Lieg ich hier seit vielen Wochen; Ach und denen, die mich peinigen, Muß ich Mahl- um Mahlzeit kochen.

Schöne purpurflossige Fische, Die sie mir lebendig brachten, Schauen aus gebrochenen Augen, Sanfte Tiere muß ich schlachten.

Stille Tiere muß ich schlachten, Schöne Früchte muß ich schälen Und für sie, die mich verachten, Feurige Gewürze wählen.

Und wie ich gebeugt beim Licht in Süß- und scharfen Düften wühle, Steigen auf ins Herz der Freiheit Ungeheuere Gefühle!

Weh, geschieden von den Meinigen, Lieg ich hier seit wieviel Wochen! Ach und denen, die mich peinigen, Muß ich Mahl- um Mahlzeit kochen!

Hugo von Hofmannsthal: Gedichte. Leipzig: Insel, 1922, S. 43.

Ferdinand Hardekopf (1876–1954)

Hugo von Hofmannsthal

Zerstäubtes Gold im Haar, im Antlitz soviel Blässe, Wie sie ein Abendblatt enthält der »Freien Presse«, Sagt er bedeutsam: »Wien!«…Und viel sagt, wer das hinsagt! Wie einer spät wohl noch ein Wort von dunklem Sinn sagt…

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Hardekopf, 70,12 71.1457. »Xenien«. Druck in: Neue Schweizer Rundschau, 1928.

HOLZ, ARNO (1863–1929)

Kurt Pinthus (1886–1975)

Arno Holz → Textwiedergabe oben, S. 97.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 234

KERR, ALFRED (1867–1948)

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Alfred Kerr

Jakobsohn und Jakobfritzen Lassen die Tinten spritzen Wasserfarbenrot.

Und Mühsam, eh ichs vergesse, Kain heißt seine Presse; Kein Jakob schlägt sie tot.

Und Pfemfert, der Aktionäre, Zieht mich in die Affaire: Ob Dr. Kerr tut not?

Was Dr. Kerr bedeute Für die Literatur von heute – Ein Silberling im Brot.

E. Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Norbert Oellers u. a. Bd. 1.1: Gedichte. Bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki u. a. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag, 1996, S. 132.

Ferdinand Hardekopf (1876–1954)

Alfred Kerr

Die Jugend kennt ihn wohl aus alten Anekdoten, Den Nestor der Kritik, den schlecht erzognen Toten; Doch irrt sein Schattenbild durch das Berliner Dasein: Der Weltenblüte will der Restbestand noch nah sein…

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Hardekopf, 70,12 71.1457. »Xenien«. Druck in: Neue Schweizer Rundschau, 1928.

KRAUS, KARL (1874–1936)

Fritz (Friedrich Peter) Kreuzig (1890–1958)

Proteus (nach einem Karl Kraus-Abend)

Von Neunten Tonblut seine Worte glühten, sie waren Flammen, Sternentanz. Es werde! Rief ihre Lust in dunkles Schöpferbrüten Und warfen Glut in die Gedankenherde.

Von Gott und Wollust trunken, sie zersprühten Kains Fäuste schlugen hart sie in die Erde. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 235

Die Welt der Seele tiefer Sehermythen Erschuf erst im Marmor der Gebärde.

Aus Seelenwunden riss den Schrei ein Falk. Ein tiefes Meer von Sturm, Korallen, Sand Schlug hohe Wellen purpurschwer ins Ohr.

Er spie sein Blut, ein lachenstoller Schalk, und legte eine weiche Frauenhand an Träume, die des Lebens Nacht verlor.

Der Sturm 2 (1911/1912), Sp. 607.

Lichnowsky, Mechthilde Fürstin (1879–1958)

Er und die anderen (ein Aprilscherz statt eines Briefes, 1917)

Keiner litt noch so vom Sehen Allen Daseins Glück und Leid; Reifsten Denkens lösten Wehen Leben ihm in Einsamkeit, »Königlicher Einsamkeit«, Ruft er, und im Nu vergehen Allen Schwätzern – oh, verzeiht – Unaufhaltsam Hör’n und Sehen, So in Furcht, wie auch vor Neid. Klar erspät sein weites Auge Alles in Natur und Kunst Rücksichtslos in scharfe Lauge Legt er giergefälschte Brunst, Kniet vor Gott, den Geld verhunzt, Rettet, was für’s Herz ihm tauge Aus der Goldlust Feuersbrunst, Und wie gab aus Herzerbarmen So viel Liebe er und Gunst.

Körperlich nicht übertrieben, Aber seelisch hoch im Flug, Ragt er wie der ersten sieben Langen Schöpfungstage Zug. Kein Ding ist ihm klein genug, Reisst er’s nicht, ganz nach Belieben, Aus des minus grauem Trug Uns in’s plus; muss man nicht lieben Solchen Herzens Recht und Fug?

Kinder liebt er, Bäume, Tiere, Alles Echte scheint ihm so Reich an Schönheit, dass Satire Leuchtend lyrisch wird und froh. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 236

Kaisern, Protzen, Lügnern, roh Reibt er weg die falsche Schmiere; Auf den Presse-Romeo Und die schäumenden Barbiere Sprüht er Feuer lichterloh.

Kaum ist ihm ein Werk entsprossen, Als auch schon ein Wicht spaziert, Rechtsum Kehrt macht, blind verschossen, Links nicht mehr von rechts entwirrt. Kleines Schäflein wie der Hirt, Reimen muss; auch auf den Sprossen Andrer Leitern, ungeniert, Und schon hat es unverdrossen, Sicherlich noch oft plagiert.

Kann denn keiner von den Wichten Abgeschlossen seinen Mund Ruhig halten und verzichten, Lieber als, ganz ohne Grund, Knochen kauend wie ein Hund, Radebrechen in Gedichten? Aber nein, sie tun’s mitnichten Und – Exhibitionieren Schund Schamlos vor dem Blick des Lichten.

Kühn geschwindelt sind Ekstasen Angeklebt der Reim mit List; Rüsselartig dreh’n sie Phrasen, Losgelöst vom Sinn, in Mist. Keinem schlägt, der Tinte pisst, Rein das Herz, so, wie dem Hasen, Ausser, wenn er furchtsam ist. Und dann wird Alarm geblasen: »Seht, wie sich der Kraus zerfrisst«.

Kassiopeia und der Wagen, Auch Orion, schief und schlank, Reizen meiner Augen Klagen, Lassen mich vor Sehnsucht krank. Keinem aber so mein Dank Reulos gilt seit tausend Tagen, Als ihm, dem das Herz nie sank; Unter Qual und furchtlos Wagen, Stark sein Geist die Zeit bezwang.

Kümmerliche Verse bringen Aus Neunzeilern ein Oktett; Reiner könnt’s in Achtern klingen, Leider ist’s von A bis Z Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 237

Kaum erkennbar als Porträt. Reime, Verse, Strophen, singen Arm in Arm nur im Falsett. Um in Form an’s Herz zu dringen, Schreibt man besser ein Sonnett.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Lichnowsky. 81.7393.

LILIENCRON, DETLEV VON (1844–1909)

Heinrich Franz Bachmair (1889–1960)

In memoriam Detlev von Liliencron → Textwiedergabe oben, S. 102 (Anm. 234); Referenztext (Detlev von Liliencron: Tod in Äh- ren) oben, S. 102–103.

Carl Wilhelm Behl (1889–1968)

Abschied von Detlev von Liliencron

Ein Sommerabend, duftig und traut. Der Wind in den Lindenbäumen. Von nah und ferne kein leiser Laut. Ein helles lachendes Träumen. Ein blondes Mädel fest im Arm Mit blauen schelmischen Augen. Ein lustiger tollender Mückenschwarm. Ein seliges Küssesaugen.

Die rote Sonne sinkt ins Moor. Der bleiche Mond taucht lächelnd emmpor. Drei Zechgesellen im Wirtshaus spät. Die Karten fliegen, der Humpen geht… Und deutsche Flüche flattern umher. Dem einen ward schon die Zunge schwer.

Im Sonnenbrand ein Schlachtgetos. Die Waffen blitzen und blinken… Da ist der Tod und der Teufel los. Die bunten Fahnen sinken.

Laut über den Friedhof weint der wind.. Ein frisches Grab steht offen. Es ist für dich, du altes Kind. Auch dich hat der Tod nun getroffen. Dein Blondhaar blinkte im Silberschein, Dein Blauaug lachte in Jugendlust… Da klopft auf die Schulter dir traulich Freund Hein – Da hast auch du ihm folgen gemußt. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 238

Nun hallen die Böller dir laut übers Grab. Die Leute nehmen die Hüte ab – Ich hebe den Humpen. Ein letztes »Prost! Du lebtest dein Leben, Nun ruhe getrost«. 1909

K. W. Behl: Das Buch der bunten Welt. Dresden und Leipzig:. Pierson 1911, S. 43–44.

Walter Ferl (1892–1915)

An Liliencron

Daß Sie das nicht erleben, Herr Baron! Ein Siebz’ger just – Sie ließen sich nicht halten. Gen Niedertracht und Feigheit, hei, wie schalten Sie sprühend stets, was Schelm heißt und Kujon.

Und dann zum Kampf um Schollenbruch und Thron! Hornruf – ist auch das Rosengrab zerspalten? Schrei flirrt ins Licht. In erzenen Gestalten da, dort stiebt es heran vor der Schwadron,

verflatternd Blüten noch aus offnen Haaren, der Liebsten Kuß verweht von heißem Munde – da breschen in den Feind die Reiterscharen..

Und Lieder, Lieder jauchzen ihre Seelen! Indes wir hier in ungewisser Stunde zum Poggfred greifen, unser Herz zu stählen…

W. Ferl: Hinter der Front. Sonette, Leipzig: Xenien Verlag, 1914, S. 12.

Arthur Kronfeld (1886–1941)

Liliencronesk

Ockerhelle, langgedehnte, Schattenlose Straßen glühen. Violette Salvien sprühen Um den Stein, an dem sie lehnte,

Hüftig, schwank, die Windgemähnte. Wie die blonden Arme blühen – Doch sie zieht zu ihren Kühen. Ahnungslose! Stirnumsträhnte!

Ihre langen Schenkel federn Antilopig durch den Klee. Himmelkreuz! – Holà cocher! Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 239

Und die Riemen knirschen ledern, Und der Staub entquillt den Rädern, – Flimmernd flutet die Chaussee…

Der Kondor. Hrsg. v. Kurt Hiller. Heidelberg: Weissbach 1912, S. 93.

Alfred Richard Meyer (1882–1956)

Bismarck und Liliencron → Textwiedergabe oben, S. 104 (Anm. 235).

Kurt Pinthus (1886–1975)

Lilienkron (Nach dem Balle: Setz in des Wagens Finsternis) → Textwiedergabe oben, S. 99; Referenztext (Detlev von Liliencron: Nach dem Balle) oben, S. 100.

MALLARMÉ, STEPHANE (1842–1898)

Hugo Ball (1886–1927)

Mallarmés Blumen

Auf Goldlawinen des alten Azur, Aus der Sterne ewigem Schnee nahmst du im Anbeginne Für eine, vom Weh noch unberührte, jungfräuliche Flur Die großen Kelche deiner Schöpferminne.

Der Zynnien helle Hälse, die falben Gladiolen Und jenen göttlichen Lorbeer der seelisch Verbannten, Hochrot erglühend wie seines Seraphs Sohlen, Die von der Scham zertretener Morgenröten entbrannten.

Die Hyazinthe beriefst du, die Myrthe geistern und bleich, Gleich dem Fleisch einer Frau schufst du als Rose Grausam jene Herodias, die noch im Gartenbereich Vom strahlenden Blut des Propheten träumt überm Moose.

Und bildetest aller Lilien schluchzende Blässe, Das sie im Weihrausch verblauender Horizonte Aufstiegen über die Seufzermeere der Messe, Um zu verschmachten im Anblick weinender Monde.

Hosannah, Maria, in deinem Garten und Schoß, Daß das Echo verebbe in himmlischen Abendlüften, Wo der Heiligen Gloriolen schimmern extatisch und groß.

Selig, o Mutter, sind deiner blühenden Brüste Erhabene Kelche voll Wein und voll Brot. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 240

Selig der Dichter, daß es ihn siechend gelüste Nach künftigem Leben in einem balsamischen Tod.

Hugo Ball: Gesammelte Gedichte. Hrsg. v. Annemarie Schütt-Hennings. Zürich: Arche, 1963, S. 50.

MOMBERT, ALFRED (1872–1942)

Kurt Pinthus (1886–1975)

Mombert: (Der Glühende. Nur Daß ich wachte) → Textwiedergabe oben, S. 98; Referenztext (Alfred Mombert: Der Glühende) oben, S. 104– 105.

RILKE, RAINER MARIA (1875–1926)

→ GEORGE, STEFAN (René Schickele: Spuk).

Max Mell (1882–1971)

Bei Betrachtung eines Briefes von Rainer Maria Rilke

Du ferne Schrift, galtest du jemals mir? Zufällig Ding, auch wert ein stumm Verneinen, Ach wie denn nötigte es zum Erscheinen Auf diesem Blatte dennoch deine Zier! Abglanz des Bildens sehe ich in dir. Du stiegst aus deinem Dienst auf, deinem reinen: Der Gang, der ewige, zwischen dort und hier, Vollbringend legte er sich in den deinen. So wird mir, daß dies Blatt mir jemals kam, da seiner Zeichen Einsamkeit ich denke, Nicht innrer Vorwurf zwar, doch leise Scham. Allein empfind ich recht? Voll Duldung trifft Ein Lächeln mich aus dir, du edle Schrift, Und überläßt sich liebreich zum Geschenke.

M. Mell: Gedichte. Wiesbaden: Insel, 1952, S. 37.

Alexander Bessmertny (1888–1943)

Dem Meister

Du bis das Glas, das meins zum Klingen lockte. Du bist der Dank, den mir ein Gott versprach, Als krachend ich das Tor zerbrach Weil ungesungnes Lied im Innern stockte. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 241

Du warst Versprechen und du bist Erfüllung. Du bist der Sang, den brausend ich begleit. Du bist der Jubelruf im Streit, Der nie verrauschend meine Hoffnung bleibt.

Die Aktion 2 (1912), Sp. 1110.

Alexander Bessmertny (1888–1943)

Rainer Maria Rilke

Maria Rilke. Einst werd ich auch gleichen Dem reifen Gott im seligen Gedicht. Du bist mir meines Auszugs Feuerzeichen Und meiner Tage kündendes Gesicht.

Die Aktion 3 (1913), Sp. 41.

Erwin Loewenson (1888–1963) u. Jakob van Hoddis (1887-1942)

Der Bindfaden (Rainer Maria Rilke gewidmet)

Du bist der Zage, bist der Blasse, Du bist der Nervigte und Krasse, Du bist, der ohne Unterlasse Dem Dienst der Völker sich geweiht.

Du bist der Hehre und Fürbasse. Du bist der Ritter im Kürasse, Du bist die feuchte Kaffeetasse In dieser fingerwunden Zeit.

Du bist der Fluß und bist die Gasse, Du bist der Blitzstrahl allem Hasse, Der Sturm bist du, du bist die Masse, Schwer knallt dein Bett, dein Fuß tritt breit.

Du bist die Klasse mit dem Basse, Du bist das Walten und die Rasse, Du bist Diogenes im Fasse Von Ewigkeit zu Ewigkeit.

J. v. Hoddis: Dichtungen und Briefe. Hrsg. v. Regina Nörtemann. Zürich: Arche, 1987, S. 110.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 242

Alfred Wolfenstein (1883–1945)

Auf die Spitze. Nachdem »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« gelesen waren.

Wenn du einen lichten Berg hinaufrennst, der im Lande du hölzern brennst, steilen Sprungs auf und aufer, bis der letzte Fuss auf die kühle spitze Höhe muss – : gleich wieder ruhest du dir noch auf allzu dickem Raum, greifst in weinender Begier um den einsamen Baum, – klimmst hinauf zum Wipfel, stellst den Zeh auf diesen fernsten Erdenzipfel und vom feinsten Druck durchbohrt – : fort.

Die Aktion 2 (1912), Sp. 432.

Alfred Wolfenstein (1883–1945)

Ein Dichter: Rainer Maria Rilke

Denken wir heute seiner, Der zwischen Kriegen schied, Wie erscheint er uns reiner, Seit neu herannaht des Krieges Lied − Stille des Stundenbuches Schwingt von Knall und Geschrei, Mit der Fanfare des Fluches Jagt der Gewalt Reiterei Welt vor sich her und der Segen flieht.

Aber der Geist will nicht weichen. Ruhig steht Rilkes Gedicht, Menschlichen Schöpfertums Zeichen. Sprache spricht immer: Es werde Licht! Ja, mit kristallener Sprache, Doch bis ins Herz glutgebräunt, Hält der Dichter die Wache, Er ist der Menschenfreund − Und ein Gedicht ermordet man nicht.

Prager Tagblatt, Jg. 61, Nr. 301 v. 29. 12. 1936, S. 3 (unter dem Titel Rainer Maria Rilke). Wieder in: A. Wolfenstein: Werke. Hrsg. u. bearbeitet v. Hermann Haarmann u. Günter Holtz, Bd. 1: Gedichte. Mainz 1982, S. 324. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 243

ROLLAND, ROMAIN (1866–1944)

Carl Friedrich Wilhelm Behl (1889–1968)

Romain Rolland

Haß eitert geil. Zusammensturz der Welt. Nacht schreit nach Tag. Verkrampfte Faust ist müde, Und Völker irren durch die Finsternis. Verworfen sind, die frevlen Brand geschürt, Der längst verkohlend stinkt − dreimal verflucht!

Wann klirrt das Schwert zum Tartarus? Wann bricht Das Auge Gottes leuchtend aus Gewölk?

Östliches Licht entglimmt dem Horizont, Schon schlagen Herzen e i n e m Takte zu. Die priesterliche Stunde blüht heran. Nun hebe aus dem rein bewahrten Tempel Die milde Flamme, brüderlicher Geist!

Die junge Kunst 1 (1919), H. 11.

Alfred Wolfenstein (1883–1945)

Romain Rolland

Ich dampfe noch durch scheinbar grenzenlose Strahlen, Da zuckt der bleichste Berg die kalten Schultern: Halt! Obwohl das Schiff von Flötensprachen schallt – An Puffern steht des Nordens Fahrt hier festgeprallt.

Durch Illuminationen starr’n die fahlen Bajonette auf. Wo Genf’s gelenkige Gestalt Sich wie ein freier Anfang gliedert, kreuzt die Brücken Halt! Gefangen stürzt, wer weiter schreitet, in des Sternes Spalt.

So steig vom Lande, Fuß! es forme dich dein Haupt Zum Flügel, hier, wo einer schon der Sonne glaubt –. Der über dem Gemeng, doch keiner Einsamkeit verschuldet,

Den Horizont entfaltet bis zu fernstem Glanz Mit Fingern der Musik, die keine Lücke duldet: Sieht, blauäugig wie Norden und wie Mittelmeer, die Erde ganz.

Zeit-Echo 2 (1915/1916), S. 228. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 244

SUDERMANN, HERMANN (1857–1928)

Erich Mühsam (1878–1934)

Der Sturmgeselle Sudermann

Seht doch her! Seht doch her! Seht, wie revolutionär! Sudermann, der Sturmgeselle, schreitet schnelle. Seht, er hat sich schon erholt von dem Schreck, als Jacobsohn wackelte an seinem Thron. Nun wird munter fortgekohlt.

Sokrates, das soll man wissen, ist ein Achtundvierzigerr. Damit seid ihr schön besch….., Strecker, Harden, Hart und Kerr! Siegfried − Maximilian, euch zog Sudermann den Zahn. Seht, wie sich im Glas der Most jugendlich benimmt. − Na prost!

Einst gab es in alten Zeiten auch mal einen Sokratess, von dem hört’ man, wie vom zweiten, gleichfalls Philosophischess. Aber er ward selbst betroffen dieserhalb vom Schierlingstrank. Jetzund hat ihn, Gott sei Dank! Deutschlands Publikum gesoffen.

Lang’ das Gift her, süße Hebe, Hermann Sudermann − er lebe!

Erich Mühsam: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Günther Emig. Bd.1: Gedichte. Berlin 1983, S. 155.

STRINDBERG, AUGUST (1849–1912)

Kurt Heynicke (1891–1985)

Strindberg

Dein Kreuz war aus Sternen. Feuer Gottes deine Seele. Ewigkeit gebar dein Schmerz Unendlichkeit Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 245

deine Tiefe Du hast in Liebe empfangen Dich wissen die Wissenden

Der Sturm 6 (1915/1916), S. 87.

Kurt Heynicke (1891–1985)

Nach Strindbergs Ostern

Auf allen Lichtern tropfen Dornenkronen Blut steht auf Zweigen hell wie Morgentau. Und unser Weg quält uns mit spitzen Steinen hinblutend schreiten wir mit nackten Füßen. Schwer ist das Holz zu tragen und Leib und Stab sind müde. Bis eine Sonne über Glocken steht. Bis aus dem Kreuze Osterlilien sprießen. Wir quälen alle unsern Weg wir die wir nicht die Seichtheit glatter Tage in den Seelen tragen.

Der Sturm 6 (1915/1916), S. 87.

TOLSTOI, LEW NIKOLAJEWITSCH (1828–1910)

Johannes R. Becher (1891–1958)

An Tolstoi

Fletschender Niedertracht, beißender Gemeinheit (ungezählter Torpedos) vergeblichst gerammt … Verdammt Immer wieder hinunterzuwürgen Den bitteren, den unbarmherzigen Gift-Trunk Euerer knallenden Schritte. Der Stink-Bombe unaufhörliches Gewitter; Faulichten Fraß Jauche und Schmach Blökender Huraas, gottlosen Schwarzweißrots. Vertrieben entwertet gemäht vergast − Denn −: Der Unschuld heilige Fahne ward mir entrissen. Milde Süße der Flöten-Frucht mir zerfetzt im unwiderstehlichsten mörderischen Pauken-Aufruf. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 246

Und es tobt und es ballt und es schläfert und siedet in mir. … klirrt metallisch in mir! Hah, und die tausend Umtriebe der anonymen Tyrannen in mir! Es rauft den frommen Wunder-Süden aus in mir und knickt friedlicher Palmen Nähe krumm. O Wachs der weichesten Linnen-Frühen! Zerdolchtes Osterlamm.

Gefängnisse. Untergänge. Mich erstickten die grausamen Füsilladen fast. Gesprengte Schädel. Dynamit in der Brust. … zögernd wohl, aber doch immer wieder fällst du anheim den Dämonen … Messer Pranken reißen ab den Herz-Ton. Stündlich vom wütenden Bürger gelyncht. Tapir-Wolke mit Mond-Hirt schrumpften mir unter den Füßen. Auf der Erde, im brüllenden Schlachthaus drehe ich epileptisch mich. Hyoscin-Orgien. Und verräterische Lüge stopft meinen Mund. Am freien Sternen-Wirbel-Himmel meines Haupts ist’s dunkel geworden. Herrische Trommel-Böen durchwuchern meckernd den kristallischen Blüten-Mai euerer idyllischen Kindheit. Erschüttert zerfleischt entrechtet veraast. Bestialischen Kriegs du englische Harfen-Arie ohnmächtiger Jahre zerbrochen. Und es triumphiert rings die schändliche Oper der Reichen. Matschiche. Tango. Ein infernalischer Blut-Ball. Da spielt stotternd der verseuchte Bettler auf zu eueren traurigen Kannibalen- Tänzen. Dem aber senkten sich unerbittlich die engmaschigen, die elektrischen Gitter vor den Horizont einer verkrüppelten Sehnsucht. Blasphemieen euerer Verleumder fälschen meuchlings und berufsmäßig um jedes edle, ein Hoheit-Werk der Propheten, Bekenner. Im Schleusenrechen des Kanals zuckt Märtyrer zerstückelte Leiche. Der Offiziere hohnvolle Fratze grinst. Kolben. Bajonette. Granaten. In uns!! Über uns! Und immerfort immerfort Zwischen Wut und Qual − Orkan und Explosion − Bellende Peitschen-Schüsse auf den Straßen. Es suchen die Dumpfen, die Blöden sie rufen dich. Die Abgestoßenen, die jämmerlichen Ausgeburten aller Länder und Schichten, Die ganz Besitzlosen, die restlos Nackten ergreifen dich. Die Millionen Ungenannter: Du Einer! Unbekannter! Du aller Armut und Aussatzes utopische Insel du. O glühende Sage! Offene Landschaft des Ziels Du Friedenstag! Du alter weißbärtiger blinder Mann: Dem der Güte balsamische Schnee blühen so wunderbar im Haar, So glaubensvoll stürzen dem heißeste Mitleids-Gewässer aus märchener Demut Aug; Daß die Verurteilten getröstet umarmen ihren brutalen Henker Im elektrischen Stuhl, im Hof des Gerichts, auf zerhackten Folterbänken. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 247

Und: Daß verzeihend auslöschen alle verführten Völker ihre grausen Schlachtenlenker…

Du Brosam-Freund der immer feuchten Müll-Amseln. Du messianischer Befreier aus allen jenen unbarmherzigen Fangnetzen, Imaginären windfarbenen unsichtbaren gespenstischen Schnüren Tückisch auf gen die Mitte unserer himmlischen Flüge gespannt. Du Märchen Erzähler. Du lindester Aufrührer und Zauberer Du reinster gewaltlosester der Täter. Du vierdimensionale Lösung aller gordischen Knoten. Du jedes letzten Gangs Geleit. Gewissen schlaflos unwandelbar − − − Wo bist, wo bist du Du apokalyptischer Entfeßler Tolstoi? Über alle Grenzen Sitten Religionen Nationen Dialekte hinweg … Schon windet sich verreckend das kolossalische Ungetüm des Staats, die mystische Chimäre. Das verrostete Riesenkanonen-Rohr sticht aus der niederen vermoderten Verbrecher-Stirn. Gemästet mit Abermillionen Ermordeter und Ausgesogener − Fangrüssel das Polyps quetschend finsteres Kommando. Mühlstein am Hals Trottet es keuchend zum grundlosen Nirwana-Teich. Entlarvt: Grimasse blitzt! Bauch kräht. Aber −: Wälder Gelächter! Trillernde Ton-Wiesen!! Berg gezackt floß aus in ebene Ruh. Da grasen die sanften Stern-Getiere auf unserem einigen Plateau. O −: unser Herz Unser vergewaltigtes versklavtes zerbeultes Menschenherz, Gurgelnder Erinyen-Meuten, Wahn-Traums benagtes Herz Stürzt aus schleimichtem Ammoniak und Krokodilmaul Und singt! und singt!! − − Die Vorgeschichte der Menschheit ist abgeschlossen. Die Menschheit beginnt Über alle Zufälle, die dummdreiste Wirklichkeit, die schamlose Intrigen- Wirtschaft der barbarischen Triebe hinweg! Denn Ihre Gotteskindschaft erkennend reden eine einzige einige Sprache plötzlich aller Erden-Völker Zungen. Der Geläuterten Gemeinschaft, ausgetilgt und vergessen für immer euere infamen Worte: Krieg Raub Tumult zerstörerisch Vergewaltigung … O welch Miteinander-Zueinander! Schöpfung. Die Verwirklichung. Empfängnis des Geistes. Da euerer Kerker Öde zerriß der Liebe Oleander, Mensch-Fraß ausmerzte dein Bruderbund. Der Eine, der Einzige ist da! Sei gegrüßt: Du! Mensch!! Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 248

Denn Nicht mehr an umweideten Sommerbächen: Nimmer verschwärmt im Lerchen-Gebüsch, Im harmonischen Triangel-Geläut der schlafverfallenen Abenddörfer nicht mehr Wurzeln − dünnere Verzweiflung oder Samt − Gott, deine besten Dichter; Von die endlos begnadet und verflucht zugleich. Erfrorene Lippe am blutvollen Rand eines Rehs. Narkotischer Gesänge Flüsterer. Mit runden gespreizten Gesten ihre flaumichten komplizierten Reim-Wunder skandierend. Nein! Donnernd strahlen sie vom Zenit des großen Tags hernieder Die besten deiner Dichter. Ekstatisch gewitternd über Gründen Höfen Zerschellungen Gruben. Zylindrischen Spitz-Schädels stoßend kühn durch die lilanen Pest-Gewölke hindurch Mitten in die innerste, die reinste der himmlischen Sphäre hinein. Glorie und beizender Schwefel. − Sonnen-Aufschwung der Sklaven − Ihre Eroberer-Brust mit Atem für Jahrhunderte aufgefüllt. Euch schwindelt im uferlos Leeren nicht. Jenen herrlichen Gesang vom neuen Menschen diktierend, Einen wütenden und heiligen. In hymnischen und schmetternden Fanfaren-Apostrophen. Die Verkünder. Die Täter. Die Visionäre. Die Verheißung. Und gewaltige kriegerische Panther-Engel der Erfüllung.

Du aber: Unbestechlichstes legendäres Gesicht. Granitener Feuerwall der Gerechtigkeit. Tolstoi, Du alter guter Bauer, Gottes Freund und rußiger Weichensteller. Dein schlichtes Lied umgleitet sie alle die friedlichen arbeitswilligen Pflüge dieser geschundenen Erde. Gequetschtes Zugvieh sanft schaukelnd, vor knöchernem Gestein bang. Denn auch rings deiner hageren Lenden flattert ruhlose Wetterfahne der härene Schurz der Mühe. Jasnaja Poljana: du aller Heimatlosen ewig sichere Bucht. Dort kauern die Verfemten die Geächteten die Verbannten zu deinen zerstochenen Füßen. Deines prophetischen Mundes zahnlose Pforte aber ist über ihnen aufgetan. Makellos Kreuz. Du göttlicher Retter, unverbrüchlicher Anker. Oase der Evakuierten. Aller der kriegsmüden zerschossenen Soldaten endliche Einkehr. Und den Toten rufst du zu dein »Stehe auf!« O Erde! Grab! Jetzt: Quell der Lebendigen. O Mitternacht-Tod: melodische Spanne zwischen Ernte und Saat-Korn. Da flügeln brennende Moskito-Schwärme magische Phosphor-Trauben. O Schweiß: glühender Fruchtregen! O Mensch: du unendlicher Möglichkeiten schwangere Siedelung! Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 249

Maulbeer-Baum. Gezwitscher-Juli. Und gellender Winter-Schreck. Du Rötel-Rauher. Du Hügel-Wangiger. Gehirn-Sturm.

Tyrrhenisches Blau wälze ich südlich mich. Mississippi Dniester sie kreisen in dir. … nieder mit den glanzlosen Phänomen außer uns … Nördlich. Der Mittag. Kupferner Sonnenbauch-Bonze vom Ganges. Aufgehe ich und unter! Ich sterne monde. Flöte im Abhang mild. Überziehe mit Schlaf. Rufe auf die Morgen wild. Tiger. Das Lamm. Euter und Leere. Der Schuft. Der Heilige. Verräter. Und Freund. Meine Messer! Meine Gewehre! Plünderer. Presser. Hund so streunt. Gehöft der Zufriedenheit. Seuche. Die Wüste. Ausgebrannt. Und Leiche verkohlt. Gezimmert schlimmer mißratener Hand dies Gerüste. Ich: der Gekreuzigten speiend umjohlt. Hunger-Turm. Schädel-Stätte. Klein Gebet: hilf und bette! In dornichte Finsternis verrannt Führ uns hinein ins Kinderland. Noch immer Krampf und Mord in mir. Tier frisst Gott. Gott würgt im Tier. Gen eigene Trägheit-Küsten rase du auf Empörer-Meer! Und Vogel-Chöre schleife ich − mir zum Triumph − aus fernsten Zonen her!!!

J. R. Becher: Ewig im Aufruhr. Berlin: Rowohlt, 1920. Wieder in: Expressionismus. Lyrik. Hrsg. v. Martin Reso in Zusammenarbeit mit Silvia Schlenstedt und Manfred Wolter. Mit einem Nachwort von Silvia Schlenstedt. Berlin und Weimar 1969, S. 99–105.

Erich Mühsam (1878–1934)

Tolstojs Tod am 20. November 1910

Die Liebe ist verwaist. Ihr stärkster Hort, ihr Schützer, ihr Prophet, ihr Held, ihr Sohn, die menschgewordne Liebe selbst ging fort. Das Herz der Welt erbebt in seinen Festen, erschüttert von des Worts Posaunenton, vom Testament des Weisesten und Besten. Er ging, wie nie ein Mensch noch sterben ging, nicht müde flüchtend, nicht mit Todesbeben; er sprengte seines Daseins goldnen Ring, zu einen seines Herzens mächtigen Schlag mit dem der Welt. − An seinem Sterbetag grüßt ihn der Sieg des langen Kampfs: das Leben … Noch schläft die Sonne hinter Reif und Frost; vereiste Wege, nur vom Schnee erhellt, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 250

durchkreuzen bleich und lang erfrorne Gründe. Durch den Novembermorgen pfeift und gellt, wie Atemstöße roher Menschensünde, von Schmerz und Wollust heulend der Nordost. Da tappeln Pferde. Eine Wagenspur spult flimmernd sich im schneeigen Boden ab. Ein Greis verlässt sein Weib, sein gut, sein Haus. Hinaus in Gottes einsame Natur! Die Hufe schlagen auf im scharfen Trab, − in Russlands stillste Einsamkeit hinaus. Was arme Menschen Wohlstand dünkt und Glück: Bequemlichkeit und festliches Geschmeide und Zärtlichkeit und liebende Betreuung, − der flüchtige Greis wirft keinen Blick zurück. Die Seele, eingekrustet im Genuß, sehnt sich nach Reinigung und nach Erneuung. Sie wäscht sich rein von aller Menschheit Leid, und aller Menschheit weiht sie ihren Kuß. − Sucht nicht den Gatten, sucht den Vater nicht, der ohne Abschied ging, um Gott zu finden; in seiner Sterbestunde für die Blinden das Heil zu suchen, Stab und Mut und Licht. Der euch verließ, gehört nicht euch allein. Stört nicht sein Tun, so ihr die Menschheit achtet! Wenn ihr barmherzig seid, tränkt nicht mit Wein den Sterbenden, der nach Erlösung schmachtet! −

Der Tag steigt auf. Die helle Sonne leuchtet ins herbstliche Gefild mit heller Glut, dass rings vom Tau der Schnee sich funkelnd feuchtet und daß des Greisen welke Brust sich dehnt, noch einmal sich zurück zur Jugend sehnt, noch einmal rascher rieseln fühlt das Blut. Dann sinkt der Leib zusammen siech und schwach. − Nur rasch ihn betten unters nächste Dach! − Und die ihn lieben, kommen, ihn zu pflegen, noch einmal seine bleiche Hand zu küssen und zu empfangen Scheidegruß und Segen. Er wehrt sie ab. Schon dorren seine Lungen, schon jagt in irrem Schlag der Puls des Kranken: In dieser Stunde nicht bedrängt sein müssen von Zärtlichkeiten und Erinnerungen. Nur noch zum All die Worte und Gedanken! −

Da draußen liegt die weite weiße Erde, das Schlachtfeld, wo Millionen Menschen leiden, wo Haß und Kampf und Kriege und Beschwerde das Menschenherz von seiner Gottheit scheiden. Liebt euch! Seid Freunde, Brüder! Haltet Frieden! Seid gut und widerstehet der Gewalt! − − Der Sterbende hat an die Bahnstation die ganze Menschheit vor sein Bett beschieden. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 251

befiehlt ihr, Gottes Odem einzusaugen. Er atmet auf. Ein Todeshauch weht kalt um Herz und Stirne, − und der Menschensohn erkennt sich selbst und seufzt und schließt die Augen. Sein Herzschlag hat sich dem der Welt vereint. − Die Liebe ist verwaist. − Die Menschheit weint.

Erich Mühsam: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Günther Emig. Bd.1: Gedichte. Berlin 1983, S. 264– 266.

Hilde Stieler (1879–1962)

Tolstoi

Ich gehe mit dir über Ackerland… Einfältig halt ich deine große Hand. Ich kenne dich seit tausend Jahren.

Mit seinen heiligen weißen Haaren Ragt steil dein Bart um dich wie Gottes Bart. Dein leichter Kittel flattert hell im Wind.

Du sprichst vom Ruf des Vogels und vom Schwarm der wilden Bienen… Von Wundern, die in kleinsten Dingen sind.

Ich sehe mich erfüllt in deinen Mienen Und bin dein Kind.

Wie sich mein Lächeln hell in dir erkannte, Ist auch die Flamme deines Grams mir glühend nah: Gleich Jenem, der sich Knecht und Bruder nannte, Gehst du allein. Nach Golgatha.

Ich kenne dich seit tausend Jahren.

Mit seinen heiligen weißen Haaren Ragt steil dein Bart um dich wie Gottes Bart… Dein leichter Kittel flattert hell im Wind.

Die Aktion 7 (1917), Sp. 663.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 252

VERHAEREN, ÉMILE ADOLPHE GUSTAVE (1855–1916)

Paul Zech (1881–1946)

Hörst du mich, wenn meine Seele schreit? In memoriam Emile Verhaeren

1. O du einsamer Montblanc im Land jenseits jener Ströme, die uns trennen − : wann wirst du mit brüderlicher Hand dich zu uns Verbrüderten bekennen?

Wann wirst du erfahren, wer wir sind, die wir aufwärts fuhren aus den Gräben, nicht mehr eingelullt und blind, frieren müssen hinter Gitterstäben?

Wann wirst, näherrückend, du her zu uns die Brücke schlagen? Daß wir nicht mehr klagen, nein, dir sagen:

Zwischen uns ist Tag und Weltgeschehen, laß uns tief in deine Augen sehen; hier ist heilig Land, zieh aus die Schuh.

2. Hier ist heilig Land … Und du willst dich nicht erinnern, daß mit Schmerzen wir geboren wurden von dem gleichen Weibe … du und ich, unsere Seelen haben in der Welt verloren?

Hart an uns vorbei suchten wir, da wir uns finden wollten. In der Straßen sausendem Geschrei gingen unsere Schreie unter und wir grollten.

Um uns schweigt jetzt heiliges Erschauern, und wir horchen in die Zeit, wie ein einsam Ohr horcht in Gefängnismauern −:

Hörst du mich, wenn meine Seele schreit? Muß sie heiß dich in die Weiten rufen? Bruder, haue meinem Schritt zu dir die Stufen.

P. Zech: Der feurige Busch. Neue Gedichte (1912–1917). München: Musarion 1919. Wieder in: Expressionismus. Lyrik. Hrsg. v. Martin Reso in Zusammenarbeit mit Silvia Schlenstedt und Manfred Wolter. Mit einem Nachwort von Silvia Schlenstedt. Berlin und Weimar 1969, S. 68–69.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 253

WEDEKIND, FRANK (1864–1918)

Ferdinand Hardekopf (1876–1954)

Frank Wedekind

Herr Wedekind, gelockt durch kitzelnde Gerüche, Betritt den Weg zum Ruhm bei Maggis Suppenküche. Die engagiert ihn für gereimte Propaganda: So nährt sich in Magie von Maggi dieser Mann da.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Hardekopf, 70,12 71.1457. »Xenien«. Druck in: Neue Schweizer Rundschau, 1928.

Erich Mühsam (1878–1934)

Frank Wedekind. Gestorben am 9. März 1918

Was gilt ein Toter, da das grenzenlose Weh hinbrandet über jedes Land und jeden Ort, und Leid, gleich der von Stürmen aufgeworfnen See hochwogend, ungehemmt den Erdball überflutet? Was gilt ein Toter, da die ganze Menschheit blutet und alle Frucht am grünen Baum der Zukunft dorrt?

Doch Jeder Tote gilt − und gilt soviel wie Liebe, Trauer, Schmerz, Verehrung, Dank sein Sterbliches bei Menschen überdauert. Das Schicksal setzt dem Weg des Leibs ein Ziel − doch keiner starb, eh sein Gedenken sank, und jeder lebt, den noch ein Herz betrauert … Nimm, Erde, du in deinen frommen Schoß den teuren Toten, − laß sein Fleisch zerfallen und wisse, daß ein Herz es barg, das allen gehörte, die den besten Menschheitsplänen ihr Sein vermählten. − Lauter, stark und groß schlug dieses Herz − beweint von unsern Tränen. − Wir wollen klagen, daß er uns verließ, wenn auch sein Tod ihm nicht das Leben nahm. Nie stirbt sein Werk − doch niemals auch der Gram, daß ihn der Tod zu früh vom Werke stieß …

Fahr hin, Gefährte, Freund und Lebensmehrer, Wahrheitsverkünder, tapfrer Jugendlehrer, Weltangelrüttler, streit- und tatbereit! Du Geist des Geistes! Element der Zeit! Du lachender, du strenger Sittenrichter, der Freude und der Schönheit froher Dichter! Du Spötter, Kämpfer, Mahner und Bekenner − fahr hin! An deinem Grabe weinen Männer Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 254

und werden noch, die nach uns kommen, weinen. Fahr hin! Nie stirbt dein starker Geist den Deinen und nie der Welt, die deinen Atem trank. − Leb wohl! Und daß du lebst, sei unser Dank!

Erich Mühsam: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Günther Emig. Bd.1: Gedichte. Berlin 1983, S. 312–313 (gesprochen vom Schauspieler August Weigert beim Begräbnis Wedekinds auf dem Münchener Waldfriedhof am 12. März 1918).

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 255

1.3 Brüder und Schwestern

ADLER, KURT (1892–1916)

Erwin Piscator (1893–1966)

Kurd Adler getötet ! (Juli 1916)

Kurd Adler sprich, schrei auf, zerbrich im Schrei! Nein, nein, das bist nicht du, nicht du mit deinen stillen, weiten Augen und wehem Lächeln um den Mund. Sind deine Hände nicht, die eines Kreuzes Fluch zersplittern könnten. Die sind nur weiß und liegen im Gebet auf steiler Wunde, begrenzen sie, und diese halbversprochenen Lippen bleichten als tauiger Wind dem Mohn die roten Blüten nahm. Nahm – nahm – … Doch du, du gabst gabst mir so viel, wie weiße Kreuze hell in heidegrauer Öde blinken, gabst mir zuletzt noch Tränen, die erlösten, Kurd Adler …

1914–1916. Eine Anthologie. Hrsg. v. Franz Pfemfert, Berlin: Aktion, 1916, S. 91.

BAUM, PETER (1869-1916)

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Peter Baum

Er war des Tannenbaumes Urenkel, Unter dem die Herren zu Elberfeld Gericht hielten.

Und freute sich an jedes glitzernd Wort Und ließ sich feierlich plündern.

Dann leuchteten die beiden Saphire In seinem fürstlichen Gesicht.

Immer drängte ich, wenn ich krank lag: »Peter Baum soll kommen!!«

Kam er, war Weihnachten – Ein Honigkuchen wurde dann mein Herz.

Wie konnten wir uns freuen! Beide ganz egal.

Und oft bewachte er Im Sessel schmausend meinen Schlummer.

Rote und gelbe Cyllaybonbons aß er so gern; Oft eine ganze Schüssel leer. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 256

Nun schlummert unser lieber Pitter Schon ewige Nächte lang.

»Wenn ich Euch alle glücklich erst Im Himmel hätte –«

Sagte gläubig einmal zu den Söhnen Seine Mutter.

Nun ist der Peter fern bewahrt Im Himmel.

Und um des Dichters Riesenleib auf dem Soldatenkirchhof Wächst sanft die Erde pietätvoll.

Der Bildermann 1 (1916), S. 218.

Franz Richard Behrens (1895–1977)

Peter Baum. Gefallen am 5. Juni 1916

Man sichelt Veilchenwälder Gott stillt grün Heime seiden Träumetanz Violen violinen

F. R. Behrens: Blutblüte. Berlin: Sturm, 1917. Wieder in: F. R. Behrens: Werkausgabe. Bd. 1: Blutblüte. Die Gesammelten Gedichte. Hrsg. v. Gerhard Rühm. München 1979, S. 8.

BENN, GOTTFRIED (1886–1956)

Ferdinand Hardekopf (1876–1954)

Gottfried Benn

Revolte hetzt, bei Nacht, den comfortablen Eiter: »Ihr Puderfratzen, gebt das lila Gift doch weiter!« Dégoût, der fasciniert. O Spuk des Morgenrotes! Geflecht. Gespinst. Gespenst. Gehirn des letzten Bootes!

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Hardekopf, 70,12 71.1457. »Xenien«. Druck in: Neue Schweizer Rundschau, 1928. Am Ende des Manuskripts merkte Hardekopf später an: »Anmerkung – Herrn Gottfried Benn, der dann zu den Nationalsozialisten überging, würde ich späterhin nicht mehr zum Gegenstand bewundernder Verslein gemacht haben. F. H.«

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 257

Walter Petry (Lebensdaten nicht ermittelt)

An Gottfried Benn

Musiken an Golfen. Müde Sonnen. Verfluß der Leiber. Wehen einer Hand. Gebettet die Narkose. Schlaf Das Wort. Enthoben dem Gefäll Und Zufallsspiel. Ton schwingt, bindet Ahnen. Dunkel weht Erinnern kühl in Nacht. Melodie, ein Wurf. Gehirnes Krampf Spielt im anatomischen Atlas. Der verraucht. Rundet sich Welt, Schimmernde in köstlich Fieberkraft.

Die Rote Erde, 1 (1919/1920), S. 214.

BLASS, ERNST (1890–1939)

Alfred Lichtenstein (1889–1914)

Etwa an einen blassen Neuklassiker

Du, früher August, fühlst dich jetzt Hellene. Dahin sind Hurenhuld und Schiebetänze, Die Poesie Berliner Äppelkähne Entschwand dir in dem Blau der Griechenlenze.

Die Zeiten ändern sich. Der Man wird reifer, Hübsch licht und weich wird seine saure Seele. Du zwitscherst jetzt mit Macht und vielem Eifer Dein sanftes Lied aus der geölten Kehle.

Was du gelernt von J o u r n a l i s t e n hast, Umgibst du schön mit klassischen Fassaden. Und mit geschwollnen Segeln an dem Ast, Gelangst du bald zu fetteren Gestaden.

Wer trillert nun die imitierte Flöte: Verlogner Shakespeare und erborgter Goethe.

Die Aktion 4 (1914), Sp. 628 (originale Sperrungen). Wieder in: Alfred Lichtenstein: Dichtungen. Hrsg. v. K. Kanzog u. H. Vollmer. Zürich: Arche 1989, S. 41. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 258

BLÜMNER, RUDOLF (1871–1945)

Kurt Schwitters (1887–1948)

Porträt Rudolf Blümner

Der Stimme schwendet Kopf verquer die Beine. Greizt Arme qualte schlingern Knall um Knall. Unstrahlend ezen Kriesche quäke Dreiz. Und Knall um Knall. Verquer den Knall zerrasen Fetzen Strammcher quill. Und Knall um Knall. Und Knall um Knall. Kreuzt Arme beinen quillt den Stuhl. Der Stuhl ist eine Schraube, klammerwin den Stramm. Und Knall um Knall der Stimme köpft. Die Beine schrauben Arme würgend liss.

Der Sturm 14 (1923), Sp. 118.

BLUTH, KARL THEODOR (1892–1964)

Johannes R. Becher (1891–1958)

K. Th. B.

Vormals blinkte ein See-Stern in deinem Wappen, von Enzian umrankt und von Ginster…und einen Grab-Hügel Überwuchs der Pfeffer-Baum…Dein Aug ist wie Eis-Blume. Gefleckt der Leib, brandig. Ketzerisch; umwickelt mit Glühendem Draht, in den Schenkeln zerschnitten. Ein Würfel- spiel bist du, das sich selbst Wirft. Seine Zahl ist: Dreizehn mal sieben. −

Ringschwänzige Molche wimmelten in den blauen Morästen. Es wehesangen Die höckerigen Engel mitternachts auf den Schwelenden Heuböden. Quarzlampen hingen herab von den Scherben der Decken. Mit Schlangennestern aufgefüllt die verschimmelten Hohlstämme: Wälder uralt, gerupft, wie Fischgräten… da es versenkte die Gestirne in den Südlichen Schilfflüssen, wie Knochenreste… Wäre steinern die Luft nicht und umnäßte nicht Totes rings das Viereckige Haus; und es lechzt nach Verwesung und nach dem Abbruch der Gedärme… In den Schluchten mit gasspeienden Rüsseln Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 259

Drachenherden; vielfältig schielend, rissige Fratzen. Getöse sind und hallende Schreie; fliegende Bläser, festgesaugt an dem Goldenen Mundstück einer Riesentrichtertrompete. Abwärts geneigt verkohlt eines Knieenden Haupt sichelförmig… wenn einen Namen aber ich nenne, so Diesen: Sindbad, der Seefahrer. −

Das Häslein belehrend wie der heilige Franz, oder wie einer der Raubhelden unter dem Tschingis-Chan, Männern: um die Panzerartig Rippen gelegt sind, gußeisern… Glas Schwarzgrün, und wenn du aufstehst: eine Kristallische Kante. Oder wie ein gebogener Säbel, federnd im Luftleeren, über dem Geröll-Feld. −

Haut reibt an Haut sich, Gebein verstrickt dem Gebein… Abriegeln sich vor dem Menschenschutt… Wie gefrorenes Feuer wider Haut-Lappen und Speichel, brennende Eisscholle… Ein Kettenmantel dir übergeworfen, ein härener Sack, oder − Schlinggewächs würgend − die Zwingjacke, Stirnreif dir um den Schädel, den geborstenen, die Zange; strahlend ein Gitter: dein Harnisch. −

Windmühlenflügelanbetend; radschlagend; kotwerfend: ein Närrischer Tänzer. Eingeboren dem gespenstischen Tier-Volk, krummschnäbelig, mit Schwimmflossen, sich wetzend an dem Langfaserigen Kreuzstamm mit Löcherigen Schultern. Staubfressend, bauch- Kriechend… Wie eine Eiche gefällt, die, in eine Schlange verwandelt, im Glühenden Schlamm sich krümmt − − −

Unterhalb Eines krachenden Felsens aber kannst du noch hocken Taubstumm: zu Versinnbildlichen das Zeichenlose − Unbewaffnet. − Einzutauschen das Vergängliche gegen das Unverlierbare, das Verfängliche geggen das Unfehlbare: dem Unwandelbaren mit feierlichen Posaunen opfer- Singend!

J. R.. Becher: Hymnen. Leipzig: Insel, 1924, S. 11. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 260

DADA / DADAISTEN

Ferdinand Hardekopf (1876–1954)

Die Dadaisten

Dada ist tot. Und ihr? − Wollt ihr euch nicht befeuern Und der Salon-Magie Parole mal erneuern? Creiiert den Quismus doch! Laßt Q um Q sich ballen: »Quittiert, quillt Quitten-Quark; Quadrat-Qual, quick, quirlt Quallen!«

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Hardekopf, 70,12 71.1457. »Xenien«. Druck in: Neue Schweizer Rundschau, 1928.

EDSCHMID, KASIMIR (1890–1966)

Alfred Richard Meyer (1882–1956)

Kasimir Edschmid

Was innerst mir mein Bett − o fragt mich nicht! − bedeute? Daß ich in ihm ein Sarazenen-Mädchen häute! Daß ich in ihm der Sklavin Hände, Füße nagle Und den Samum der Timur-Peitsche auf sie hagle. O, mehr als fürchterlich zu werden quasi mir Fing längst schon an der Knabe Schmid, Vorname: Kasimir! Betulichkeit wird oft im Bett Bettulichkeit. »Ekstasi mir!« das Bett des Katers Ti-Murr schreit.

A. R. Meyer: Des Herrn Munkepunke Gemisch-Gemasch. Berlin 1914.

EHRENBAUM-DEGELE, HANS (1889–1915)

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Hans Ehrenbaum-Degele

Er war der Ritter in Goldrüstung. Sein Herz ging auf sieben Rubinen.

Darum trugen seine Tage Den lauteren Sonnenglanz.

Sein Leben war ein lyrisches Gedicht, Die Kriegsballade sein Tod.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 261

Er sang den Frauen Lieder In süßerlei Abendfarben.

Goldnelken waren seine Augen; Manchmal stand Tau in ihnen.

Einmal sagte er zu mir: »Ich muß früh sterben.«

Da weinten wir beide Wie nach seinem Begräbnis.

Seitdem lagen seine Hände Oft in den meinen.

Immer hab ich sie gestreichelt, Bis sie die Waffe ergriffen.

Die weißen Blätter 2 (1915), S. 1282.

EWERS, HANS HEINZ (1871–1943)

Mynona (d. i. Salomo Friedländer) (1871–1946)

In Deutschland gibt es ’nen Ironiker…

In Deutschland gibt es ’nen Ironiker Mit Reichspatent aufs Präparat »Alraune«. Wo er sich zeigt, erschallt ’ne Ruhmposaune: »Ich bin des Volkes Erzdämoniker!

Bin nicht (wie Wedekind) Platoniker! Ich liebe mir die Blonde und die Braune!« Kokotten hören’s (auf der Eiderdaune), Bestelln sein Bildnis beim Ikoniker,

Schwärmen von ihm im Kaffeekranz vertrausam. Als Patriot bewährt er sich im Weltkrieg – Zwar spielt ein Zufall (absolut burlesk),

Daß er im Ausland grade (ach, wie grausam!) Sinnt nach, wie er (zur Rückreise!) viel Geld krieg’. (der Edgar Poe war halb nicht so grotesk).

Mynona (S. Friedländer): Hundert Bonbons, Sonette. München: Müller, 1918, S. 82. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 262

GEORG, MANFRED (1893–1965)

Paul Mayer (1889–1970)

Einem Publizisten (Für Manfred Georg)

In die Klappernden Maschinen Fallen manchen leicht die Saetze. Fragt der Schmock nicht, ob sie dienen Der Verneinung und der Hetze.

Manche wieder schreiben ledern Wie sie selbst sind. (Sind zum Gaehnen) Es gibt viele fade Federn, Die sich unentbehrlich waehnen.

Einen kenn’ ich, dem es glückte, Unsrer Muttersprache Waechter, Einen virtuosen Fechter, Der nie auswich, nie sich bückte.

Einer scheint mir auserkoren. Milder Helfer allen Guten Grollt er nur, wenn Diktatoren Menschen und Ideen knuten.

Ohne Geifer vor dem Munde Klaert er uns das Weltgeschehen. Zeigt das Kranke, das Gesunde. Seine Staerke ist: Verstehen.

Nie fanatisch, oft begeistert, Urteilt er. Als weiser Richter, Der die Kunst der Kritik meistert Stellt er Schatten fest und Lichter.

Widmet er sich nur dem Tage? Wird die Zeit sein Werk verwehen? Legt sein Wort nur auf die Wage. Es wiegt schwer und wird bestehen.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: George Ms. Driller / 75.6119.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 263

GROSZ, GEORGE (1893–1959)

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Georg Grosz

Manchmal spielen bunte Tränen In seinen äschernen Augen. Aber immer begegnen ihm Totenwagen, Die verscheuchen seine Libellen.

Er ist abergläubig − − Ward unter einem großen Stern geboren −

Seine Schrift regnet, Seine Zeichnung: Trüber Buchstabe.

Wie lange im Fluß gelegen, Blähen seine Menschen sich auf.

Mysteriöse Verlorene mit Quappenmäulern Und verfaulten Seelen.

Fünf träumende Totenfahrer Sind seine silbernen Finger.

Aber nirgendwo ein Licht im verirrten Märchen Und doch ist er ein Kind,

Der Held aus dem Lederstrumpf Mit dem Indianerstamm auf Duzfuß.

Sonst haßt er alle Menschen, Sie bringen ihm Unglück.

Aber Georg Grosz liebt sein Missgeschick Wie einen anhänglichen Feind.

Und seine Traurigkeit ist dionysisch, Schwarzer Champagner seine Klage.

Er ist ein Meer mit verhängtem Mond, Sein Gott ist nur scheintot.

Neue Jugend 1 (1916/1917).

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 264

GÜTERSLOH, PARIS VON (1887–1973)

Emil Alphons Rheinhardt (1889–1945)

Porträt des Dichters Paris von Gütersloh

Der pagenhafte Spieler mit dem Ernsten Gibt sich der Linie hin, die er enthüllt, Aus sich erregt und Ich erst an den Fernsten, Das er mit sehr gekühltem Leben füllt. An Fäden spürend, die noch gar nicht sind, Büßer am Worte, kirchlicher Gebärde Formt er aus einer sehr banalen Erde. Aus Sünden und aus Gott, fast Greis, fast Kind, Ein vielverschlung’nes Ornament.

Uns sehr entlegen Blutfernes erst, Erlöstes, das ihn stillt. Darüber aber ist ein fremder Segen: Denn das Entlegenste wird Bild und gilt.

Der Ruf 1 (1912/1913), H. 4, S. 6.

HAAS, WILLY (1891–1973)

Franz Werfel (1890–1945)

An Willy Haas

Verletzlichstes Gefühl! Wie soll es glücken? Die Sprache spricht nicht so, es auszudrücken.

Was Seelen kaum geahnt in höchstem Kreise, Stoff ist das Wort und Ton ist selbst die Weise.

Gott sagt es nicht. Er spiegelt uns im Leben Im Meiden und im Zueinanderstreben.

Getrennter Geist, er trauert in die Weite Vereinter Geist, er liebt auch noch im Streite.

Wenn beide abends müde sich verlassen Geschick ist’s. Nächsten Tag sich frisch zu fassen.

Und auch im höchsten Ineinanderschmiegen Was mächtig uns beherrscht, es wird verschwiegen

Bewegt und tief im Fühlen will ich es künden Du kennst die Scheu. Wie soll ich es begründen? Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 265

Voll Zärtlichkeit ist es mir nicht gelungen, Und tönt in mir und hat mich ganz durchdrungen.

F. Werfel: Der Weltfreund. Erste Gedichte (1908–1910). München: Wolff, 1920.

HERMANN-NEISSE, MAX (1886–1941)

Fritz Gross (1897–1947)

Max Herrmann-Neisse

1. Weisst du noch? Die Welt war lichter Und die Schatten nicht so schwer. Und du warst des Fruehlings Dichter, Liebevoll im Bluetenmeer. Weisst du noch? Und die Baeume blueten in Alleen Und die Menschen waren licht und froh Und du hast das Glueck gesehen, Irgendwann und irgendwo. Weisst du noch? Und es gingen viele Jahre Und mit ihnen schwand die schöne Zeit Und wir stehen naeher schon der Bahre Und ein jeder traegt ein dunkles Keid, Das Leid.

2. Du sahst die Welt mit deinen klugen Augen Und die Welt war starr und stumpf. Nirgends schien dem Dichter sie zu taugen: Statt der Sonnenwiese west ein Sumpf. Und am Ufer standen viele Leute starrten sich die Augen blind, Eine dunkle Wolke draeute Hassgeballt vom rauhen Wind. Nun begann ein grosses Wehen Fegt’ uns aus dem Heimatland Viele Wege wird noch gehen Bruder Emigrant.

3. Stoesst der Sturm dich in die fremden Lande, Frierst du unter fremdem Hemd, Brennt im Herzen grell die Schande Wirst du Fremdling auch dir selber fremd. Fragtest nach dem Sinn des Ganzen, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 266

Wie man manchmal sinnlos fragt, Wenn im Herbstwind duerre Blaetter tanzen Und der Sturm in unsern Herzen klagt. Keiner konnt’ dir Antwort geben, Da ein jeder ohne Antwort war. Rauh und trueber ward das Leben Unter grauem Jahr.

4. Andre sangen muede Lieder Reimten zynisch Schmerz und Herz Deine schoenen Verse kamen wieder Und mit ihnen auch der Schmerz. Aber Luege war dir immer fremd Siehst in die verzerrten Zuege, Luegenhaft und aufgeschwemmt. Und sie huldigten der Phrase, Heuchelten gern Zuversicht Fremd blieb dir verlogene Extase Heilig war dir dein Gedicht.

5. Du vergassest nie die Tage, Da den Armen du dich zugewandt Lagen halb vergessne Meister dort im Grabe, Du eroeffnest neu der Toten Land doch auf duerren Boden ist die Saat gesprossen Uebertoent sind deine Worte, der du ihnen Wege weist. Ob nun Zola, Boerne, London die Genossen Oder Shakespeare’s Verse oder die des Kleist.

6. Verdorben die Ernte Und das Erbe vertan Der das Saeen verlernte Ward trueber Untertan. Haben nimmer begriffen Was du sie hast gelehrt, Haben dich ausgepfiffen Lebten weiter verkehrt. Wiesen zurueck die Schale Die du ihnen gereicht Blieben bei ihrem Mahle Machten sich’s weiter leicht.

7. Denkst du noch zurueck an Gespraeche Mit Piscator, Brecht oder Jung Dass der Prolet seine Ketten zerbrache Sich befreite mit kraeftigem Schwung. Dann liessest du in Frieden die Braven Im Kraal von Fabrik und Partei, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 267

Die Millionenarmee der Sklaven Reif fuer das Fuehrergeschrei.

8. So sangst du weiter deine Lieder, Auch in der Fremde nicht allein Und manche Freunde kehrten wieder Du konntest manchmal froehlich sein. Doch eines Tages hast du uns ganz still verlassen, Dein armer Krueppelleib hielt deine Seele laenger nicht, Wie eine Blume blueht auf deinen blassen Lippen das letzte deutsche Wunder: Dein Gedicht.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Reiss, 86.10182. Aus dem Zyklus Kameraden (Gedichte an Edgar Andre, Max Hermann-Neisse, Arthur Holitscher, Theodor Lessing, Erich Mühsam, Rudolf Olden, Carl von Ossietzky, Joseph Roth, Jura Soyfer, Ernst Toller), entstanden vermutlich in der Exilzeit (vgl. die Anmerkung auf dem Manuskrpit: »Fritz Gross / London W.C.1 / Regent Square 3«).

HEYM, GEORG (1887–1912)

Felix Braun (1885–1973)

Auf den Tod des Dichters Georg Heym (Ertrunken im Wannsee bei Berlin am 16. Januar 1912)

Der sich den Tod einfing und ihn besaß, Unseliger, nicht hieltest du ihn gut. Er log sich los, er schwamm unter der Flut. Auf deren Eises weißbehauchtem Glas

Du glücklich hinglittst auf geschärftem Eisen, ins All zurückbefreit, dir selbst zum Preis Und wie zum Spiel in vielen Schicksalskreisen … − Da stieß die Faust hinauf − es barst das Eis!

− Erst schoß nur Wasser zischend in die Schlucht. Dann kam ein Kopf herauf, die Arme jetzt. – Er bot dir des Granates dunkle Frucht.

Dein Mund griff zu, du aßest wie gehetzt. Dann sprang das Graun dir stückweis vom Gesicht. Von seinem auch! – Doch deins war eher Licht.

Georg Heym. Dokumente zu seinem Leben und Werk. Hrsg. v. K. L. Schneider und G. Burkhardt. Hamburg u. a.: Ellermann, 1968, S. 330. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 268

Wilhelm Simon Ghuttmann (1890–1990)

Erinnerungsspruch an Georg Heym

Da hoher Flöten abendlicher Lauf entquoll und Klagen troffen auf die schiefen Höfe, umbrannten wir Du riefst erfrorner Mauern Steigen, platzte die Stadt, von Blut und Wundern toll.

Ah, von Gebeten starrt der Wege Gerinsel und Ozean, mit Schliffen hämmernd hinterm Horizont. Grabt. Grabt. Da rings der Himmel nicht mehr dreht. Es klafft die Nacht. Und ihre Türme flammen.

Die Bücherei Maiandros 4/5 (1913), S. 2.

Jacob van Hoddis (1887–1942)

Am Lietzensee. Meinem Freunde Georg Heym

Die rote Sandsteinbrücke packt Staubig die andere Seite vom schwärzlichen Tümpel. Laternen. Das verirrte Mondlicht zackt Über Sträucher und Wellen und träges Gerümpel.

Doch zu uns tönt der Abendschrei der Stadt. Ich spüre noch die Lust der vielen Straßen Und Trommelwirbel um Fortunas Rad. Doch du stehst vor mir schläfrig und verblasen.

Feindselig reichst du mir die plumpe Hand, Von neuem Zorn die starke Stirn betört. Und als ich längst schon meinen Weg gerannt Hat alle Schritte noch dein Traum gestört.

Georg Heym. Dokumente zu seinem Leben und Werk. Hrsg. v. K. L. Schneider und G. Burkhardt. Hamburg u. a.: Ellermann, 1968, S. 328.

Cläre M. Jung (1892–1981)

Der Auserwählte. Für Georg Heym

Wie Vögel fremder Länder kamen Gedanken Zu ihm im Traum; Er öffnete den Mund zum Stammeln Und fühlte Staunen über andrer Grauen. Er war ein Neugeborener mit erstaunten Augen − Ein Tausendjähriger mit viel Erfahrung, Tief in der Menschen Blut geheime Ströme, in ihrem Hirn Schleichwege der Gedanken, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 269

er hat sie aufgedeckt. Und nennt Verschwiegenes grausam bei dem Namen Und zeigt Verborgenes nackt. An dunklen Häusern ging er still vorüber, ein Torweg gähnt ihn an, dahinter ahnte er Geschicke und Geschichten fremder Menschen. Und aller Welt Vergangenheit war in ihm Und alle Zukunft wußte er − Geheimste Freuden und versteckte Schmerzen.

Georg Heym. Dokumente zu seinem Leben und Werk. Hrsg. v. K. L. Schneider und G. Burkhardt. Hamburg u. a.: Ellermann, 1968, S. 332.

Hermann Kasack (1896–1966)

Georg Heym

Schreitend. Die Straßen weichen jäh zurück. Hinstürzende, die seine Schuhe lecken. Nachschleift sein Riesenschatten, uns zu schrecken: Die letzte Wahrheit: nur im Graun ist Glück.

Aufsprung ins Firmament: Die Sonne bleibt Drei Tage blutlos, des sein Finger schreibt.

Hermann Kasack: Der Mensch. Verse. München: Mundt, 1918, S. 28. Wieder in: Georg Heym: Dokumente zu seinem Leben und Werk. Hrsg. v. K. L. Schneider und G. Burkhardt. Hamburg u. a.: Ellermann, 1968, S. 334.

Alfred Kerr (1867–1948)

Gedenken

I. Der Himmel blaut, Blauspritzer sprüh’n. Orangen baumeln braungoldschwer. Ein Gummibaum sinkt groß und grün Sacht über eine Mauer her, Am Mittelmeer. Am Mittelmeer.

Heimlich an betriefter Fläche Raufen Rosen frühlingsfreche; Wackeln die vom Wind gewippten Zapfen alter Eukalypten, Und es wispern Rauschebäche. Welche absondrer Schöpfungsaktus: Feigen sprießen auf dem Kaktus. … Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 270

II. Nordwärts reist man. Wälder, Schnee. Nadeldickicht schwarzverästelt. Und Berlin tropft an der Spree, Wenn sie freudlos in sich fröstelt. Schweigend liest man von dem jungen Dichter, den das Eis verschlang; Diese Stimme jäh entklungen, Die zu Donnerwipfeln drang. Wucht und Schwellkraft. Windumbraust. Wonne, wenn es wilder pfiff. Eine zwanzigjährige Faust Mit dem Griff. Mit dem Griff. »Heym; Georg.« Die Marmortafel Runzelt bald, umweht und fremd. Fahl bei Cladow hat die Havel Diesen Leib ans Land geschwemmt …

III. Sicher steht es wo geschrieben. Doch es zählt zu den Problemen: Ob die Götter wen sie lieben In der Jugend von uns nehmen.

Un erfüllte Augensterne Schloß der friedlos Frühverbannte, Und die Welt lag in der Ferne, Als er starb – und sie nicht kannte.

IV. Der Himmel blaut, Blauspritzer sprüh’n, Orangen baumeln braungoldschwer. Ein Gummibaum sinkt groß und grün Sacht über eine Mauer her, Am Mittelmeer.

Heimlich anbetriefter Fläche Raufen Rosen frühlingsfreche; Wackeln die vom Wind gewippten Zapfen alter Eukalypten, Und es wispern Rauschebäche.

Die Aktion 3 (1913), Sp. 37f. Wieder in: Georg Heym: Dokumente zu seinem Leben und Werk. Hrsg. v. K. L. Schneider und G. Burkhardt. Hamburg u. a.: Ellermann, 1968, S. 337.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 271

Erwin Loewenson (1888–1963)

Auf Georg Heym

Schwurgestalt aus Gottes Mitternächten Atmend Gold in Blitz und Weltenfall Du brachst auf ins Kreißen Seiner Schlünde. Deinem Fuß erglomm das grause All Dort dein Herz zerriß in Hölllenschächten: Was dich ewig macht ward dir zu Sünde.

Wen ein Bot führt durch Sodoms Schrein Und er starrt dem Tod in sein Gesicht Den errettet auch der Engel nicht. Schwurgestalt du sollst das Rasen stillen. Sieh: Er will nicht Leid – Er will den Willen. Denn Er will bezwungen sein.

− − −

Denn Er selber will − bezwungen sein.

Georg Heym: Dokumente zu seinem Leben und Werk. Hrsg. v. K. L. Schneider und G. Burkhardt. Hamburg u. a.: Ellermann, 1968, S. 333.

Alfred Richard Meyer (1882–1956)

Georg Heym gestorben

Auch Du der Frühen einer? Dunkles Wasser des Wannsees, das den Mund Dir fest vereist, hobst du nicht eben noch den Namen Kleist? Nun bargst du aus den Städten diesen Hasser.

Gleißt nicht ein nasser Stern als Irrlicht blasser den Weg, den hell Dein Werk gekreist und weist? Die nackte Not, die Du aus Tiefen schreist, schrillt unsern Ohren das Entsetzen krasser,

mit dem Dein Rhythmus Stadt und Stein bespie, doch Häßlichem der Schönheit Lichter lieh, daß Rosen blühn aus kaltem Sarkophag.

So heilig, heiligend durch Poesie. Die Straße stöhnt. Wer sprach vom Sterben, wie? Dumpf dröhnt Berlin in seinen ewigen Tag.

Die Aktion 2 (1912), Sp. 110. Eine leicht veränderte Fassung findet sich im Zyklus Beschwörungen. Eine Tafel-folge in: Roman- tik 2 (1920), H.5, S. 3–4 (Veränderungen hervorgehoben): Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 272

Auch Du der Frühen einer? Dunkles Wasser des Wannsees, der den Mund Dir fest vereist, hobst du nicht eben noch den Namen Kleist? Nun bargst du aus den Städten diesen Hasser.

Gleißt nicht ein nasser Stern als Irrlicht blasser Den Weg, den hell Dein Werk gekreist und weist? Die nackte Not, die Du aus Tiefen schreist, schwillt unsern Ohren das Entsetzen krasser,

mit dem Dein Rhythmus Stadt und Stein bespie, Noch Häßlichem der Schönheit Lichter lieh, daß Rosen blühn aus kaltem Sarkophag.

So heilig, heiligend durch Poesie. Die Straße stöhnt. Wer sprach vom Sterben – wie? Dumpf stöhnt. Berlin in seinen ewigen Tag.

Otto Pick (1887–1940)

Auf den Tod eines jungen Dichters

Verwaiste Gemächer, Wie seltsam ihr kühlt. O Schreibtischfächer, Wer hat euch durchwühlt?

Zerschlissen der Dramen Vergilbender Wust. Wer hegt ihre Namen In liebender Brust?

Wer sagt die Gedichte Erschüttert und leis Beim ruhigen Lichte Im häuslichen Kreis?

Wo weinen die Frauen, Die einst er geliebt In frommem Vertrauen, Noch leidungeübt?

Die Sprache sie trüge, Stets waltet der Geist, Der die ewigen Züge Des Dichters uns weist.

O. Pick: Wenn wir uns mitten im Leben meinen. Prag: Die Bücherkiste 1926, S. 33.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 273

HEYNICKE, KURT (1891–1985)

Joseph Hunck (Lebensdaten nicht ermittelt)

Verkünder. An Kurt Heynicke

Wir falten unsre Hände um Deinen lodernden Mund. Deine Flamme bricht klingend − durch unsere Fesseln. Alle Straßen werden endlos von Deinem Ruf. Aus kranken Häusern sehnt die Stimme der Vergessenen in Dein Erbarmen. Erlösend hängst Du Deinen Mantel um ihre qualvolle Versunkenheit.

Der Sturmreiter 1 (1919/1920), Sommer 1920, S. 38.

HILLER, KURT (1885–1972)

Carl Maria Weber (1890–1953)

Der Helfende (Für meinen Freund Kurt Hiller, den Ziel-Verkünder)

Wie uns das große, sommerliche Leben Mit Wald, Terrasse, Boot und Blitz erfasst, Daß wir von späten Traumes wankem Ast Musikgeschwellt ins Uferlose schweben!

Bei Nacht wird sich die bunte Spreite heben: Da starrt des Zweifels Maske, gelbgeblasst; Doch Logos, der die schönen Worte haßt, Will Sinn den Dingen, und Be-Sinnung geben.

Planeten rollen ihre Bahn empor, Zwecklos ins Nichts, und Menschenleiber fallen − Aus unsern Stirnen bricht die Welt hervor!

Nur wir sind bleibend. Zeitgesichte wallen, Ein Trauerzug, vorüber unserm Tor. Die Hebel her!! − Wir werden andere ballen!

Das junge Deutschland 3 (1920), S. 126. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 274

HOLITSCHER, ARTHUR (1869–1941)

Fritz Gross (1897–1947)

Arthur Holitscher

1. Wanderer in vielen Welten, Tramp, Dichter, Vagant. Wenn die Hunde dich quaelten, Hast du dich fort gewandt. Weit lag die Welt dir offen, der Osten war schoen Und der West. Du lebtest im ewigen Hoffen, Das Hoffen Das athmen uns laesst. Du suchtest die Wunderblume: Freiheit Gerechtigkeit, Gemeinschaft im Brudertume: Ein Mensch unserer Zeit.

2. Du kanntest nur eine Herrin: Die Wahrheit, Die sprachst du aus. Es war eine stolze Herrin, Stiess dich aus dem Vaterhaus. Jagt’ dich ueber Kontinente, Bewachte deinen Schritt, Wachte, Dass dein Mund sie bekennte, Wanderte mit dir mit. Stand in den Fleischfabriken Von Chicago Am Eriesee, Wo das Schlachtvieh Verschnuert mit Stricken Erwartet das letzte Weh. Stand mit dir am Roten Platze Wo die neue Welt aufmarschiert, schrieb mit dir an jedem Satze, Hat jedes Wort kontrolliert. In London, New-York und Frisko, Jerusalem, Moskau, Shanghai, Die Wahrheit nur zu kuenden, Das stand dir einzig frei. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 275

3. Mit all deinen Freunden in Deutschland Um die Zukunft de Sorge dich fasst. Es ist die Tat allein, die wir brauchen; Weh, wenn die Stunde verpasst.

4. Du schoepftest taeglich neu in bodenlose Faesser Die Traenenflut die taeglich steigt. Es naht, Es naht die Nacht der langen Messer. Ihr Brueder! Wehrt Euch! Doch der Bruder schweigt. Dann kommt die Nacht, Die Nacht der Messer und des Brandes, Nie wird vergessen, Wer sie hat durchwacht. Wir waren vogelfrei, Ledig des Landes, Das uns zu dem Was wir einst waren, Was wir sind, Gemacht. Ein jeder von uns stand in einer dunklen Kammer. Wie Bruder Hiob schon im Dunklen steht. Es blieb uns nichts als Sorge Not und Jammer, Der mit uns treu durch alle Laender geht.

5. So ging er wieder altvertraute Wege, Nur hatten sie diesmal kein Ziel. Zerbrochen waren alle Heimkehrstege, Und die, Die Heimat selbst Zerfiel. Und um sein Leid und unsere Schande zu verbergen, Wandert er ruhlos, siebzigjährig und schneeweiss, Wandert umher in Alpenbergen, Ein armer, mueder, heimatloser Greis. Bald ist auf diesen richtunglosen Wegen Die Endstation erreicht. Und ungeheuer gruesst im de Mont Blanc entgegen. So werde ihm die Erde Genfs, die Erde Rousseaus leicht.

6. An einem Wintertage Im Heilsarmeespital Da endet jede Plage Da endet jede Qual. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 276

Ein Reigen der Gespenster »Bruder Mensch, hab Dank« Und durch’s verschneite Fenster Gruesst ihn Bruder Mont Blanc.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Reiss, 86.10182. Aus dem Zyklus Kameraden (Gedichte an Edgar Andre, Max Hermann-Neisse, Arthur Holitscher, Theodor Lessing, Erich Mühsam, Rudolf Olden, Carl von Ossietzky, Joseph Roth, Jura Soyfer, Ernst Toller), entstanden vermutlich in der Exilzeit (vgl. die Anmerkung auf dem Manuskrpit: »Fritz Gross / London W.C.1 / Regent Square 3«).

HOY, SENNA (d. i. JOHANNES HOLZMANN) (1882–1914)

Wieland Herzfelde (1896–1988)

An Senna Hoy I

Fluch uns nicht die wir mit kleinen Händen es nicht wagten Waffen zu ertrotzen um deinen siegenden Pulsschlag erobern zu können Wir haben so kinderhaft das Gift deiner Nacht mit dir geteilt daß es uns lähmte wie deinen eigenen Leib. Die kraftlosen Pläne die deine blinden Jahre ernährten waren es, die in unsern maßlosen Tatendrang den Samen der Tatkraft zerstörten. Du warst der Kämpfer der dir fehlte Drum sandten wir dir unsre goldnen Herzen anstatt sie zu verhandeln gegen Bomben. Sieh unser Reichtum ist nicht was wir ballten in den Händen sondern alles an dem wir unsre machtlose Sehnsucht verschwenden.

An Senna Hoy II

Nun bist du uns zum Horizont geworden Ewig und körperlos Nun wirst du um uns sein an allen Örten Schweigend, unfaßbar, groß. Und unser kleines Tasten rankt sich fest An deiner Unverrückbarkeit Du legst ein Band um uns das nie sich lösen läßt Da es nicht schwinden kann mit Ort und Zeit Als du gefangen lagst erschienst du uns verloren Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 277

all unser Hoffen war des Suchens müd Es hat der Tod erst wieder dich geboren Zum Ring der sich um uns wie eine Demantmauer sieht.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: B: W. Herzfelde, 93.94.1. Gedichte. Konv. Frü- he Gedichte, 1912–1916, 15 Bl. (unter den Gedichten datiert auf den 11. Mai 1914).

JAMMES, FRANCIS (1868–1938)

Wilhelm Stolzenburg (1879–1938)

Francis Jammes

Zum Zeugnis wider diese Zeit aufruf uns die Legenden. Die Wechsler austreib scharenweise du.

Sprich oft zu uns, Francis, du hast die Sendung.

In deinem Blut die Tradition hebt brausend Schollen.

Der Acker Menschheit aufbricht donnernd.

Du bist kein Buch, du bist ein Mensch. Du bist der Herde näher wie dem Hirten. Du fühlst dich mit den Kreaturen eins.

Du bist in Weizenfeldern Gott am nächsten. Du siehst das Sakrament im schweren Halm. Gott weiß sich ganz in deiner Kunst geborgen.

O daß du leben darfst: du lebst. Ausleg uns das Gesetz, du frommer Schreiber. Die reichen Tafeln liest des Menschen Mund nicht aus.

O Morgen Mittag − Sonne, Sonne! Die warme Erde ist uns wieder nah: wir dürfen wieder bauen und vertrauen.

Wir dürfen wieder Hüter unseres Friedens sein.

Der Strom Nr. 2 (1919), S. 22.

KLINGER, MAX (1857–1920)

Kurt Pinthus (1886–1975)

Klinger

Den Glanz trägst Du in Dir von allen Farben; Mit Hell und Dunkel kannst Du schrecklich uns erschüttern, Und doch ist Güte tief in Dir von tausend Müttern, Die früh in grässlichen Geburten starben. Und wenn die Menschen und die Bäume alle Vor Deinem Hause in dem grossen Garten Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 278

Voll Furcht im milden Dunkel sich vereinen, Stehst Du gestrafft in Deiner lichten Halle Und lockst die Seelen aus den toten Steinen − Erlöser – die auf Deine Hände warten.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: Pinthus, Kurt, Gedichte. Sammlungen, »Die fertigen Gedichte«, ungezählt, A: Pinthus, 71.5460.

Walter Hasenclever (1890–1940)

Max Klinger

Wir gingen schweigend durch die kühlen Gassen; Noch ungeheuerlich war uns zu Mut, Und in das Schwarz von plumpen Häusermassen Verlor sich mählich unser wildes Blut. Nur manchmal aufstieg, wie aus einer Flut, Die das Erlebte in uns zittern machte, Erinnern: Wie er sprach und wie er lachte −

W. Hasenclever: Sämtliche Werke, Bd. 1: Lyrik. Bearb. v. Annelie Zurhelle u. a. Mainz: v. Hase & Koehler, 1994, S. 245.

KOKOSCHKA, OSKAR (1886–1980)

Albert Ehrenstein (1886–1950)

Oskar Kokoschka

Du bist einer von den lichten, Von dem Aufgang roter Sonne, Was noch schwarz im Dunkeln geistert, Weicht von Dir zur Wolkenwende.

Ruhe schwankt zur Bank der Fäulnis, Chaos mißt der Berge Abgrund, Leben ist im Niedern trächtig, Liebe giert und wird nicht schwanger, Schaffen nur gibt Dir die Schöpfung, Schwebend in des Lichtes starken Stürmen Rein im Atem den Aether schirmen!

Das junge Deutschland 2 (1919), S. 158.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 279

Arno Nadel (1878–1943)

Zeichnung von Kokoschka

Du mußt in diese Straße Wie in den Wald hinein. Da stehen Mond und Sonne Und tauschen Ja und Nein.

Du fängst dich in die Klänge, Du senkst dich in den Grund, Wo erste Tiere wandeln, Urleopard, Urhund.

Sie brüllen ihre Liebe Ins Ewige hinüber Und lagern und verstrahlen.

Ergraute Stille regt sich, Als wenn ein Schein verrausche, Die Landschaft selbst bewegt sich In sich hinein – nun lausche:

In heller Nacht geboren, Im Spinnenhaus erblüht, Beginnt für gute Ohren Ein Lied vom Lied.

Der Brenner 4 (1914), S. 609.

LANDAUER, GUSTAV (1870–1919)

Ernst Angel (1894–1986)

In memoriam Gustav Landauer

Dämpfet die Stimmen, Tugendrufer und Schelme! Stille, greinender Greis! Lerche, stürze den Flug! Neige dich, reißendes Antlitz unter dem Helme! Haltet, Späher und Seher, hier sind Gesichte genug!

Die wir gierig die schwelende Erde umwallen, Brüderlein Schurke, Schwesterlein Hure gepaart: Spülicht und Kehricht, die sich zu Menschen ballen, haften an sündigen Sohlen, Art von unserer Art!

Traten wir Tiere, tritt uns der Rächer zu Tieren. Arm, wer heult und hungert, ärmer wer schmatzend frohlockt: alle tragen wir bröckelnde Leiber in Fetzen und Staat spazieren, Augen gestielt und schielend, Ohren verholzt und verstockt. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 280

Wuchsen uns Tempel und Türme, im Hafen harrt frech der Zerstörer. Feuer und Hohn ist immer dem Werke bereit. Wer verweilt noch dem Rufer? Wer predigt barmherzig dem Hörer? Irre und Kranke nur, flüchtend aus berstender Zeit. Da reckt einer sein Wort über Läufer und Lahme, Herzschlag schließt er an Herzschlag durch Seide und Zwilch − Höre, wir stammeln: wer bist du? Wir betteln: erscheine! Da echot Dein Name, rauscht uns Aufruhr und Blut, rieselt und Frieden und Milch. Zukunft dichtet Dein Zorn: und Eden entsprießt unseren Sünden, Menschheit heil und blühend von Gärten umsäumt. Freundschaft friedet die Zwiste, bindet zu Bünden, Traum der Propheten wird in die Tat geträumt. Denker in Stahl mit Denkern im Geiste verschworen schlossen der opferfeisten Maschine den Schlund. Sonnenblumen äugen strahlend nach Professoren, Schmetterlinge nippen der Dirne vom Mund. Laß mich kindlich nach Deinem Bilde langen, dem schon Tod von der sinkenden Stirne weht: unter dem waldigen Bart verdämmern die knochigen Wangen, hinter Gläsern Augen aus Nazareth. Schrie es Dir nicht von je aus Wunden und Schrammen: Leben ist nur Vermächtnis, Sterben Beruf? − Oder zucktest Du vor dem Streich zusammen, der Dir Dein Schicksal donnernd zu Ende schuf?

Die Aktion 9 (1919), Sp. 412–413.

Carl Friedrich Wilhelm Behl (1889–1968)

Gustav Landauer

Tat! schreit die Welt, und Träume stürzen ein, Verkündigung ist aller Worte müde. Der neue Tag ist purpurn angefacht…

Nun jagt es Geist auf Barrikaden hin, Und allen Irrwahn übersteilt die Liebe, Gen Himmel reißend brodelndes Getümmel…

…Gell platzt ein Schuß durch die verkrampfte Wut, Aus Sinn und Ziel geschleudert…

Sonne fällt, Und rot im Blute liegt der heilige Mensch.

Das junge Deutschland 2 (1919), S. 205. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 281

Georg Kulka (1897–1927)

Dem Geiste Gustav Landauers

Ein A u f r u f goß sich aus. Ein Tod erwacht. Schrick auf zum Requiem der Jesusmacht!

»Spring mancher Brunn ins Gras mit rotem Schein − Der Freiheit letzter Sieg wird trocken sein.«

Verliebten Traums und hassender Doktrin Unzeit ist um. Aeon der Wohl-Tat schien.

Durch die Antiqua deines Alphabets Schien das verlernte sanfteste Gesetz.

Pflügtest du auch mit altem Apparat − Es wuchs des Nichtstaats geistergebene Saat.

Und wurde Blut nicht müder noch Tumult − Nie altert deines Lächelns Ungeduld:

In Schöpfung, die sich vorgeformt erhebt, Sei Weltbetrieb vom Schöpfer überlebt.

Dein Tod beglaubige den Friedensschluß Des ärmsten Lebens mit dem Genius.

Zeit neigt den Mordtag. Demut löscht ein Jetzt: »Ich bin kein Hetzer; wie seid ihr verhetzt!«

Was liegt an des Geschöpfes Aufenthalt! »Wir leben gar nicht .. und w i r sterben bald.«

Du Uranfänglicher, d u wirst uralt Als Meister Eckehart, als Blutsfreund Walt.

Und grüßt einmal dein Stern den Menschenstern, Ist deines Mundes Kommunion nicht fern.

Du bebst uns, Vater, wieder durch die Hand. Siehst deinen Sohn im aufgebrochnen Land.

Hörst sein Gebet: Aus Wahn und Irregehn Erwecke uns, und laß d i c h auferstehn.

Verlange Rechenschaft wie ehedem. Schrick auf o Jesusmacht im Requiem!

Die Aktion 9 (1919), Sp. 727. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 282

Erich Mühsam (1878–1934)

Gustav Landauer. Ermordet am 2. Mai 1919

Ihr seid gekommen, einen Toten ehren, zu laden seinen abgeschiednen Geist, wo Kunst und Andacht ewige Welten preist, als Gast der Herzen bei Euch einzukehren. Doch erst schafft Raum im Herzen! Wißt zuvor, wen Ihr erwartet. − Hingegossenes Blut ist noch kein Grund, in weihevollem Chor die Musen und die Genien zu bemühen. Mord weckt Verzweiflung, Trauer, Jammer, Wut − doch Kunst ist Freude, Leben Quellen, Blühen. Prüft, ob die Tränen, die vom Herzen drängen, sich mischen mit dem Strom von Feierklängen!

Seht ihr ihn noch im Geiste, der euch rief? Das Auge dem Gewissen hingegeben, und seiner Stimme Klang prophetisch tief, sprach er von Frieden, Liebe, Freiheit, Leben und rief zur Schönheit und zur Kunst die Schar, zur Andacht und zu freudigem Genießen. Die Borne alles Glückes aufzuschließen, das war die Sehnsucht, die sein Leben war.

Ein Träumer also, der vom Guten schwärmte? Der gern die helle Sonne scheinen sah? Sich gern an ihren bunten Strahlen wärmte? … O wartet noch, Musik und Poesie! Noch ist der Geist des toten Freunds nicht nah − und wer ihn so begreift, dem naht er nie. Wohl mahnt er euch: Macht euch die Erde schön! Wohl zeigt er euch die Tempel auf den Höhn! Doch mächtig scholl sein Ruf im Vorwärtsschreiten: Wer Glück und Freiheit will, muß sie erstreiten! − −

Ihr seid gekommen, einen Toten ehren, der, als er lebte, Glück und Freiheit dachte; der, als er starb, den Leib zum Opfer brachte für seinen Glauben und für seine Lehren … Macht weit die Herzen! Macht die Seelen weit! Kunst ist ein Weg, die Lehren zu empfangen, für die man ihn erschlug. − Macht euch bereit, durch Andacht seinen Glauben zu erlangen: Den Glauben an die Menschheit, an das Recht, das jedem seinen Teil vom Ganzen gibt, das nicht nach Namen fragt und nach Geschlecht, das nie am Rand des flüchtigen Zufalls streift, das jeden hütet, weil es jeden liebt, − das Recht, das sich im Namen Volk begreift! Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 283

Dem ganzen Volk sein ganzes Recht zu bringen, rief er’s zum Kampfe auf, es zu erringen.

Zum Kampfe rief er! Denn nur Kampf macht frei. Kampf war sein Werk, Kampf seines Zornes Schwert. Kampf war sein Leben. − Kampf! Nicht Schwärmerei. Nur wer den Kämpfer ehrt, weiß, wen er ehrt! … So fiel er auch im Kampf. Doch mit ihm fiel die Lebe nicht, die ihn zum Kampf befeuert. Er gab sie uns − und in der Kunst erneuert grüßt euch die Liebe: seines Kampfes Ziel.

Erich Mühsam: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Günther Emig. Bd.1: Gedichte. Berlin 1983, S. 339–340 (zur Gedächtnisfeier in München am 2. Mai 1920).

Berta Lask (1887–1933)

Zum Tode Gustav Landauers und der anderen Märtyrer

Christus wird jeden Tag gekreuzigt. Noch quillt sein Blut In Judas Leib. Schwarze Flut Tausendjähriger Qual Wirft empor Schmale weiße Leiber, Augen, geformt aus geblendeten Sonnen, Herzen, Zerstampften Jubel kristallen tönend. Aus Starrheit schweren dunklen Bluts Bricht auf Leuchtender Wahnsinn Menschenliebe. Hoch aufglänzend Erbebt die Luft. Leidtöne, Schwarz geboren, Umschmettern sie golden erlöst. Vorschreitend Lebend gewordenes göttliches Banner Schmaler weißer Leib, Augen, geformt aus geblendeten Sonnen, Herz, zerstampften Jubel kristallen tönend Jagt vor sich her Wolkigen Glanz durch zerklüftete Luft. Aus Staub, aus Steinen, Aus Gründen und Buchten Hebt schwere dumpfe Menschheit sich auf. Halbgeöffnetes Auge Trinkt goldnen Wolkenglanz. Hand hebt sich träumend. Fuß sucht zu schreiten. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 284

Doch uralte graue Hände, Vertrocknet seit Jahrtausenden, Werfen die alten schwarzen Gespinste Ueber voranjauchzenden Wolkenglanz. Erdschwere Donnert empor, Fällt als zerschmetternde Keule Nieder Auf göttlich aufgerichtetes Menschenhaupt. (1919)

B. Lask: Rufe aus dem Dunkel. Auswahl 1915–1921. Berlin: Buchverlag der Arbeiter-Kunst- Ausstellung, 1921, S. 34.

LANGE, CARL (1885–1959)

Franz Alfons Gayda (1896–1970)

Dem Dichter Carl Lange in Verehrung

»Wir sollten alle mehr den Stimmen lauschen Die wie ein Meer aus ungeahnten Tiefen rauschen.«

Mit diesem Vers von dir Kam mir ein herzlich Grüßen Aus gleicher Sehnsuchtsheimat: Strom aus der Tiefe heißt dein Buch − Ich saß an seinen Ufern lange, klingende Zeit, Ging auch ein Stück des Wegs mit ihm Ins innen, tiefinnen wahrhaft seiende Leben …

Sieh, dies ist ja Dichter-Sein und darum hoch geweiht: Sternklare Stille auszubreiten über allen Lärm, Uns lauschen lehren singenden, rauschenden Stimmen Aus ungeahnten, fernsten, ewigen Tiefen − Uns hinzuführen zu den Welt- und Lebensströmen.

So mag mein Vers dich wiedergrüßen »Und sollten alle mehr an jenen heil’gen Ufern wachen Als schlafend unsres Daseins Wert und Glanz zunichte machen.«

Romantik 4 (1922), S. 56.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 285

LASKER-SCHÜLER, ELSE (1869–1945)

Richard Blunck (1895–1962)

Else Lasker-Schüler

Stern ist ihr Gedicht Schwarz und gold Heilig sanft und kriegerisch

Und silbern singend der krumme lächelnde Mond. Sie ist Ruth Brennend Blut Glühender Tiefen tiefe Macht Uralter Fabel Spätgesang

Aus Sternendickicht gotterschauernd ewig Rufen. Ihr Mund ist Gottes Flöte Auf ihrer Stirn trägt sie die Runen seiner Hand Im Schatten ihrer Palmenaugen blaut sein Tempel.

Alle Dinge wohnen nahe bei Gott Nächtlich trunken und traurig Und selig wie stürzender Stern sich verschwendend.

Die Kündung 1 (1921), S. 149.

Arthur Drey (1890–1965)

Else Lasker-Schüler

I. Brennende Blumen Unter meinen Händehimmeln Gelbgrünes Glitzen – Golden – –

Bienenbäche Weißendes Glas –

Ich liege und schließe mich Ein Flügelkind Sonnensatt – –

II. Schwarz schwimmender Seidenkegel Traumglühender Gram – Korallenklippe.

Schmerzlippen schweigen Im Südwinde – – Auf wandelndem Teppich Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 286

Zieht klagender Schritt Rehaugenlieb – –

III. Bebende bangende Blätter Flügel Ihr tragt meine Ruhe Ueber die Wintergrotten.

Waldwehendes Vögelflattern Um meine goldene Stimme – Ich wein in den Himmel Meine klaggraue Seele.

Die Aktion 1 (1911), Sp. 461–462.

Paul Hatvani (1892–1975)

Vorlesung Else Lasker-Schüler. Wien am elften März 1912

Da kamen ihre Worte Wie klagende Derwische… Und sie zerrissen unsere Seelen Und alle Sehnsüchte, die sie erfüllten, Und sie zerrissen unsere Seelen, So daß die dunklen Städte durchschimmerten, Die hinter den Seelen gelagert sind. Nächte fielen in die Tage Und bedeckten sie, Und Tage fielen in die Nächte Und erhellten sie. (Und es war ein tagebuntes Märchen, Wortgewebt und nächteschwer.) Und Worte fielen in die Welt Und Welten in die Worte. Und sie fielen in unsere zerrissenen Seelen Und füllten sie an Mit Säulen und Bildnissen, Auf daß Moscheen würden aus ihnen, Darin sie beten könne. Und sie kam in unsere Seelenmoscheen Zu beten Und die seelenweiten Kuppeln Können den Widerhall nicht hergeben, Den ihre Stimme ruft, Niemals.

Der Sturm 3 (1912/13), S. 6. Wieder in: Texte des Expressionismus. Der Beitrag jüdischer Autoren zur österreichischen Avant- garde. Hrsg. v. Armin A. Wallas. Wien 1988, S. 127. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 287

Oskar Kanehl (1888–1929)

Auf die Lasker

Hängende Gärten leuchtender Blumenseelen mit Märchentieren unter dem blauen Gezelt einer arabischen Nacht voll bleich zitternder Sterne. Duft nach Weihrauch und Myrrhe. Ferne und heiß heilig sacht summen in Traumwelt verloren lockend Verführen blutrot klingende Lippen heimlicher Kehlen. − Und du … schwarzhaargleißende jünglinggeschmeidige nachtfackeläugige bronzene Königin Semiramis …

Die Aktion 3 (1913), Sp. 787–788.

Seitz, Robert (1891–1938)

Des deutschen Dichters Notgesang

Ich habe einen Groschen – Und sonst nichts mehr. Auch auf Mathildens Broschen Gibt keine Pfandleihe was her.

Gestern traf ich eine Dichterin, Der ging es ebenso, Und als wir uns das versicherten, Da waren wir wieder froh.

Ich habe auf meinen Groschen Dreimal geniest, Und betete, dass man in Deutschland Mal wieder Gedichte liest.

Aber eine alte Schraube in einem rosa Sommerkleid Sagte zu mir: »Ich glaube, Sie tun mir leid. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 288

Tempo, mein Lieber Tempo, Aber die Lyrik? Puh! Selbst bei Versen von Rimbaud Hält man die Nase zu.

Sehen Sie, ich bin Fotografin Und in einem Athletikverein, Schlenkern Sie mal so brav hin − Huch − wie im Schlaf mit dem Bein.

Sehen Sie, Sie haben Tabes Und eine asthmatische Brust. Das kommt vom Dichten, ich hab es Ja gleich gewusst!« −

Ich habe noch einen Groschen Und sonst nichts mehr. Auf meinen verbeulten Galoschen Treib’ ich durch’s Häusermeer.

Im Schöneberger Rathaus Stemple ich die Woche ein mal, Und dann zahlt man mir Draht aus In einem Schanklokal.

Oefter im Traumgesichte Erscheint mir Wilhelm, aber von Scholz. Und dann mach ich Gedichte Beinah wie Arno Holz.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Robert Seitz. 5 Mappen gebundener Gedich- te (geschrieben nach einem Gespräch mit der Dichterin in der Berliner Motzstraße ca. 1928/29).

LEPSIUS, GERHARD (?–1915)

Hermann Kasack (1896–1966)

Verse für Gerhard Lepsius. Gefallen am 20. Juli 1915

Der Abend kam mit weichen Gebärden, Segel glommen weiß über den See. Wir hatten den Nachmittag im Wald verlegen. Nun standen wir und warteten auf uns. Ich hielt den geladenen Revolver an meine Schläfe. Du harrtest stumm. Nur deine Augen flammten Und zerglühten meinen Willen. Dann − langsam − Fiel deine wortlose Hand schwer in meine. Wir riefen uns an. Wir beschwörten unsere Schönheit. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 289

Dann sagtest du Worte, die ich damals noch nicht verstand:

»Ich liebe das Leben, denn ich liebe die Liebe −« Und jenes andere:

»Aber ich glaube, du bist noch glücklicher als ich −«

Hermann Kasack: Der Mensch. Verse. München: Mundt, 1918, S. 29 (Edlef Köppen gewidmet).

Edlef Köppen (1893–1939)

Für Gerhard Lepsius († 20. Juli 1915)

Schwärzer als sonst war die Nacht. − Das Maschinengewehr drüben an der Hecke (Oft höhnte es so roh) Lachte heute nicht. Die Geschütze schliefen. Der Himmel zog, ein dunkler, weicher Vogel, Ganz feierlich und langsam. Unter seinen Schwingen fielen die Leuchtkugeln blaß zur Erde, Die nach ihm jagen wollten.

Da erfuhr ich −: DU bist … tot.

(Irgendwo schrie etwas deinen letzten Schrei. Irgendwo bebte etwas deinen letzten Kampf.)

Und als ich aufsah, war das Licht in meinem Unterstand verloschen − Ich ging zur Tür hinaus. Und fror. Und weinte.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: E. Köppen, 26 Gedichte, Maschinenabschriften aus Zeitschriften.

LEYBOLD, HANS (1892–1914)

Käthe Brodnitz-Froehlich (1884–1971)

Hans Leybold. Nachruf (1915)

Sie waren trunken, voll von seiner Schönheit, Auf seinem Pfade folgten Knaben, Mädchen Auch stolze Frau’n mit nachdenklichem Gang Schien er doch nackt in seiner Linien Klarheit Und tanzensfroh des Schreitens leichtes Maas − Sein Denken − Strebepfeiler froher Zukunft. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 290

Sein Schaffen war ein Traum − doch stark-bewusst.− − Den Allbezwinger zwang ein Nichts, der Tod…. Und Knaben, stolze Frau’n und Kinder heulen.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Brodnitz-Froehlich.. »Sie waren trunken …« Für Hans Leybold. 1 Mappe.

Klabund (d. i. Alfred Henschke) (1890–1928)

Auf einen gefallenen Freund

Arm in Arm sind wir gegangen Durch das Himmelreich der Welt. Mit dem Lasso haben wir gefangen Schöne Frauen, die wie Rehe sprangen Und wir wehten segelnd auf dem Belt.

Und in Stunden, die wie Schleier glitten, Sind wir durch den hellen Park geritten, Sonne regnete auf Rain und Ruf. Deine Lippen sprachen leichte, schwere Verse, und die goldne Ähre Rauschte an der Rappen Huf.

Grosse Stadt war unsre Mutter, Nahm uns gern im dunklen Abend auf. O nach Wolkenfahrten banden wir den Kutter Schwingend an des Kirchturms Knauf. Große Stadt ist unsre Mutter, In den niedern Strassen funkelt unser Lauf.

Stehn noch immer jener Kirche Türme? Sind noch immer Frauen einem lieb, Seit es dich in namenlose Stürme In entbrannte Ozeane trieb? Deine Lippen schweigen leicht und schwer, Deine Stirn steht abendrotumwettert. Ein entseelter Franktireur Hat dein Herz, mein Herz zerschmettert.

Klabund: Das heisse Herz. Balladen, Mythen, Gedichte. Berlin: Erich Reiss 1922, S. 33–34.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 291

LISSAUER, ERNST (1882–1937)

Alfred Richard Meyer (1882–1956)

Haßgesang gegen Lissauer

Was schiert uns Zobeltitz und Stratz! Katz ist Katz! Und Ratz bleibt Ratz! Wir lieben sie nicht, Wir hassen sie nicht, Wir lassen ihnen Scherl- und Ullstein-Parnaß − Wir haben nur einen einzigen Haß. Euch dichtert’s vereint, euch mauschelt’s vereint − Wir haben nur einen einzigen Feind: Den ihr alle wißt, den ihr alle wißt: Er sitzt geduckt hinter’m Schreibtisch klein, Voll Not, voll Drang, schwillt wie ein Bofist Und platzt fast, »arm Reimerling Ohnebein«. Wir treten zusammen zu einem Protest, Daß endlich Sein lyrischer Schnabel verstummt, Daß endlich Er sich nicht mehr teutsch vermummt. Vernehmt das Wort, sagt nach das Wort, Es wälz’ sich vom Wedding zum Kreuzberg fort: Wir wollen nicht lassen von unserm Haß, Wir haben alle nur einen Haß. Euch dichtert’s vereint, euch mauschelt’s vereint − Wir haben alle nur einen Feind: Lissauer!

Einmal, es beim Chanukamahl, Silberne Leuchter brannten in Lissauer’s Saal, Da sprach der kommerzienratliche Onkel Kahn: »Ernst ist die Wiedergeburt Turnvater Jahn!« Dann sprach der andre kommerzienratliche Onkel aus Bomst: »Ob Du wohl noch den Roten Adler bekommst? Aber einen mindestens mit der Krone!«

Alfred Richard Meyer, Der große Munkepunke, Hamburg u. Berlin: Hoffmann und Campe, 1924, S. 214–217.

LOERKE, OSKAR (1884–1941)

René Schickele (1883–1940)

Oskar Loerke zum fünfzigsten Geburtstag

In Strassburgs blondem Münster zeigt Dir ein Fensterbild den Busch von Feuerginster, der Moses Zorn gestillt. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 292

Es lodern hundert Augen Erschreckend in den Chor, Sie wehren Dir, sie saugen Und heben Dich empor.

Doch fühlst du dich umfangen Von schmerzlich holdem Glück Und endlich angelangen, Sinkst du entseelt zurück…

Es muss sich selbst vollbringen, Wer Gott im Feuer sah, Es muss dich mild durchdringen, was ausser Dir geschah.

Die Fenster unserer Dome Erscheinen aussen blind, Weil ihre Augen innen Die reine Wahrheit sind.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Schickele, 66.395. Datiert und unterzeich- net: »Sanary-sur-mer. Februar 1934. René Schickelé«.

MARC, FRANZ (1880–1916)

Gerhard Ausleger (1891–1969)

Tod des blauen Reiters Franz Marc

Schwefel. Blitze. Blut und hart Gebrüll: Kanonen. Leiber rotgerissen. Und Granatengrüfte für den Tod: zu wohnen. Fleisch und Fetzen vom Soldatenvolke − Plötzlich: ist der blaue Reiter breit von Licht geschlagen; Ist hineingetragen; Ist hinaufgetragen; Bersten seine Hufe Splitter von beglänzter Wolke. Erde rollt darunter. Rollt gewaltig in die Nacht. Aufgebracht Auf stracken Vorderbeinen Richtet groß das Roß sich am grünen Himmelsgarten. Drinnen: tausend treue Tiere ihren treuen Herrn erwarten Sanft in Felsgestürzen und verblauten Forsten: Bären (angetan mit goldnen Borsten) Und verhaltne Lämmer bitter weinen; Alle Tiere als aus dem Legendenbuche scheinen. Lautlos, endlos; Feder, Vieh und hingestreckte Felle.

Geht von Rosse nun der blaue Reiter Und zu Ruhe über Himmelsgartenschwelle: Alle Tiefre heben die behaarten Brüste heiter, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 293

ist: als ob sie läutend lachen, dass sie treue nun dem Herrn seinen großen Schlaf bewachen.

Der Sturm 8 (1917/1918), Sp. 22.

Franz Richard Behrens (1895–1977)

Marc

Trutzblau starrt Bluttrotz Sternenkrieg kriecht in den Köpfen Leiber blühen Adern tragen füllen Harnisch fließen Strahlen Sonnen halfen Skalp hängen schwarze bleiche lache fichte Mähnen Wehe Wehr wirbelt. Tränenauf.

Die schöne Rarität 1 (1917), S. 68.

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Franz Marc, der blaue Reiter vom Ried…

Franz Marc, der blaue Reiter vom Ried, Stieg auf sein Kriegspferd. Ritt über Benediktbeuern herab nach Unterbayern, Neben ihm sein besonnener, treuer Nubier Hält ihm die Waffe. Aber um seinen Hals trägt er mein silbergeprägtes Bild Und den todverhütenden Stein seines teuren Weibes. Durch die Straßen von München hebt er sein biblisches Haupt Im hellen Rahmen des Himmels. Trost im stillenden Mandelauge, Donner sein Herz. Hinter ihm und zur Seite viele, viele Soldaten.

E. Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Norbert Oellers u. a. Bd. 1.1: Gedichte. Bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki u. a. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag, 1996, S. 184.

Kurt Schwitters (1887–1948)

An Franz Marc

Katzen Beinen Katzenbeinen Menschen Lust Menschen welten Erde runden die Katzen Katzen pfoten das zahme Gras Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 294

Kreuzen Faden Strich Hirnen Lust Geheul die zwanzigtausend Katzen Tintenpfoten schwänzen Katzen Raum Und Räume, Räume, Räume Katzen Und Katzen, Katzen, Katzen Räume Und Pfoten, Pfoten, Pfoten Lichter Mensch

K. Schwitters: Das literarische Werk. Hrsg. v. Friedhelm Lach. Bd. 1: Lyrik. Köln: DuMont 1973.

MEIDNER, LUDWIG (1884–1966)

Johannes R. Becher (1891–1958)

An Ludwig Meidner

Hohes Geläute war über dir, Traumschwingend, als einritztest du Mit zuckendem Griffel eines Heiligen Haupt in die Kupferplatte; uralte Legendenbücher sangen im Chor aus dem Schrank; über der Tür gnadenleuchteten Gewitternd prophetische Worte; Schriften in Säulenformen geordnet, und in flüsternden Strichen das Dach eines Tempels aufzeichnet Sich an der Wand; niederknitterte Der Hut in dein geisternd Gesicht wie Eine grünspanene Blechkruste; mit Glorien dich Durchrankend, anschwebte, wenn Anbetetest du, Verzückten dich, die Rätseloffenbarende, die himmlische Nacht; geheimnistief einsenkte schnee- Tränend das Fenster sich in den tönenden Raum, wie ein Glasauge … Oder wenn Vielstimmig paukend aufwölbte es Großrollende Donner über dir, Blitzgeflechte Kristallisch überspannten dich, Städte Erschwankten: fiebericht Zerkauert wie in Nachen, lohend Umschäumt, hintrieb ein gespenstischer Wind und in den erkrachenden Häusern unter Splitternden Gestirnbögen: da saßen wir irrnis- Grinsend, über die Stuhllehnen gebeugt, hin- Hingen wie zappelnde Fliegen wir über Leibereinschmelzendem Flammen-Abgrund, wie Verkletterte, und die Fingerspitzen erglühten, wenn anspritzten Flüssig, eine kitzelnde Marter, eines Aufschnappenden Höllenpfuhls Unirdische Stichbrände … Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 295

Wir wanderten. Totentümpel Gluckste an Totentümpel. Mit Goldputz überleimt hinjagten Gerippe, wie Drähte die Glieder verzogen, kopflos, Über gewundenen Stahlbrücken. Einsickerte Das Mondlicht in die Ritzen der Böden, ein Bläulich verwesender Saft … Narren Thronten, mit papierenen Szeptern sich Fächelnd, auf Knochenhausen … Trommel- Geprassel, aufrufend zum Götzenfest − − − Der Lästerer Geschwätz umstrudelte wie Südlicht uns an den Füßen, eines Trinkers glühhäutiger Leichnam hinkrümmte Sich über den Schienen, Gewürmklumpen rotäugig Wälzten sich, wie geflochten aus Schwertern in gasdurchbliesenen Sälen Brausten geschliffene Schwungräder … Rauch- Brunnen, schraubengleich sich windend, wie Korkzieher. Fratzen wie fleischerne Pfützen, buntfarbig schillernd, berittener Holzpuppen … Wann dereinst Wird sein es, o Meidner, dass aufjauchzen in Farben du wieder lässest die Kreatur, hinbreitend sich über den Mordichten Bergen in Chören; doldengleich Ersprudelten Quellen aus Felsen, flockengleich aus Erschimmernden Höhen träuft nieder himmlisches Brot; aus gestreckten Posaunen mit Jubelgesängen lobpreisen sie, der Umarmend niederneigt sich aus den wolkichten Zinnen den Allerlösenden; wann wieder Tupfst an des Himmels Schwarzgrund du den Mond, das Ölauge, flimmernd umädert; fleischige Dämme, aus Totenleibern gewirkt, schwanken Lawinengleich talwärts, wann wieder wird Sein es, dass dein Bild, gemaltes Feuer, entzündet, schweigender Glanzruf, aufblinkt über den Scharen der Kämpfenden; ein Kronenschwarm in den orgelnden Lüften Gewitternd Geläutert-Entschwebender −?! Lichtatmend überwehrt uns, Sonne aller Irdisch-geistigen Sonnen, das Antlitz Raffaels: o Farbe du aller Farben: wie Griffe ich die je: durchsprengt wie von Gespenstischem Flaum mein wahntriefend Gesicht wie eine nackte Wunde will ich mit Rötel jetzt Zeichnen: niederwinden von glimmender Schulter sich die Arme wie Flammenbänder; und Gräber hängend Aus den Himmeln niederwachsen über Mir, vor mir ein Kelch auf roh Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 296

Gezimmertem Tisch, gefüllt mit einem Giftigen Schatten … O welch ein Gebrause ist um mich, anströmend aus den Werken der Schöpfung! Stimmen der Tiere, Regen, Wind, und der Mensch, der Abgrund, drin es Gelächtert und mordschreit, aber Schweigen die tiefste der Tiefen ist, und wie auf Säulen bautest du hin über die Erde dir einen Triumphgang, und blutgefleckt der Eroberer Fahnen sind über den Grüften der Gefallenen, schlachtkühn frohlockend, aber wie Durch Röhren gequetscht aufkreischt aus den Gruben das Gebet der Verdammten; und wie Eine gestaltlose Wage ists: Engel legen ein Aus unsichtbaren Händen geheime Gewichte … Sphärischer Geister Gemeinschafts-Gesang − − O Mystische Schwebe − − −

Der Feuerreiter 2 (1923), Sonderheft, S. 16–19.

Fred von Zollikofer (1898–1937)

An Ludwig Meidner

Schwinge! Ein Tal erblaut, Das sich wolkenweich weitet. Singe! Ein Engel schaut, Der Verheißung bereitet.

Jubel! Da azurner Mai Deiner Inbrunst in mir entbrandet, Lohend dein windender Schrei In meine Nächte gelandet.

O deine Andacht, wehend in Schauern, Da dir Hymnen feiernd entschreiten, Wogend bist du unter Erbauern, Die den strahlenden Pfad entbreiten. Siehe! Schon Stern stößt zur Erde. Golden wellt Gottnacht auf. Aus Häusersturz wachsendes Werde Nimmt flammenden Lauf.

Der Feuerreiter 2 (1923), Sonderheft, S. 14. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 297

MÜHSAM, ERICH (1878–1934)

Fried-Hardy Worm (1896–1973)

An Erich Mühsam

Bruder, du liegst im Kerker! Gegen kahle Mauern brandet dein Aufschrei, gepeinigt von Stacheln fiebernder Gedanken. Aber der Meute zerstiebende Wutgischt kann nicht rühren am Barrikadenbau aufrührerischen Geistes.

Kotumwölkte Schergen lallen heute Trinksprüche, ihre dicken, schwitzenden Leiber sind ja noch gesichert, ihre stinkenden Münzen bewacht von Kriegsknechten. Aber zwischen Abend und Morgen geschehen oft wunderliche Dinge –

Da kann die Tat wie eine Lerche in die Lüfte schießen, freiheitstrunkene, mohnblumenrote Tat. Brausend wie Sturmsang am Meere. Bruder! Unsre Grüße nahen sich dir im Schmetterlings-Taumelflug.

Bruder! Wir kommen selbst, Bruder! Hörst du den Ruderschlag?

Der Brand 1 (1920), Bl. 6.

Fritz Gross (1897–1947)

Erich Mühsam

1. Was er uns war, Wie koennt ihr es ermessen, Fuer die er nur ein Opfer Unter tausend war. Doch Jahr um Jahr, Wir koennen nicht vergessen Ihn, Erich Muehsam, Dem Leben Opfer war.

2. Er hatte viele Feinde, Die nannten ihn den Einzelgaenger, Verworren und verwirrt; Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 298

Sie lebten Friedlich In der Volksgemeinde, Sie hassten ihn, Den wilden Freiheitssaenger, Sie fuehlten nicht die Kette, Die, Laut und lahmend An ihrem Fusse lebenslaenglich klirrt.

3. Er mahnte und beschwor, Sie lebten in Parteien Und traeumten von der Zukunft, Traeumten wie ein Kind Von einer bessern Zeit. Er, Der den Kampf erkor, Er stoerte ihre Reihen, Er fuhr in sie, Ein roter Wirbelwind.

4. Sie glaubten dem Papier von grossen Wahlprogrammen, Erhitzten sich bei jeder Wahl. Er war ein Mann der Tat, Verachtet’s Parlament, Er war ein Mann, Verstand es Zu entflammen Und liebte den, Der sich zur Tat bekennt.

5. Doch war ein Streik im Gluehen, Da blies er in die Glut. Da war sein heiss Bemuehen, Zu staehlen ihren Mut. Marschierten sie, Ihr Recht zu demonstrieren, Marschierte Erich mit in erster Reih, War hart entschlosssen, Der beste der Gonossen, Und wo es Kampf gab, War er mit dabei.

6. Ihm war das A und O des Lebens, Die Tat, Der Aufstand, Die Aktion. Sie zaehlten ihre Groschen in Gewerkschaftskassen, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 299

Sie zaehlten ihre Stimmen bei der Wahl, Sie zaehlten ihre Delegiertenmassen, Halb national und auch halbliberal. Er war der Hecht im Karpfenteiche, Er war der Wolfshund in der Schafe Schar. Der einzige Rebell im ganzen faulen Reiche. Der Mann, Der nichts als Kaempfer war.

7. Und als es Krieg war, War er fuer den Frieden; Und als es Frieden war, Predigt er Buergerkrieg. Und gaben sie mit Phrasen sich zufrieden, War es sein Mund, Aus dem Empoerung stieg. Und als die Raeterepublik in Bayern, Gefaehrdete den Geldschrankstaat, Da hoehnte er ihr lautes Festtagsfeiern Und lehrte sie: »Im Anfang war die Tat«.

8. Der weisse Terror rast im Lande, Und fuenfzehn Jahre Festung sind sein Teil. Sie schlagen diesen Feuergeist in Bande Und bruellen triumphierend ihr »Sieg-Heil«. Nach sieben Jahren steht er wieder in der Reihe, Mit Silberfaeden in dem roten Bart. Und ungebrochen von der Zuchthausweihe Blieb er auch weiter gluehend, hell und hart. Noch immer abseits von Parteien, Nur mahnend: Solidaritaet. Und waehrend weiter Proletarier sich entzweien, Flammt sein »Fanal«, die Rote Fahne weht.

9. Aber sie wehte im Schatten, Und die Massen sahen sie nicht. Aus dem Dunkel krochen die Ratten, Verdunkelten das Licht. Sie brachten aus ihren Verstecken Mit sich die Braune Pest. Es senkt’ sich laehmender Schrecken: »Haltet aus, Genossen, bleibt fest«: Die schwarzen Schurken greifen Den alten, kranken Mann. Nun traegt er Zuchthausstreifen, Sein Golgatha begann. Sie martern ihn endlose Jahre, Schlagen ihn blutig und taub. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 300

Er liegt auf der Totenbahre, Ein wimmerndes Haeufchen Staub. Und dann, zum letzten Male, Holt er noch Atem tief, Es ist die »Internationale«, Die die Genossen rief.

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Reiss, 86.10182. Aus dem Zyklus Kameraden (Gedichte an Edgar Andre, Max Hermann-Neisse, Arthur Holitscher, Theodor Lessing, Erich Mühsam, Rudolf Olden, Carl von Ossietzky, Joseph Roth, Jura Soyfer, Ernst Toller), entstanden vermutlich in der Exilzeit (vgl. die Anmerkung auf dem Manuskrpit: »Fritz Gross / London W.C.1 / Regent Square 3«).

MÜLLER, GEORG (1877–1917)

Alfred Neumann (1895–1952)

In Memoriam Georg Müller

Sein junges Antlitz war, als spielte er eine Geige Und wäre des reichen Tones so gewiß, Daß seine Seele schon um die letzte Neige Der Klänge wußte und um die ferne Kümmernis Des Echos. Der Augen aufgeflammte Ungeduld Tastete hastig in die große Pflicht Des immer neuen Erlebens und fand die Huld Des ewig Zukünftigen zu schwer von Sonnenlicht, Um nicht den geatmeten Tag im Schatten zu fühlen. Er lebte sehnsüchtig als Nähe allem Morgen, Er war fast fremd zum Grüßenden und nur in den vielen Vielen Gesichten seines unendlichen Willens geborgen. Sein junges Antlitz war, Als spielte er eine Geige. Und doch hing die letzte Neige Der Klänge schon in seinem Frühe grauen Haar.

A. Neumann, Neue Gedichte. München: Müller, 1920, S. 68.

PFEMFERT, FRANZ (1879–1954)

Alfred Grünewald (1884–1941)

Lebender Mensch! (F. P. auf dem Wege zueigen)

Bruder, das ist dein Staub, der in die Wälder fällt. Sind Wiesen, matte unversprochne, Hin weinen deine schweren Augen Und schleppen Staub hinüber zu verlornen Wiesentoten. Aus unsern Augen Fließt unaufhaltsam tötend tauber Staub. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 301

Mein Auge hat die ebnen Glanzstraßen gemahlen, Allunsre Augen schroteten den Liebeswuchs der Wälder Und trümmerten den Bruderblick der Kreatur. Wir preßten unsres Sehnens Angst nicht ins Gesicht, Danach am Straßenrand zu späte Hände krampfen, Die Pferde, die gestorbne Angst und Unverstandnes drohender Aufschreit als dich, Lebender, der dort entlang sucht Und sich in schaudernde Geheiße hüllt.

Die Aktion 8 (1918), Sp. 383f. Wieder in: Texte des Expressionismus. Der Beitrag jüdischer Autoren zur österreichischen Avant- garde. Hrsg. v. Armin A. Wallas. Wien 1988, S. 122.

PINTHUS, KURT (1886–1975)

Max Ernst (1891–1976)

Antwort der Weltbürger an Kurt Pinthus-Genius

Gaskarmada Seinsgefühl Gamskarada Gasmaska Gleiches gleichem ahnbar Dadamax gamamus pintus phallus richtungsdichtung Gamsfurz anton pintus RA Selbst-tum leo unguem Anti-lops-tilopam

fate mutte genia Muss ich dich felasseh? Zahlbahn balzhahn Ada Mar Pintus! −− Madagaskar

Im Auftrage der Menschen aller Völker der Erde Dadamax

Schammade 1 (1920), S. 13.

RUNGE, WILHELM (1894–1918)

Walter Mehring (1896–1981)

Dem Tod Wilhelm Runges

Erdenschoß wiegt erstes Grün Wiegenhimmel ballt Wolkenfäustchen Lachen schaufelt Wangengrübchen Lachen sonnt von Astzuast Lachen wirrt in schrecke Augen Lachen klirrt das Blut zu Eis Eisen schaufelt lüfteauf Eisen graben herzenauf Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 302

Eisen läuten seelenauf Nahebei lacht Himmel werfen gräberauf Nahebei stürzt wirft erdenweit krallt ängstetief und zerrt das Lachen in den Tod Blühen pochen Tod Herzen pocht an Kinderfäustchen Kinderlachen stapft Rasenschnee Schneerosen lachen ins erste Grün Erdenschoß küßt Kindergrab

Der Sturm 9 (1919), 11. Heft, S. 142. Wieder in: W. Mehring, Chronik der Lustbarkeiten. Die Gedichte, Lieder und Chansons 1918– 1933. Düsseldorf 1981, S. 39–40.

Sophie van Leer (1892–1953)

Für Wilhelm Runge

Dein Wort ist Blut Sein Sinn erblüht in Deiner Hand

Die Zeilen säumen leuchtende Gärten die jauchzen in den Tag

Aus jedem Waldbach murmelt das Märchen In jedem Baum glänzt ein Gestirn Die Nacht trägt eine Säule

Der Tempel Deines Herzens tönt Die Lieder taumeln sonneschwer und trinken den Quell Deiner Träume

Der Sturm 7 (1916/1917), H. 3, Juni 1916, S. 28. S. v. Leer war die Braut W. Runges und die Sekretärin H. Waldens.

Franz Richard Behrens (1895–1977)

Wilhelm Runge

Rosen nicken aus den Junistauden Trällern sommerblau den Matten hin Mild aus tiefstem Herzen grünt die Heimat Ihre Lippen murmeln wälderschwer Überwelthin schwingt die sterne Zeit Kinderwangliebkinderwanggereiht Rettung lockt der Stimme grüne Insel Doch es strandet jeder Wunsch An der Stirne wildgewirrten Klippen

F. R. Behrens: Werkausgabe. Bd. 1: Blutblüte. Die Gesammelten Gedichte. Hrsg. v. Gerhard Rühm. München 1979, S. 48. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 303

SCHEERBART, PAUL (1863–1915)

Rudolf A. Leinert (1898–1969)

Lesabendio. In memoriam Paul Scheerbart

Gottsüßes All, deß Firmanente steigen: Von Pol zu Pol sich sein Geäder sticht! Aus Mündern, die bis jetzt in großem Schweigen

Erlösung sehnten, jäh Fanfare bricht. Nie war so schön, die Arme hochzufalten, In Jauchzen fiebernd: »Weltraum, werde Licht!!«

Doch seine Schritte glühten hochgestalten Und aus der Stirne strich er frühen Gram, Daß Sterne seine Augen heiß umwallten,

Von Erde reißend seine wunde Scham. O reines Leuchten, dessen Bogen alle Urweltgeschicke magisch überkam!

Und Türme wuchsen aus der Nacht Kristalle, Zu hoher Venus himmlisch aufgehellt. Schrei lösen seines Blutes Intervalle.

(»Ich lebe doch − − !! − − Deß Süßheit in mir quellt..«)

A. R. Leinert: Gott-Mensch Geburt. Dresden: Dresdner Verlag von 1917, 1918, S. 5.

René Schickele (1883–1940)

Auf einer Postkarte (Aus einem elsässischen Weinort)

Lieber Scheerbart und Antierodidakt! Also weiltest du heut nacht in unsrer Mitten: Diese achtzehn Rieslingflaschen, gelbgelackt, auf der braunen Eichenplatte waren leer. Plötzlich schien mir, dass sie »Scheerbart!« »Scheerbart!« riefen, »Scheerbart!« schire ich, »Paul, sie rufen dich.« Zwei Doktoren (die Idioten) fragten »Wer?« und erschraken. Du entstiegst schon Sternentiefen, kamst auf einem Marswalembryo geritten, trugst im Spitzbart Siriusperlen, neigtest dich – Rauschend klangen deine Glieder da ein Lied, das die Künstlertruppe bläulich dämmernder Dämonen, die im Pavillon der kosmischen Konzerte wohnen, zu des Geistes täglichem Geburtstag spielt. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 304

Und du sprachst: »Lobpreist! Aller dicken, aller schlanken Frauen Geist ist im Wein gelöst, die Welten spiegeln sich in ihm, und bei der zehnten Rund küsst dich kühl der Gottheit Infusorienmund.«

Und du riefst: »Lobpreist! Wie hat jeder Rausch noch meine Macht vermehrt! Jede Flasche, die in dieser trüben Welt geleert, ist die Hülle einer Seele, die in Sternen reist.«

Und ich hörte, wie die Flaschen bräutlich »Paulchen« riefen… Da, mit Krach, entstieg ein Bärentier den Sternentiefen, Das frass dich auf.

Die Aktion 2 (1912), Sp. 1549.

SCHICKELE, RENÉ (1883–1940)

Johannes R. Becher (1891–1958)

Auf eine Zeitschrift. René Schickele

Du Chaos=Zeiten edles Monument! Auswirkend Tafel du gefallener Brüder. Weit flatternd Feuerbeet der Spalten brennt. Zur tönenden Riesenpyramide stauen hoch sich der Gemetzel zuckende Glieder. Du Chaos=Zeiten schrecklich (Echo=) Monument!

Ah! Unsere Fahnen rollen diese Blätter, Am Horizont entstäubt zu breitestem Morgenstrahl. Beginnt! Sturmleiter: Rhythmus euerer Strophen klettert. Scheinwerfer Holzschnitt weiß der Nacht Saum malt. Hah! Unsere Fahnen rollen diese Blätter!

Die jungen Dichter greifen Abenteuer In Versen bunt, auch seltsam oft verrenkt. Dort aus dem Satz=Polyp schält sich ein politisch Neuer. Konzentrischer wie Dolch die worte schwenkt. Ob ausgeschwungen, steil gespitzt −: tiefst euer!

So drehen wir bald zur großen Freundschaftsmelodie zusammen, Des neuen Staates brennendster Akkord. Ob unserem Haupt, der Winde Feste, sammeln Sich Sterngewölbe wirr. Wir schmettern fort. Gleich Transparenten. Leuchtend. Die Parole rast: Europa!!! Eiffelturm jeder Hals.

Dein Schreibtisch Freund der wahrhaft Guten Thron. O ewig Reservoir draus schießen dröhnend die Gesänge! Tragödien stürzen. Marsch sich knetet schon. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 305

Der wird die Haufen (kittend) ineinander drängen. Vorwärtssignal schleift euer Sommerton. Empor! Millionen unserem Zug einzwängen. O letzte Schlacht! Gebenedeit Gefild! Jahrhunderte noch knieen vor deinem Bilde.

Du wirst sie kämpfen immer steigend schon! Da spülten in den Kotfluß die Verräter. Du wirst sie siegen. Ohne Attentäter Ganz ohne Waffen. Heilig. Tönend schon. Wie nah die Gottesstund wo in dich strömt ein jeder. All=Bruder! Tod=bereit. Jetzt himmlisch Mutter schon!!! Die Bürger selbst sie müssen weinend treten Zu deinen Reihen. Mit Engelszungen redend.

J. R. Becher: Ausgewählte Gedichte 1911–1918, Berlin: Aufbau, 1966, S. 364–365.

Paul Mayer (1889–1970)

Erinnerung an René Schickele

Badenweiler. Überm Rhein Blauen die Vogesen. Goldner Tag, der dein und mein, Wob mich in dein Wesen.

Alte Bücher, alter Wein Botest du dem Gaste. Und dein Wort, kristallen, rein, Das mir nie verblaßte. Beiden Völkern zugetan. Beiden drum verdächtig. Ahntest du, daß Wut und Wahn Bald schon übermächtig?

Damals noch im eignen Land Waren wir Verbannte. Frech erhob sich schon die Hand, Die die Welt verbrannte.

Vogelruf und Glockenklang, Tag von Badenweiler, Da der Glaube uns durchdrang, Daß der Geist ein Heiler. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 306

Beider Völker Undank hat Fast dein Werk vergessen, Drin ich lese, Blatt für Blatt, Leidend und besessen.

Beide Völker, qualverwandt, Spürten nie dein Wesen. Darum über Mord und Brand Starren die Vogesen.

P. Mayer: Wanderer ohne Ende. Ausgewählte Gedichte. Berlin-Grunewald: F. A. Herbig Verlags- buchhandlung (Walter Kahnert), 1948, S. 40–41.

SCHLEICH, CARL LUDWIG (1859–1922)

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Carl Schleich

Strindbergs Zwillingsbruder. Auf ein Haar gleichen sich die Königstigerköpfe.

Wenn Schleich von Strindberg erzählt, Heimwehen seine gelben Augen leidenschaftlich.

Ich glaube, die Freunde gingen Unter einer gestreiften Haut.

Es glitzert um Carls feinen Mund Wenn er feierlich an August denkt …

Immer wurde ihr Gespräch Ein Konzert.

Denn auch Carl Schleich ist ein Dichter Abenteuerlich setzt er wie der Unvergessliche Im kühnen Weltensprunge Durch den Reif in Gottes zeitlicher Hand.

Die Medizin studierte Carl Am Gerippe der Ewigkeit:

Denn sein Gehirn ist ein Leuchtturm Wenn sein wogendes Herz waghalst;

Ritzt sich oft am Dorn des Kranken, Des Leidens Ursache zu erspähen.

Faulende Beine und Füße, Hände und Arme sägt der Doktor vom Stamm

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 307

Und rettet dem welkenden Menschen den Sommer −

Tausendundsiebzehnjährig lächelnd, ein träumerischer Schwarzseher Tritt er manchmal an unsern bunten Caféhaustisch:

»Kinder bald schieb ich ab« …. Er meint dann ernsthaft, er ende noch am Abend.

Wie in allen künstlerischen Menschen Leben und Sterben schimmert, Hängt auch an Schleich der Tau der Eingebung;

Und er feiert Dasein, Grablegung und Himmelfahrt. Auf jeder Seite seiner Büchertestamente wächst ein Wunder.

Die Weißen Blätter 7 (1920), S. 412–413.

STADLER, ERNST (1883–1914)

Ludwig Bäumer (1888–1928)

Den Gefallenen der Aktion (Hans Leybold, Charles Péguy, Ernst Stadler)

Hinter euch brach es entzwei … Und plötzlich fühltet ihr euch unter dem großen Schatten Und wusstet, daß die Dinge euch verlassen hatten Und nicht ihr sie − und ihr stauntet in das Vorbei.

Dann habt ihr gelernt, was Alleinsein ist. Wie habt ihr euch gebäumt! Und in euren Hirnen hat es geträumt: Bleichblanke Bilder und viel Sehnsucht um Frist.

Oh! Und der Gedanke an Verlust! Entsetzendstes Entsetzen! Wie er euch hochriß aus euren braunen Wunden. Ihr habt geschrien und eure Arme aus den Gelenken gewunden, Sie der Flucht aus euch hinterherzuhetzen.

Wie es euch lästert, das Vollbringen − … Ihr seid unter einen fremden Himmel geritten − O dunkles Schon! O Tod auf deinem pfeifenden Schlitten, Laß ihrer Leiber Landschaft frühlingen.

Die Aktion 5 (1915), Sp. 13. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 308

Rudolf Leonhard (1889–1953)

Auf Stadlers Grab

Ich weiß nicht, wo er liegt. Ich weiß nicht, wo er fiel. Er lag vielleicht schon, mit gefalteten Brauen Auf einen Feind, den er liebte, zu schauen? Ich weiß nicht: wand er sich im Krampf? War’s Traum und Spiel?

Ich weiß nur: viele Herzen sind verwaist. Und weiß: wenn wer nach seinem Grabe fragt, Da keine Säule unter Kreuze ragt, Seine Stimme besteht und sagt: Nichts ist vergänglich. Hart besteht der Geist.

Vermächtnis. Dichtungen, letzte Aussprüche und Briefe der Toten des Weltkrieges. Zusammengestellt und eingeleitet v. Edwin Redslob. Dresden: Limpert, 1930, S. 47.

Ernst Wilhelm Lotz (1890–1914)

An Ernst Stadler

Ich grüße dich in der Ferne, ich begrüße deine weit spannende Nähe! Du, den ich nicht kenne, Aber ich sehe und erkenne hell deine ziehende Stimme Hin durch die Abendzonen meines frühen Grams:

Die braunen Länder, die von Wolken triefen, sind noch vom Weilen meiner Füße jung, Von Wünschen schwebend noch, die leuchtend aus mir riefen, Neu wie das Meer, das sich dahinter weitet, Darüber noch von jüngster Fahrt beschwingte Dünung kreisend gleitet.

Meine Stimme, in deine Bezirke verschlagen, Ward ergriffen, begriffen von dir Und reif und gereinigt mir zugetragen.

In mancher Stunde verwitterter Nacht, Bevor ich wußte von deinem durchbluteten Wesen, Habe ich dich erdacht und lebendig gemacht Und deine Bruderverse mir vorgelesen.

Und als ich dich sah, atmend nah, hell und zu glühenden Worten gekühlt, Wußte ich: Alles ist da! Alles lebt, was man mit Wünschen erfühlt!

E. W. Lotz: Wolkenüberflaggt. Gedichte. München: Wolff, 1916, S. 26. Wieder in: Vermächtnis. Dichtungen, letzte Aussprüche und Briefe der Toten des Weltkrieges. Zusam- mengestellt und eingeleitet v. Edwin Redslob. Dresden: Limpert, 1930, S. 46. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 309

Alfred Richard Meyer (1882–1956)

In Memoriam Ernst Stadler

Noch einmal muß ich durch Zandvoorde gehn Und den Himmel durch alle Häuserfragmente sehn.

In allen Türen erblick ich des Freundes Schatten. Ob ihn hier der Granate Rasiermesser zwischen sich hatten?

Hoch durch die Wolken herab pfeift ein sausender Ton. Englisches Küstengeschütz, dich kenne ich schon!

Am ersten Tage vor Ypern zogst du über mir deinen Bogen. Eine dunkle Hand hatte mich tief in die Edelkastanienbüsche gezogen.

Jetzt kommt deine Stimme noch näher an mein Ohr: »Tor!

Suchst du den Freund? Willst du ihn wiedersehn? So mußt du mit mir einen anderen Weg schon gehn!«

A. R. Meyer: Vor Ypern. Darmstadt: Falken 1916, S. 34. Wieder in: A. R. Meyer: Die Sammlung, Berlin-Wilmersdorf: Selbstverlag, 1921, S. 12–13 (unter dem Titel Ernst Stadler; hier ohne Spatien zwischen den Strophen).

René Schickele (1883–1940)

Die Stürmer. Zum Andenken an Ernst Stadler

I Sie saßen zu zehnt in einer Dachkammer und tranken alten Wein aus einem Riesenkrug; wie ein Hammer schlug Sehnsucht auf sie ein, schlug sie zu einem einzigen Ding, das stand in die Nacht hinaus, ein schwer Gebild aus Träumen, ein großes, einsames Haus, das in den blauen Räumen von Ebene und Himmel hing, und dessen dumpfe Zimmer plötzlich klangen, wenn sie im Spiel wie junge Tiere rangen. Manchmal geschah’s, dass jemand klopfte, dem durch die Ritzen in der Bodendiele vergoßner Wein aufs Lager tropfte. Wie einer rief, antworteten gleich viele. Dann stand das große dunkle, einsam geballte Haus frech wie ein Trommelwirbel in die Nacht hinaus und schwoll zum Sturm, wenn ein Zug vorüberschnob, der rasselnde Riegel von der Ferne schob. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 310

II Sie waren achtzehn Jahre alt. Sie wollten weder stehn, noch wanken und schritten zusammen wie umhallt von ihren einigen Gedanken. In einem alten Turm bauten sie sich ein Nest, manch einer hielt dort sein erstes Liebesfest, und alle sahn die Abendröte winken, wie war es laut und wurde still, und alle sehn die letzten Sterne blinken tief unter sich im Spiegel der Ill. Durch ihre erste Welt, in ihr erstes Licht stieg überloht, sank beschattet ihr Gesicht. Sie führten die Kämpfe, die vorwärts treiben, und kannten den Ruf, der widerhallt, die junge Qual auch, jung zu bleiben, sie waren achtzehn Jahre alt. Sie sprangen hoch, um tief zu fallen und singend die Augen zu heben, die neue Lust erschwingend. Der eine stand nicht wieder auf und fluchte, dem andern riß das Herz im Glück, doch was ein jeder fand, verlor und suchte, die Strömung führte es zurück in ihre erste Welt, in ihr erstes Licht, worin sich das Glühn der ganzen Erde bricht.

III Johannisfest auf hohem Fels in den Bergen! Die Mädchen, die ihre Müdigkeit verbergen und lieben oder schlafen möchten, da Glut aus zwanzig aneinandergelehnten Tannenbäumen, die brausend flammen, wie der Atem von Träumen auf ihrem Mund und ihren Lidern ruht? Im Tal brennt ein Haus, Sturmglocken singen ganz fern, und als ob sie sich im Feuer verfingen sind sie ein Wirbel, der steigt, und schmelzen hin. Der Morgen, wo sie sich mit fremden Augen schauen, wie später, auf Ozeandampfern, im fröstelnden Grauen, in Städten, die ein Frühmond überwacht, und immer, wenn die wilden Vögel der Nacht erblasst mit müden Schreien sich verziehn! Der Heimweg wie ein Bad durch Tau und Blüten im Blauen!

IV Und sie erkennen im Traum einander in Zügen, auf Schiffen, in einem fernen Land, die tiefe Erde durcheilend, als schlügen sie bebend sich durch Sturm und Brand, um am bekannten Ziel sich wiederzufinden, das jeder aufleuchtend von weitem grüßte: versprengte Krieger, unter Tamarinden marschierend, in Eichenwäldern, durch Wüste. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 311

Und morgens und abends, wie der Muselmann, Augen zur Ferne, halten sie alle an, die Stirn in der hergewehten Kühle labend, und wandern von Nord und Süd vereint in den Abend, der von den blauen Bergen der Heimat steigt. Gesang durchströmt sie leise, sie stehen still im Kreise und fühlen, wie ihr einzig Herz sich neigt.

Die Aktion 4 (1914), Sp. 906–907.

René Schickele (1883–1940)

Der Dichter spricht. (Für Ernst Stadler)

Wenn sich nur etwas an ihr leise regt, wirkts ein Rauschen, das den ganzen Wald bewegt, Licht flammt auf und breitet jenen Märchenschein:

»Plötzlich hörten sie es rauschen, und sie riefen, sahens glänzen: Dort im Dunkel, dort im Tiefen, ja − da muß der große Schatz begraben sein!..«

Frauen locken und erlöschen. Aber immer noch erglühten wir von einem Gottesschimmer, riefen Tränen lachend: wir sind nicht allein,

Frauen wünschen maßlos, schreien und erzittern ganz wie wir. Zerbricht die trübe Freude, klirren lang noch ihre hellen Worte hinterdrein.

R. Schickele: Weiss und Rot. Gedichte. Berlin: Cassirer 1920, S. 82.

Robert Seitz (1891–1938)

Bei Ernst Stadlers Tod

Ich hab’ dich nicht gekannt und kenn’ dich doch. Du warst mir fremd und bist mir doch vertraut, Und heute hörte ich von deinem Tod… Grün eingehüllt in Wolken zog der Tag Ein Pilger müden Schrittes seine Straße, Und streifte von dem Baum mit hohem Schlag Die letzten braunen Welten blutend ab. Und ging und schwand. Und dunkel deckt die Straße. Und in das Dunkel hüllte sich das Leid. Und in das Dunkel hüllt sich die Trauer Ich aber fühlte, wie in Furcht und Schauer, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 312

Den urgewalt’gen Schmerz der Zeit Und ihres Ruhmes bittres Herzeleid. Und wie ein Sendling wohl, vor dem uns graut, Standst du vor mir und kamst aus Haß und Kampf, Die bleiche Stirn mit Tropfen Blut’s betaut, Und deine Finger zuckten noch im Krampf. Und starrtest in die Nacht und sprachst zu mir, Und tonlos weihten deine Worte sich: Aus dunklen Schalen ewiglich Dem einen bald, bald dir − wie mir Sind euch die Leiden zugeteilt, Doch auch das Wunder, das sie heilt, Und dieses Wunder ist der Tod. Aus dunklen Schalen ewiglich Füllt euer Kelch des Leides sich, Bis sich im Rausch die Seele löst Und alle Unbill von sich stößt. Und dieser Rausch, das ist der Tod! Und ist ein Gott wohl stärker noch? Wir aber spannen ihn ins Joch. Und unser Sklave muß er sein Und uns erlösen und befrei’n. Denn unser Heiland ist der Tod. –

Du blicktest starr und schwandest in die Nacht − Und wie ein Falter, dessen Flügelstaub Neugier’gen Kinderhänden fiel zum Raub, So mühsam glitt und ohne jede Pracht Die trübe Stunde in die trübe Nacht… Und fröstelnd sann ich deinen Worten nach −

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Dresdner Verlag. Sehnsucht, Gedichte von Robert Seitz, 1914.

Karl Stamm (1890–1919)

An Ernst Stadler

Tausend Träume in Deutschland sandten all ihre Macht, als Du, Begnadeter, schrittest in schreiende Männerschlacht. Sahst Du hinüber? Empfandest blutend den Gral, Schmerzgekrönter? Gehüllt in den Feuermantel von Eisen und Stahl: Von drüben trennte Dich brennend eine unendliche Kluft. O Gral, Fieberscharlach ob Todesgruft!… Du legtest die Hand aufs Herz, lächeltest kalt − Entsetzlicher Alpdruck wuchtete, atembeklemmend: Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 313

Aus tausend Betten in Deutschland schleuderten Menschen sich hoch: Halt! Halt!…

Nur eine kleine Kugel hörte es nicht, Nur eine kleine Kugel….

Wie viel Verzicht!

K. Stamm: Dichtungen. Gesamtausgabe. Bd. 1. Zürich: Rascher, 1920, S. 241.

Paul Zech (1881–1946)

Der Heldentod des Dichters. Dem Andenken Ernst Stadlers

Auch er schritt in der Reihe grad und grau. Nur seine Augen waren eines Knaben träumendes Blau, und kaum sichtbar umgraben von Furchen. Strotzend stand der Schädelbau.

Den Degenstahl liebkoste seine Hand Wie kühles Samtfell, ehe sie ihn zückte; denn wenn das Horn schrie, war er der Entrückte, der hart Umschiente, der nur sich empfand.

Nur sich empfand… nicht Luft, nicht Haß… durch jene roten Straßen das zu leiten, was wie ein Läuten aufschreit von zwei Seiten wenn an den Wänden hochschlägt explodiertes Gas.

Dann goß er sich hinein in den gestellten Zaun wie eine durchgebrochne Überschwemmung. Und um ihn her war dieses nicht mehr Hemmung: der Lärm, die Glut, Gesichter aufgehaun.

Da war sein Auge eisenweißes Licht, das alles anzog wie Polypen-Arme; da war er, stürzend, selber das blutwarme, das große, niegeschriebene Gedicht,

das ihm im Innern gor von Anbeginn, und, noch ein Keim, ihn grenzenlos erschreckte… Nun hebt es seine beinern aufgereckte Anklage-Hand der Welt wie einen Spiegel hin.

Zeit-Echo 1 (1914/1915), S. 192. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 314

STEFFEN, ALBERT (1884–1963)

Karl Stamm (1890–1919)

Dem Dichter Albert Steffen gewidmet.

In Deiner Dichtung harten Lebensgarten stellst Du den herben Baum Erkenntnis hin. Den Menschen, die des heissen Glückes warten, steht nach der andern Bäume Frucht der Sinn.

Dein Baum Erkenntnis in des Reiches Mitte ragt fort und fort als unverbotene Frucht. Und dennoch zwingt er an sich alle Schritte. Doch ihn erkennt nur, der sich selbst versucht.

Und stets muss sich der Schein vom Wesen streifen. Wird erst der Blick am falschen Scheine blind, kann innres Auge ihm entgegenreifen.

Und es erkennen, die da wahrhaft sind, in ihm die milde Frucht der Selbstvernichtung. Und Liebe ist der Name Deiner Dichtung.

K. Stamm: Dichtungen. Gesamtausgabe. Bd. 1. Zürich: Rascher, 1920, S. 242.

STERNHEIM, CARL (1878–1942)

Hardekopf, Ferdinand (1876–1954)

Carl Sternheim

Noch nie hat so infam ein Schillerpreisbewerber Die Syntax inficiert, wie dieser Sprachverderber, Der stolz ist auf den Tric und den Effect der Schändung: Syphilisierung der Grammatik − welche Sendung!

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Hardekopf, 70,12 71.1457. »Xenien«. Druck in: Neue Schweizer Rundschau, 1928.

STRAMM, AUGUST (1874–1915)

Kurt Heynicke (1891–1985)

August Stramm

Du bist von den Bergen aus den Steinen und dem Feuer Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 315

Blinde werfen Dämme sonnengegen.

Der Sturm 6 (1915/1916), Sp. 87–88.

Adolf Knoblauch

An den Dichter August Stramm

Ihren Acker müssen die schöpferischen Einzelnen selbst bestellen. Niemand kann an ihre Stelle treten und sie unter den Menschen einnehmen. So kann Gott keine Stellvertretung auf Erden zulassen Er kennt auch nicht Pastoren und Priester. Er will, dass die schöpferischen Einzelnen Gott aus ihrem Eigenen seien − Ob auch keineswegs Götter!

Aus den schöpferischen Einzelnen allein Spricht er mit allen Stimmen seiner übermenschlichen Natur

Sturm-Abende. Ausgewählte Gedichte. Berlin: Sturm [1918], S. 49.

Richard Huelsenbeck (1892–1974)

Capriccio (nach der strammen »Sturm«-Methode gedichtet)

Jammer brüllen. Affen heulen. Gluten klammen Klammen Klauben Bimmel Baumel Bummel Bummel in die Nacht. Wanda wende Wanda Wanda Wanda wolle Nächte bersten sind geborsten birsten borsten eines Schweins.

Schmerz

Vater feixe Scheine schießen schießen Scheine Gläste glosen glosen Gläste Gläste Gläste gleißnerisch.

Die Aktion 5 (1915), Sp. 123. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 316

TOLLER, ERNST (1893–1939)

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Ernst Toller

Er ist schön und klug Und gut. Und betet wie ein Kind noch: Lieber Gott, mach mich fromm, Daß ich in den Himmel komm.

Ein Magnolienbaum ist er Mit lauter weißen Flammen. Die Sonne scheint − Kinder spielen immer um ihn Fangen.

Seine Mutter weinte sehr Nach ihrem »wilden großen Jungen« … Fünf Jahre blieb sein Leben stehn, Fünf Jahre mit der Zeit gerungen Hat er! Mit Ewigkeiten.

Da er den Nächsten liebte Wie sich selbst − Ja, über sich hinaus! Verloren: Welten, Sterne, Seiner Wälder grüne Seligkeit.

Und teilte noch in seiner Haft Sein Herz dem Bruder dem − Gottgeliebt fürwahr, da er nicht lau ist; Der Jude, der Christ ist Und darum wieder gekreuzigt ward.

Voll Demut stritt er, Reinen Herzens litt er, gewittert er; Sein frisches Aufbrausen Erinnert wie nie an den Quell … Durch neugewonnene Welt sein Auge taumelt

Rindenherb, hindusanft; »Niemals mehr haften wo!« Hinter kläglicher Aussicht Gitterfenster Unbiegsamer Katzenpupillen Dichtete Ernst im Frühgeläut sein Schwalbenbuch.

Doch in der Finsternis Zwiefacher böser Nüchternheit der Festung Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 317

Schrieb er mit Ruß der Schornsteine Die Schauspiele − erschütternde − der Fronarbeit: In Kraft gesetzte eiserne Organismen.

Die Weltbühne (1925).

Fritz Gross (1897–1947)

Ernst Toller

1. Stadt im Stein, Grab ohne Gnade, Ohne Abschied, Ohne Wiederkehr. Schein ohne Sein, die glaenzende Fassade, Und nichts kommt hinterher. Ferne rauschen die Wellen, Da ist Stille und Ruh: Fuer dich ruhlosen Gesellen, Ist jede Pforte zu. 2. Ich stand vor vielen Toren, Und manches war versperrt. Wenn ich den Weg verloren, Warn auch die Tueren verweht. An manchen Eisentueren Schlug ich die Knoechel wund, Wohin die Tueren fuehren, Ward mir selten kund. 3. In die Erde hinein, In den Himmel empor, Ewig umgibt uns Stein, Und da ist kein Tor. Ob gefesselt die Haende, Ob gebunden der Fuss, Ich geh und finde kein Ende, So wird es ein Abschiedsgruss. 4. »Sechs Schritt her Sechs Schritt hin, Ohne Sinn, Ohne Sinn.« Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 318

5. Am Abend, Wenn die Glocken sangen Und das Staedtchen ging langsam zur Ruh, Erst da hat der Tag fuer mich angefangen, Und ich dachte an dich, Fremde du. Von fernen Laendern hab ich gelesen, Nach Abenteuern mich schweigend gesehnt, Von allem Leid wollt ich die Welt erloesen Und hab die Nacht zum Tage ausgedehnt. Und fuhr von Samotschin ins Unbekannte, Und auch im Unbekannten war nur Led, Und was ich sah, erkannte, nannte − Es war dem Untergang geweiht. Sas ich auf Schulen muehsam lernte, Im Osten wie im Westen auch, Das Korn verdarb, Nur Stroh war in der Ernte, Und jedes Opfer loest sich auf in Rauch. Und Rauch und Glut und Blut und Traenen, Sie nannten’s grosse Zeit. Ich kannte ihn, Den Krieg, Die Menschen litten schwer in grenzenlosem Sehnen, Der Mensche, er kaempfte, litt und starb und schwieg. Ich schrie. Die lachten meines Schreies Und schickten mich, halb krank, Halb irr, nach Haus. Ich suchte in der Welt wohl etwas Freies, Da laeuteten die Glocken − und der Krieg war aus. Die Fahnen waren rot, Und grau und starr die Massen; Der Strasse Herr war das Gewehr. Die Massen standen drohend in den Gassen, Und dann kam nichts…. Das Nichts kam hinterher. Wir wenigens, die Handvoll Literaten, Wir glautens nicht, Wir konnten es nicht glauben, »Welch grosser Aufwand schmaehlich ward vertan.« Der Mensch vergass die Missetaten, Der Bruder ging, Es blieb der Untertan. Nun herrschen in der Welt die Knechte, Ein Volk von Hammeln Ihres Fuehrers wert, Und ueberall regiert das Schlechte, Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 319

So ist es Zeit, Dass man zur Grube faehrt. 6. »Sechs Schritte her, Sechs Schrite hin, Ohne Sinn, Ohne Sinn.« 7. Das soll mein Grabspruch sein. Aber die Luege bleibt, Die auf dem kalten Stein, Ein Wort der Liebe schreibt. Denn keine Liebe ist, Wo nur ein kalter Stein, Was du gewesen bist, Fest huellet ein. 8. O Grossstadtlaerm, Du sprengst die Ohren, Haeltst du nicht einen Augenblick den Atem an? Hast du das Opfertier schon auserkoren, Du fremde Stadt, So nimmts der Himmel an. Was bleibt? Hier auf dem Tische ein Paar Zeilen, Hinweg damit, Das letzte Wort noch luegt. Die Stunde draengt, So muss ich mich beeilen, Dass sich das Kreuz mit meiner Last begnuegt. Das Kreuz, Man hat ihn dran geschlagen, Das Kreuz, Es trennt mich von dir, Welt, Du braves Kreuz, Du wirst mich leicht ertragen, Bald haenge ich am Kreuz der Welt. 9. O Welt, Nur ein Paar Abschiedsworte; Verzeih mir, Dass ich muede bin; Ich stehe wartend an der Pforte Und weiss so gut: Auch das ist ohne Sinn. 10. »Ohne Sinn, ohne Sinn.« So lasst mich endlich schlafen. »Wer keine Kraft zum Leben hat, Hat auch nicht Kraft zum Traum.« Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 320

Wird einmal dieser Welt von armen Sklaven Erbluehen licht und gross der Feiheit Bluetenbaum?

Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach: A: Reiss, 86.10182. Aus dem Zyklus Kameraden (Gedichte an Edgar Andre, Max Hermann-Neisse, Arthur Holitscher, Theodor Lessing, Erich Mühsam, Rudolf Olden, Carl von Ossietzky, Joseph Roth, Jura Soyfer, Ernst Toller), entstanden vermutlich in der Exilzeit (vgl. die Anmerkung auf dem Manuskrpit: »Fritz Gross / London W.C.1 / Regent Square 3«).

TRAKL, GEORG (1887–1914)

Johannes R. Becher (1891–1958)

Der Entfernte. Georg Trakl

Er geht durch Wälder. Lautlos unbewegt. Wo gar kein Raum ist in der Luft zum Schreien. … und würgt und würgt. Da gern es schlafend trägt Ihn, hängt er sich ins Horn des Hirsches ein. Betaute Wiege. Doch erwacht er grell, Matt gießen Mond und Sterne sich herein. Ein wenig plätschert er im schwarzen Quell. Er schlürft berauscht vom bitteren Abendschein. Seltsam durchmischt verblieben die Geräusche Aus jener Stadt, die knospet auf im Blut. Von zweien Kindern ausgebrochenes Kreischen. Wie Blasen steigend Böller Festsalut. Auf einmal dann –: gestreckte Schlote zischen! Andante-Baß der Straße bunter Ton. Wo Brüllen…Haufen schleifen an. Lang Wischen – Am Ende schlüpft heraus ein Grammophon. – Er geht durch Wälder. Lautlos unbewegt. Wo gar kein Raum ist in der Luft zum Schreien. … nur manchmal wie umarmend schlägt Den Kopf er brüderlich ins Moosgestein.

J. R. Becher: Das neue Gedicht. Auswahl (1912–1918), Leipzig: Insel, 1918, S. 101–102.

Kurt Goldstein (1895–?)

Georg Trakl

Er warf kristallne Worte, spitz wie Stahl, Sätze, aus denen grell Zusammenhang getürmter Silben an den Mund uns sprang, Splitter und Hagel ungenannter Qual. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 321

Wie konnte fremde Menge ihn verstehn! Vielleicht ein einzelner an Chaos Rand, ein Suchender im Abgrund Wege fand zu seines Blutes heißen fremden Seen.

Nun ist in Tod ertrunken, der bedrückt sie: de profundis eifernder Prophet ist ausgelöscht. Im Wüstenwind verweht. Die Herzen sind in Scherben klirr zerstückt.

Aufschwung 1 (1919), H. 2, S. 42. Wieder in: Texte des Expressionismus. Der Beitrag jüdischer Autoren zur österreichischen Avant- garde. Hrsg. v. Armin A. Wallas. Wien 1988, S. 116.

Felix Grafe (1888–1942)

Für Georg Trakl

Nun horcht ihr hingeneigt dem Schicksal eines Knaben der Vogelruf verschweigt und keine Stunde zeigt, was wir begraben.

Im schneefüssigen Wind vereister Gewässer findet ihr nicht den Nesselstrauch seiner tönenden Kehle − einer Kugel gleich hineilend am Rande der Sterne, seine Seele spürt den Geruch der Wälder und lauscht der jungen Bienen Totenmessen, ach, noch zurückatmend in die Umarmung seiner Welt treibt er, siehe sein Mund ist erstarrt und heiss, kein Freund, keine Frau hat ihm den erfüllten Kreis zärtlich erhellt. Doch über dem verdunkelnden Auge steigen die alten Bilder, die seinen Herzschlag erwidern: die schwarze Raupe an smaragdnen Zweigen und lächelnd hinter blauen Lidern der Gott, sich weinend hinzuneigen der toten Anmut − −

Der Anbruch 1 (1917), H. 1.

Elisabeth Janstein (1891–1944)

An Trakls »Sebastian im Traum«

Ich fand dich einst in dunklem, engem Laden, Wo mir ein Händler deine Werte pries. Kaum kannte ich dich, wehrte ungewiß Und ahnte nicht die Fülle sanfter Gnaden, Die gütig Licht auf meinen Tagen ließ. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 322

Ich las von deinen träumedunklen Teichen, Auf denen atmend lauer Abend liegt. Du sicherer Wanderer in geahnten Reichen, Die dunklen, ungeformten Wünschen gleichen, Die banges Herz in wachen Nächten wiegt.

Um dich ist mir Erkenntnis aufgegangen, Daß meinem Geiste schmerzhaft Demut war. Erschütterung und beugendes Verlangen Das Letzte, Ungesagte zu empfangen − O Letztes, Ungesagtes wunderbar.

Du ärmlicher und oftgesehener Laden So voller Wandlung. Wände stürzen ein Und über Grenzen wächst ein neues Sein, Erfüllt von unerhörter Sendung Gnaden… Buch, komm mit mir… ich bin nicht mehr allein…

E. Janstein: Gebete um Wirklichkeit. Wien und Leipzig: Strache, 1919, S. 104.

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Georg Trakl Seine Augen standen ganz fern – Er war als Knabe einmal schon im Himmel. Darum kamen seine Worte hervor Auf blauen und weißen Wolken. Wir stritten über Religion; Aber immer wie zwei Spielgefährte; Und bereiteten Gott von Mund zu Mund; Im Aufgang war das Wort! Des Dichters Herz, eine feste Burg. Seine Gedichte, singende Thesen. Er war wohl Martin Luther. Seine dreifaltige Seele trug er in der Hand, Als er in den »heiligen Krieg« zog. Dann wußte ich, er war gestorben – Sein Schatten weilte unbegreiflich Auf dem Abend meines Zimmers.

Zeit-Echo 1 (1915/1916), S. 35. E. Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Norbert Oellers u. a. Bd. 1.1: Gedichte. Bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki u. a. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag, 1996, S. 242. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 323

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Georg Trakl

Georg Trakl erlag im Krieg von eigener Hand gefällt. So einsam war es in der Welt. Ich hatt ihn lieb.

E. Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Norbert Oellers u. a. Bd. 1.1: Gedichte. Bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki u. a. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag, 1996, S. 198.

VAN HODDIS, JAKOB (1887–1942)

Johannes R. Becher (1891–1958)

An Van Hoddis

Mein ärmster Bruder Du im schlechtesten Staub versunken. Dein Röcheln tönt durch unsere Enzian=Nächte fort. Wie oft Du hast um Hilfe wohl uns aufgewunken. : Wir alle übend an Dir Mord!

Wir alle! Ärmster Bruder. Doch wir büßen In Zellen Wirrwarr. Unter Eiter=Stroh. Ast=Arme sprengen flackernd aus Verliesen. Zerfetzte Karawanen heulen wo.

J. R. Becher: Ausgewählte Gedichte 1911–1918. Berlin: Aufbau, 1966, S. 510.

WASSERMANN, ARMIN (1887–1915)

Wilhelm Simon Ghuttmann (1890–1912)

An Armin Wassermann

Flöte Du, die in den Sommernächten tönte, und von keiner Hand berührt. doch die Töne klirrten schrill gleich Bränden, die zerbrochen stürzten; wehe, Steine, Edelsteine aus gekrampften Händen.

Die Aktion 1 (1911), Sp. 626. Wieder in: Texte des Expressionismus. Der Beitrag jüdischer Autoren zur österreichischen Avant- garde. Hrsg. v. Armin A. Wallas. Wien 1988, S. 113. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 324

WALDEN, HERWARTH (1878–1941)

Kurt Heinar (Lebensdaten nicht ermittelt)

Herwarth Walden

Du bist im Schreiten ungeahnter Tage Du bist im Wollen ungewisser Nächte Im Blut bist du und im Gestein Du bist im Licht Und ein Leuchten

Sternher blüht dir ein buntes Vogellied Kniet verklungen im Strahlentraum deiner Augen Erklingt Erglüht im Herzrot deines heimlichen Waldsees

Dein Leid überströmt die Erde Strömt über die Erde In die Welt tönt dein Wort Von deinen Händen leise umschmeichelt

Der Sturm 19 (1928/29), Sp. 282.

Ingeborg Lacour-Torrup (Lebensdaten nicht ermittelt)

Zum Nachgesang von Herwarth Walden

Lallen Laute Klage suchten Flattern Schwermut schwanken tropfen Wehen weiche müde Singsang Wiegen Wehmut falle Schauer

Taumeln Töne Taumeln taumeln

Strömen wehweichwilde Tiefen Schwillen stöhnen drohe Meere Windwogweite rauschen rollen Branden dröhnen dumpfen grollen Brollen brausen nahen näher Näher näher Meere Meere Schluchzen wildwogwuchte Meere Meere Meere Giert die Klage Tost die welt um wilde Klage

Der Sturm 14 (1923), Sp. 82–83. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 325

Kurt Schwitters (1887–1948)

Herwarth Walden

Sonne Du! Dein Atem eine Torheit Jappen, Jappen letzen Fratzen Katzen tatzen Sonne Du! Dein Atem Wärme Torheit, Torheit Dein Atem eine Lust Sonne Du! Gestirneräder kreischen Torheit Lust. (Ganz junge Räder ausgeschlossen)

K. Schwitters: Das literarische Werk. Hrsg. v. Friedhelm Lach. Bd. 1: Lyrik. Köln: DuMont, 1973.

Kurt Schwitters (1887–1948)

Porträt Herwarth Walden

Gleiten Stillschaft Bahnen bahnen. Die Zigarette Lippen Gold. Der Stiel der Zigarette drahtet Stiel. Ein Thee die Hand, und Noten bären Bahnen, Bahnen. Und kreisen Bahnen, Hand die Hände weich den Rädern. Kreis Stillschaft Bahnen kreisen Hand. Sonore Bahnen bahnen. Weich Zigarette weichen Haare Ziel. Den Ziel, den Ziel. Und Bahnen, Bahnen, Bahnen. Die Seide seidet Watte Hand die Hand.

K. Schwitters: Das literarische Werk. Hrsg. v. Friedhelm Lach. Bd. 1: Lyrik. Köln: DuMont, 1973.

WERFEL, FRANZ (1890–1945)

Ernst Angel (1894–1986)

Rebellion. Eine Werfel-Antithese

Verfällt in Zunder der versengte Mut, Dann werbe Ta t e n lang verhalt’ner Schrei: Gefühle schlägt gemach ein Hohn entzwei, Erinnerungen rädert wache Wut. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 326

Die S e e l e hat uns lang genug genarrt: Wir brechen donnernd von der Liebe los Und stürzen hingegeben und doch hart Dem Chaos der Vergeltung in den Schoß. Landsknechte ohne Löhnung, stets bereit, An faulende Paläste Brand zu legen: U n s schreit der S t r e i t sein blutiges »Ihr seid!« Und u n s r e Liebe dröhnt in unseren S c h l ä g e n .

Die Aktion 4 (1914), S. 289.

Johannes R. Becher (1891–1958)

An Franz Werfel

In Fernbezirken streuend Abendgoldsüße. Bruder. (… wie kommst du heut so sehr dem Dichter nah…) Als beide sie (Evangelisten) der Pulver Schlamm umfah. Drin explodierten schmetternd Tausendluder. (…Auch jener Freund. Weißt?! Nichtmehr hymnisch da…) Da schmolzen ineinander die Akkorde. O Saum von Lämmern, der im Hange blökt! Nun wieder weit er. Über Meeren fort. Dem anderen Stätte nicht den Leib zu legen… Der Fahnen Schwall schon deine Stirn umdrängt. Jetzt überbraust von Lehm. In Knochen Mörtel fegt. Dein Mund – o Pforte des Triumphs – verstopft Nichtmehr Kloaken Schleim… Gepanzert nicht mehr Fort deiner Brust. Neig näher Hüften, daß sich Ärmste lehnen. Matratzen füll mit Purpurlocken Flaum! Genuß Balsam von der Lippen Saum! Fanfaren Stoß spreng brüllend weit aus denen! Wir –: unsere Gesänge schmetternde Prologe. (… und jeder Satz ein funkelndes Programm…) Ein Zauberfeuer unser Buch. Es platzt. Scharlachene Engelsflügel angebogen. Ihr –: Karussele bunt. Ein süßer Schatz. Und heimlich in ein Mädchenbett verkrochen. Wir trommeln wirbelnd in dem Parlament. An jedem Tisch von allen nachgesprochen. Der Flatternmantel, den das Kind gleich kennt. (… daß wir uns träften unterm Firmament: Europatag käm über uns gebrochen…)

J. R. Becher: An Europa. Neue Gedichte. Leipzig: Wolff, 1916, S. 16–17. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 327

Charles Fliess (Lebensdaten nicht ermittelt)

Franz Werfel (Prag) (Zu seiner Vorlesung am 25. November 1913 in Heidelberg)

Zur Zeit, da viel Betrieb und Trubel Zog zur Entweihung des Gedichts, Gab uns dein weltdurchtränter Jubel Verheißung eines neuen Lichts.

Nicht schlugst du an verzehrend Flammen, Schriebst selig »Weltfreund« und »Wir sind«. Im Liede fühltest du zusammen, Was lebend auseinanderrinnt.

Es war in deinem Anbeginnen Die blaue Glut der Jünglingskraft. Von Liebe, Gott und Sängerinnen Singst du verzückt und wunderhaft.

Die Aktion 4 (1914), Sp. 38–39.

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Franz Werfel

Ein entzückender Schuljunge ist er; Lauter Lehrer spuken in seinem Lockenkopf.

Sein Name ist so mutwillig: Franz Werfel. Immer schreib ich ihm Briefe, Die er mit Klecksen beantwortet. Aber wir lieben ihn alle Seines zarten, zärtlichen Herzens wegen.

Sein Herz hat Echo, Pocht verwundert.

Und fromm werden seine Lippen Im Gedicht.

Manches trägt einen staubigen Turban. Er ist der Enkel seiner eigenen Verse.

Doch auf seiner Lippe Ist eine Nachtigall gemalt. Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 328

Mein Garten singt, Wenn er ihn verlässt.

Freude streut seine Stimme Über den Weg.

E. Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Norbert Oellers u. a. Bd. 1.1: Gedichte. Bearb. v. Karl Jürgen Skrodzki u. a. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag, 1996, S. 199.

Mynona (d. i. Salomo Friedländer) (1871–1946)

Wer ist das? Liebevoll sind seine Backen!..

Wer ist das? Liebevoll sind seine Backen! Benutzt sie teils zum Dichten, teils zum Kauen, Schön seine Augen (ach, die seelenblauen!) Schön auch sein Hinterteil (rund, ohne Zacken).

In keuscher Demut beugt er seinen Nacken; Das kleinste Läuschen noch als Bruder krauen Möcht’ er und Gott nur schaun, ja schauen! Mit Engeln hält er Zwiesprach, und ihn packen

Ekstasen; Liebeshymnen haucht er hin. Mit heil’ger Lende liebt er edle Damen. Wer ist der Dichter, den Euripides,

Lebt’ er, hätt’ übersetzt, gemäß dem Sinn, Geschickt, mit schief anstilisiertem Namen: Werfel gleich (=) Parallelepipides.

Mynona (S. Friedländer): Hundert Bonbons, Sonette. München: Müller, 1918, S. 81.

Alfred Wolfenstein (1888–1945)

An einen Dichter unserer Zeit

Ich stäke auch sehr gern voll Wunsch, verwandt zu sein, Verleibte auch die andern Herzen meinem ein, Ich ließe mich berühren und ergreifen, Ich ginge auch sehr gerne Arm in Armen, nicht allein.

Wie aber kann ich es? Umstreift nicht jeder Blick Rapierend meinen Spitz, auf Kälte stolz und Trick, Und härtet sich mir selbst, dem Menschentollen, Nicht, wenn ich Andrer denke, bergig das Genick!! Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 329

Und gäb es also Kampf −! Aber auch das, auch das Ist noch gefälscht, einander fühlt auch nicht der Haß! Die Menschen bleiben draußen mit den Tieren. Wie harte Kähne Wellen schneiden wir die Welt, kaum naß. Wenn manchmal ich den Finger einer guten Hand Zu greifen schien, gegriffen schien, mir weich entwandt, − Gleich konnt ich, was ich hingab, nicht mehr spüren, Und mich wie vorher füllte nichts als ich bis an den Rand.

Für sich gezogen jeder, Punkt nach stummen Punkt, Läuft dorthinaus − von wo es wie Vereinung prunkt, − Von wo die böse Spitze eines Blickes − Unmenschlich und mit neuer Feindschaft uns entgegenfunkt − −

A. Wolfenstein: Werke. Hrsg. u. bearbeitet v. Hermann Haarmann u. Günter Holtz, Bd. 1: Gedich- te. Mainz 1982, S. 237 (eine Replik auf Franz Werfels Gedicht An den Leser, das 1911 in seiner Sammlung Der Weltfreund erschien. Wolfensteins Gedicht beginnt mit dem berühmt gewordenen Vers von Werfels Gedicht, »mein einziger Wunsch ist, Dir, o Mensch verwandt zu sein!«)

ZECH, PAUL (1881–1946)

Else Lasker-Schüler (1869–1945)

Paul Zech

Sing Grotvatter woar dat verwunschene Bäuerlein Aus Grimm sinne Märchens.

Der Enkelsonn – ist ein Dichter. Paul Zech schreibt mit der Art seine Verse.

Man kann sie in die Hand nehmen So hart sind die.

Sein Vers wird zum Geschick Und zum murrenden Volk.

Er läßt Qualm durch sein Herz dringen: Ein düsterer Beter.

Aber seine Kristallaugen blicken Unzählige Male den Morgen der Welt.

Saturn 3 (1913), H. 4, S. 116.

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 330

2. Verzeichnis der Verfasser [Die Reihenfolge richtet sich nach der alphabetischen der Verfasser-Namen. In Klammern wird, soweit nicht aus dem Titel ersichtlich, der Adressat des jeweiligen Dichtergedichts angegeben.]

Adler, Friedrich Nietzsche Angel, Ernst In memoriam Gustav Landauer Rebellion. Eine Werfel-Antithese Asenijeff, Else An Friedrich Nietzsche Ausleger, Gerhard Tod des blauen Reiters Franz Marc Bachmair, Heinrich Franz In Memoriam Detlev von Liliencron Balcke, Ernst An Hölderlin Du mein Petrarka ... Ball, Hugo Mallarmés Blumen Bäumer, Ludwig Den Gefallenen der Aktion (Hans Leybold, Charles Péguy, Ernst Stadler) Becher, Johannes R. Baudelaire Dreigestirn [an Heinrich von Kleist, Arthur Rimbaud, Charles Baudelaire] K. Th. B. [Karl Theodor Bluth] An Dostojewski Kleist Der Ringende. Kleist-Hymne An Ludwig Meidner Rimbaud Ode der Sappho Auf eine Zeitschrift. René Schickele An Tolstoi Der Entfernte. Georg Trakl An van Hoddis An Franz Werfel An Zola Behl, Carl Friedrich Wilhelm Gustav Landauer Abschied von Detlev von Liliencron Romain Rolland Behrens, Franz Richard Peter Baum. Gefallen am 5. Juni 1916 Goethe Hochrotglühen. 1915 bei Heinrich von Kleist Marc Wilhelm Runge Benn, Gottfried Der junge Hebbel Der Räuber-Schiller Herbst [Stefan George] Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke [Stefan George]

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 331

Bessmertny, Alexander Ein Epigone spricht [Stefan George] Stefan George Dem Meister [Rainer Maria Rilke] Rainer Maria Rilke Beutler, Gustav An Hölderlin. Epilog zum Fest der Uraufführung vom »Tod des Empedokles« Bitterlich, Viktor An Theodor Däubler Blass, Ernst An Stefan Georges fünfzigstem Geburtstag 12. Juli 1918 Blunck, Richard Else Lasker-Schüler Bock, Kurz Die blaue Blume [Novalis] Brantl, Maximilian Tasso Braun, Felix Auf den Tod des Dichters Georg Heym (Ertrunken im Wannsee bei Berlin am 16. Januar 1912) Brodnitz-Froehlich, Käthe Hans Leybold. Nachruf (1915) Csokor, Franz Theodor Grabmal eines Poeten. (Steinbild Baudelaires, Friedhof Montparnasse, Paris) In memoriam Georg Büchner Däubler, Theodor An Byron Hymne an Friedrich Nietzsche Drey, Arthur Else Lasker-Schüler Nietzsche Walt Whitman Edschmid, Kasimir Sapho Ehrenstein, Albert Homer Rimbaud Ernst, Max Antwort der Weltbürger an Kurt Pinthus-Genius Ferl, Walter An Liliencron Fischer, Max Bunte Schlänglein... [E. T. A. Hoffmann] Fliess, Charles Franz Werfel (Prag) (Zu seiner Vorlesung am 25. Novem- ber 1913 in Heidelberg) Franck, Hans Goethe Hebbel Hölderlin Kleist Fuchs, Rudolf Dostojewski schreibt Heines Geist Novalis Gayda, Franz Alfons Dem Dichter Carl Lange in Verehrung Ghuttmann, Wilhelm Simon Erinnerungsspruch an Georg Heym An Armin Wassermann Gillen-Godesberg, Otto Novalis Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 332

Goldstein, Kurt Georg Trakl Grafe, Felix Für Georg Trakl Gross, Fritz Max Hermann-Neisse Arthur Holitscher Erich Mühsam Ernst Toller Grünewald, Alfred Lebender Mensch! (F. P. auf dem Wege zueigen) [Franz Pfemfert] Hardekopf, Ferdinand Gottfried Benn Dadaisten Theodor Fontane Maximilian Harden Gerhart Hauptmann Hugo von Hofmannsthal Alfred Kerr Aus klassischer Zeit [Dichter der deutschen Klassik] Carl Sternheim Frank Wedekind Hasenclever, Walter Herbert Eulenberg Max Klinger Hatvani, Paul Vorlesung Else Lasker-Schüler. Wien am elften März 1912 Havemann, Hans Baudelaire Hegner, Jakob ECCE HOMO, ECCE GENIUS (An Theodor Däubler 1911) Heinar, Kurt Herwarth Walden Herzfelde, Wieland An Senna Hoy I An Senna Hoy II Hermann-Neisse, Max Ich liebe... [Felix Dörmann] Heym, Georg An Hölderlin November [Stefan George] François Villon Heymann, Walther An Heinrich von Kleist. »Gedenken« u. »Der Dichter und die Musen« An Shakespeare Heynicke, Kurt August Stramm Strindberg Nach Strindbergs Ostern Hoffmann, Camill Fedja Michailowitsch [Dostojewski] Huelsenbeck, Richard Capriccio (nach der strammen »Sturm«-Melodie gedichtet) [August Stramm] Hunck, Joseph Verkünder. An Kurt Heynicke Janowitz, Franz Der Schwan. Dem Andenken Andersens. Janstein, Elisabeth An Trakles ›Sebastian im Traum‹ Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 333

Johst, Hans Richard Dehmel Carl Hauptmann Hölderlin Gottfried Keller Jung, Cläre M. Der Auserwählte. Für Georg Heym Kanehl, Oskar Auf die Lasker [Else Lasker-Schüler] Kasack, Hermann Georg Heym Verse für Gerhard Lepsius. Gefallen am 20. Juli 1915 Kerr, Alfred Gedenken [Georg Heym] Klabund Grabbe Nachtgesicht. An Johann Christian Günther Hölderlin Auf einen gefallenen Freund [Hans Leybold] Knoblauch, Adolf Auf Peter Hilles Tod An den Dichter August Stramm Köppen, Edlef Für Gerhard Lepsius († 20. Juli 1915) Kreuzig, Fritz Proteus (nach einem Karl Kraus-Abend) Kronfeld, Arthur Liliencronesk Kulka, Georg Dem Geiste Gustav Landauers Lacour-Torrup, Ingeborg Zum Nachgesang von Herwarth Walden Lask, Berta Zum Tode Gustav Landauers und der anderen Märtyrer Lasker-Schüler, Else Peter Baum Theodor Däubler Richard Dehmel Hans Ehrenbaum-Degele Georg Grosz Alfred Kerr Franz Marc, der blaue Reiter vom Ried... Carl Schleich Ernst Toller Georg Trakl [»Seine Augen standen...«] Georg Trakl [»Georg Trakl erlag...«] Franz Werfel Paul Zech Leinert, A. Rudolf Georg Büchner Lesabendio. In memoriam Paul Scheerbart Leonhard, Rudolf Auf Stadlers Grab Lichnowsky, Mechthilde Fürstin Er und die anderen (ein Aprilscherz statt eines Briefes, 1917) [Karl Kraus] Lichtenstein, Alfred Etwa an einen blassen Neuklassiker [Ernst Blass] Komisches Lied (An Felix Dörrmann) Der Barbier des Hugo von Hofmannsthal Loewenson, Erwin Auf Georg Heym Der Bindfaden (Rainer Maria Rilke gewidmet) Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 334

Lotz, Ernst Wilhelm Dichter (= Platen) An Ernst Stadler Lücken, Iwar von Goethe. An seinem Grabe In Ewigkeit [Friedrich Hölderlin] Mayer, Paul Boccaccio bei der Nachricht vom Tode seines Vaters An Georg Bücner Dantes Tod Einem Publizisten (für Manfred Georg) Maupassant Erinnerung an René Schickele Mehring, Walter Dem Tod Wilhelm Runges Mell, Max Bei Betrachtung eines Briefes von Rainer Maria Rilke Meyer, Alfred Richard Bettina von Arnim, Brief an den Fürsten Hermann Pückler-Muskau, 25. Sept. 1833 Gottfried August Bürgers Tod Der sterbende Conradi Kasimir Edschmid Dem Andenken an Johann Christian Günther Georg Heym gestorben Bismarck und Liliencron Hassgesang gegen Lissauer Arthur Rimbaud In memoriam Ernst Stadler Mühsam, Erich Gustav Landauer. Ermordet am 2. Mai 1919 Der Sturmgeselle Sudermann [Hermann Sudermann] Tolstojs Tod am 20. November 1910 Uhland in Wilmersdorf Frank Wedekind. Gestorben am 9. März 1918 Mynona Fast göttlich ist der schöne Theodor [Th. Däubler] (=Salomo Friedländer) In Deutschland gibt es'nen Ironiker... [Hans Heinz Ewers] Wer ist das? Liebevoll sind seine Backen!... [Franz Werfel] Nadel, Arno Zeichnung von Kokoschka Neumann, Alfred In memoriam Georg Müller Paquita, Paul Der Garten der Erkenntnis. In memoriam Léon Deubel Petry, Walter An Gottfried Benn Pick, Otto Auf den Tod eines jungen Dichters [Georg Trakl] Pinthus, Kurt Widmungen. Zu einem Buch »Franz v. Assisi« v. H. Hesse, an Walter Hasenclever Dehmel (Liegt eine Stadt im Thale) Stefan George Heine Arno Holz Lilienkron (Nach dem Balle: Setz in des Wagens Finster- nis) Klinger [Max Klinger] Alfred Mombert (Der Glühende. Nur Daß ich wachte) Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 335

Piscator, Erwin Kurd Adler getötet! (Juli 1916) Rauscher, Ulrich Hölderlin Reinacher, Eduard Hölderlin in Hauptwyl Rheiner, Walter Beim Lesen Dostojewskijs Am Grab Henri Heine (Paris) An Hölderlin Nietzsche Walt Whitman Rheinhardt, Emil Alphons Porträt des Dichters Paris von Gütersloh Sack, Gustav A la Byron Schickele, René Großstadtvolk [Richard Dehmel] Oskar Loerke zum fünfzigsten Geburtstag Auf einer Postkarte (Aus einem elsässichen Weinort) [Paul Scheerbart] Spuk [Richard Dehmel, Stefan George, Rainer Maria Rilke] Die Stürmer. Dem Andenken an Ernst Stadler Der Dichter spricht (Für Ernst Stadler) Gottfried von Straßburg Schilling, Heinar S. G. [Stefan George] Schuster(-Schönfelds), Erich Dostojewsky Schwabe, Toni Ein Lied vom Tod (an Novalis gegeben) Schwitters, Kurt Porträt Rudolf Blümner An Franz Marc Herwarth Walden Porträt Herwarth Walden Seitz, Robert An Theodor Däubler Des deutschen Dichters Notgesang [Else Lasker-Schüler] Bei Ernst Stadlers Tod Sorge, Reinhard Johannes Goethe Abend Stamm, Karl An Ernst Stadler Dem Dichter. Albert Steffen gewidmet Stieler, Hilde Tolstoi Stolzenburg, Wilhelm Francis Jammes Straub, Karl Willy In memoriam Peter Altenberg Trakl, Georg An Novalis van Hoddis, Jakob Boecklin Grillparzer Am Lietzensee. Meinem Freunde Georg Heym An Homer van Leer, Sophie Für Wilhelm Runge Weber, Carl Maria Der Helfende (Für meinen Freund Kurt Hiller, den Ziel- Verkünder)

Anhang: Dichtergedichte des Expressionismus 336

Werfel, Franz An Max Brod Aus Dantes neuem Leben Einer Chansonette (Th. D.) [Theodor Däubler] An Willy Haas Wolfenstein, Alfred Dostojewski Auf die Spitze. Nachdem »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« gelesen waren [Rainer Maria Rilke] Ein Dichter: Rainer Maria Rilke Romain Rolland An einen Dichter unserer Zeit [Franz Werfel] Worbs, Erich Hölderlin Worm, Fried-Hardy An Erich Mühsam Zech, Paul Goethe Hölderlin An Heinrich von Kleist Der Heldentod des Dichters. Dem Andenken Ernst Stadlers Hörst du mich, wenn meine Seele schreit? In memoriam Emile Verhaeren Zimmer, Fritz Alfred Friedrich Hölderlin Zollikofer, Fred von An Ludwig Meidner Zorn, Franz Das Wandern ist des Müllers Lust [Wilhelm Müller]