Berliner Denkmaldialog am 10. April 2018 Selman Selmanagić – eine europäische Biographie Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Südhalle

Azemina Bruch Selmanagić

Beiträge zum Wiederaufbau

Danksagung

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, im Namen der Familie Selmanagić mich bei der Autorin des Buches, bei Frau Professor Dr. Aida Abadzić Hodzić und ihrer Übersetzerin Frau Dr. Azra Dzajić-Weber sowie den Herausgebern des Buches, beim Landesdenkmalamt und dies ganz besonders bei Herrn Professor Dr. Jörg Haspel, Dr. Hubert Staroste und Herrn Dr. Hans-Robert Cram vom Gebr. Mann Verlag bedanken, welche zum Gelingen des hervorragenden Buches mit beigetragen haben. Darüber hinaus möchten wir uns bei Frau Dr. Annemarie Jaeggi vom Bauhausarchiv Berlin, welche die Räume für dieses Symposium zur Verfügung gestellt hat, sowie bei allen, welche zum Gelingen dieses Symposiums beigetragen haben, ganz herzlich bedanken, wie bei Frau Dr. Dörthe Hellmuth, Frau Dr. Sibylle Hoiman, Dr. Thomas Flierl und den Vortragenden: Frau Leonie Baumann, Frau Sharon Golan-Yaron, Frau Prof. Dr. Sonja Hildebrand und Martin Jennrich. Dieses Symposium hat auch uns zu neuen Erkenntnissen zum Werk von Selman Selmanagić geführt. Auch freuen wir uns, dass der Staatssekretär für Europa bei der Senatsverwaltung, Gerry Woop, uns begrüßt hat und das Klarinettenquartett "Blattgold" zur gelungenen musikalischen Umrahmung beigetragen hat.

Zum Kollektiv "Berlin plant"

Durch die Bombardements der Alliierten wurden ca. 70-80 % der historischen Bauten in Berlin zerstört. Das historische Zentrum Berlins war wegen der Endkämpfe besonders stark getroffen.

Dieses undatierte Foto aus dem Jahr 1945 zeigt den Blick über die Ruinen des Nikolai- Viertels in Berlins mit der zerstörten Nikolaikirche im Vordergrund. Im Hintergrund das stark zerstörte Schloss und der Berliner Dom.

Abb. 11 Blick über die Ruinen des Nikolaiviertels in Berlin Mitte 1945

1 Das Foto ist im Bildband "Berlin nach dem Krieg" veröffentlicht, der im März 2010 im Verlag "Das neue Berlin" erschienen ist. Motive aus der Zeit zwischen April und Mai 1945 zum Ende des Zweite Weltkrieges zeigen erschütternde Szenen. Die Fotos stammen aus dem Archiv des Berliner Verlages.

Nachdem auch die Eltern in ihrer Wohnung in der Prinzenstraße ausgebombt waren, zogen sie zum Kriegsende in den noch fast idyllischen Berliner Grunewald in die Winklerstr. 8, wo sie zusammen mit der Architektin Luise Seitz (1910-1988) und dem Bildhauer Gustav Seitz (1906-1969) lebten. Eines Tages trafen die Eltern in dieser Gegend zufällig auf der Straße den Architekten und Baustadtrat von Berlin, Hans Scharoun, der sie mit den Worten begrüßte: „Da seid Ihr ja - ich suche Euch schon!“2 Während des Krieges hatten sie sich zusammen mit anderen Architekten bei Scharoun des Öfteren konspirativ getroffen und über die Planung Berlins nach den Nationalsozialisten, d. h. für ein besseres Deutschland gesprochen. Zitat Selmanagić:

"Wir wollten einen Generalplan von Groß Berlin machen, was aber durch die Alliierten verboten war. Mit allem kompliziertem Hin und Her haben wir das Stadtplanungsamt gegründet. Es sind neue Ämter gegründet worden, mit neuen Gesetzen für Genehmigungen, wer mit wem usw. Aber diese Ämter waren da, aber alle falsch, das heißt, die Stadtverwaltung und deren Gesetze. Wir haben Berlin von 1200 - 1945 mit erstklassigen Fachleuten studiert. Dazu gehörten die Bevölkerung und ihre Arbeitsstätten, Verkehr, Wohnen, Versorgung, Kultur und Erhaltung. Wir kannten die führenden modernen Architekten in der Welt. Wir kannten die Architekturentwicklung und deren Theorien in ihrer gesamten Vielfalt. Wie konnten wir unser Wissen zu einer Einheit bringen?

Als erstes war unsere Idee vom Generalplan von Berlin verboten, aber das Planungsamt II war da. Wir kamen zu der Idee, dass unser Kollektiv zusammenbleiben sollte, um den Generalplan von Groß-Berlin zu machen. Unser Planungsamt sollte in 7 Ämter aufgeteilt werden, mit 20 dazugehörigen Bezirksämtern von Groß-Berlin.

Eines der 7 Ämter war das Amt für Kultur und Erholung, wozu auch der Bereich Denkmalpflege gehörte und welches Selman Selmanagić führen sollte. Die anderen 6 Ämter waren wie folgt aufgeteilt:

Abteilung für Arbeitsstätten (der enge Bauhausfreund von Selman) Wils Ebert, Abteilung für Verkehr Peter Friedrich Amt für Wohnen Luise Seitz Amt für Versorgung Herben Weinberger (welcher bereits Kollege im Büro Eiermann war) Amt für Grünplanung Reinhold Lingner Amt für Statistik Ludmilla Herzenstein

Die Ämter wurden unter der Leitung von Stadtrat Hans Scharoun geführt. Wir wußten wie man plant, aber wir wußten nicht, wie man Ämter leitet! Da haben wir nach Beispielen gesucht und stießen so auf Martin Wagner, der in den 1920iger Jahren als Stadtrat für Bauwesen in Berlin fungierte. Wir kannten ihn als Architekten, aber vor allem wollten wir von ihm wissen, wie er sein Amt geleitet hat. Er zeigte ein außerordentliches Gespür für moderne Architektur. Er hat die Verwaltung mit großer Meisterschaft geleitet. Ich glaube, er hat an einem leeren Tisch gesessen und gegrübelt, wer mit wem arbeiten kann."

"Die Bezirksämter und das Planungsamt I unter der Leitung von Unglaube und Ermisch, Denkmalpflege, wo ich Leiter war, mit Justi Scheper als Berater. Verschiedene andere Ämter wie für Hochbau, Vermessung, die Baupolizei, Verkehr, Tiefbau, GASAG, BVG usw. usw. warenbereits erhalten. Wenn ich mich nicht irre, waren es insgesamt 1.500 Leute. Alle waren sie eingefleischte preußische Beamte und auch viele Nazis, aber wir haben sie für unsere Idee ausgenutzt. Sie haben für uns gearbeitet."

2 Aus einem Gespräch mit meiner Mutter Emira Selmanagić kurz vor ihrem Tod 2012. Selmanagić selbst war ein großer Netzwerker und ein großer Menschenkenner, was mir in Gesprächen mit Zeitzeugen immer wieder bestätigt wurde. Die Bauhäusler insgesamt haben ja immer zusammengehalten und sich gegenseitig geholfen. (Manche sprechen sogar von einer Bauhausmafia). So fotografierte z. B. sein Freund Hajo Rose in hervorragender Weise die Werke seines Freundes Selman. Man sah sich als Kollektiv und nicht als Einzelkämpfer, was unserem Vater später auch ermöglichte, in der Formalismusdebatte durchzuhalten.

Nach entsprechenden Diskussionen legte das "Kollektiv" am 4.4.1946 dem Bauwirtschaftsausschuß des Magistrats von Groß-Berlin seine Auffassungen vom Neuaufbau Berlins vor. Dieser Aufbauplan wurde vom 22.8.-15.10.1946 in der Ausstellung "Berlin plant" im notdürftig reparierten Weißen Saal der Ruine des Schlosses der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Plan knüpfte an Vorstellungen avantgardistischer Stadtplaner und Architekten aus der Zeit vor 1933 (u.a. vom Bauhausgründer Walter Gropius [1883- 1969], Martin Mächler [1881-1958], Ludwig K. Hilbersheimer [1885-1967]) u. a. an.

Abb. 23 Privatarchiv Selman Selmanagić

Auf diesem Zeitungsausschnitt, bei welchem der Kollektivplan erläutert wird, sind Mutter Emira (rechts außen) und Vater Selman (in der Mitte) zu sehen.

Abb. 34 Die Urheber des Planungskollektivs

3 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić

In der Literatur wird der Kollektivplan oft auch "Scharoun-Plan" genannt. Die Verfasser des Kollektivplans haben diese Bezeichnung allerdings heftig und das auch schriftlich kritisiert, wie auch aus einem Vermerk sowie einem Schreiben aus dem Jahr 1946 hervorgeht.

Abb. 45 Schreiben der Verfasser des Planungskollektivs an Hans Scharoun

4 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić 5 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić

Hier sind Bilder aus unserem Familienarchiv von der Ausstellung im Weißen Saal des sehr zerstörten Schlosses zu sehen:

Abb. 56 Ausstellung im Weißen Saal des Berliner Schlosses

Abb. 67 Ausstellung im Weißen Saal des Berliner Schlosses

6 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić 7 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić

Die Planer des Kollektivs waren alle Utopisten. Sie hatten die Absicht, nicht die alte Stadt wiederherzustellen, sondern sie freuten sich geradezu darauf, die neue Stadt nun neu aufbauen zu können. Der Kollektivplan hatte eine radikale Umstrukturierung des gesamten Stadtgebietes zum Ziel. Er beruhte auf einem neuen gesellschaftlichen Konzept, das auch in der Grundstruktur eines neu erstehenden Berlins zum Ausdruck kommen sollte. Ausgehend von der naturräumlichen Lage Berlins im Urstromtal zwischen Barnim und Teltow, ordnete der Kollektivplan die städtischen Funktionen (Wohnzellengruppen, Arbeitsstätten, zentrale Einrichtungen) bandartig entlang der Spree, verbunden durch ein rechtwinkliges Rasterband und kreuzungsfreier Straßen.

Abb. 78 Stadtlandschaft - Zeichnung Selman Selmanagić

Hier ist die Idee der Stadtlandschaft in einem Schaubild von Selman Selmanagić zu sehen.

Unter der Annahme weitest gehender öffentlich-rechtlicher Verfügung über den Boden sollte Berlin als "organische Stadtlandschaft", als sog. "Bandstadt" gestaltet werden. Da im Sozialismus der Grund und Boden dem Volk gehörte, glaubte Selmanagić, seine planerischen Ideen in diesem System besser umsetzen zu können. Acht Detailpläne wurden in einem Raum-auch Generalstrukturplan genannt, zusammengefasst. Durch wirtschaftliches "Zuordnen der Wohn- und Arbeitsflächen", durch Unterteilen der Stadt in 5.000- Einwohnereinheiten sollten ihrer Meinung nach unwirtschaftliche und unwirtliche Baukörper Berlins aufgelockert und seine einzelnen Flächen so miteinander verbunden werden, dass sich eine "neue lebendige Ordnung" ergibt.9 Einzelne Inseln mit Denkmalschutzcharakter sollten dabei erhalten bleiben.

Die Idee scheiterte allerdings bereits aus einem sehr einfachen Grund, wie mir Bruno Flierl ausführlich erklärt hat: Berlin war zwar oberflächlich zerstört, aber die ganzen unterirdischen Leitungssysteme, wie Be- und Entwässerung, Abwasser, ja das gesamte U Bahnnetz waren trotz der Bombardements weitestgehend in Ordnung geblieben und konnten nach Kriegsende bereits nach fünf Wochen wieder in Betrieb genommen werden. Ein kompletter Neubau mit den gesamten unterirdischen Leitungssystemen wäre angesichts der maßlosen Zerstörung Berlins allein aus finanziellen Gründen einfach nicht realisierbar gewesen.

8 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić 9 http://www.luise-berlin.de/stadtentwicklung/texte/5_02_kollekpl.htm Zum Berliner Schloss

Der im Mai 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzte und von der KPD (später SED) dominierte Magistrat stimmte den vom Berliner Baustadtrat Hans Scharoun sofort beantragten Erhaltungsmaßnahmen nur widerwillig und teilweise zu, sodass weitere Schäden durch Witterungseinflüsse entstanden. Auch die Aufbauplanung des 1946 demokratisch gewählten Magistrats durch Karl Bonatz sah den Wiederaufbau des Schlosses vor.10

Abb. 811 Berliner Schloss 1. Januar 1945

Inwieweit sich Selmanagic als Verantwortlicher für den Denkmalschutz, für den Erhalt des 1950 gesprengten Schlosses eingesetzt hat, ist nicht ganz klar. Sicher sah er als Bauhäusler, wie schon beim Dom den Stil des Gebäudes, ausgenommen vielleicht den Schlüterhof, kritisch. So war einerseits zu hören, dass er sich in Gesprächen gerechtfertigt hätte, dass die Fundamente des Schlosses nicht mehr zu retten gewesen wären und das Schloss deshalb abgerissen werden musste. Andererseits kann ich selbst mich erinnern, wie mein Vater erzählte, wie das Schloss seiner Meinung nach doch zu retten gewesen wäre. Er hatte ja in den 1930er Jahren für vier Jahre in Palästina gelebt und war dort als selbstständiger Architekt auch für die arabisch-palästinensische Gemeinde tätig. Dort bat ihn wohl eines Tages der zuständige Mufti, um den Rat, wie man die statisch brüchig gewordene Klagemauer wieder stabil machen könnte. Damals gehörte die Klagemauer noch zum Zuständigkeitsbereich der Arabischen Gemeinde, deren Interesse es wohl auch war, dass die Klagemauer nicht zusammenfällt, da sie auf dem Tempelberg statisch mit dem Felsendom und der Al Aqsa Moschee verbunden ist. Mein Vater erzählte, dass er wohl die Empfehlung abgegeben hätte, in regelmäßigen Abständen eine Betonplombe vor die Klagemauer zu setzen, was dann wohl auch so durchgeführt wurde. Das ist sicherlich eine

10 Maether: Die Vernichtung des Berliner Stadtschlosses. 2000, S. 41–44. 11 Bildquelle: Deutsche Fotothek, Nr. df pk 0000180 048.jpg SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Abraham Pisarek (1901-1983), http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/88930300

Sache, die in Israel überprüft werden könnte! Jedenfalls empfahl unser Vater genau dieses Verfahren wohl auch zur Stabilisierung der Mauern des stark beschädigten Berliner Schlosses.

Abb. 9 und 10 12 Klagemauer in Jerusalem

12 Bildquelle: Foto 22.03.2010 Azemina Bruch Selmanagić: Klagemauer in Jerusalem Zum Berliner Dom

Der Dom, ein Prachtbau im Stil des Neobarock ist ein Bau aus Wilhelminischer Zeit und er ist bis heute wegen seines Stils nicht gerade der Liebling von vielen ansässigen Architekten, was auch für den Bauhäusler Selmanagić galt. Dennoch hat er sich für dessen Erhalt eingesetzt.

Abb. 1113 Der Berliner Dom im Oktober 1945; von der äußeren Kuppelschale ist nur ein Stahlgerippe übrig

Genauso wie das Schloss, sollte auch der Berliner Dom gesprengt werden. Den Erzählungen nach, waren bereits die Sprengladungen gelegt, um den Dom zu sprengen.

Weil sich Selmanagić bei dem Gedanken, dass ein so großer kirchlicher Bau mitten im alten Stadtzentrum gesprengt werden sollte, nicht wohl fühlte, ging er zum damaligen Probst Heinrich Grüber (1891-1975) und fragte ihn, "wie wichtig der evangelischen Kirche der Dom sei?". Darauf hätte ihm Probst Grüber, geantwortet "dass der Dom der Kirche sehr sehr wichtig wäre."14 In einer Art Pendeldiplomatie ging Selmanagić in seiner Funktion als Denkmalpfleger wieder zu den Regierungsoberen und vermittelte, dass der Dom nicht gesprengt wurde.

Leider weiß das bisher heute kaum noch jemand, dass es mit ein Verdienst von ihm war, dass der Dom nicht gesprengt wurde. Im Berliner Domarchivbefindet sich die Abschrift eines Briefes Selmanagic's an das Domkirchenkollegium von 1949, in welchem er außerdem empfiehlt, ein Sanierungskonzept im Rahmen eines Wettbewerbs durchzuführen.15 „B[er]l[in], d[en] 3. 11. [19]49/ Mag[istrat] v[on] Berlin/ Amt f[ür] Denkmalpflege/ Se. Wi./ An das / Domkirchenkollegium/ B[er]l[in] C 2 / betr[ifft] Dom am Lustgarten/

13 Bildquelle: Deutsche Fotothek, Nr. df_pk_0000145_029 , Photograph: Abraham Pisarek (1901-1983), SLUB Dresden / Deutsche Fotothek / Abraham Pisarek http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/88930235 14 Zitat von Selma Selmanagić in einem Gespräch 2017 15 Archiv Berliner Dom: Bestand 8 „Domkirche Berlin (seit 1945)“, Nr.82, Bl.112 Es bestehen städtebaulich keine Bedenken, den Dom wieder aufzubauen. Da allgemein bekannt ist, daß der Dom kein schönes architektonisches Bauwerk ist und sich jetzt Gelegenheit bietet, die Anlage großzügig zu überarbeiten, wird vom Hauptamt für Stadtplanung empfohlen, keine größeren Reparaturen vorzunehmen, bevor die endgiltige Gestaltung des Domes durch Ihren Dombaumeister festliegt. I[m] A[uftrag]/ Selmanagic“

Dombaumeister Erich Schonert, der die Abschrift anfertigte, setze darunter den Vermerk: „Es handelt sich zunächst nur um Gefahrenbeseitigung / und Winterdichtmachung des Domes. Für die endgiltige / Gestaltung soll ein Wettbewerb ausgeschrieben werden. Sch[onert] 8.11.[1949]“

Abb. 1216 Abschrift von Dombaumeister Erich Schonert

16 Bildquelle: Archiv Berliner Dom: Bestand 8 „Domkirche Berlin (seit 1945)“, Nr.82, Bl.112 Zur Neuen Wache Unter den Linden

Abb. 1317 Neue Wache, 1945

Auf die gleiche Weise hat unser Vater die Alte Wache Unter den Linden gerettet. Eines Tages, im Jahr 1949, bekam er mit, dass von der Berliner FDJ unter der Leitung von Erich Honnecker der Abriss der stark zerstörten Wache von Karl Friedrich Schinkel geplant wurde, weil sie „bereits wieder faschistischen Elementenals eine Stätte der Propaganda diene bzw. als Symbol des deutschen Militarismus". Selmanagić ist sofort zur russischen Stadtkommandantur gelaufen und hat dort mit dem zuständigen Kulturoffizier, d. h. vermutlich mit Alexander Lwowitsch Dymschitz (1910-1975) gesprochen und ihn darum gebeten, dass die Wache nicht gesprengt werden dürfe, mit dem Argument, dass die Wache von Schinkel sei. Daraufhin hätte Dymschitz wie aus der Pistole geschossen gesagt: "Was die Wache ist von Schinkel! Das ist ein bedeutender Künstler und Architekt - Die Wache bleibt stehen!"18

Sicherlich hat hier der Mies van der Rohe (1886-1969) Schüler Selmanagić bei dieser Aktion ganz im Sinne seines verehrten Meisters gehandelt, dessen Frühwerk entscheidend von dessen Auseinandersetzung mit der Architektur Karl Friedrich Schinkels beeinflusst war.19

17 Bildquelle: LAB, 252893/Gunnar Kosnick, 1945 18 Diese Geschichte hat er mir mehrere Male in Gesprächen erzählt. 19 Neue Zürcher Zeitung, 19.12.2002, Rezensionsnotiz zum Buch von Max Stemshorn: "Mies und Schinkel", Tübingen 2002: "Über die "architektonische Wahlverwandtschaft" zwischen dem Berliner Klassizisten Karl Friedrich von Schinkel und seinem "modernen Nachfolger" Ludwig Mies van der Rohe müsste eigentlich, meint Jürgen Tietz, gleich "eine ganze Bibliothek" existieren, hatte sich der Schinkel-Schüler Mies doch oft und eindeutig genug auf seinen Lehrer bezogen und seine Rezeption der Schinkelschen Werke sei schließlich einer der "meistbemühten Topoi der Architekturgeschichte".

Zu den Denkmalen der preußischen Generäle Unter den Linden

Abb. 14, 15 Denkmale der preußischen Generäle unter den Linden20

Neben der Erhaltung dieses Bauwerks von nationaler Bedeutung höchsten Ranges hat Selmanagić auch dafür gesorgt, dass die sogenannten Feldherrendenkmale für die fünfpreußischen Generäle Gerhard von Scharnhorst (1755-1813), August Graf Neidhardt von Gneisenau (1760-1831), Gebhard Leberecht von Blücher (1742-1819), Yorck von Wartenburg (1729-1817) und Friedrich Wilhelm Freiherr von Bülow (1755-1816), welche der Bildhauer Christian Daniel Rauch (1777-1857) in den Jahren 1822-1855 geschaffen hat, wiederUnter den Linden aufgestellt werden. Ironisch hat er den Generälen den Titel "Genosse" gegeben, das heißt, er sprach z. B. von "Genosse Scharnhorst und Genosse Gneisenau21"

Zur Gestaltung des Platzes vor dem Palast der Republik

Auch später hat ihn die Gestaltung des Schlossplatzes im Zentrum der Stadt nicht losgelassen, indem er den Aufmarschplatz zwischen Staatsratsgebäude, Palast der Republik und Alten Museum in seinen Entwurf vom 17.2.1981 begrünte und in welchem er die Wiederherstellung des Sozialistendenkmals von Mies van der Rohe vor dem Platz der Republik vorsah.

Abb. 16 22 Zeichnung von Selman Selmanagic Gestaltung des Schlossplatzes

20 Bildquelle: Landesdenkmalamt Berlin, Fotoarchiv 21 Zitat von Selma Selmanagić in einem Gespräch 2017 22 Bildquelle: Schenkung von Dietmar Kuntzsch an das Privatarchiv Selman Selmanagić Zum Einfluss von Selman Selmanagić auf den Städtebau in der DDR

Nach der Planung des Generalplans von Groß Berlin hat sich Selmanagić mit seinen Ideen an der Planung der Stalinallee als Städteplaner und dann wieder Ende der 1950er Jahre als Chefarchitekt von Schwedt betätigt, bei welchem die Ideen vom Kollektivplan mit eingeflossen sind. Wichtig war Selmanagić, wie schon beim Kollektivplan, die soziale Funktion einer Stadt. Das heißt, die Einwohner sollten sich in ihrer Stadt wohl fühlen. Die Autorin Sonja Wüsten erzählte mir einmal, wie es sie beeindruckt hätte, dass Selmanagic an einer Stelle eine Überdachung geplant hätte, damit die Bürger im Falle eines Regens trockenen Fußes in ihre Häuser kämen.

Abb. 17 und 1823 Modell Stadt Schwedt

Hier Fotos vom Modell Schwedt aus der Zagreber Baunet-Ausstellung von 2015. Mit der Begründung, dass der Entwurf angeblich zu teuer wäre, wurde Selmanagić als Chefarchitekt von Schwedt Ende der 1950er Jahre wieder abgesetzt. Der eigentliche Grund aber war wohl,

23 Bildquelle: Foto 9.05.2015 Azemina Bruch Selmanagić: Ausstellung Baunet in Zagreb dass der Bauhäusler Selmanagić der konservativen DDR-Führung einfach zu modern und damit suspekt war. Er war wohl seiner Zeit voraus. Bei der Stalinallee, der heutigen Karl- Marx-Allee, kam der Architekt Hermann Henselmann zum Zuge, währenddessen Selmanagić für seinen Architekturstil stark kritisiert wurde. Die Kämpfe um den vermeintlich richtigen Architekturstil sind in dieser Nachkriegszeit sehr heftig geführt worden. Das Bekenntnis zum Bauhausstil wurde als Bekenntnis zum Kapitalismus gedeutet. So hing beispielsweise in einer Ausstellung auf dem Alexanderplatz über einen von Selmanagić entworfenen Tisch mit Stuhl in großen Lettern der Slogan: "Formalismus = Kapitalismus" an der Wand24. Damit wusste jeder, der Selmanagić kannte, dass er von der Führungsriege offen kritisiert bzw. zum Abschuss freigegeben worden war.

Obwohl Selmanagić als Chefarchitekt von Schwedt abgesetzt wurde, kann man mit gutem Recht behaupten, dass seine Ideen in seine Lehre mit eingeflossen sind und nach seiner Emeritierung auch durch seine Nachfolger, wie z. B. durch Dietmar Kuntzsch weitergeführt worden sind. Schon zehn Jahre später, d. h. ab etwa Anfang der 1970er Jahre hat man dann durchaus auf seine modernen Ideen und die des Bauhauses in Berlin zurückgegriffen, die dann auch durch seine ehemaligen Studenten im Inn- und Ausland verwirklicht wurden.

Ein Beispiel für die Verwirklichung seiner Lehre als Bauhäusler ist das Sächsische Landtagsgebäude seines ehemaligen Studenten Peter Kulka in Dresden aus dem Jahr 1997.

Abb. 1925 Sächsisches Landtagsgebäude, Architekt Peter Kulka

24 Gespräch mit Irina Winter am 13.11.2013 25 Bildquelle : Atelier Peter Kulka mit freundlicher Genehmigung Zum Stadion (später genannt "Stadion der Weltjugend")

Nach der Beseitigung der Ruinen der Maikäferkaserne wurde 1950 anlässlich des ersten Deutschlandtreffens der Jugend ein neues Stadion von Selmanagić geplant, das bereits nach 120 Tagen Bauzeit am 20. Mai 1950 durch den damaligen Generalsekretär des Zentralkomitees der SED Walter Ulbricht eröffnet wurde, weshalb nach ihm auch das Stadion benannt wurde.

Abb. 20 26 Stadion der Weltjugend

Ich kann mich noch daran erinnern, dass unser Vater betonte, dass die Planung des Stadions ebenso eine Kollektivarbeit war. Neben dem Landschaftsarchitekten Reinhold Lingner, welcher auch schon bei dem Kollektivplan mitgewirkte, hat Selmanagić für die Planung des Stadions auch Studenten eingestellt und gefördert, wie beispielsweise die Brüder Peter und Bruno Flierl.27 Im Rahmen der Vorbereitung dieses Vortrages erzählte mir Bruno Flierl mit großem Stolz, dass von ihm und seinen Bruder die Ideen in den Entwurf des Stadions mit eingeflossen worden sind. So hat der Student Peter Flierl eine Vorskizze für den Kampfrichterum geliefert, die Selmanagić weiterentwickelte. Im Stil ähnelt dieser Kampfrichterturm denen im Bauhausstil errichteten Bauten in Jerusalem und Tel Aviv, wo Selmanagić in den 1930er Jahren tätig war, wie u. a. im Büro des Architekten Richard Kauffmann.

Abb. 21 28 Stadion der Weltjugend mit Schiedsrichterturm

26 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić 27 Zu diesem Zeitpunkt herrschte bereits Kalter Krieg, was auch dazu führte, dass für Berlin nicht mehr aus einheitlicher Sicht geplant wurde. Die Brüder Flierl wurden wegen dem Beisein an einer Demonstration an der Hochschule der Künste in Berlin-West exmatrikuliert und gingen dann aus Begeisterung zu Selmanagić an die Kunsthochschule in Weißensee. 28 Quelle: Privatarchiv Selman Selmanagić

Abb. 22 29 Panoramabild - Stadion der Weltjugend

Der Student Bruno Flierl wiederum lieferte eine Vorskizze für das Mehrzweckgebäude mit einem durchgehenden Dach, in welchem die Funktionsbereiche abgetrennt werden konnten.30

"Ihr seid jetzt die Enkel von Mies!", lobte Selmanagić die beiden Brüder. Solche Sätze sind typisch für unseren Vater. Es sind Sätze, die einen durch das ganze Leben begleiten. Der Hochschullehrer Walter Scheiffele sagte mir einmal, es gäbe nicht so viele Lehrer, die solche prägnanten Sätze geben können, die einen durch das ganze Leben begleiten würden. Darin wäre unser Vater wohl ein Meister gewesen.

Abb. 23 31 Entwurf für ein Mehrzweckgebäude von Bruno Flierl

29 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić 30 Diesen Entwurf für einen sogenannten idealen Ein-Raum entwickelte er selbst noch als Student an der Hochschule der Künste bei Eduard Ludwig. 31 Bildquelle: Privatarchiv Bruno Flierl mit freundlicher Genehmigung Selmanagić hat in diesem Entwurf für das Mehrzweckgebäude über Mies die klassische Formensprache Schinkels übernommen und darüber hinaus eine eigene elegante Formensprache gefunden.

Abb. 24 32 Selman Selmanagic auf der Baustelle des Stadions der Weltjugend Zur Kunsthochschule Berlin und zur Möbelgestaltung

Bei dem Umbau der Kunsthochschule 1956 sieht man, mit welcher handwerklichen Perfektion Selmanagić die Arbeiten durchführen ließ. Dies verbunden mit seiner modernen Gesinnung, was insbesondere am Bau der Aula deutlich wird.

32 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić

Abb. 2533 Ansicht der Kunsthochschule vom Innenhof aus

Abb. 26 34 Ansicht der Kunsthochschule Berlin vom Innenhof aus

Hier zwei Fotos vom Innenhof der Kunsthochschule und nachfolgend von der Aula der Kunsthochschule mit den holzgetäfelten Wänden. Seine Vorliebe für Holz ist dabei nicht zu übersehen.

33 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić 34 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić

Abb. 2735 Aula der Kunsthochschule Berlin mit noch vorhandener Bestuhlung

Der Designer Walter Scheiffele hat gerade ein Buch über die Möbelentwicklung bei den Deutschen Werkstätten Hellerau fertiggestellt. Als ich ihn fragte, wie er die Bedeutung unseres Vaters sehe, hat er gesagt, dass Selmanagić zusammen mit Franz Ehrlich den Hellerauer Werkstätten den Weg in die Moderne geebnet hätte, das heißt diese beiden Persönlichkeiten haben die Werkstätten zu einer topmodernen Möbelherstellung geführt, vergleichbar heute mit dem IKEA Prinzip.

Die Spezialität von Selmanagić war dabei die Verformung von Schichtholz, ein Verfahren mit welchem der Finne Alvaro Aalto in den 1930er Jahren mit dem Paimo Sessel begonnen hat zu experimentieren36.

Selmanagić experimentierte mit diesem System der Schichtholzverformung weiter und entwickelt zahlreiche Möbel für die Deutschen Werkstätten in Hellerau. Das Grundprinzip ist, dass mehrere Schichten miteinander verleimt und daran im Anschluß verbogen werden. Sein Credo war es, materialgerechte, ökonomisch bezahlbare Produkte zu schaffen.

35 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić 36 Dr. Walter Scheiffele: "Möbel Moderne: Selman Selmanagic, Franz Ehrlich, Rudolf Horn". Ein Forschungs- und Publikationsprojekt zur Geschichte der Ostmoderne mit dem Schwerpunkt Möbeldesign und Möbelherstellung bei den Deutschen Werkstätten Dresden-Hellerau.

Abb. 28 37 Hörstuhl Abb. 29 38 Stuhl

Abb. 3039 Sessel

37 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić 38 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić 39 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić Hier sind der sogenannte Hörstuhlstühle zu sehen, sowie ein kleiner Sessel, mit der Verformung von Schichtholz.

Abb. 31 40 Kunsthochschule Seminarraum mit Möbeln

40 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić

Abb. 3241 Forst Zinna - Aufenthaltsraum mit Sesseln und Rundtischen

Abb. 33 42 Forst Zinna - Café

41 Bildquelle: Privatarchiv Selman Selmanagić Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass durch seine Tätigkeit in der Denkmalpflege nach Ende des Zweiten Weltkriegs Selman Selmanagić zum Erhalt großartiger Denkmale Berlins beigetragen hat.

Den Werkstätten in Hellerau hat er zusammen mit Franz Ehrlich den Weg für eine topmoderne Möbelherstellung geebnet.

Durch seine wesentliche Mitarbeit am Kollektivplan "Berlin Plant" nach dem zweiten Weltkrieg hat er den Samen für die utopischen Ideen einer modernen Städteplanung gelegt, die erst sehr viele Jahre und Jahrzehnte über seine Studenten im In- und Ausland verwirklicht worden sind. Seine Zitate sind zu Leitsätzen geworden, die seine Studenten das ganze Leben geprägt haben und die sie heute noch gern und voller Stolz zitieren.

Im Übrigen möge man mir verzeihen, dass ich exemplarisch nur einige Namen seiner zahlreichen Schüler und Weggenossen in diesem Vortrag erwähnen konnte.

Die Abbildungen sind von der Referentin, Frau Azemina Bruch Selmanagić, recherchiert worden.

42 Quelle: Privatarchiv Selman Selmanagić