Albrecht von Kemenaten und seine literarische Identitat
TATSUO TERADA
1. Fragestellung
Albrecht von Kemenaten gibt im
liefertenaventiurehaften Dietrichepen, seinen Namen an:
von Kemenaten Albreht/der tihte ditze moere,/(...)
(
Diese Namensnennung des Dichters stellt eine groBe Ausnahme in der
gesamten Uberlieferung der Heldenepik des deutschen Mittelalters dar.2) Die ansonsten herrschende Anonymitat scheint ihn nicht davon abgehalten
zu haben, sich selbst zu nennen. Von der Tendenz her ist dieser Akt zwar
•e kein wesentliches Gegengewicht gegen die riesige Masse anonymer Hel
denepik•f3),aber der Dichter hatte sicher eine individuelle Begrundung fur
seine Selbstnennung. Helmut de Boor fuhrt zwei Grunde an, warum Al
brecht,der •eSchopfer des Bernertons•f, seinen Namen genannt haben konnte:
Er sah sich •eals [...] Schopfer eines neuen •gTones•h, den er als sein Ei
gentumbezeichnen wollte. Aber daruber hinaus fuhlte er sich als der Schop-
1)
(ablehnenden?) Antwort des Zwergenkonigs Goldemar ab. 2) Hier sei abgesehen von Heinrich von Ofterdingen im
Eschenbach im
3) Hofler, Otto: Die Anonymitat des Nibelungenliedes. In: Zur germanisch-deutschen Heldensage. Hrsg. von Karl Hauck. Darmstadt 1965. S. 330-392. Hier S. 363. 98 Tatsuo Terada fer eines neuen Stils im Bereich des heroischen Romans. Er wollte bewusst
ein hofischer Dichter sein, und er hat als ein solcher seinen Namen ge
nannt.•f4) Was hat ihn aber fur den Fall, dass de Boor recht hat, so selbstbe
wusstwerden lassen, als erster und namentlich ein aventiurehaftes Dietrich
eposzu verfassen, in dem er die Gestalt des Dietrich von Bern in einem
Licht erscheinen lasst, das sich von dessen bisherigem Image unterscheidet?
War er sich zu seiner Zeit schon der Bipolaritat •ehofisch-heroisch•f bewusst
u nd wollte er somit ein hofischer Dichter sein? Um sich einer Antwort auf
diese Fragen zu nahern, scheint es hier zunachst ratsam, die Umrisse des
mittelalterlichen Literaturbetriebs nachzuzeichnen. Von zentraler Bedeutung
ist dabei einerseits die Frage, wie wir uns die Literarisierung mundlich
u berlieferter Stoffe, hier vor allem aus dem Sagenkreis um Dietrich von
Bern, vorzustellen haben und andererseits die Bedingungen, die einen
Dichter des Mittelalters dazu veranlasst haben konnten, seinen Namen anzu
geben.
2. Mundlichkeit und Schriftlichkeit
Im Mittelalter wurden in aller Welt Heldenlieder gesungen und die Stoffe
u nd Motive auch auf diese Weise tradiert. Zahlreiche Urkunden weisen
nach, wenn auch teilweise nur indirekt, wie beliebt diese Gattung einst war.
Aus dem deutschen Mittelalter wissen wir z.B., dass der Bamberger Bischof
Gunther sich im 11. Jahrhundert uber Lieder von den Heldentaten Diet
richsvon Bern amusierte und dass daruber ein Kleriker klagte. An den
grosseren Adelshofen bzw. in den Klostern, also uberall, wo illitterati und litterati zusammenlebten, bestanden auch in der Dichtung Mundlichkeit und
Schriftlichkeit nebeneinander. Im realen Literaturbetrieb gab es fliessende
Ubergange, d.h. verschiedene Mischformen zwischen diesen beiden Polen,
eine Erscheinung, die Hans Fromm als •esymbiotisch•f bezeichnete:5) Ein
schriftkundiger Mensch konnte nicht nur an der Buchliteratur teilhaben,
sondern sich auch als Zuhorer oder Sanger mundlicher Dichtung an einer
kurzewile beteiligen.
Gerade die Manner dieses Typs spielten bei der Geburt der neuen lite
rarischenGattungen eine grosse Rolle, als diese, ausgehend von Frankreich
4) de Boor, Helmut: Albrecht von Kemnaten. In: d.B., H.: Kleine Schriften I. Berlin 1964. S. 198-208. Hier S. 206.
5) Fromm, Hans: Der oder die Dichter des Nibelungenliedes? In: Colloquio italo
germanicosul tema: I Nibelunghi. Roma 1974. S. 63-74. Hier S. 66. Albrecht von Kemenaten und seine literarische Identitat 99 oder auf dem Umweg uber dieses Land, im deutschen Sprachraum durch zudringenbegannen. Sie ubersetzten etwa Vorlagen, die ihre Mazene sich von franzosischen Adligen geliehen hatten, in ihre Volkssprache und uber nahmenneue Genres wie den Minnesang. Die so entstandenen hofischen
Gattungen erweckten dann das Interesse des Publikums an der Episierung mundlichen Traditionsgutes. Die Adligen, die mit dieser Dichtung ver trautwaren, veranlassten oder motivierten die litterati auch dazu, das be reitsepisierte
3. Beauftragung durch die Mazene
Es darf davon ausgegangen werden, dass die Epiker meistens schrift kundigwaren; zahlreiche Belegstellen, die direkt oder indirekt den Beweis dafur liefern, sind bekannt. Veldekes lateinische Quellen, Hartmanns Stolz auf seine eigene Kunstfertigkeit und Gottfrieds Akrostichon setzen alle eine Schulbildung voraus; selbst der Dichter des
ichne kan deheinen buochstap./da nement genuoge it urhap:/disiu aventiure/vert
ane der buoche stiure. (
Die Frage, ob solche Manner ausschliesslich fur den Literaturbetrieb tatig waren, lasst sich nicht mehr beantworten. Aber viele von ihnen durften als clerici anzusehen sein, die sich in unterschiedlichem Ausmass in den artes liberales ausgebildet hatten und sich dann als Hofkleriker auch mit welt
- 6) Fechter, Werner: Lateinische Dichtkunst und deutsches Mittelalter. Berlin 1964. S. 107-139; Fromm, Hans: Das Nibelungenlied und seine literarische Umwelt. In: Poch larnerHeldenliedgesprach. Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 1990. S. 3-19. Hier S. 7f.
7) Wolfram von Eschenbach. Parzival. Mhd./Nhd. Mhd. Text nach der Ausg. von Karl Lachmann, Ubersetzung und Nachwort von Wolfgang Spiewok. Bd. 1. Stuttgart 1981. 100 Tatsuo Terada
lichen Aufgaben beschaftigten.8>
Die oben genannten Autoren werden haufig in Literaturexkursen zitiert,
was zunachst den Eindruck erweckt, dass sie sich erst mit ihren Grossepen
etabliert hatten. Aber wir durfen nicht vergessen, dass Wolfram wohl schon
als Lyriker bekannt war, als die ersten Teile des
< Parzival> 114, 12f.) Hartmanns erhaltene Lieder gehoren wohi auch in die
Fruhzeit seines Schaffens. Nach der neueren Forschung bewirkte die Lyrik
eine Namenstradition, weil der Vortrag stark an die Individualitat des
Dichters geknupft war: Im Minnesang waren •eder Autor und sein OEuvre
im Bewusstsein des Publikums prasent•f,9) weshalb Anonymitat der Uber
- lieferung weniger haufig anzutreffen ist als in der Epik.
Die Epiker waren materiell vollig abhangig von ihren Auftraggebern.
Erst der Auftrag eines Mazens ermoglichte es den Dichtern, mit hinreichen
derUnterstutzung und Absicherung oft jahrelang an grossen Dichtungen
zu arbeiten.10) Wahrscheinlich mussten sie sich schon, ehe sick ihnen so die
Moglichkeit bot, ihre Grossepen zu verfassen, in ihrer naheren Umgebung
oder im engeren Kreis eines speziell literarisch interessierten Publikums
einen Namen gemacht haben. Lyrik war eine gute Gelegenheit dazu. Ein
solcher •eName•f muss allerdings nicht ausschliesslich auf literarische Praxis
zuruckzufuhren sein, sondern kann auch auf eine etwaige Schreibtatigkeit
eines Klerikers am Adelshof und im (Haus-)Kloster zuruckgehen. Die
haus- und familiengebundene Geschichtsschreibung, die die Fursten des
Mittelalters interessierte, ware nur als ein mogliches Beispiel zu nennen.
Man konnte sich die Situation also so vorstellen, dass sich erst Mannern,
die durch gewisse Vorarbeiten ihren potentiellen Auftraggebern einen
Nachweis ihrer Kunstfertigkeit erbracht hatten, die Chance eroffnete, gro ss ereliterarische Auftrage zu erhalten.
8) Hoffmann, Werner: Mittelhochdeutsche Heldendichtung. Berlin 1974. S. 38. Unter den hofischen Dichtern durfte es im ubrigen weit mehr Hofkleriker gegeben haben, als man bisher angenommen hat. Hartmann und Wolfram, die sich beide als Ritter bezeichnen, stellen eher die Ausnahme dar. 9) Wachinger, Burghart: Autorschaft und Uberlieferung. In: Autorentypen. Hrsg.
von Walter Haug/Burghart Wachinger. Tiibingen 1991. S. 1-28. Hier S. 12. Die neuere Forschung stellt auch die Bezeichnung •eministerialer Minnesanger•f in Frage, weil die Hofkleriker bedeutende Trager aller hofischen Literatur waxen. (Peters, Ursula: Hofkleri ker-Stadtschreiber-Mystikerin. In: Autorentypen. S. 29-49.) 10) Bumke, Joachim: Hofische Kultur. Munchen 1986. S. 679f. Albrecht von Kemenaten und seine literarische Identitat 101
4. Albrechts Namensnennung und sein Selbstverstandnis
Es ist also durchaus moglich, dass auch Albrecht, wohl clericus, schon vor
der Entstehung des
in den beiden Literaturubersichten des Rudolf von Ems11) konnte sich auch
auf sein Fruhwerk beziehen, ohne dass deshalb die hypothetische Entste
hungszeitdes
Rudolf ihn als seinen Zeitgenossen erwahnt, der maisterliche tihten kann.
Wir wissen heute nicht mehr, wann und mit welcher Leistung Albrecht
sich seinen Ruf erworben hatte, jedenfalls begann er aber mit einem bereits
ausgepragten Selbstbewusstsein als hofischer Dichter am
arbeiten. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob fur Albrecht die Anony
mitatbei der Episierung der mundlich tradierten Stoffe uberhaupt so selbst-
verstandlich war, wie man sich das heute, 750 Jahre spater, vorstellt, oder
genauer formuliert: Wollte sich Albrecht bewusst uber eine damals allge meinanerkannte Anonymitatsnorm bei heroischen Stoffen hinwegsetzen?
Schon um 1200 ist das
sich Anregungen von der hofischen Literatur holte, war Pionier einer neuen
Gattung und sein bahnbrechendes Werk wurde zweifellos zum Vorbild fur
die spateren Heldenepen. Ausser der
meisten Heldenepen j edoch erst ab der Mitte des 13. Jahrhunderts Verbrei
tung,der •eBoom•f der Heldendichtung beginnt erst viel spater. Abgesehen
von einigen, vor allem religiosen Gattungen, deren Anonymitat als De
mutsbeweiszu sehen ist, gilt die Heldenepik heute als eine der ersten
Buchliteraturen, deren Autoren der Wille zur literarischen Identitat fehlt.
Die Anonymitat als gattungsspezifische Norm war in der ersten Halfte
des 13. Jahrhunderts noch nicht verbindlich,12) und selbst die Heldenepik
11) von Kemenat her Albreht/des kunst gert witer schouwe. (Rudolf von Ems: Alexander.
Hrsg. von Victor junk. 1. Tl. Leipzig 1928. v. 3252f.); Och hetti uch mit wishait,/Her Albreht bas denne ich gesait,/Von Keminal der wise man,/Der maisterliche tibten kan. (Rudolfs von Ems
Willehalm von Orlens. Hrsg. von Victor junk. 2. unveranderte Aufl. Dublin/Zurich 1967. v. 2243-2246.) 12) De Boor denkt etwas anders und halt these Autornennung fur einen absichtlichen Bruch mit der Konvention. (de Boor, S. 205f.) De Boor setzt also voraus, dass bei den zu Albrechts Zeit seltenen Episierungen mundlich uberlieferter Stoffe die Anonymitat schon selbstverstandlich war. Hoflers (S. 363) Hinweis, die Erwahnung der Sage [vom Gol demar](1) im
Reinfried-Dichters (nach 1291) die Heldenepik bereits als •eanonyme Gattung•f konstituiert war. Man weiss weder, ob die Gestalt des Zwergenkonigs Goldemar Albrechts Erfindung 102 Tatsuo Terada
als solche war vielleicht als literarische Gattung noch nicht konsti
tuiert.Vom Selbstverstandnis der Zeit her mussten heroische Stoffe noch
mundlich vorgetragen werden; das
Halfte des 13. Jahrhunderts noch eine herausragende Einzelerscheinung.
Selbst wenn die Anonymitat bereits damals sporadisch als Norm der neu
entstehenden Heldenepik anzutreffen gewesen ware, empfand Albrecht sie
noch nicht als zwingend, obwohl ihm das
war.13) Vielmehr wollte er semen Namen wie bei einem Lyrik-Vortrag nen
nen,dessen Publikum Hochachtung vor der individuellen Kunst des To
neerfindenszeigte.14) Albrecht hatte nicht bloss die Absicht, mundlich tra
dierteHeldensagen •enur fur einen Augenblick•f zu •efixieren•f, wie es Fromm
vom Nibelungendichter annimmt,15) oder eine rein unterhaltende Dichtung
unter Verwendung von beliebten Stoffen und Motiven zu schaffen.
Albrechts Konzept, das im Prolog nur angedeutet ist, namlich Kritik am
Haudegentum und die Beschreibung von Dietrichs erster Minne, lasst deut
lichseine negative Einstellung gegenuber dem Dietrich-Bild spuren, das
als beliebtester Stoff in den herkommlichen Sagen tradiert und auch vom
Publikum akzeptiert wurde:
Wir han von helden vil vernomen,/die ze grozen striten sind bekomen/bi hern
Dietriches ziten./si begiengen degenheit genuoc,/do einer ie den andern sluoc./(...)
man sprach, er toete deb beste,/der manigen ane schulde ersluoc./(...)
Nu merht, it herren, daz ist reht:/von Kemendten Albreht/der tihte ditze moere,/
wie daz der Berner vil guot/nie gwan gen vrouwen hohen muot./wan seit uns daz er
woere/gen vrouwen niht ein hovelich man/(sin muot stuont im ze strite),/unz er ein vrouwen wol getan/gesach bi einen ziten:/diu was ein hochgeloptiu meit,/diu den
Berner do betwanc,/als uns diu aventiure seit. (
Diese Strophen klingen aus zwei Grunden noch •ehofischer•f als die 1. Stro
pheder Handschriften A und C des
ist, noch ob der Reinfried-Dichter these Gestalt von Albrecht oder aus einer fruheren
mundlichen Uberlieferung ubernommen hat. Der Reinfried-Dichter brauchte im ubrigen auch vom Handlungszusammenhang her nicht Albrechts Namen zu nennen. 13) Das Motiv •eVeranderung durch die Minne•f ist bereits im
- genommen, wo aus dem vermezzenen Siegfried und der amazonenhaften Brunhild jeweils ein hofischer Mensch wird. 14) Vgl. Wachinger, S. 12. 15) Fromm (1974), S. 74. Albrecht von Kemenaten und seine literarische Identitat 103
die an den Minnesang erinnert, ganz anders klingt als die herkomm lichenmetrischen Formen heroischen Erzahlens, die wohl auch beim
Mit dieser Neuerung wollte Albrecht die Aufmerksamkeit seines Pu blikumsauf sich ziehen. Seine neuen Themen-Kritik am Haudegentum
u nd Dietrichs erste Minne-mussten viele seiner Zeitgenossen, vor allem die kriegerisch eingestellten degen als so fremd, wenn nicht sogar abwegig empfinden, dass er sich nicht auf die traditionellen Methoden der Darstel lungbeschranken konnte. Die Kritik an Dietrich von Bern, die das ganze
Mittelalter hindurch schriftlich belegt ist, wurde in der Kirchenlehre mit der arianischen Haresie des historischen Ostgotenkonigs Theoderich ver bunden.Vor dem mittelalterlichen Publikum, das sich kaum fur Theode richsArianismus interessiert haben durfte, wurden eher Dietrichs •eHelden taten•fbesungen. Diese Heldentaten bedeuteten fur die kriegerisch einge stelltenZuhorer,dass Dietrich nie besiegt wurde und manigen ane schulde ersluoc. Daraus ist auch der Glaube an Dietrichs Unbesiegbarkeit entstanden,
der in der Uberlieferung der Dietrichepik immer wieder auftaucht.16) Und gerade dieses Dietrich Bild ermoglichte es den realen Haudegen des Mit telalters,sich mit ihm als einem Symbol ihres Heroenkultes zu identifi zieren.Albrecht empfand dies aber als unrecht und wollte solche Drauf
gangerzum Umdenken mahnen oder andere Zuhorer von dieser Unsitte abhalten.
Eine Kritik am Haudegentum ist nun bereits beim sogenannten Heinrich
von Melk (um 1160?) zu finden:
si bringent sich mer ze schanden,/swenne si sprechent •eden mac man in alien landen/
•fze einem guotem chnecht wol haben:/•eder hat so manigen erslagen•f.
(
16) Nirgends ist beschrieben, dass Dietrich von einem Ritter oder Riesen erschlagen worden ware, wahrend •eDietrichs Ende•f in verschiedenen, vor allem klerikalen Versionen uberliefert ist: Vulkansturz, Hollenfahrt, ewiger Drachenkampf usw. Vgl. Gschwantler, Otto: Zeugnisse der Dietrichsage in der Historiographie von 1100 bis gegen 1350. In: Heldensage und Heldendichtung im Germanischen. Hrsg. von Heinrich Beck. Berlin
1988. S. 35-80. 17) Der sogenannte Heinrich von Melk. Nach Richard Heinzels Ausgabe von 1867 neu hrsg. von Richard Kienast. Heidelberg 1946. Auf die wortlichen Parallelen weist auch Horst Peter Putz hin, ohne aber naher darauf einzugehen. P., H.P.: Ritterepos und
Heldenepos im Spatmittelalter. In: Deutsche Heldenepik in Tirol. Hrsg. von Egon Kuhe bacher.Bozen 1979. S. 212-223. Hier S. 214. 104 Tatsuo Terada
Dieser Heinrich, der sich als adliger laicus des Klosters Melk an ein Adels-
publikum gewandt zu haben scheint, kritisierte die aus seiner Sicht nega tivenTendenzen seiner Zeit und mahnte zur Abkehr von der Welt. An der
zitierten Stelle ist zu erkennen, dass er Albrechts kritische Einstellung ge
genuberdem Haudegentum vorwegnahm. Man konnte dies als Zufall be trachten,wenn Heinrich nicht kurz davor auch uber die Schiirzenjagerei
dieser degen klagen wurde:
swd sich die riterschaft gesamnet,/da hebet sich ir wechselsage,/wie manige der unt
der behuret babe;/ir Taster mugen si nicht verses%gen,/ir ruom ist niwan von den
wiben./saver sich in den ruom nicht enmachet,/der dunchet sich verswachet/under
andern sinen glichen. (
Die Stimme dieses Laienbruders klingt zwar anders als Albrechts im Grunde unterhaltender Ton. Wahrend Heinrich den moralischen Verfall seiner Zeit geisselt, gebraucht Albrecht sein Talent, um ein neues Bild Dietrichs von Bern zu zeichnen, der sich von der minne ferngehalten hatte und dock von einer hochgelobten meit bezwungen wurde. Aber Albrechts Thematik und feiner Methodik liegt wohl dieselbe Stellungnahme zu diesem Sittenverfall zugrunde, die sich bei Heinrich in anderer Form zeigt. Dietrich befreit dann die schoenen vrouwen wol getan (5, 12) und nimmt die Jungfrau Hertlin,
Tochter des Konigs von Portugal, die vom Zwergenkonig Goldemar ge raubtwurde, aber bis dahin unberi hrt blieb,-in erster Ehe vor Herrat- zur Frau, soweit wir der
5. Schluss
Ob Albrecht mit seinen zwei Themen sein Ziel erreichte, weiss man nicht mehr. Seine Thematik war aktuell in der ersten Halfte des 13. Jahrhunderts.
Der thematisierte Minnedienst bildet einen scharfen Gegensatz zum gan gigenFrauenbild der Zeit. Albrecht betont diesen Kontrast mit seiner hofi schenEthik, d.h. im Hinblick auf die Situation seiner Zuhorerlnnen und
18) Nach dem Abdruck der Handschrift des Diebolt von Hanowe (um 1480?). In: Heldenbuch. Nach dem altesten Druck hrsg. von Joachim Heinzle. II. Goppingen 1987. S. 235. Albrecht von Kemenaten und seine literarische Identitat 105
geht gleichzeitig zur Kritik an der •eTollkuhnheit•f19), also zu einer Zeitkritik u ber, es gelingt ihm uberdies, seinen ethischen Appell mit einer beruh
rendenForm zu verknupfen. Dabei dachte er viel weniger an das Durch
brechender Anonymitatsnorm, als man heute annehmen mochte. Durch
seine Namensnennung wollte er nicht nur auf seine Kunstfertigkeit als
hofischer Dichter hinweisen, sondern auch scharfe Gesellschaftskritik uben.
Diese Kritik weist bereits auf ein spateres, nicht ganz heroisches, aber bei
aller Neu- und Umbildung der Texte mehr oder weniger bestehengeblie
benesBild Dietrichs voraus-auf den zaghaften Berner20). Albrechts
Selbstbewusstsein erscheint um so grosser, als die spateren Autoren der
Dietrichepik die Selbstnennung vermieden. Aber seine Einstellung zu den mundlich tradierten Stoffen gab den Anstoss zur Geburt der neuen Gattung der Dietrichepik, in der der Text einzelner Werke-ganz anders als in der Uberlieferung des
Der
19) Vgl. Ruh, Kurt: Verstandnisperspektive von Heldendichtung im Spatmittelalter und heute. In: Deutsche Heldenepik in Tirol, S. 15-31. Hier S. 24.
20) Vgl. Heinzle, S. 188-190. 21) Wenn man sich die Variationsenge der handschriftlichen Uberlieferung des Nibelunge liet/not> und der Namensnennung eines Autors feststellen, weil es sich bei beidem um die Autorisierung des •eOriginals•f und ein anschliessendes Variierungsverbot handelt.