Freitag, 30.10.2015 SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: ausgewählt von Lotte Thaler, präsentiert von Bernd Künzig

Bildhauerin der Töne Dinorah Varsi The legacy GENUIN GEN 15353

Ebenso diskret wie analytisch The french suites BWV 812-817 Aria variata BWV 989 Französische Ouvertüre BWV 831 Ekaterina Derzhavina, Klavier Profil Edition Günter Hänssler PH 14043

Keine wirklichen Neuentdeckungen Max Emanuel Cencic Arie Napoletane Il Pomo d’oro Maxim Emelyanychev Decca 478 8422

Unverwechselbares Timbre Ruhe, meine Seele Lieder von Richard Strauss Katharina Persicke, Sopran Nicholas Rimmer, Klavier GENUIN GEN 15379

Ans Herz zu legende Aufnahme Cathy Krier Berg – Schönberg – Zimmermann – Liszt Piano – 20th Century Avi-music 8553339

Seltene Homogenität Rachmaninow Harriet Krijgh, Violoncello Magda Amara, Klavier CAPRICCIO C5258

Großartige Luftigkeit Klarinettenquintette Mozart – Brahms – Reger Sharon Kam, Klarinette Isabelle van Keulen, Violine Ulrike-Anima Mathé, Violine Volker Jacobsen, Viola Gustav Rivinius, Violoncello Classics 0300710 BC

Treffpunkt Klassik – Neue CDs – ausgewählt von Lotte Thaler.

Sieben Neuerscheinungen stehen im Mittelpunkt unserer Sendung: von drei Pianistinnen, einem Countertenor und einer Sopranistin sowie von zwei Kammermusik-Ensembles. Sie haben Musik von Bach über Mendelssohn, Richard Strauss, Max Reger und Rachmaninow bis Bernd Alois Zimmermann aufgenommen.

Das dickste Paket ist dabei eine quadratische Box in 32 mal 32 Zentimetern Seitenlänge und vier Zentimetern Höhe. Darin verbergen sich 35 CDs und 5 DVDs, das sind 13 Live-Mit- schnitte, 18 Studio-Aufnahmen, ein Gespräch und fünf Filme mit und über die Pianistin Dinorah Varsi. Erschienen bei dem Label GENUIN und von Monica Steegmann ediert. Von 1977 bis 1990 war Monica Steegmann Redakteurin für Kammermusik beim Süddeutschen Rundfunk/SWR in Stuttgart und hat in dieser Zeit selbst viele Aufnahmen mit Dinorah Varsi gemacht.

Dinorah Varsi stammte aus , wo sie 1939 geboren wurde. Mit vier Jahren trat sie zum ersten Mal auf, mit sieben gibt sie schon einen ganzen Klavierabend. Studiert hat sie in Frankreich und später in der Schweiz bei Géza Anda.1966 übersiedelt sie in die Schweiz, gewinnt ein Jahr später den Clara-Haskil-Wettbewerb in Luzern und beginnt nun ihre rege Konzert- und Aufnahmetätigkeit. 1990 wird sie von Fany Solter als Gastprofessorin an die Musikhochschule in Karlsruhe berufen, 2009 zieht sie sich aus dem Konzertleben zurück, 2013 stirbt Dinorah Varsi in Berlin.

Die umfängliche Edition hat wahrscheinlich alles zusammengetragen, was es an Ton- und Filmdokumenten von Dinorah Varsi gibt. Außerdem ist der Edition eine zweisprachige Broschüre mit Biographie, Interviews und Würdigungen beigegeben. Im Zentrum ihrer Aufnahmen steht die Musik von Frédéric Chopin und , flankiert von so gut wie allen klassisch-romantischen Komponisten und einigen ausgewählten des 20. Jahr- hunderts.

Wollte man die Persönlichkeit dieser Pianistin auf einen charakteristischen Nenner bringen, würde man sie wahrscheinlich als „Bildhauerin der Töne“ bezeichnen, wie es einmal ein Kritiker über ihre Aufführung von Ravels Klavierkonzert formulierte. Auch hier, beim SWR in Baden-Baden, hat Dinorah Varsi gastiert. Am 26. Juni 1976 nahm sie hier zusammen mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter der Leitung von Ernest Bour das Rondo brillant Es-Dur op. 29 von Felix Mendelssohn auf. Tonmeister war damals Wolfgang Wtorczyk, Toningenieur Anton Enders.

Felix Mendelssohn: Rondo brillant Es-Dur op. 29 11‘30

Eine mittlerweile historische Aufnahme: „Rondo brillant“ Es-Dur op. 29 von Felix Mendelssohn, 1976 aufgenommen von der Pianistin Dinorah Varsi und dem SWR- Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter der Leitung von Ernest Bour.

Johann Sebastian Bach: Französische Ouvertüre, Echo 2‘55

Ekaterina Derzhavina spielte den Satz „Echo“ aus der Französischen Ouvertüre von Johann Sebastian Bach. Die Pianistin gewann 1992 den Klavierwettbewerb „Johann Sebastian Bach“ in Saarbrücken. Am dortigen Rundfunk nahm sie alle Klaviersonaten von Joseph Haydn auf, die 2013, ebenfalls beim Label Profil, erschienen. Und auch die Französischen Suiten auf ihrer Bach-Doppel-CD sind in Koproduktion mit dem Saarländischen Rundfunk entstanden. Ekaterina Derzhavina unterrichtet seit 2003 am Tschaikowsky Konservatorium in Moskau.

Wer eine Aufnahme der sechs Französischen Suiten von Bach auf dem Klavier, nicht auf dem Cembalo, sucht, wird von dieser Aufnahme sicher begeistert sein. Ekaterina Derzhavina nähert sich Bach auf dem modernen Flügel ebenso diskret wie analytisch, sehr klar in der Artikulation, ausgefeilt in den Verzierungen, klanglich dem jeweiligen Satz-Charakter entsprechend, und wenn es gefordert ist auch sehr virtuos und zupackend, aber nie die intime Atmosphäre dieser Musik aufgebend. Hier ist sie mit der vierten Französischen Suite in Es-Dur und den Sätzen Allemande, Courante, Gavotte, Menuet, Air und Gigue:

Johann Sebastian Bach: Französische Suite Nr. 4 Es-Dur BWV 815 10‘10

Die russische Pianistin Ekaterina Derzhavina mit der vierten Französischen Suite Es-Dur von Johann Sebastian Bach auf ihrer neuen Doppel-CD bei dem Label Profil.

Barockmusik ohne Countertenöre ist heute fast undenkbar geworden, und Max Emanuel Cencic ist einer ihrer wichtigsten und bekanntesten Vertreter. Bei Decca ist soeben seine neue CD mit „Arie Napoletane“ erschienen, also mit Arien der neapolitanischen Barockoper. Ihre Hauptvertreter heißen Nicola Porpora, Leonardo Leo und Leonardo Vinci, Alessandro Scarlatti und Giovanni Battista Pergolesi. Die meisten hier aufgenommenen Arien zusammen mit dem Ensemble „Il Pomo d’oro“ – der Goldapfel – sind Ersteinspielungen. Damit kann man natürlich schön werben, und die Musik ist ja auch schön, wenn man Barockopern mag. Aber wirkliche Neuentdeckungen sind diese Arien natürlich nicht, denn ob sie jetzt von Leonardo Vinci oder Leonardo Leo stammen – es sind immer die mehr oder weniger gleich klingenden, mehr oder weniger virtuosen Arien, die wir von x-anderen CDs mit x-anderen Countern eigentlich schon zur Genüge kennen. Wie etwa die Arie „Non fidi al mar che freme“ aus der Oper „Scipione nelle Spagne“ von Leonardo Leo. „Dem bebenden Meer sollte man das kühne Boot nicht anvertrauen, wer schon erblasst und sich ängstigt, wenn er das Meer nur sieht …“

Leonardo Leo: „Non fidi al mar che freme“ 4’20

Der stets umjubelte Countertenor Max Emanuel Cencic mit der Arie „Non fidi al mar che freme“ von Leonardo Leo auf seiner neuen CD mit Arien der napoletanischen Barockoper, erschienen bei Decca.

Sie hören die Sendung „Treffpunkt Klassik“, heute mit neuen CDs.

In eine ganz andere Welt führt uns die nächste Neuerscheinung mit der Sopranistin Katharina Persicke und dem Pianisten Nicholas Rimmer. „Ruhe, meine Seele“ heißt ihre CD bei dem Label GENUIN, und sie ist ausschließlich den frühen Liedern von Richard Strauss gewidmet. Das Titel gebende Lied komponierte Strauss 1894 als Hochzeitsgeschenk für seine Frau Pauline de Ahna, die er im selben Jahr geheiratet hatte und die selbst Sopranistin war. Sie muss eine grandiose Sängerin gewesen sein, wenn man sich die Anforderungen dieses Liedes vor Ohren führt. Allein das Tempo ist wahrscheinlich eine atemtechnische Zumutung, dann die großen Intervallsprünge, die eine lupenreine Intonation voraussetzen, dazu ein Tonumfang, der das Lyische eigentlich sprengt, und eine Dynamik, die eine Opernsängerin im Blick hat. Im Klavier Wagnersche Harmonien und das alles in dreieinhalb Minuten gepackt – verrückt, zumal als Hochzeitsgeschenk:

Richard Strauss: „Ruhe, meine Seele“ 3‘30

Nur absolute Könner können sich an solche Lieder wagen – Katharina Persicke und Nicholas Rimmer. Katharina Persicke lebt übrigens in Freiburg, wo sie auch die Reihe „Klangwerk Lied“ begründete. Nicholas Rimmer, der mit vielen Kammermusikern in verschiedenen Besetzungen arbeitet, unterrichtet seit 2013 Liedgestaltung an der Musikhochschule in Frankfurt.

Was bei den ausgewählten Strauss-Liedern immer wieder auffällt, ist ihre Höhe. Deshalb scheinen sie wie geschaffen für Katharina Persickes glanzvollen, unangestrengten, füllig timbrierten Sopran. Für mich hat ihre Stimme ein unverwechselbares Timbre, was sie eigentlich auch für die Opernbühne prädestiniert. Bei der Auswahl ihrer Lieder haben die beiden Interpreten eine glückliche Hand erwiesen, denn trotz der gemeinsamen musikalisch wie technischen Anforderungen sind die Lieder im Charakter sehr unterschiedlich, versammeln Ernst und Komik, Ironie und Sinnlichkeit, Jugendstil-Girlanden und orchestral gedachte kleine Szenen:

Richard Strauss: „Mohnblumen“ und „Junghexenlied“ 5‘15

Zwei Lieder von Richard Strauss mit der Sopranistin Katharina Persicke und dem Pianisten Nicholas Rimmer – „Mohnblumen“ op. 22 Nr. 2 und „Junghexenlied“ op. 39 Nr. 2 nach Texten von Felix Dahn und Otto Julius Bierbaum.

„The European Concert Hall Organisation“, kurz „ECHO“, ist eine Assoziation von 21 Konzerthäusern in ganz Europa, von Stockholm bis Lissabon, von Paris bis Athen. Das Concertgebouw Amsterdam ist dabei, der Wiener Musikverein, das Barbican Center in London und auch das Festspielhaus in Baden-Baden. Seit 1995 fördert diese Vereinigung junge Talente, die von ihr auf Tournee durch die einzelnen Häuser geschickt werden. Jedes Haus kann „seinen“ Kandidaten vorschlagen. Unter den sechs für die Saison 2015/16 vorgeschlagenen Musikern befinden sich die Luxemburgische Pianistin Cathy Krier und die holländische Cellistin Harriet Krijgh. Beide haben gerade eine neue CD herausgebracht, die ich Ihnen heute vorstellen möchte.

Cathy Krier präsentiert sich mit einem modernen Programm aus Alban Berg, Arnold Schönberg und Franz Liszt als eine Art Vorläufer der beiden. Ans Herz legen möchten wir Ihnen diese Aufnahme aber vor allem wegen der Einspielung des „Enchiridion“ von Bernd Alois Zimmermann: Ein Enchiridion ist eigentlich ein Handbuch, und Zimmermann versammelt insgesamt 16 Miniaturstücke, im ersten Teil des „Enchiridions“ sind sie atonal, im zweiten, auch „Exerzitium“ genannten Teil, dann zwölftönig. Der Zyklus entstand 1949/50. Für Cathy Krier vollzieht Zimmermann damit die Entwicklung Arnold Schönbergs nach, der zwischen 1909 und 1923 aus der freien Atonalität in die Zwölftontechnik gelangte. Bei Bernd Alois Zimmermann tragen die kleinen Klavierstücke seines „Enchiridions“ noch Überschriften, die sozusagen die Jahrhunderte in der Klaviermusik zwischen Bach und Debussy zusammenraffen: Bourée heißt etwa das vierte von 50 Sekunden Dauer, Aria das sechste, „Estampida“ das siebte, Toccata das achte. Und mit einer „Introduktion“ beginnt der Zyklus comme il faut:

Bernd Alois Zimmermann: „Enchiridion“, Teil 1 4‘30

Die luxemburgische Pianistin Cathy Krier, „rising star“ dieser Saison, spielte den ersten Teil der kleinen Stücke für Klavier, „Enchiridion“, von Bernd Alois Zimmermann. Entstanden ist der Zyklus 1949.

Die andere Musikerin, die in dieser Saison zur Auswahl der „rising-star“-Künstler gehört, ist die holländische Cellistin Harriet Krijgh. Sie begann ihr Studium in Utrecht, wechselte dann nach Wien und schloss ihr Studium in diesem Jahr an der Kronberg Academy ab. Zusammen mit ihrer Klavierpartnerin, der russischen Pianistin Magda Amara, hat sie ihre jüngste CD bei dem Label CAPRICCIO dem Komponisten Sergej Rachmaninow gewidmet. Nun werden Sie fragen, hat Rachmaninow so viele Werke für Cello und Klavier geschrieben? Nein, aber ein sehr langes – fast 37 Minuten dauert seine Cello-Sonate g-Moll op. 19. Sie entstand wie sein zweites Klavierkonzert nach einer langen Schaffenspause, und man hat den Eindruck, dass der Komponist so glücklich über die wieder einsetzende Kreativität ist, dass er das Stück am liebsten gar nicht beenden würde.

Auf die Frage, wie Harriet Krijgh den Komponisten Rachmaninow charakterisieren würde, antwortet sie mit fünf Begriffen: Russland, Sehnsucht, Singen, Klavier und Breite. Rachmaninows Art, Emotionen auszudrücken, beeindruckt die Cellistin kolossal, und mit ihrer russischen Partnerin am Klavier findet sie eine verblüffende, gemeinsame Sprache. Homogenität von zwei so verschiedenen Instrumenten wie Cello und Klavier hört man jedenfalls selten. Hier ist der Finalsatz, „Allegro mosso“ der Cello-Sonate von Sergej Rachmaninow:

Sergej Rachmaninow: Cello-Sonate, Finalsatz 10’45

Gesang auf dem Cello aus dem Herzen der russischen Seele: Harriet Krijgh und Magda Amara spielten den Finalsatz aus der Cello-Sonate g-Moll op. 19 von Sergej Rachmaninow. Die CD ist bei dem Label CAPRICCIO erschienen und enthält außer der Sonate noch drei Stücke von Rachmaninow in Bearbeitungen für Cello und Klavier.

Mit einem weiteren Kammermusikwerk geht unsere Sendung „Treffpunkt Klassik“ heute zu Ende. Fünf handverlesene Musiker haben sich zusammen getan, um drei Spätwerke einzuspielen, die Klarinettenquintette von Wolfgang Amadeus Mozart, und Max Reger. Die Musiker sind Isabelle van Keulen und Ulrike-Anima Mathé, Violine, Volker Jacobsen, Viola, Gustav Rivinius, Violoncello, und Sharon Kam, Klarinette. Die Luftigkeit, mit der dieses Ensemble zu Werke geht, ist großartig, insbesondere im Reger-Quintett, das alle Erdenschwere abgestreift hat. Und die stimmungsmäßigen Parallelen in den oft melancholischen Werken werden offensichtlich. Die Doppel-CD beim Label BERLIN Classics enthält auch eine Werkeinführung, in der sich der Herausgeber Michael Kube mit der Klarinettistin Sharon Kam unterhält:

Michael Kube / Sharon Kam: O-Ton 1‘45

Max Reger: Klarinettenquintett, Finalsatz 9‘55

Sharon Kam, Klarinette, Isabelle van Keulen und Ulrike-Anima Mathé, Violine, Volker Jacobsen, Viola, und Gustav Rivinius, Violoncello, zauberten den abschließenden Variationen-Satz aus dem Klarinettenquintett A-Dur op. 146 von Max Reger aufs Parkett. Damit ging „Treffpunkt Klassik“ für heute zu Ende. Redaktion: Lotte Thaler, Sprecher: Bernd Künzig. Nach den Kulturtipps folgen hier um 12 Uhr die Nachrichten mit weiteren Informationen.