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Himmelfahrtstag 1945. Der zweite Tag des neuen Friedens. Der Gerhard Paul fürchterlichste Krieg, den die Menschheit bis dato erlebt hatte, war erst wenige Stunden zu Ende. Nicht so in der Geltinger Die Erschießungen Bucht. Was sich hier amNachmittag des 10. Mai 1945 an Bord in der Geltinger des Marine-Begleitbootes „Buea" abspielte, sollte die deutsche Bucht Nachkriegsjustiz noch Jahre später beschäftigen. Das blutige Geschäft Eine gespenstige Szene:Aufdem Achterdeck des Schiffesließ NS-Militärjustiz „Buea" der Kapitänleutnant Sander dieMannschaft der antretenund nach derdeutschen mit, vom Vortage teilte ihr daß eine Kriegsgerichtsverhandlung Kapitulation und ihre zu drei Todesurteilen geführt habe. Die verurteilten Matrosen justizielle seien der Fahnenflucht überführt wordenundhätten damit ein to- Bearbeitung nach 1 deswürdiges Verbrechen begangen. Sie müßten daher „aus- 945 gelöscht" werden. Wenige Minuten später erfolgte die Voll- streckung. Ein Kommando von zehn Mann unter Führung des Kapitäns zur See Merkel, der wenigeTage zuvor schon die Er- schießung vonelfAngehörigendes MinenräumbootesM612auf der Reede von Sonderborg befehligt hatte, marschierte auf und wartete bis Kapitänleutnant von Dresky das Urteil mit dem Be- stätigungsvermerk verlesenhatte. Diedrei zumTodeverurteilten Matrosen waren aneinandergebundenund trugen Augenbinden. Einen letzten geistlichen Trost eines anwesenden Pfarrers hatten sie abgelehnt. Die Vollstreckung erfolgte mit einer Salve. Nach- dem ein Arzt den Tod der drei jungenMatrosen festgestellt hatte, Schleswig-Holsteinheute. gabMerkel auf jeden noch einen Gnadenschuß ab. Die Leichen wurden mitGrundgewichtenversehen undin derOstsee versenkt.1 Was war geschehen? Warum betrieb die NS-Militärjustiz ihr Das November- schmutziges Geschäft noch über die Kapitulation hinaus? Was gingin den KöpfenjenerKriegsrichtermit den blutigen Händen trauma der Marine vor sich? DieBeantwortung dieser Fragenmacht es notwendig, sich näher mit der militärisch-politischen Situation in den letzten Deutsche Schnellboote mit ihren Be- Kriegstagen undmit der Wirkung von Geschichtsbildern in den gleitschiffen im Mai 1945 in der Gel- tinger Bucht. Rechts außen die Köpfender Beteiligtenzubeschäftigen.Die Schilderung des fol- „Buea", auf der die drei Matrosen genden Falles wirft zugleich einen Blick auf die Zusammen- noch nach dem Inkrafttreten des Waf- bruchsgesellschaft der Kriegsendphase 1945. fenstillstandes exekutiert wurden. (Foto: Schöppe; Kirchspielarchiv Vor nichts hatten Hitler und seine Konsorten mehr Angst als Steinberg, mit Dank an Herrn Bern- vor einer Wiederauflage der Novemberrevolution von 1918.Die- hardAssmussen). RS 163 se Angsthatte imLaufe der Jahre geradezu traumatische Dimen- sionen angenommen. Bis hinein in die Sozialdemokratie gras- 1 Urteil des Landgerichts Hamburg sierte während der 20er Jahre die Weigerung, die militärische vom 4.8.1949 in der Strafsache gegen Niederlage von 1918 anzuerkennen,und komplementär das Be- Rudolf Petersen u. a., in: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher streben, nicht-militärische,politische Faktoren wie die alliierte Strafurteile wegen nationalsozialisti- Weltkriegspropaganda und den Zusammenbrach der „Heimat- scher Tötungsverbrechen, Bd. 5, Am- front" für NiederlageundRevolution verantwortlich zu machen. sterdam 1970. S. 229 f. Auf den hier war so populärundhatte thematisierten Fall nehmen auch Be- Kein Geschichtsbild der 20erJahre eine zug :J. Friedrich, Freispruch für die solche Langzeitwirkung wie die Legende vom „Dolchstoß" der Nazi-Justiz. Die Urteile gegen NS- revoltierenden Soldaten und Arbeiter des Novembers 1918, die Richter seit 1948. Eine Dokumentati- im Feldeunbesiegten deutschenSoldatenin denRücken ge- 140-165; dem on, Reinbek 1983. S. U. Vul- 2 tejus, Kampfanzug unter der Robe. fallen seien. Für Hitler war die Novemberrevolution von 1918 Kriegsgerichtsbarkeit des zweiten und ein „Deserteurs-Putsch"gewesen,der Deutschland wehrlos ge- dritten Weltkrieges, Hamburg 1984. S. macht habe. Verantwortlich hierfür erschien ihm u. a. eine 84-90; J. Kammler, Ich habe die Met- Kriegsgerichtsbarkeit, die nicht konsequent genug Zersetzungs- zelei satt und laufe über ... Kasseler Soldaten zwischen Verweigerung und erscheinungenentgegengetretensei. Erst durcheine „schwächli- (1939-1945). Widerstand Eine Doku- che Handhabung" des Strafrechts" hätte ein „Heer von Verbre- mentation, Fuldabrück 1985 (2. Aufl.). „intensiveZerset- S. 69-82. sowie F. W. Seidler, Fahnen- chern denZusammenbruch herbeiführen und zungsarbeit" betreiben können.Bereits in „MeinKampf hatte flucht. Der Soldat zwischen- Eid und Gewissen, München Berlin 1993. S. Hitler hieraus die tödlicheFolgerungabgeleitet: 338-351. vgl. jetzt auch G. Paul, Die „Es derDeserteur wissen, eineDesertion geradedas letzten Opfer der „Dolchstoßlegende", muß daß in: Flensburger Tageblatt (Sonderver- mit sich bringt, was erfliehen will. An der Frontkann man ster- öffentlichung zum 50. Jahrestag des ben, als Deserteur muß man sterben. Nur durch solch eine dra- Kriegsendes) vom 6.5.1995 sowie Ste- konische Bedrohungjedes Versuchs zur Fahnenfluchtkann eine phan Richter: „... dann haben sie mir einzelnen, denRest genommen".Warum der Bru- abschreckende Wirkung nicht nur für den sondernfür "■' der des hingerichteten Marinesoldaten die Gesamtheit erzielt werden. Alfred Gail an der Gerechtigkeit zwei- Nicht nur Hitler, sondern der überwiegenden Mehrheit seiner felt,ebd., sowie die Broschüre zur Aus- Zeitgenossen der Deserteur als Todfeind Nr. 1,dem man in stellung des Kirchspielarchivs Stein- galt berg vom 5.-15.5.1995 in Norgaard- völliger Verkennungder Realität die verhaßte Republik vonWei- holz mit dem Titel „Regenbogen über mar und die „Schmach von Versailles" aufbürdete undder daher der Geltinger Bucht. Erinnerungen an zukünftig mit allen verfügbaren Mittel ausgerottet werden müs- das Kriegsende 1945". Chronik des Kirchspiels Steinberg, Sonderband 4, se. Vor allem aber schmerzte die Wunde von 1918 persönlich, Steinberg 1995. wie Klaus Theweleit in seinen Untersuchungender frühfaschisti- 2 Zur Bedeutung des Versuchs, schen „Männerphantasien" überzeugend dargelegt hat.4 Die No- außermilitärische Faktoren für die deutsche Kriegsniederlage verantwort- vemberrevolutionbildete sowohl für denGefreiten Hitler wie für lich zu machen, siehe G. Paul, Auf- Hindenburgs Generalstabschef Ludendorff das entscheidende stand der Bilder. Die NS-Propaganda traumatische Erlebnis des soldatischen Mannes. DieUniform — vor 1933,Bonn 1990.S. 26 ff. das psychosozialeStützkorsett einer ganzen Generationvon jun- 1 A. Hitler, Mein Kampf, München — 1933 (25.Aufl.).S. 587. genMännern war entweiht worden, indem man zurückkeh- 4 K. Theweleit, Männerphantasien, 2 rendeWeltkriegssoldaten angespuckt oder ihnenihreRangabzei- Bde., Frankfurta.M. 1977. chen heruntergerissen hatte. Das schmerzte und verlangte nach 5 M. Domarus (Hrsg.), Hitler. Reden undProklamationen 1932-1945, Mün- Vergeltung. Schließlich waren ganze Biographien und Lebens- chen 1966. S. 1316. Zurnationalsozia- entwürfe zerbrochen. listischen Interpretationdes 9. Novem- Kein Tag wardenNationalsozialistendaher so verhaßt undbe- ber und seiner Bedeutung im NS- Selbstverständnis vgl. G. Paul, Der saß eine solch große symbolische Bedeutung und Motivations- Sturm auf die Republik und der My- kraft wie der 9. November 1918. Nicht umsonst sollte er nach thos vom „Dritten Reich". Die Natio- 1933 zum wichtigsten nationalsozialistischenFeiertag avancie- nalsozialisten,in: D. Lehneit/K. Me- ren. nicht hatte Hitler am des Überfalls auf gerle (Hrsg.), Politische Identität und Und zufällig Tage Po- nationale Gedenktage. Zur politischen len 1939 im Reichstag geschworen: „EinNovember 1918 wird" Kultur der Weimarer Republik, Opla- sichniemals mehr in der deutschen Geschichte wiederholen. 5 den 1989. S. 271 ff. sowie R. Zitel- Aus dieser gleichsam traumatischen Interpretation der No- mann, Hitler. Selbstverständnis eines 6 Revolutionärs, Hamburg- Leamington vemberrevolution heraus hatten die Nationalsozialisten unmit- -Spa -New York 1987.S. 21 ff. telbar nach ihrer Herrschaftsübernahme am 12. Mai 1933 die 164 durch Artikel 106 der Weimarer ReichsVerfassung aufgehobene 6 Zu Form und Bedeutung des No- Militärgerichtsbarkeit wieder eingeführt und diese bis Kriegsbe- vembertraumas 1918 für die Geschich- te des Nationalsozialismus siehe vor ginnmit weitestreichendenKompetenzen ausgestattet. allem T. W. Mason, Sozialpolitik im Besonders inder Kriegsmarine war die Erinnerungan denMa- Dritten Reich. Arbeiterklasse und vom 7 Volksgemeinschaft, Opladen 1978 (2. trosenaufstand November 1918 lebendig geblieben. Allge- AuH.).S. 18 ff. meingalt er als Schandfleck undschwärzester TagderMarinege- 7 Vgl.J. Friedrich, Freispruchfür die schichte. Es verwundert daher nicht, wenn sich gerade die Nazi-Justiz,a. a.0., S. 135. Kriegsgerichtsbarkeit der Marine im Vergleich zur Justiz der an- 8 Vgl. F. Seidler, Fahnenflucht, a. a. 0.,S.282ff.; sowiedemnächst auch N. deren Waffengattungen als besonders rigoros erwies und ihre Haase, „Gefahr für die Manneszucht". Rechtsprechung vor allem gegen Kriegsende geradezu hysteri- Zur Geschichte von Nichtanpassung, sche Züge annahm.8 Für den Oberbefehlshaber der Kriegsmari- Verweigerung und Widerstand in der ne, Dönitz, galt „eines Deutschen Wehrmacht im Spiegel der Karl die Fahnenflucht so etwa als der Spruchtätigkeit vonMarinegerichten in schimpflichsten soldatischen Verbrechen" und als „ein Treue- Wilhelmshaven (1939-1945), Hanno- bruch gegenüber demFührer, denKameradenundderHeimat". ver 1995.