Ungarische Literaturgeschichte
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ANTAL SZERB UNGARISCHE LITERATURGESCHICHTE II. BAND ÜBERTRAGUNG VON PROF. DR. JOSEF GERHARD FARKAS & GABRIELE FARKAS ANTAL SZERB UNGARISCHE LITERATURGESCHICHTE II, BAND Korrekturen am Buchende Aus dem Ungarischen übersetzt von Prof.Dr.Josef Gerhard Farkas und Gabriele Farkas Berlin (West). Die Obersetzung erfolgte - soweit möglich wortwörtlich und stilgetreu - an Hand der ungekürzten, unveränderten Origi- nalausgabe. TITEL UND FAKSIMILE DER ORIGINALAUSGABE: AZ ERDELYI SZEPMIVES CEH SZERB ANTAL 10 EVES JUBILEUMARA KIADOTT DISZKIADAS MAGYAR SZERB ANTAL IRODALOMTÖRTNET • MAGYAR 1RODALOMT6RTNET u. KOTET ERDELYI SZEPMIVES CEH • KOLOZSVAR ERDELYI SZEPMIVES CEH KOLOZSVAR Library of Congress catalog card number 75 - 19748 Hergestellt 1975 in USA: FRANCISCAN FATHERS 1739 Mahoning Avenue Youngstown, Ohio 44509 219 11. FERENC KÖLCSEV *1 a) Romantiache3 Fernweh "Er gehörte nicht unter uns" ["Nem közönk valö volt"1, so rief Mik- lös Wesselönyi aus, als er die Nachricht von Kölcseys Tod hörte. Er gehörte nicht zwischen uns, irdische Menschen, so mochte der Baron gedacht haben, dies sagte auch Lajos Kossuth, als er Köl- csey, den Redner, eine "jenseitige Erscheinung" ["tülvilägi jelenös- nek"] nannte. Seine rasierte hagere Gestalt im dunklen Anzug mit dem einen verbundenen Auge unterschied ihn schon auf den ersten Augenblick, auch äußerlich. Er trank nicht, rauchte nicht, verab- scheute die Zigeunermusik, die laute Kameraderie, er mied das weibliche Geschlecht, noch in seinem höheren Alter errötete er zutiefst, wenn man vor ihm irgendeine schlüpfrige Anekdote er- zählte. Die Lebensform des ungarischen Gemeinadligen war ihm fremd. In seiner unmittelbaren Umgebung löste er solche Antipa- thie aus, daß die Nachbarn ihr Vieh auf sein Land trieben, seine Ernte niedertrampelten, und man sagt, daß sie sogar seinen Sarg bewarfen. Er war ein unerbittlicher Kritiker der ungarischen Feh- ler, in jener Epoche. als das Ungartum mit gesunder Selbstbeweih- räucherung sein in jahrhundertelanger Zurückgedrängtheit schwan- kend gewordenes Selbstvertrauen zu stärken versuchte. Dieser Weltbürger-Europäer, der des fernen Weimar und Jena blaublumigen, unerreichbaren Traum in seiner dörflichen Einsam- keit durchlitt, war auch am tiefsten, am mystischsten Ungar. Die Heimatliebe hob er auf'die Ebene des philosophischen Gedankens und des religiösen Weltbilds empor, er fand Worte für den ungari- schen Idealismus, und als der schmerzhafteste Mensch der Nation schuf er das - Gebet der Nation. Die zitternde Empfindsamkeit der Seele, die sich bei seinen Zeitgenossen als Affektation der sentimentalen Mode meldete, war in ihm verzehrende Wirklichkeit. Seit seiner traurigen Kindheit, als er nacheinander seine Eltern und das Licht des einen Auges verlor, wuchs die trübe Wehmut so an seine Natur an, daß er ohne sie vielleicht gar nicht hätte leben können. Er hüllte sich ein in seine Wehmut und durch Nebel hindurch betrachtete er die welt- lichen Dinge. Die Präromantik ist die Epoche der Entdeckung der Seele. Er war verliebt in seine eigene Seele, seine einzige Freu- de war seiner Seele Vielfalt, ewiges Vibrieren, der intensive Er- eignisreichtum seines inneren Lebens. Von den menschlichen Bezie- hungen schuf er sich ein solch hohes Bild, daß er sie in der Wirk- lichkeit nicht auffinden konnte. Letztmals war er im Alter von elf Jahren verliebt, wie Dante, und sein Leben war von da an rück- wärtsgewandten Gesichts, ein ewiges Zurücksehnen nach dem Kind- heitsalter, wie bei jedem Romantiker. Die Literatur, in ihrer aktiven und passiven Form (das Lesen wurde in ihm zur krankhaften Leidenschaft), diente gleichermaßen dem Ziel, vor der Wirklichkeit zu flüchten. Er ist der erste Ver- treter des "sich fliehn" [sic!], der Flucht vor sich selber in der ungarischen Literatur. Ewig wünschte er sich weg, auch er selbst wußte nicht, wohin. Vielmals nahm das Sich-Fortwünschen konkrete Formen an, in die freie Schweiz, nach dem freien Ameri- ka, aber westlicher als Pozsony EPreßburg] gelangte er, wer weiß warum, nie. Zumeist sehnte er sich nach nicht-irdischen Gegenden, der Romantik mondbeschienene Lichtung, inmitten großer Wälder, eine gestaltlos lösende Traumwelt zog ihn an. Aufgeben die Indi- vidualität, der Seele qualvolles Erbe [öröksög; auch: Ewigkeit], hineinnihilieren ins Alles, leise, zurückgeborenwerden [vissza- születni], dies ist das romantische Fernweh: eine sublimierte To- dessehnsucht, ohne die Roheit des Todes. In seiner Dichtung suchte er den Ausdruck dieses Sichfortseh- nens. Er mied die entschiedenen Konturen, die Realität, soweit er konnte, wollte er sie heraushalten aus seiner Dichtung. Er 220 wollte die Dinge nicht beim Namen nennen, nur ahnen lassen, Nuan- cen, Musik. Ätherische Lyrik wollte er schreiben, körperloses Schweben, wie die Seele des Herrn über den Wassern, und jene sei- ner Verse gelangen ihm am besten, wo dieses Schweben selber der Gegenstand ist. Olök csolnakomban Häbzö vizen Hallok zügni darvat Reptgbe fenn; Röpülj, ggi vändor, Föld s viz felett, Sorsom, ah, nem adta Szällnom veled. Ich Aitze in meinem Nachen Aug 4chäumendem Wauet flöte itau4chen einen Kranich In ae.inem Finge droben; Ftieg, itämeücheA Wandehen, üben. EJ/2e und Wa44e,t, Mein Schickzat, ach, gewähnte mit nicht Mit diA zu 4teigen. Vielfach hat der Leser das Gefühl, daß er, absichtlich, auch keinerlei Thema hatte, wenn er sich ans Schreiben seines Gedichts machte. Ohne gegenständliche Bindung, frei und getreu wollte er in seinem Vers den Vibrierungen seiner empfindsamen Seele folgen, dem inneren Flattern, wohin es ihn auch trägt. Doch die Aufgabe überstieg sein Talent. Wir haben wenige gute Dichter, in denen dichterische Absicht und Verwirklichung so weit voneinander fallen würden wie bei Kölcsey. Sozusagen aus jedem seiner Verse ist die verzweifelte Kraftanstrengung herauszuhören, die Distanz zwischen der Absicht und dem Werk, ist in den Zeilen der flügelkranke Kompromiß zu spüren. Manchmal gelang jeweils eine Zeile wunderbar, unter acht bis zehn verfehlten, schwerfälligen Zeilen. b) Romantizchez Heimbinden Solang er jung war, schwebte sein körperloses Sehnen sich aus- breitend über der ganzen Welt, er wünschte das Universum zu durch- leben und litt an den Grenzen seines endlichen Menschseins wie die ganze romantische Generation. Aber der Mann zwängt langsam-langem seine ins Unendliche sich verlierenden Fort-Wünsche zwischen heil- same Schranken, wird sich der Wichtigkeit der Grenzen bewußt, fin- det heim. Dies bedeutet in erster Linie für Kölcsey die Vaterlandsliebe; jene konkrete Form, in der er jede hochfliegende romantische Nei- gung seiner Seele versammeln und verwirklichen kann. Ohne sie wür- de sein Leben zerfließen in unfruchtbaren Sehnsüchten und auf den Wegen verzehrender Tagträume. "Gott schuf einem Herzen eine Brust; so einem Menschen eine Heimat." "Nichts kann stark sein, nichts groß und in seinen Fol- gen verehrungswürdig, was ohne Ziel und Grenze zerfließt; was kei- nen Punkt hat, in den es sich zusammen-ziehe, worein es sich ver- ästele." E"Isten egy szivnek egy-kebelt tenute; igy egy embernek egy ha- zät." "Semnd sem lehet erös, semrd sem nagt' es következmgnyeiben tiszteletre- mgltö, and cgl es hatär nglkül szgtfoly; aminek nincs pontja, melybe összver vonuljon, melybe elägazzek."7 Für Kölcsey ist die Vaterlandsliebe Le- bensform. Seine moralische Bindungen suchende Seele, die die Re- ligion nicht tröstet, findet denn auch hier schließlich Halt.Wer seine Heimat tatkräftig liebt, erfüllt seine menschliche Pflicht auf Erden. Kölcsey drückte diese ethische Vaterlandsliebe in erster Li- 221 nie in seinen Prosa-Schriften aus, und als Landtagsabgeordneter verbreitete er sie in seinen Reden. In seiner Gedenkrede über Mo- häcs gliederte er die ungarische Vergangenheit in diese ethische Kettung hinein. In seiner Rede über die Spielbühne, über die un- garische Sprache, über das Anliegen der Polen bezog er sein sitt- liches Postulat auf praktische Fragen und formulierte es endgül- tig in seiner Parainesis, diesem moralischen Testament. Vom formalen Gesichtspunkt erscheinen seine Prosa-Schriften und die in ihnen enthaltene Ideenwelt in römischem Gewand.Kölcsey- selbst sagt, daß die schulische Le .ktüre der lateinischen Klassi- ker erstmals in seine Seele die Vaterlandsliebe impfte. Die Klas- siker, insbesondere Cicero und Plutarch, lehrten ihn die männli- chen großen Gesten des stoischen Benehmens, hinter denen sich ge- rade empfindsame Seelen so gerne zurückzogen, wie Rousseau und die Girondisten. Mit der römischen Literatur vergleicht er in sei- nen Studien die ungarische Literatur, die ebenso wie die römische unter der Wirkung ausländischer Muster fruchtbar wird. Die latei- nische Prosa schwebte als unerreichbares Vorbild vor seinem Auge, als er seine eigenen marmornen Sätze schnitzte, die in ihrer tie- fen Musikalität auch seither niemand erreichte. Das Empire-Stil- ideal, das Kazinczy heimisch machte, erreicht in ihm seine voll- ständigste Entwicklung. Die sprießende ungarische Literatur kannte bis Kölcsey nur die Stimmen der Anerkennung und der Dankbarkeit als Rezeption. Jeder- mann, der schrieb, war Pionier und eine opferbereite Seele, - das Wie seines Schreibens war gleichgültig vom Gesichtspunkt des Gan- zen, wichtig war nur, daß er ungarisch schrieb. Aber als Kölcsey auftrat, existierte die ungarische Literatur schon unbezweifelbar und beschritt ihren eigenen Weg. Die Produktion war gewaltig an- gewachsen und es war nunmehr an der Zeit, mit energischer Selek- tion das Wertvolle vom Wertlosen zu trennen und ein System in das Chaos zu bringen. Diese Rolle übernahm Kölcsey,