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SWR2 Musikstunde

Sehnsucht nach : Die romantische Unendlichkeit (1)

Von Wolfgang Sandberger

Sendung: Montag , 22. September 2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau

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Musikstunde mit Wolfgang Sandberger Sehnsucht nach Sehnsucht: Die romantische Unendlichkeit Montag, 22. September 2014

Willkommen zur Musikstunde, in dieser Sehnsuchtswoche mit Wolfgang Sandberger. Einen schönen guten Morgen!

Titelmusik

Sehnsucht: das ist dieses schmerzliche Verlangen, das vielen von uns nur zu gut vertraut ist, irgendwas scheint halt immer zu fehlen, von Kindesbeinen an: vielleicht ein Schokoladeneis an einem Sommertag, in trüben Herbsttagen: die Heiterkeit und Leichtigkeit der Sonne oder einfach: die Herz-Aller-Liebste. Sehnsucht, das ist dieses Verlangen nach etwas Abwesendem, der ungestillte Hunger und Durst der Seele. Der romantische Mensch hat sie besonders empfunden, Schuberts Alfonso zum Beispiel schon vom Morgengrauen an: „Schon wenn es beginnt zu tagen, wird in mir die Sehnsucht wach; Vögel fliegen, Wolken jagen und mein Herz will ihnen nach“ 3

0.50’’

Musik 1 Track 6 4.32‘‘ „Schon wenn es beginnt zu tagen“, Arie des Alfonso aus der Oper Alfonso und Estrella Jonas Kaufmann, Tenor Mahler Chamber Orchestra, Claudio Abbado Decca 478 1963 LC 0171, SWR: M0126769 006

Jonas Kaufmann ist das gewesen zum Auftakt in der SWR 2 Musikstunde: als sehnsuchtsvoller Alfonso in der Oper Alfonso und Estrella von Franz Schubert. Claudio Abbado hat das Mahler Chamber Orchestra geleitet. In der Romantik ist die Sehnsucht zu einem Schlüsselbegriff geworden mit so unendlich vielen Sehnsuchtsmotiven: mit der blauen Blume des Novalis, dem Wanderer, der sich nach ungeahnten Welten sehnt oder der Sehnsucht nach unbedingter Liebe, wie sie das Sehnsuchtsmotiv in Wagners Tristan symbolisiert. Doch schon die antike Welt, die griechische Philosophie kennt das sehnende Verlangen, das sich nach Platon auf etwas „anderswo Seiendes und Abwesendes“ bezieht. Der griechische Begriff Póthos steht für dieses Verlangen. Pothos ist der Bruder des Eros, er 4 verkörpert das strebenden Begehren, das sich auf etwas richtet, was der Mensch meist nicht dauerhaft besitzt: beständiges Glück, heitere Gelassenheit, bedingungslose Liebe. So ein bisschen Herzschmerz kann ja ganz schön sein, doch zur Sehnsucht gehört oft auch das enttäuschende Gefühl, das Ersehnte nicht zu erreichen. Das mittelhochdeutsche „senen“ heißt „schmerzliches Verlangen empfinden“. Und im Grimm’schen Wörterbuch wird die Sehnsucht beschrieben als „schmachtendes Verlangen“, gar als schmerzliche Krankheit, als Liebespein. Psychopathologisch wird es dann, wie bei Goethes : „es schwindelt mir, es brennt mein Eingeweide. Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide.“ Ein Sehnsuchtslied, das Mignon in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre gemeinsam mit dem Harfner singt. Franz Schubert hat das vertont, insgesamt sogar sechs mal, zunächst ganz im Sinne von Goethes Romanvorlage, als Duett, dann aber hat Schubert dieses Lied wohl auf Wunsch des Verlegers auch als Sololied vertont: Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide… (2.15’’)

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Musik 2 Track 6 3.20‘‘ Franz Schubert Nur wer die Sehnsucht kennt, D 877/4 Barbara Bonney, Sopran / Geoffrey Parsons, Klavier Teldec 4509 00873 2 LC 6019, SWR M0026924 006

Barbara Bonney und Geoffrey Parsons mit dem Lied der Mignon „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“ in der Vertonung von Franz Schubert. Die Sehnsucht ist ein romantischer Schlüsselbegriff: er öffnet uns die Welt der romantischen Musik mit ihren Nacht und Traumseiten, mit einem oft sehnsuchtsvollen Ton, poetisch-versonnen. Die romantische Sehnsucht ist eine Gegenwelt zur Klarheit und erhabenen Größe der Klassik. Ja, in der Sehnsucht ist sogar das entscheidende Kriterium gesehen worden, um zwischen Klassik und Romantik zu unterscheiden. In seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur hat August Wilhelm Schlegel die Sehnsucht so verstanden, als Unterscheidungsmerkmal zwischen „Klassik“ und „Romantik“: „Die Poesie der Klassik sei die des Besitzes, so schreibt er, die unsrige, die romantische ist die der Sehnsucht“; die Klassik stehe auf dem Boden der Gegenwart, die Romantik wiege sich „zwischen Erinnerung und Ahnung.“ 6

Vergangenheit und Zukunft sind also die entscheidenden zeitlichen Bezugspunkte dieses Gefühls: das Sehnen ist oft verknüpft mit der Erinnerung, nostalgisch auf die Vergangenheit bezogen, auf die verlorene Kindheit zum Beispiel: Wie war das schön, mit nackten Füssen im nassen Sand zu spielen… Morgen geht es in der SWR 2 Musikstunde um diese Sehnsucht nach dem Kinderland. Sehnsucht kann sich aber auch auf die Zukunft richten, der Sehnsüchtige träumt dann von besseren Welten, von utopischen Paradiesen. Im Hier und Jetzt aber ist der Sehnsüchtige ein Fremdling, so wie es der Dichter Georg Philipp Schmidt von Lübeck in seinem Gedicht „Der Wanderer“ so unnachahmlich formuliert hat. Franz Schubert hat diesen Text vertont und das Lied dann auch in seiner Wanderer-Fantasie selbst zitiert, genauer: im Adagio dieser Klavier-Fantasie ganz in der originalen Tonart des Liedes – der Text dazu lautet: Die Sonne dünkt mich hier so kalt, Die Blüte welk, das Leben alt, Und was sie reden leerer Schall, ich bin ein Fremdling überall.

(2.25)

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Musik 3 Track 2 6.37‘‘ Franz Schubert Wanderer-Fantasie C-dur D 760, daraus: 2. Satz Adagio Maurizio Pollini, Klavier DGG 447 451-2 LC 0173

Maurizio Pollini spielte das Adagio aus der Wandererfantasie von Franz Schubert. - Mit der Romantik wird die Sehnsucht zu einem zentralen Motiv in Literatur, Malerei und Musik. Die berühmte „Blaue Blume“ von Novalis ist zu einem solchen Sehnsuchtsmotiv geworden, als unerreichbares Ziel des schwärmerischen Suchens: im Hier und Jetzt ist der sehnsuchtsvolle Mensch unzufrieden, er sehnt sich nach dem Anderen, das er vielleicht aber noch gar nicht kennt. Auch Joseph von Eichendorff hat dieses Gefühl wie kaum ein anderer in seiner Lyrik immer wieder beschworen: Sehnsucht – so sind folgende Zeilen überschrieben:

„Es schienen so golden die Sterne,

Am Fenster ich einsam stand

Und hörte aus weiter Ferne

Ein Posthorn im stillen Land. 8

Das Herz mir im Leibe entbrennte,

Da hab ich mir heimlich gedacht:

Ach, wer da mitreisen könnte

In der prächtigen Sommernacht!“

Das romantische Herz sehnt sich fort, sehnt sich nach anderen Orten. Ein solcher Sehnsuchtsort ist auch der deutsche Wald gewesen, ein romantischer Idealraum der Sehnsucht, der auf Eichendorff eine große Faszination ausgeübt hat: in seiner „Waldeinsamkeit“ zum Beispiel. Bei Eichendorff steht der Wald aber auch für das Zwielichtige, für schaurige Begegnungen wie mit der Loreley im „Waldesgespräch“, und in dem folgenden melancholischen Lied steht der Wald auch für die Todessehnsucht: Über den „traurigen, waldhornblasenden Jäger“ heißt es da:

„Die Wälder rauschten leise, Sein Jagen war vorbei, Der blies so irre Weise, Als müßt das Herz entzwei. Und still dann in der Runde Ward's über Tal und Höhn, Man hat seit dieser Stunde Ihn nimmermehr gesehn.“ 9

„Der traurige Jäger“ – hier in der Vertonung von Robert Schumann:

(2.05) Musik 4 Track 8 2.11‘‘ Robert Schumann Der traurige Jäger, aus den Romanzen und Balladen op. 75 SWR Vokalensemble Stuttgart/ Rupert Huber Hänssler 93.002 LC 10622, SWR M0247596 008

Für romantische Sehnsuchts-Perspektiven hatte auch Caspar David Friedrich ein besonders feines Auge. Schauen wir auf das Bild: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes, ein Bild, das geradezu eine Ikone der Romantik geworden ist – vielfach gedeutet als Sehnsuchtsbild, das aber auch Aspekte der Freundschaft und Hoffnung berührt. An einem Felsenhang sehen wir da zwischen mächtigen Bäumen zwei Männer stehen, fast von hinten gesehen: Die beiden sind versunken in die Betrachtung der Mondsichel, die vor ihnen in einem bräunlichen Nebelduft schwebt. Das Mondlicht und der Mondenstrahl sind oft Begleiter der Sehnsucht, auch in 10 dem folgenden Abendlied für die Entfernte, ein Text von August Wilhelm von Schlegel: In der heiligen Stille beim Mondenstrahl vernimmt das Herz des lyrischen Ichs da plötzlich leise Klänge, von Ferne, Klänge der Sehnsucht: „Sie drängen sich so wunderbar, sie regen all mein Sehnen“. Franz Schubert ist hier wieder der kongeniale Ton-Dichter: (1.20)

Musik 5 Track 18 5.14‘‘ Franz Schubert Abendlied für die Entfernte D 856 Christian Gerhaher, Bariton Gerold Huber, Klavier Sony 88883712172 LC 6868

nach einem Text von August Wilhelm Schlegel. Für Schlegel also ist die Sehnsucht einer der zentralen Aspekte der Romantik, gerade im Vergleich zur edlen Einfalt und stillen Größe der Klassik. In der Musik von Franz Schubert ist uns dieser Ton der Sehnsucht vertraut, doch wie ist das bei Ludwig van Beethoven, dem vermeintlichen Klassiker der Klassik? Der Feuerkopf E.T.A. Hoffmann hat Beethoven mit romantischen Ohren gehört: in seiner berühmten 11

Rezension über die fünfte Sinfonie schreibt er darüber. Beethoven schließe uns mit dieser Musik ein „unbekanntes Reich auf“, ein „Geisterreich der Töne“, er sei daher ein zutiefst romantischer Komponist, lesen wir da, ja diese c-moll-Sinfonie wird in Hoffmanns großer Rezension und Analyse zum romantischen Modell par excellence. Hören wir diese Musik mit den Ohren von E.T.A. Hoffmann dann ist diese Sinfonie der Beweis, dass Beethoven eben kein Klassiker, sondern „ein rein romantischer“ Komponist sei, denn: Beethovens c-moll- Sinfonie - so Hoffmann - bewege „die Hebel des Schauers, der Furcht, des Entsetzens, des Schmerzes, und sie erweckt jene unendliche Sehnsucht, die das Wesen der Romantik ist“. (1.35’’)

Musik 6 SWR 7‘15 Ludwig van Beethoven Sinfonie c-moll, 1. Satz Wiener Philharmoniker Carlos Kleiber, SWR 1985665

Musik als „unendliche Sehnsucht“ – so hat E.T.A. Hoffmann die „Fünfte“ von Ludwig van Beethoven gehört: das ist der erste Satz dieser c-moll-Sinfonie 12 gewesen mit den Wiener Philharmonikern unter Carlos Kleiber. Gerade in diesem Satz werde das Gemüth festgehalten „in einer unnennbaren Sehnsucht“, so schreibt Hoffmann in seiner großen Beethoven- Rezension aus dem Jahr 1810. Die romantische Sehnsucht strebt nach Entgrenzung, sucht nach dem, was uns selbst übersteigt. Der Mensch sehnt sich nach dem Größeren, nach dem Höheren, nach dem Unendlichen. Friedrich Schlegel, der Bruder von August Wilhelm, hat versucht, das endliche Bewusstsein aus dem Unendlichen abzuleiten: in seiner reinsten Form sei dies ein „reines Streben“. Durch Sehnsucht und Erinnerung hebe die menschliche Seele sich „zum Göttlichen empor“. Modern gesprochen: die Sehnsucht macht den Menschen zu dem, was noch werden kann. Das ist die utopische Kraft der Sehnsucht, auch wenn es bei Rainer Maria Rilke später heißt:

„Aus unendlichen Sehnsüchten steigen / endliche Taten wie schwache Fontänen, die sich zeitig und zitternd neigen“. (1.20)

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Musik 7 Track 3 6.05‘‘ Franz Schubert Impromptu Nr. 3 Ges-Dur aus op. 90 D 899 Alfred Brendel, Klavier Philips 422 237 – 2 , SWR M0012173 014

Werden Sehnsüchte nicht erfüllt, wird der Mensch melancholisch. Das ist dann dieser ganz eigene Ton, den wir bei Schubert immer wieder vernehmen und auch er hat dieses Gefühl der Sehnsucht sehr gut gekannt: Johannes Brahms. Selbst scharfzüngige Kritiker wie Friedrich Nietzsche haben seine Musik so empfunden; recht polemisch hat der Philosoph da von einer „Melancholie des Unvermögens“ gesprochen. Brahms schaffe nicht aus der Fülle, nein, „er dürste nach der Fülle“. Sein Eigenstes sei die Sehnsucht“ – so Nietzsche: „Das errathen die Sehnsüchtigen, die Unbefriedigten aller Art, “ ja Brahms Musik sei speziell etwas für „unbefriedigte Frauen“. Patsch, das saß, doch so böse diese Polemik auch klingen mag: Im Kern trifft sie einen zentralen Punkt bei Brahms. Ohne Zweifel ist der sehnsuchtsvolle, melancholische Ton ein Charakteristikum vieler seiner Werke, auch vieler seiner Lieder: 14

Brahms greift da meist nach sehnsuchtsvollen Texten, in denen es um Trennung, Liebesqual, Abschied oder Liebesklage geht. Die häufigsten Motive der von ihm vertonten Gedichte sind die Erinnerung und Vergänglichkeit. Allein drei Lieder tragen bei Brahms den Titel „Sehnsucht“ und dann gibt es bei diesem „Komponisten für Unbefriedigte aller Art“ doch auch noch die „Gestillte Sehnsucht“, ein Lied nach einem Gedicht von Friedrich Rückert: wie bei einem Abendhymnus setzt da die zusätzlich begleitende Bratsche auf der tiefen C-Saite ein: (2.00)

Musik 8 SWR M0363457 023, 5‘50 Johannes Brahms Gestillte Sehnsucht, op. 91 Nr. 1 Otter, Anne Sofie von Mezzosopran Solist Sparf, Nils-Erik Viola Solist Forsberg, Bengt Klavier

Gestillte Sehnsucht: „Du Sehnen, das die Brust beweget, wann ruhest Du, wann schlummerst Du“, so heißt es in diesem Rückert- Gedicht. Doch eigentlich ist es ja ganz schön, wenn die Sehnsucht noch nicht gestillt ist, der Mensch ist dann 15 erwartungs- und hoffnungsvoll. Ist eine Sehnsucht erst mal erfüllt, werden meist schnell neue Sehnsüchte wach. Dies ist dann auch die Sehnsucht nach der Sehnsucht – die gerade in der modernen Welt so lebendig ist: ja es gibt nicht nur in Hollywood eine ganze Sehnsuchtsindustrie - mit Traum- und Wunschfabriken. Irgendwie ist der Mensch süchtig nach Sehnsucht, nach Veränderung. Was dieses Gefühl bei allem schmerzlichen Ziehen so attraktiv macht: es eröffnet im Grunde einen großen Raum ungeahnter Möglichkeiten, der Zustand der Sehnsucht ist oft viel beglückender als die Wunscherfüllung selbst: Im Zustand der Sehnsucht scheint noch so vieles offen…

Das war die SWR 2 Musikstunde für heute, mein Name: Wolfgang Sandberger. Mehr zum Thema Sehnsucht morgen, dann geht es um die Sehnsucht nach dem verlorenen Kinderland, und so verabschiedet sich die Musikstunde für heute mit einem kleinen Kindertrio des Brahms-Freundes Theodor Fürchtegott Kirchner: (1.30)

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Musik 9 Track 14 2.52‘‘ Theodor Fürchtegott Kirchner Kindertrio Nr. 2 aus den 15 Kindertrios op. 58 Rainer Gepp, Klavier Gorjan Kosuta, Violine Milos Mlejnik, Cello Antes edition 31.9124 LC 7985, SWR M0321377 014