Dichtergedichte Als Gründungsdokumente Der Expressionistischen Avantgarde
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Dichtergedichte als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philologischen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i. Br. Vorgelegt Von Jae Sang Kim aus Seoul, Südkorea WS 2006/2007 Datum der Fachprüfung im Promotionsfach: 14. Juni 2007 Erstgutachter: Prof. Dr. Achim Aurnhammer Zweitgutachter: Prof. Dr. Dieter Martin Das Deutsche Literaturarchiv Marbach ermöglichte 1996 mir mit einem Marbach- Stipendium den dreimonatigen Forschungsaufenthalt in Marbacher Archiv. Dafür bedanke ich mich ganz herzlich. Inhalt I. Einleitung .................................................................................... 6 II. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club ..................... 8 1. Nietzsches Spätphilosophie – Der Wille zur Macht und »décadence«-Kritik .. 11 1.1 Nietzsches Lehre des Willens zur Macht – die ontologische Begründung des neuen Daseinsprinzips ...................................... 11 1.2 Analyse des Nihilismus – »décadence« als die Logik des Nihilismus ... 15 1.3 Überwindung des Nihilismus und die »Physiologie der Kunst« – Kunst als das normative Modell des Willens zur Macht ................... 19 2. Nietzsche-Rezeption im Expressionismus – am Beispiel des Neuen Clubs .... 24 III. »Dichtergedichte« als Gründungsdokumente der expressionistischen Avantgarde – Verehrung und Überwindung der Dichtervorbilder in expressionistischen »Dichtergedichten« ........................................................................ 38 1. Zum Terminus des »Dichtergedichts« ............................................... 38 1.1 Definitions- und Typisierungsversuch ....................................... 38 1.2 Abgrenzung des Begriffs »Dichtergedichte« von benachbarten Begriffen und sein Auswahlprinzip ........................................... 40 1.3 Dichtergedicht als Parodie – Drei Formen der Parodie: »Einzeltext-«, »Textklassen-« und »Personenparodie« ...................................... 44 2. Die Verehrung der Dichtervorbilder in Dichtergedichten – Selbststilisierung und Gruppenkohäsion ............................................ 46 2.1 Hebbel-Verehrung: Gottfried Benn, Der junge Hebbel (1913) ........... 46 2.2 Frühexpressionistische Dichtergedichte auf Heinrich von Kleist ......... 59 2.2.1 Paul Zech, An Heinrich von Kleist (1911) ............................ 59 2.2.2 Johannes R. Becher, Der Ringende (1911) und Kleist (1912/13) .. 69 2.3 Kleist-Verehrung im Spätexpressionismus – Hans Franck, Kleist (1919) 88 Inhalt 5 3. Die Dichtergedichte als parodistische Überwindung der Vorbilder ............. 94 3.1 Kurt Pinthus’ Parodien auf die »Dichterväter« der klassischen Moderne . 94 3.1.1 Parodien auf Detlev von Liliencron, Alfred Mombert und Richard Dehmel – Biographische Deutung der »Dichterväter« 99 3.1.2 Personenparodie auf Stefan George – Parodie auf die ästhetizistische Dichterschule des fin de siècle . 114 3.2 Destruktive Überwindung der »Dichterväter« im Zeichen des »Übervaters« Nietzsche − Gottfried Benns parodistisches Dichtergedicht auf Stefan George, Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke (1912) 119 3.3 Die parodistische Überwindung des Wiener Ästhetizismus − Alfred Lichtensteins Parodie auf Felix Dörmann (Komisches Lied, 1911) ....... 138 IV. Schlussbemerkung ...................................................................... 149 V. Literaturverzeichnis ..................................................................... 152 1. Primärtexte ............................................................................ 152 2. Sekundärliteratur ..................................................................... 153 VI. Anhang ................................................................................... 158 1. Dichtergedichte des Expressionismus ............................................. 158 1.1 Ahnen ........................................................................... 158 1.2 Väter ............................................................................ 219 1.3 Brüder und Schwestern ....................................................... 255 2. Verzeichnis der Verfasser ........................................................... 330 I. Einleitung Als der Expressionismus sich zu formieren begann, also kurz nach der Jahrhundert- wende, bildete sich in Deutschland eine bemerkenswerte Konstellation des literarischen Feldes. Die Jahrhundertwende zeichnet sich durch ein Nebeneinander verschiedener avantgardistischer Gruppierungen aus. Die Vielfalt literarischer Strömungen reicht von einem weltabgewandten Ästhetizismus bis zu einem gegenwartsverhafteten Realismus. Der Expressionismus orientierte sich an den diversen avantgardistischen Bewegungen, nahm er doch zugleich als ihr Erbe auch ihre Varietäten auf: er ist keine homogene künstlerische Bewegung, seine zahlreichen Manifeste und Programme zeugen nicht von einem einheitlichen Programm oder verbindlichen Grundsatzerklärungen, sondern viel- mehr von einer Divergenz theoretischer, programmatischer und ästhetischer Ansätze. Es fällt daher nicht leicht, ein geschlossenes Bild des Expressionismus zu entwerfen und ihn von den vorausgegangenen Avantgarden abzugrenzen. Man sollte die Einheitlich- keit des Expressionismus weniger stilgeschichtlich als geistesgeschichtlich begründen. Die Sozialstruktur und Altersstruktur der expressionistischen Gruppierungen zeigt, dass der Expressionismus im Kern von einer jungen Generation getragen wurde: Fast alle Autoren sind in einem engen Zeitraum von 11 Jahren, nämlich von 1885 bis 1896, geboren und akademisch gebildet. Außerdem entstammen sie zumeist dem gehobenen bürgerlichen Milieu.1 Diese biographischen Gemeinsamkeiten begründen eine Generationszugehörigkeit, die sich in einer kollektiven Gruppierung von Individualitäten und Gesinnungen nieder- schlägt. Ihre Identität liegt also im Zusammenhalt von Gruppen begründet.2 In dieser Hinsicht entspricht der Expressionismus einer ›Kohorte‹, also einem Aggregat von In- dividuen, die in einem Zeitintervall geboren sind, innerhalb gleicher Altersintervalle gleiche gesellschaftliche Ereignisse erlebt haben und über ähnliche verhaltens- beeinflussende Erfahrungen verfügen. Somit ist er als eine mentalitätsgeschichtliche Neuorientierung zu charakterisieren. Solche Bemühungen zur Neuorientierung sind her- vorgegangen aus krisenhaften Erfahrungen, die die Expressionisten um die Jahrhundert- wende gemacht haben: Sie zehrten vom traditionellen Erbe des 19. Jahrhunderts einer- seits, sie erlebten und durchlitten aber zugleich intensiv die einschneidenden Veränderungen des frühen 20. Jahrhunderts wie Industrialisierung, die technische Ent- wicklung, das anonyme Großstadtleben und die Massenarmut andererseits. 1 Vgl. Walter Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890–1933, Stuttgart u. Weimar 1998, S. 128f. 2 Vgl. Hans Esselborn, Der literarische Expressionismus als Schritt zur Moderne, in: Die literarische Moderne in Europa. Bd. I: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende, hg. v. Hans Joachim Piechotta, Ralph-Rainer Wuthenow und Sabine Rothemann. Opladen 1994, S. 416f. Einleitung 7 Umstritten in der Expressionismus-Forschung ist, welches dichterische Selbstver- ständnis die expressionistischen Gruppenbildungen fundiert und wie es im Lauf der ex- pressionistischen Phase kodifiziert und verteidigt wird. Die Herausbildung des literari- schen Selbstbewusstseins der expressionistischen Generation, die unter dem Einfluss des kulturellen Erbes des 19. Jahrhunderts heranwuchs, setzt die Bewältigung dessen voraus, was vor dem Expressionismus als literarische Tradition oder etablierte literari- sche Autoritäten galt. Solche Auseinandersetzungen der Expressionisten mit der Tradi- tion finden intensiv vorzugsweise in Dichtergedichten statt, deren Untersuchung sich meine Arbeit zum Ziel setzt. Es ist bemerkenswert, dass in diesen Gedichten Autoren verschiedener ästhetischer Schulen zum Gegenstand werden und dass sie während des expressionistischen Jahrzehnts3 in großer Zahl publiziert wurden. Darin spiegelt sich das geistige Ringen der jungen Expressionisten wider, nach ihrer Identität als Dichter zu suchen. 3 Bezüglich der literarhistorischen Periodisierung des Expressionismus ist die resolute zeitliche Ein- grenzung auf das »expressionistische Jahrzehnt« (1910–1920) freilich nicht unumstritten, von dem bereits Gottfried Benn in der Einleitung zu der Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955) gesprochen hat. In meiner Arbeit sollen daher auch die Quellenmaterialien der zwanziger Jah- re berücksichtigt werden, die noch deutlich vom Expressionismus geprägt sind. II. Nietzsches Spätphilosophie und ihre Rezeption im Neuen Club Wir um 70 geborenen stehen Nietzsche zu nahe […]. Unser Nietzsche ist der Nietzsche militans. Und Nietzsche triumphans gehört den 15 Jahre nach uns Geborenen – Thomas Mann.4 Die Jahrhundertwende war eine Epoche des Umbruchs und des Aufbruchs. Nietzsche, der mit seiner Gott-ist-tot-Philosophie den Nerv der geschichtlichen Situation der Mo- derne traf, markierte einen kulturellen Neuanfang. Denn er deckte den für die moderne Welt symptomatischen Verlust aller metaphysischen Inhalte auf und zeigte zugleich die Möglichkeiten auf, diesen Sinnverlust zu überwinden. Die Breitenwirkung Nietzsches um die Jahrhundertwende verdankt sich aber weniger seiner philosophischen Lehre als dem besonderen Umstand, dass er für manche Intellektuellen der klassischen Moderne die eigene Befindlichkeit verkörperte. Nach Auflösung aller dogmatischen und morali-