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Storms in Nature 13

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Renward Cysat, zur Zeit des Erdbebens 1) Sturm trotz Flaute: Tsunamis Stadtschreiber von Luzern, schildert die Vorkommnisse im Detail 2): »In der auf dem Vierwaldstättersee Gegend zwischen Küssnacht und trieben Schiffe, Holzbalken, Schilfrohr Michael Schnellmann* und andere Gegenstände nicht nur frei im See herum, sondern lagen auch heraus- Storm in face of the calm: Tsunamis on Lake geworfen an Land, bis 50 Schritte [etwa Abstract: Storms on lakes are generally associated with wind. The severest storm 40 Meter] weg vom ordentlichen Ufer observed on the Swiss , however, took place during calm and clear und bis zu 2 Hellebarden [drei bis vier weather in the year 1601. During a magnitude 6.2 earthquake wave heights up to four Meter] über dem normalen Seespiegel metres were witnessed. High-resolution reflection-seismic imaging and coring of the (...). Als man mir zeigte, wie weit der See lake’s sediments revealed more than 15 coeval slide deposits associated to the earth- das Wasser in der Gegend zwischen quake. The largest slide affected an area of more than six square kilometres and left und aufs Land hinter a distinct scar on the subaqueous slope. Numerical modelling suggests water sich geworfen hatte, bin ich wahrlich displacements due to sliding as a wave-generating mechanism. Prehistoric slide erschrocken, denn es handelte sich um horizons deeper in the lake’s subsurface indicate that the events described were 1000 Schritt (...) [etwa 800 Meter] (...). preceded by earthquakes and tsunamis similar to those in 1601. Die Leute, die am Ufer des Sees wohnen Keywords: Earthquake, Lake Lucerne, subaqueous mass movements, tsunami bezeugten, daß die Mitte des Sees hoch angehoben worden sei, gleich einem Berg von Wasser (...).«[3] Der Seespiegel in Luzern begann mit 1. Das Erdbeben vom 18. September 1601 Zentralschweiz. Das Beben richtete in einer Periode von zehn Minuten zu Am 18. September 1601 erschütterte großen Teilen der Schweiz Schäden an schwanken, so daß die abwech- ein Erdbeben mit einer geschätzten und wurde von Köln bis Parma wahrge- selnd aus dem See hinaus und kurze Zeit Magnitude von 6.2 (Richterskala) die nommen [1-3]. Bei den Bewohnern der Vierwaldstätterseeregion lösten zeitgleich * Postadresse: Dipl.-Erdw. Michael Schnellmann beobachtete massive Wasserbewegungen Geologisches Institut, ETH 1) Tsunamis sind langperiodische Wellen, deren Sonneggstr. 5 im See mehr Angst und Schrecken aus als Auslöser tektonische Prozesse wie Erdbeben, CH-8092 Zürich das eigentliche Erdbeben, denn trotz Rutschungen oder Vulkanismus sind. E-Mail: [email protected] schönen und windstillen Wetters tobte auf 2) Das Zitat wurde vom Autor aus dem Mittel- dem See ein heftiger Sturm. hochdeutschen übersetzt. Storms in Nature 14 GAIA 12 (2003) no. 4

Figur 1. geschickt wird. Die restliche Energie Ausschnitt aus der dringt ins weiche Seesediment ein und Luzerner Stadtansicht wird von verschiedenen Schichtgrenzen von Martinus Martini aus dem Jahre 1597 reflektiert. Durch Aufzeichnung der Die Mühlen, die damals in reflektierten Signale kann die Struktur der Reuss betrieben wurden der Sedimente im Seeuntergrund abge- (im Zentrum des Bildes) bildet werden. standen im Anschluß an das Erdbeben von 1601 Die Rutschung von ist drei bis aufgrund der Oszillation vier Kilometer breit und vom Anriß bis des Seespiegels zum Fuß der Ablagerung etwa zweiein- zeitweise trocken. halb Kilometer lang (Figur 4A). Das abgerutschte Material lagerte sich in Form eines Fächers im 150 Meter tiefen zentralen Beckenteil ab. An ungestörten Abhängen liegen bis zu sieben Meter mächtige geschichtete See- sedimente auf einem Untergrund, den später wieder zurückfloß 2): »Dazwischen können, daß auf dem See ein Sturm von seismische Signale nicht durchdringen soll sich das Wasser zwischen den beiden der beschriebenen Intensität entstehen können (Figur 4B). In der abgerutschten Stadtteilen sogar verloren haben, so daß kann, wurde eine der größten Rutschun- Zone fehlt dieses geschichtete Sediment- man fast trockenen Fußes durch den Fluß gen von 1601, die sich südlich von Weg- paket fast vollständig (Figur 4C). Die von den Mühlen zum Büchsenhaus gehen gis ereignete, numerisch modelliert. Abrißkante befindet sich typischerweise konnte (...). Auch die Mühlen müssen still in Zonen, in denen die Hangneigung gestanden sein.«[3] (Figur 1) Die Oszilla- 3. Die Rutschung von Weggis zunimmt. tion des Seespiegels dauerte mehrere Als Basis für die numerische Simula- Die Ablagerungen im zentralen, Tage mit langsam abnehmender Ampli- tion bedurfte es genauer Angaben über flachen Teil des Beckens bestehen aus tude. den Rutschungsprozeß (abgerutschtes ungestörten, geschichteten Seesedimen- Volumen, Ursprung und Transportweg, ten sowie aus strukturlosen, chaotischen 2. Spuren des Erdbebens am Grund des Transportgeschwindigkeit). Mit Hilfe Rutschungsablagerungen (Figur 4D). Vierwaldstättersees eines dichten Netzes von seismischen Der größte, keilförmige Rutschkörper, Aus Ozeanen ist bekannt, daß große Profilen wurde zunächst die Abrißkante der in Figur 4D mit roten Linien mar- Rutschungen durch Wasserverdrängung sowie das Erosions-/Ablagerungsgebiet kiert ist, geht auf das Erdbeben von 1601 Tsunamiwellen auslösen können, die der Rutschung kartiert (Figur 4A). Das zurück. Am nördlichen Rand des Bek- selbst weit entfernte Küstenabschnitte dazu verwendete reflektions-seismische kens wurden ältere Beckensedimente bedrohen [4]. Subaquatische Rutschungen Meßsystem funktioniert ähnlich wie ein durch die Rutschung gestört. Unter ereignen sich aber auch in den Alpenrand- Echolot, mit dem Unterschied, daß nur Annahme einer konstanten Dicke der seen, und in der Tat wurden Rutschungs- ein Teil der Energie des akustischen Aus- älteren, geschichteten Ablagerungen läßt ablagerungen bei Weggis [5, 6], Beckenried gangssignals vom Seegrund reflektiert sich der ursprüngliche Verlauf des [5] sowie im Urnersee [7] mit den Ereignis- und wieder an die Oberfläche zurück- Seebodens trotzdem gut abschätzen sen von 1601 in Verbindung gebracht. Eine neuere, detaillierte Untersuchung zeigt, daß das Erdbeben allein in den vorderen Seebecken des Vierwaldstättersees (Chrüz- trichter, Vitznauer Becken, Küssnachter Becken) über 15 Rutschungsablagerungen am Seegrund hinterlassen hat (Figuren 2 und 3) [8]. Es wurden also zahlreiche, synchrone Rutschungen ausgelöst, die lawinenartig in die Seebecken glitten. Um zu über- prüfen, ob Rutschungen von der Größe, wie sie im Vierwaldstättersee beobachtet wurden, so viel Wasser verdrängen

Figur 2. Vierwaldstättersee. Die Untersuchungen, die in diesem Artikel vorgestellt werden, konzentrieren sich auf die vorderen See- becken (Chrüztrichter, Vitznauer Becken, Küssnachter Becken). Storms in Nature 15

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Figur 3. Rutschungshorizont von 1601. Die Korrelation zwischen den Rutschungs- ablagerungen basiert auf einem dichten Netzwerk von seismischen Profilen. Rote Pfeile geben die Bewegungsrichtung der Rutschungen an. Die farbigen Flächen zeigen die Mächtigkeit der Rutschungsab- lagerungen bzw. der durch die Rutschun- gen beeinträchtigten Sedimente an (gelb: <5 m, orange: 5–10 m, rot: >10 m).

jedes Gitterelement bestimmt (Figur 6). Die Bewegungsrichtung der Rutschung wurde als konstant angenommen, die Geschwindigkeit anhand der Länge der Rutschung und des Neigungswinkels des (gestrichelte rote Linie in Figur 4D). Für schen Linien lassen sich analoge Verän- Rutschhanges im Anrißbereich auf die Modellierung der rutschungsindu- derungen des Seebodens für das ganze 25 Meter pro Sekunde geschätzt [4]. Das zierten Welle ist die Veränderung des von der Rutschung betroffene Gebiet Modell geht davon aus, daß die Rut- Seebodens während der Rutschung ent- bestimmen. schung als Block losbricht, danach sofort scheidend, da die Verschiebung des See- auseinanderfällt und sich schließlich in bodens das darüberliegende Wasser ver- 4. Modellierung der Tsunamiwelle Form eines Keils ablagert. drängt und dadurch eine Welle auslöst Zur Modellierung der rutschungsindu- Dieses Rutschungsmodell und die Tie- (Figur 5). Im Ablagerungsbereich liegt zierten Tsunamiwelle wurde ein virtuel- fenkarte des Sees bilden die Eingangs- der Seeboden nach der Rutschung höher les Gitter mit 400 Metern Kantenlänge größen für die Modellrechnungen. Mit als vor der Rutschung, im Erosionsbe- über das Rutschungsgebiet gelegt und die Hilfe der klassischen linearen Wellen- reich hingegen tiefer. Durch Interpola- aus der Rutschung resultierende verti- theorie können nun die durch die Rut- tion zwischen verschiedenen seismi- kale Verschiebung des Seebodens für schung ausgelöste Wasserverdrängung

Figur 4. Die Rutschung von Weggis. A: Übersicht. B: Ungestörter unterseeischer Abhang. C: Erodierter unterseeischer Abhang. D: Zentraler Teil des Vitznauer Beckens. Rot markiert die Rutschung vom 18. September 1601. Der blau gekennzeichnete Rutschkörper wurde auf 2420 Jahre BP (Jahre vor heute) datiert, der grüne auf 3240 Jahre BP. Die Oberfläche der Rutschungsablagerung von 1601 (durchgehende rote Linie) entspricht dem Seeboden unmittelbar nach der Rutschung. Die gestrichelte Linie zeigt den vermuteten Verlauf des See bodens vor der Rutschung. Durch die Rutschung wurden ältere, vormals geschichtete, Sedimente erodiert beziehungsweise gestört. Die Untergrenze dieser Umarbeitung ist mit einer gepunkteten Linie markiert. Storms in Nature 16 GAIA 12 (2003) no. 4 und die Höhe der resultierenden Wellen Figur 6. bestimmt werden [9]. Anhand des Mo- Mächtigkeit des durch die Rutschung von Weggis abge- dells vorausgesagte Wellen sind in Figur rutschten bzw. abgelagerten 7A–D dargestellt. Demgemäß liegt der Materials, wie aus den seismi- Wasserspiegel im Zentrum des Beckens schen Profilen bestimmt. Diese 30 Sekunden nach dem Auslösen der Daten dienten als Eingangs- Rutschung etwa drei Meter über dem größen für die numerische Modellierung der durch die Normalwert, während er nördlich davon Rutschung induzierten Welle. um bis zu sechs Meter tiefer liegt. Die rutschungsinduzierten Wellen charakte- risieren sich durch Wellenlängen von mehr als einem Kilometer und unter- scheiden sich dadurch klar von wind- induzierten Wellen. So könnten mögli- cherweise die »Berge von Wasser« aus- Wellenauflaufhöhe für die meisten Gewässern direkt und ohne Rutschungs- gesehen haben, die Augenzeugen 1601 Beckengeometrien allerdings kein Pro- einwirkung die Eigenfrequenz stimulieren im Zusammenhang mit dem Erdbeben in blem darstellt, da die ersten Wellen in und Wasserspiegelschwankungen hervor- den Zentren der Becken mit Erschrecken der Regel die höchsten sind. rufen [11]. So wurden zum Beispiel wäh- beobachtet hatten. Nach einer Minute rend des großen Erdbebens von Lissabon erreicht eine drei bis vier Meter hohe 5. Resonanz-Effekte im Jahre 1755 Oszillationen in verschie- Welle den Fuß des Bürgenstocks, eine Die numerische Simulation der Rut- denen Schweizer Seen beobachtet [12], wie weitere Minute später treffen die Wellen schung von Weggis erlaubt eine Vorstel- auch während des großen Bebens von in und Kehrsiten ein. Die lung über Höhe und Art der Wellenbewe- Alaska im Jahre 1964 in Gewässern im Reflektion der Wellen vom Ufer ist im gungen, die durch subaquatische Süden der USA [13]. Es ist jedoch unwahr- vorgestellten Modell nicht eingerechnet, Rutschungen im Vierwaldstättersee aus- scheinlich, daß das im Vergleich dazu viel was bei der Bestimmung der maximalen gelöst werden können. Neben der Rut- schwächere Erdbeben von 1601 direkt und schung von Weggis und zahlreichen nur durch die seismischen Erschütterun- anderen Rutschungen in verschiedenen gen die starken periodischen Seespiegel- Seebecken (Figur 3) ereignete sich als schwankungen im Vierwaldstättersee aus- Folge des Erdbebens von 1601 auch ein gelöst hat. Hier dürfte die Eigenfrequenz Bergsturz, der am Bürgenstock ausgelöst der Seebecken vor allem durch die Rut- wurde, östlich von Kehrsiten den See schungen und die damit verbundenen Wel- erreichte und ebenfalls eine Flutwelle aus- len angeregt worden sein. löste [3]. Vergegenwärtigt man sich die Summe der aus all diesen Massenbewe- 6. Prähistorische Ereignisse t0 gungen resultierenden Wellen, so kann Das Erdbeben von 1601 hinterließ am man sich vorstellen, wie stürmisch es auf Seegrund zahlreiche synchrone Rut- dem See gleich nach dem Erdbeben zuge- schungsablagerungen (Figur 3). Tiefer im gangen sein muß. Die Reflektionen der Seesediment, in Ablagerungen, die aus Tsunamiwellen am Ufer dürften schließ- den letzten 15000 Jahren stammen, wur- lich die Eigenfrequenz der verschiedenen den vier ähnliche Horizonte mit synchro- Seebecken angeregt haben, wodurch es zu nen Rutschungsablagerungen identifi- einem regelmäßigen Hin- und Her- ziert, datiert [8] und als Relikte starker schwappen des Wassers und damit ver- prähistorischer Erdbeben interpretiert [8]. bundenen Seespiegelschwankungen kam. Figur 8A zeigt einen solchen prähistori- t1 Die Frequenz solcher Resonanzbewegun- schen multiplen Rutschungshorizont, der gen hängt weniger vom Auslösemecha- auf 2420 Jahre BP (Jahre vor heute) nismus als von der Geometrie der Seebek- datiert wurde. Ein Rutschkörper, der ken ab. Ähnliche Wasserbewegungen mit diesem Ereignis zugeordnet wird, ist im bedeutend kleineren Amplituden können seismischen Profil in Figur 4D mit blau- durch Wind- und Luftdruckunterschiede en Linien markiert. Gemäß der numeri- ausgelöst werden. Systematische Messun- schen Simulation einer großen Rut- gen von wetterbedingten periodischen See- schung, die während dieses prähisto- spiegelschwankungen in Luzern ergaben rischen Bebens westlich von Kehrsiten

t2 neben zwei längeren Perioden von 44 und abglitt, liefen am gegenüberliegenden 24 Minuten eine charakteristische Periode Ufer in Kastanienbaum Wellen von bis zu von zehn Minuten [10]. Dies deutet darauf drei Metern Höhe auf [8]. Figur 5. Schematische Darstellung des Rutschungs- hin, daß die im Anschluß an das Erdbeben ablaufs und der Wellenbildung. Im Anriß von 1601 alle fünf Minuten wechselnde bereich sackt der Seeboden durch die Rut- Fließrichtung der Reuss tatsächlich auf ein schung ab, was auch zum Absenken des resonanzbedingtes Hin- und Herschwap- 3) Wasserspiegels führt. An der Front der pen des Sees zurückzuführen ist. Sehr Hin und Herschwappen des Wassers in einem Rutschung wird Wasser verdrängt, das See oder einer Bucht. Die charakteristischen Peri- nach oben ausweicht und so zur Bildung starke Erdbeben lösen in den oberflächen- oden solcher Oszillationen hängen von der Bek- eines Wellenberges an der Wasserober- nahen Schichten der Erdkruste Schwin- kengeometrie ab und liegen zwischen wenigen fläche führt. gungen aus, die dann sogar in entfernten Minuten und mehreren Stunden. Storms in Nature 17 GAIA 12 (2003) no. 4

In den Sedimenten befinden sich aber auch isolierte Rutschungsablagerungen, denen keine zeitgleiche Rutschung zuge- ordnet werden konnte. Da Erdbeben typischerweise verschiedene Rutschungen gleichzeitig auslösen, ist hier ein sponta- ner Auslösemechanismus wahrscheinlich. Die Ablagerungen einer solchen Einzel- rutschung befinden sich am östlichen Ende des Vitznauerbeckens (Figur 8B). Der Rutschkörper (grün markiert in Figur 4D) umfaßt ein geschätztes Volumen von 1.7 x 107 m3 und wurde auf 3240 Jahre BP datiert [8]. Diese Rutschung, deren Volu- men das der Rutschung von Weggis um die Hälfte übertrifft, hat mit Sicherheit ebenfalls eine Tsunamiwelle und vermut- lich auch eine Seiche 3) ausgelöst. Einer Flutwelle braucht also nicht zwangsläufig ein Erdbeben vorauszugehen. Historische Berichte aus dem Jahr 1687 bestätigen dies. Sie berichten von einem sonderbaren Sturm auf dem Vierwald- stättersee, der die Augenzeugen einmal mehr staunen ließ, da weder »am Ufer [noch] an Land Wind gespürt worden war.« Die Wasserbewegungen richteten am Ufer beträchtliche Schäden an: »Zu ging der See bei Leutnant Schnürrigers Haus bis an die Fenster und hat alle Fensterläden der Stube hinweg- geschlagen. Grosse Steine und Hölzer wurden bis weit ins Dorf hinauf gespült, die Schiffe übereinander geworfen.« [14]. Die Schäden am Gasthaus am gegenüberliegenden Ufer legen nahe, daß die Wellen etwa vier Meter hoch waren. Noch in Luzern soll der Seespiegel um mehr als 60 Zentimeter angestiegen sein. Es wurde auch beobachtet, daß am Delta der Muota, einem weiteren Zufluß zum Vierwaldstättersee, ein Stück Land im See versank. Ablagerungen in den angrenzen- den Seebecken deuten darauf hin, daß die beobachtete Tsunamiwelle tatsächlich auf eine Rutschung am Muotadelta zurück- zuführen ist [7]. In den Chroniken finden sich keine Hinweise auf ein Erdbeben zum Zeitpunkt der Rutschung. Anhalten- de Regenfälle in den Wochen vor dem Ereignis [15] und die damit verbundene erhöhte Geschiebefracht der Muota haben möglicherweise dazu geführt, daß das Delta steiler und damit instabil wurde und schließlich abrutschte.

Figur 7. Durch die Rutschung von Weggis induzierte Wellenbewegung: A–D: Wellenhöhen nach 30, 60, 90 und 120 Sekunden. Blaue Linien markieren Wellentäler, rote Linien Wellenberge. Die Äquidistanz zwischen den Linien beträgt 0.5 m. Gelbe Punkte zeigen die Wellenhöhe in Meter an spezifischen Orten an. Die gepunktete Fläche markiert das Ausmaß der Rutschung. Storms in Nature 18 GAIA 12 (2003) no. 4

Figur 8. Prähistorische Rutschungen. A: Durch Erdbeben ausgelöste, prähistorische Mehrfachrutschung. B: Große prähistori- sche Einzelrutschung. Im Gebiet der grauen Fläche kann die Basis der Rut- schung nicht weiterverfolgt werden, da das seismische Signal nur ungenügend tief ins Sediment eindringt.

[5] C. Siegenthaler, W. Finger, K. Kelts, S. Wang: "Earthquake and seiche deposits in Lake Lucerne, ", Eclogae Geologicae Helvetiae 80 (1987) 241–260. [6] G. Lemcke: Ablagerungen aus Extremereig- nissen als Zeitmarken der Sedimentations- geschichte im Becken von Vitznau/Weggis (Vierwaldstättersee, Schweiz), Diplomarbeit, Institut für Geologie und Dynamik der Lithosphäre der Georg-August-Universität, Göttingen (1992). [7] C. Siegenthaler, M. Sturm: "Slump induced surges and sediment transport in Lake Uri, Switzerland", International Association of Theoretical and Applied Limnology Proceed- ings 24 (1991) 955–958. [8] M. Schnellmann, F.S. Anselmetti, D. Giardini, J.A. McKenzie, S.N. Ward: "Prehistoric earth- quake history revealed by lacustrine slump deposits", Geology 30 (2002) 1131–1134. [9] S.N. Ward: "Landslide tsunami", Journal of Geophysical Research 106 (2002) 11201–11216. [10] E. Sarasin: "Beobachtungen über die "Seiches" des Vierwaldstättersees", Mitteil- ungen der Naturforschenden Gesellschaft Luzern 4 (1904) 145–163. [11] B.J. Korgen: "Seiches", American Scientist 83 (1995) 330–341. [12] E. Bertrand: Memoires historiques et 7. Zusammenfassung physiques sur les tremplemens de terre, [3] R. Cysat: "Manuskript", in J. Schmid: Chenebie, Vevey (1756), p. 8–9. Zweimal in den letzten 500 Jahren Quellen und Forschungen zur Kultur- [13] W.L. Donn: "Alaskan earthquake of 1964: wurden auf dem Vierwaldstättersee bei geschichte von Luzern und der Innerschweiz remote seiche stimulation", Science 145, windstillem Wetter überraschende Stür- 1/1, Diebold Schilling Verlag, Luzern (1969), (1964) 261–262. me mit bis zu vier Meter hohen Wellen p. 882–888. [14] J.L. Bünti: "Chronik", in 20. Neujahrsblatt beobachtet. Reflektionsseismische Unter- [4] S.N. Ward, S. Day: "Suboceanic Landslides", Uri, Altdorf (1914), p. 8–9. in 2002 Yearbook of Science and Technology, [15] J. Billeter: "Chronik", in 22. Neujahrsblatt suchungen und numerische Modellierun- McGraw-Hill, New York (2002), p. 349–352. Uri, Altdorf (1916), p. 42. gen zeigen, daß subaquatische Rutschun- gen solche Stürme auslösen können. Eine erhöhte Gefahr für rutschungsinduzierte Michael Schnellmann: Geboren 1974 in . Er schloß 1999 das Stürme besteht im Zusammenhang mit Studium der Erdwissenschaften an der ETH Zürich ab und untersucht derzeit Erdbeben, welche typischerweise an ver- im Rahmen einer Dissertation am Geologischen Institut der ETH Zürich die schiedenen Stellen im See gleichzeitig Häufigkeit starker Erdbeben in der Zentralschweiz und deren Auswirkungen Rutschungen auslösen. Doch auch spon- auf den Vierwaldstättersee. tane unterseeische Rutschungen können zur Bildung meterhoher Wellen führen. Flavio Anselmetti: Geboren 1965 in . 1990 schloß er das Geologie- Prähistorische Rutschungsablagerungen studium ab, 1994 promovierte er in Erdwissenschaften. Bis 1997 war er zeigen, daß die beschriebenen histori- Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der University of Miami, anschließend Oberassistent an der ETH Zürich, wo er seit 2000 das Limnogeologielabor schen Ereignisse keine Einzelfälle sind, am Geologischen Institut leitet. 2002 erhielt er eine Förderungsprofessur und daß auch in Zukunft die größten Stür- für Limnogeologie vom Schweizerischen Nationalfonds. me nicht von oben kommen werden.

Literaturverzeichnis Steven N. Ward: Geboren 1952 in Greensburg Pennsylvania, USA. Er schloß [1] D. Fäh et al.: "Earthquake catalog of Switzer- das Studium der Physik an der Bucknell University mit dem Bachelor Degree land and the related macroseismic database", ab und promovierte in Geophysik an der Princeton University. Von 1978 bis Eclogae Geologicae Helvetiae 96 (2003) 1980 war er als Assistant Research Geophysicist an der Scripps Institution 219–236. of Oceanography, von 1980 bis 1983 als Associate Research Geophysicist [2] G. Schwarz-Zanetti et al.: "The Earthquake in an der Harvard University tätig. Seit 1984 ist er Research Geophysicist am on September 18, 1601 – A His- Institute of Geophysics and Planetary Physics der University of California, torico-Critical Macroseismic Evaluation", Santa Cruz. Eclogae Geologicae Helvetiae 96 (2003) in press.