Innenentwicklung Als Zukunftsaufgabe
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Beitrag für die Zeitschrift „ländlicher Raum“ der Agrarsozialen Gesellschaft e. V.(ASG) Schwerpunktheft 03/2009 S.11-14 Mehr Mut zur Mitte Stärkung der Innenentwicklung wird zur zentralen Herausforderung für die Verantwortlichen des ländlichen Raums Göttingen. „Weiter so“: Wenn es um die Siedlungsentwicklung geht, gehören Worte wie diese auf den Index. Wer dazu beitragen will, Städte und Dörfer für die Herausforderungen des demographischen Wandels fit zu machen, darf ein „Weiter so“ nicht mehr propagieren. Und erst recht nicht danach handeln. Es muss vielmehr heißen: Mehr Mut zur Mitte. Bevölkerungsrückgang, höhere Lebenserwartung und zu wenig Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen – angesichts dieser Entwicklung haben das Regierungsvertretung Braunschweig und der Regionalverband Südniedersachsen mit Unterstützung des Niedersächsischen Ministeriums für Landesentwicklung (ML) das Modellvorhaben „Unterstützung von Gemeinden bei der Neuausrichtung ihrer Flächenpolitik im Rahmen der Regionalentwicklung“ für sieben Modellkommunen umgesetzt. Unter der Moderation von Michael Glatthaar vom Planungsbüro proloco (Bremen) waren Bad Sachsa, Bad Grund, die Stadt Osterode am Harz, Adelebsen, Gleichen, Moringen und Kreiensen sowie die Regionalplanungsträger der drei Landkreise beteiligt. „Weiter so“ hieße: Immer neue Baugebiete mit der Begründung auszuweisen, die eigene Kommune sei so attraktiv, dass sich hier Heerscharen von Neubürgern niederlassen wollten; der Verödung der Kerne von Dörfern und Städten tatenlos zuzusehen; so zu tun, als wirke sich der demographische Wandel überall aus, nur nicht im eigenen Ort; Vermarktungsprobleme mit dem Subventionieren von Grundstückpreisen lösen zu wollen. „Weiter so“: Das hieße auch, Schindluder mit der Zukunft der eigenen Bürgerinnen und Bürger zu treiben. Denn wenn weiter neue Bauflächen ausgewiesen werden, wenn Straßen und Bürgersteige angelegt, Kanäle gebaut und Kabel, Strom- und Wasserleitungen verbuddelt werden, entstehen Kosten. Kosten für die Neuanlage. Aufwendungen aber auch für Wartung, Pflege und Reparaturen. Und wenn die Ausgaben über die Jahre und Jahrzehnte auf eine immer geringere Bevölkerungszahl umgelegt werden, so steigen unter dem Strich unweigerlich die Belastungen für den Einzelnen. Für die Dorfentwicklung bedeutete dies: Das Wohnen auf dem Lande würde sich verteuern - damit schrumpfte ein wesentlicher Standortvorteil des ländlichen Raums gegenüber den Städten. Bildlich ausgedrückt: Die Verantwortlichen würden den Ast absägen, auf dem sie selbst sitzen. Wer sich in seiner kommunalen Flächenpolitik auf den demographischen Wandel einstellen will, muss also - das zeigte das 2008 abgeschlossene südniedersächsische Modellvorhaben deutlich - bereit sein, traditionelle Denkweisen infrage zu stellen. Die Verantwortlichen müssen erkennen, dass wir es heute mit einem Bevölkerungsrückgang zu tun haben, der seit Jahrhunderten beispiellos ist. 1 Denn der demographische Wandel kündigt sich nicht erst an – er zeigt längst Wirkung. Seit 1998 hat Südniedersachsen sechs Prozent seiner Einwohner verloren. Der Landkreis Northeim büßte nach Berechnungen des Landesbetriebs für Statistik und Kommunikationstechnologie Niedersachsen 9.800 Einwohnerinnen und Einwohner ein, der nur halb so bevölkerungsreiche Landkreis Osterode am Harz 6.700 Menschen. Mit einem Rückgang um fast 6800 Personen bei jetzt nur noch 75.000 Einwohnern war der Schwund im Landkreis Holzminden am stärksten ausgeprägt. Die Bevölkerungszahl des Landkreises Göttingen verringerte sich in dem Zehn-Jahres-Zeitraum von gut 266.000 auf knapp 260.000 – wobei hier die Einwohnerzahl der Universitätsstadt Göttingen als Oberzentrum weitgehend konstant blieb. Durch negative Wanderungssaldi und einen erheblichen Sterbeüberschuss haben die vier südniedersächsischen Landkreise unter dem Strich in der vergangenen Dekade fast 30.000 Einwohner verloren. Das entspricht ziemlich genau dem derzeitigen Einwohnerstand der Kreisstadt Northeim. Hinweise dafür, dass dieser Trend gestoppt oder zumindest verlangsamt werden kann, fehlen. Nüchtern betrachtet spricht sogar vieles dafür, dass sich der Bevölkerungsrückgang beschleunigt. So geht der Landesbetrieb für Statistik davon aus, dass der Region bereits bis zum Jahr 2017 weitere 30.000 Einwohner verloren gehen. Dabei sind die Orte, die weiter entfernt vom Oberzentrum entfernt, besonders betroffen. Dazu zählen Bodenwerder, Polle und Eschershausen im Weserbergland, aber auch Walkenried im Südharz und die Solling-Stadt Dassel. Wer diese Entwicklung mit einem Tsunami vergleicht, deutet die Zeichen der Zeit nicht ganz korrekt. Denn das Wasser jedes Tsunami, so brutal es auch zuschlagen mag, fließt schnell wieder in den Ozean zurück. Der demographische Wandel mit all seinen Auswirkungen bleibt der Gesellschaft als Thema aber mindestens die nächsten Jahrzehnte treu. In einer Anfang 2009 vorgestellten Publikation prognostiziert das Niedersächsische Institut für Wirtschaftsforschung (NIW, Hannover) für die Landkreise Holzminden, Osterode am Harz und Northeim bis zum Jahr 2025 Bevölkerungsrückgänge von mehr als 17 Prozent. Die Schrumpfungstendenzen dieser Landkreise, darüber hinaus aber auch der Landkreise Hameln-Pyrmont, Schaumburg und Goslar kontrastieren stark mit der positiven Entwicklung anderer Regionen Niedersachsens. Dazu gehören die Landkreise Lüneburg und Harburg, in besonderem Maße aber der Nordwesten des Landes. Das Emsland beispielsweise, in früheren Jahrzehnten gehätscheltes Pflegekind diverser Landesregierungen, gilt derzeit als kraftstrotzende Boomregion. Und zwar sowie unter demographischer Betrachtungsweise als auch sozio-ökonomisch. Sinkende Bevölkerungszahlen wirken sich natürlich auch auf den Immobilienmarkt aus. Da die durchschnittliche Haushaltsgröße aber nach wie vor einbricht und der Pro-Kopf-Wohnflächenbedarf steigt, führt ein Bevölkerungsrückgang um X Prozent nicht automatisch zu Leerständen in gleicher Größe. Im genannten Modellvorhaben zur Siedlungsentwicklung haben sich die Beteiligten auf die Faustformel geeinigt, dass ein Einwohnerrückgang um zehn Personen zu einem rechnerischen Leerstand von fünf Wohnungen führt. Dass schon heute viele Häuser und Wohnungen ungenutzt sind und dass weitere vom Leerstand bedroht sind oder untergenutzt sind, zählte zu den 2 Eindrücken einer zweitägigen Rundreise, die zu Beginn des Modellvorhabens Bürgermeister, Bauamtsleiter, Politiker und Initiatoren durch die sieben beteiligten Modellkommunen unternahmen. Jeder Bürgermeister und jede Bürgermeisterin erläuterte bei der Rundreise die Situation in „seiner“ und „ihrer“ Kommunen – sie verzichteten weitgehend auf Schönfärberei und schufen damit die Grundlage für ehrliche Diskussionen. Freimütig benannten die Verantwortlichen städtebaulich neuralgische Punkte – zu denen nicht nur Leerstände gehörten, sondern auch Probleme bei der Vermarktung erschlossener Bauflächen und weg brechende Infrastruktur, beispielsweise bei der Nahversorgung und bei Gaststätten. Die Bürgermeister erhielten damit die Gelegenheit, ihre eigene Gemeinde quasi mit einem „Blick von außen“ wahrzunehmen. Auch das sollte sich später als einer der Erfolgsfaktoren des Modellvorhabens herausstellen. Leerstand, so der Eindruck der Reiseteilnehmer, frisst sich insbesondere in Ortsbild prägenden Gebäude, häufig in Baudenkmale, die wegen ihrer Lage, Mängeln in der Bausubstanz, befürchteter Sanierungskosten und fehlendem Vorstellungsvermögen über ihre Umbauqualitäten immer schwerer Investoren finden. Aber auch Wohnhäuser aus der Zeit des Wiederaufbaus, meist eng und mit schlechter Wärmedämmung ausgestattet, sind von dauerhaftem Leerstand bedroht. Städtebaulich wirkt sich Leerstand ganz unterschiedlich aus: Während die Stadt Bad Sachsa eher vom Rand her schrumpft, fallen in den meistern anderen Orten die Leerstände in den Zentren ins Auge. Die Teilnehmer der Rundfahrt gewannen den Eindruck, dass das Institut für Stadt, Regional- und Wohnforschung (GEWOS) mit ihren jüngsten, im Auftrag der staatlichen NBank erarbeiteten Zahlen wohl nicht ganz daneben liegen dürfte. Danach wird nur der Wohnungsmarkt nur in der Stadt Göttingen sowie im näheren Umland weitgehend ausgeglichen bleiben. Für den Landkreis Northeim prognostiziert die GEWOS für das Jahr 2020 eine Leerstandsquote von rund 20 Prozent. Im Landkreis Osterode am Harz wird nach dieser Vorhersage sogar jedes vierte Haus leer stehen. Weiter so? Angesichts dieser Zusammenhänge kann das eigentlich keine ernsthafte Option sein. Es muss also gehandelt werden – mehr Mut zur Mitte. Aber soll die Courage aufbringen? Wer verfügt über ausreichend Kraft und Durchsetzungsfähigkeit? Wer soll die Neuorientierung bewirken? Und vor allem: Da die Dorf- und Stadtentwicklung insbesondere durch dezentrale Entscheidungen von Immobilienbesitzer, potenziellen Bauherrn und Mieter beeinflusst werden: Wie lassen sich die Geldgeber für Investitionen im Bestand begeistern? Nachdem sich die Beteiligten mit dem Ist-Zustand und Prognosen befasst hatten, nutzten sie insgesamt 21 Wokshops zur Diskussion darüber, in welche Richtung sich eine zukunftsorientierte Ortsentwicklung bewegen sollte. Nahe liegender Grundkonsens: Einen Königsweg kann es in einer pluralistischen Gesellschaft nicht geben. Jeder Ort muss sich auf eigene Lösungen verständigen. Aber: Eine Orientierungsmöglichkeit gibt es schon: Nämlich der Vorrang der Innenentwicklung. Möglichst keine Freiflächen mehr in Anspruch nehmen, sondern sich auf die Flächen besinnen, die bislang schon genutzt werden - wer dieser Einsicht folgt, kann nicht ganz falsch liegen. Die Prioritätensetzung