Himmelfahrtstag 1945. Der zweite Tag des neuen Friedens. Der Gerhard Paul fürchterlichste Krieg, den die Menschheit bis dato erlebt hatte, war erst wenige Stunden zu Ende. Nicht so in der Geltinger Die Erschießungen Bucht. Was sich hier amNachmittag des 10. Mai 1945 an Bord in der Geltinger des Marine-Begleitbootes „Buea" abspielte, sollte die deutsche Bucht Nachkriegsjustiz noch Jahre später beschäftigen. Das blutige Geschäft Eine gespenstige Szene:Aufdem Achterdeck des Schiffesließ NS-Militärjustiz „Buea" der Kapitänleutnant Sander dieMannschaft der antretenund nach derdeutschen mit, vom Vortage teilte ihr daß eine Kriegsgerichtsverhandlung Kapitulation und ihre zu drei Todesurteilen geführt habe. Die verurteilten Matrosen justizielle seien der Fahnenflucht überführt wordenundhätten damit ein to- Bearbeitung nach 1 deswürdiges Verbrechen begangen. Sie müßten daher „aus- 945 gelöscht" werden. Wenige Minuten später erfolgte die Voll- streckung. Ein Kommando von zehn Mann unter Führung des Kapitäns zur See Merkel, der wenigeTage zuvor schon die Er- schießung vonelfAngehörigendes MinenräumbootesM612auf der Reede von Sonderborg befehligt hatte, marschierte auf und wartete bis Kapitänleutnant von Dresky das Urteil mit dem Be- stätigungsvermerk verlesenhatte. Diedrei zumTodeverurteilten Matrosen waren aneinandergebundenund trugen Augenbinden. Einen letzten geistlichen Trost eines anwesenden Pfarrers hatten sie abgelehnt. Die Vollstreckung erfolgte mit einer Salve. Nach- dem ein Arzt den Tod der drei jungenMatrosen festgestellt hatte, Schleswig-Holsteinheute. gabMerkel auf jeden noch einen Gnadenschuß ab. Die Leichen wurden mitGrundgewichtenversehen undin derOstsee versenkt.1 Was war geschehen? Warum betrieb die NS-Militärjustiz ihr Das November- schmutziges Geschäft noch über die Kapitulation hinaus? Was gingin den KöpfenjenerKriegsrichtermit den blutigen Händen trauma der Marine vor sich? DieBeantwortung dieser Fragenmacht es notwendig, sich näher mit der militärisch-politischen Situation in den letzten Deutsche Schnellboote mit ihren Be- Kriegstagen undmit der Wirkung von Geschichtsbildern in den gleitschiffen im Mai 1945 in der Gel- tinger Bucht. Rechts außen die Köpfender Beteiligtenzubeschäftigen.Die Schilderung des fol- „Buea", auf der die drei Matrosen genden Falles wirft zugleich einen Blick auf die Zusammen- noch nach dem Inkrafttreten des Waf- bruchsgesellschaft der Kriegsendphase 1945. fenstillstandes exekutiert wurden. (Foto: Schöppe; Kirchspielarchiv Vor nichts hatten Hitler und seine Konsorten mehr Angst als Steinberg, mit Dank an Herrn Bern- vor einer Wiederauflage der Novemberrevolution von 1918.Die- hardAssmussen). RS

163 se Angsthatte imLaufe der Jahre geradezu traumatische Dimen- sionen angenommen. Bis hinein in die Sozialdemokratie gras- 1 Urteil des Landgerichts Hamburg sierte während der 20er Jahre die Weigerung, die militärische vom 4.8.1949 in der Strafsache gegen Niederlage von 1918 anzuerkennen,und komplementär das Be- Rudolf Petersen u. a., in: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher streben, nicht-militärische,politische Faktoren wie die alliierte Strafurteile wegen nationalsozialisti- Weltkriegspropaganda und den Zusammenbrach der „Heimat- scher Tötungsverbrechen, Bd. 5, Am- front" für NiederlageundRevolution verantwortlich zu machen. sterdam 1970. S. 229 f. Auf den hier war so populärundhatte thematisierten Fall nehmen auch Be- Kein Geschichtsbild der 20erJahre eine zug :J. Friedrich, Freispruch für die solche Langzeitwirkung wie die Legende vom „Dolchstoß" der Nazi-Justiz. Die Urteile gegen NS- revoltierenden Soldaten und Arbeiter des Novembers 1918, die Richter seit 1948. Eine Dokumentati- im Feldeunbesiegten deutschenSoldatenin denRücken ge- 140-165; dem on, Reinbek 1983. S. U. Vul- 2 tejus, Kampfanzug unter der Robe. fallen seien. Für Hitler war die Novemberrevolution von 1918 Kriegsgerichtsbarkeit des zweiten und ein „Deserteurs-Putsch"gewesen,der Deutschland wehrlos ge- dritten Weltkrieges, Hamburg 1984. S. macht habe. Verantwortlich hierfür erschien ihm u. a. eine 84-90; J. Kammler, Ich habe die Met- Kriegsgerichtsbarkeit, die nicht konsequent genug Zersetzungs- zelei satt und laufe über ... Kasseler Soldaten zwischen Verweigerung und erscheinungenentgegengetretensei. Erst durcheine „schwächli- (1939-1945). Widerstand Eine Doku- che Handhabung" des Strafrechts" hätte ein „Heer von Verbre- mentation, Fuldabrück 1985 (2. Aufl.). „intensiveZerset- S. 69-82. sowie F. W. Seidler, Fahnen- chern denZusammenbruch herbeiführen und zungsarbeit" betreiben können.Bereits in „MeinKampf hatte flucht. Der Soldat zwischen- Eid und Gewissen, München Berlin 1993. S. Hitler hieraus die tödlicheFolgerungabgeleitet: 338-351. vgl. jetzt auch G. Paul, Die „Es derDeserteur wissen, eineDesertion geradedas letzten Opfer der „Dolchstoßlegende", muß daß in: Flensburger Tageblatt (Sonderver- mit sich bringt, was erfliehen will. An der Frontkann man ster- öffentlichung zum 50. Jahrestag des ben, als Deserteur muß man sterben. Nur durch solch eine dra- Kriegsendes) vom 6.5.1995 sowie Ste- konische Bedrohungjedes Versuchs zur Fahnenfluchtkann eine phan Richter: „... dann haben sie mir einzelnen, denRest genommen".Warum der Bru- abschreckende Wirkung nicht nur für den sondernfür "■' der des hingerichteten Marinesoldaten die Gesamtheit erzielt werden. Alfred Gail an der Gerechtigkeit zwei- Nicht nur Hitler, sondern der überwiegenden Mehrheit seiner felt,ebd., sowie die Broschüre zur Aus- Zeitgenossen der Deserteur als Todfeind Nr. 1,dem man in stellung des Kirchspielarchivs Stein- galt berg vom 5.-15.5.1995 in Norgaard- völliger Verkennungder Realität die verhaßte Republik vonWei- holz mit dem Titel „Regenbogen über mar und die „Schmach von Versailles" aufbürdete undder daher der Geltinger Bucht. Erinnerungen an zukünftig mit allen verfügbaren Mittel ausgerottet werden müs- das Kriegsende 1945". Chronik des Kirchspiels Steinberg, Sonderband 4, se. Vor allem aber schmerzte die Wunde von 1918 persönlich, Steinberg 1995. wie Klaus Theweleit in seinen Untersuchungender frühfaschisti- 2 Zur Bedeutung des Versuchs, schen „Männerphantasien" überzeugend dargelegt hat.4 Die No- außermilitärische Faktoren für die deutsche Kriegsniederlage verantwort- vemberrevolutionbildete sowohl für denGefreiten Hitler wie für lich zu machen, siehe G. Paul, Auf- Hindenburgs Generalstabschef Ludendorff das entscheidende stand der Bilder. Die NS-Propaganda traumatische Erlebnis des soldatischen Mannes. DieUniform — vor 1933,Bonn 1990.S. 26 ff. das psychosozialeStützkorsett einer ganzen Generationvon jun- 1 A. Hitler, Mein Kampf, München — 1933 (25.Aufl.).S. 587. genMännern war entweiht worden, indem man zurückkeh- 4 K. Theweleit, Männerphantasien, 2 rendeWeltkriegssoldaten angespuckt oder ihnenihreRangabzei- Bde., Frankfurta.M. 1977. chen heruntergerissen hatte. Das schmerzte und verlangte nach 5 M. Domarus (Hrsg.), Hitler. Reden undProklamationen 1932-1945, Mün- Vergeltung. Schließlich waren ganze Biographien und Lebens- chen 1966. S. 1316. Zurnationalsozia- entwürfe zerbrochen. listischen Interpretationdes 9. Novem- Kein Tag wardenNationalsozialistendaher so verhaßt undbe- ber und seiner Bedeutung im NS- Selbstverständnis vgl. G. Paul, Der saß eine solch große symbolische Bedeutung und Motivations- Sturm auf die Republik und der My- kraft wie der 9. November 1918. Nicht umsonst sollte er nach thos vom „Dritten Reich". Die Natio- 1933 zum wichtigsten nationalsozialistischenFeiertag avancie- nalsozialisten,in: D. Lehneit/K. Me- ren. nicht hatte Hitler am des Überfalls auf gerle (Hrsg.), Politische Identität und Und zufällig Tage Po- nationale Gedenktage. Zur politischen len 1939 im Reichstag geschworen: „EinNovember 1918 wird" Kultur der Weimarer Republik, Opla- sichniemals mehr in der deutschen Geschichte wiederholen. 5 den 1989. S. 271 ff. sowie R. Zitel- Aus dieser gleichsam traumatischen Interpretation der No- mann, Hitler. Selbstverständnis eines 6 Revolutionärs, Hamburg- Leamington vemberrevolution heraus hatten die Nationalsozialisten unmit- -Spa -New York 1987.S. 21 ff. telbar nach ihrer Herrschaftsübernahme am 12. Mai 1933 die

164 durch Artikel 106 der Weimarer ReichsVerfassung aufgehobene 6 Zu Form und Bedeutung des No- Militärgerichtsbarkeit wieder eingeführt und diese bis Kriegsbe- vembertraumas 1918 für die Geschich- te des Nationalsozialismus siehe vor ginnmit weitestreichendenKompetenzen ausgestattet. allem T. W. Mason, Sozialpolitik im Besonders inder war die Erinnerungan denMa- Dritten Reich. Arbeiterklasse und vom 7 Volksgemeinschaft, Opladen 1978 (2. trosenaufstand November 1918 lebendig geblieben. Allge- AuH.).S. 18 ff. meingalt er als Schandfleck undschwärzester TagderMarinege- 7 Vgl.J. Friedrich, Freispruchfür die schichte. Es verwundert daher nicht, wenn sich gerade die Nazi-Justiz,a. a.0., S. 135. Kriegsgerichtsbarkeit der Marine im Vergleich zur Justiz der an- 8 Vgl. F. Seidler, Fahnenflucht, a. a. 0.,S.282ff.; sowiedemnächst auch N. deren Waffengattungen als besonders rigoros erwies und ihre Haase, „Gefahr für die Manneszucht". Rechtsprechung vor allem gegen Kriegsende geradezu hysteri- Zur Geschichte von Nichtanpassung, sche Züge annahm.8 Für den Oberbefehlshaber der Kriegsmari- Verweigerung und Widerstand in der ne, Dönitz, galt „eines Deutschen im Spiegel der Karl die Fahnenflucht so etwa als der Spruchtätigkeit vonMarinegerichten in schimpflichsten soldatischen Verbrechen" und als „ein Treue- Wilhelmshaven (1939-1945), Hanno- bruch gegenüber demFührer, denKameradenundderHeimat". ver 1995. 1943 hatte er apodiktisch gefordert: „Fahnenflucht kostet den „Eingedenk des Traumas des Jahres 1918 war insbesondere die Führung Kopf" und für seinePerson ausgeschlossen:„Ichselbst werde in der Kriegsmarine über das Ansteigen allenFällen" jeden Gnadenerweisfür einen Fahnenflüchtigen ab- der Fahnenfluchtdelikte konsterniert", lehnen. 9 VondieserPositionrückte Dönitzauch nach seinerEr- urteilt so auch F. Seidler, Fahnenflucht, a.a.0., S. 144. nennungzumNachfolger Hitlers nicht ab. Über den Hamburger Sender hatte er amAbend des 1.Mai 1945 dieSoldaten der deut- schen Wehrmacht unmißverständlich wissen lassen, daß er von ihnen weiteren bedingungslosen Einsatz und unbedingten Ge- horsam erwarte. „EinFeigling und Verräter ist, der sich gerade jetztseinerPflicht entzieht unddamit" deutschenFrauen undKin- dern Todund Versklavungbringt. I 0 Trotz der rigorosen Rechtsprechungspraxis der Kriegsgerichte Zersetzungs- und der Drohungen der politischen Führung zeichneten sich in den letzten Kriegswochenauch innerhalb der Kriegsmarine Zer- erscheinungen 1945 setzungserscheinungen ab, dievondenverantwortlichen Offizie- und die Angst vor ren vordemHintergrund desgeschildertenNovembertraumas als einem neuen Beginn eines neuen November 1918gedeutet wurden,die de fac- November to jedoch keineswegs mit der vorrevolutionären Situation des 1918 Spätherbstes 1918 verglichen werden konnten. Vor allem nach Hitlers Selbstmord fühlten sich viele Soldaten von ihrem Eid entbunden und wieder zu realitätstüchtigen Verhaltensweisenin der Lage. So war etwa der Kommodore der Schnellbootflotte Rudolf Petersen vor seiner Abkommandierung von Holland an die Ostsee am 2. Mai mit verschiedenen Fällen von Sabotage, unerlaubter Entfernung von der Trappe und mit Soldaten kon- frontiert gewesen,die „nichtmehr mitmachen wollten". Auf sei- nen Fahrten durch hatte Petersen zwischen Schleswig-Holstein 9 Strafmaßnahmen bei Fahnenflucht. Hamburg und Kiel wiederholt führerlose Gruppen von Marine- Erlaß des Oberbefehlshabers der soldaten aller Dienstgradebeobachtet, die nichts anderes imSin- Kriegsmarine vom 27.4.1943, in: R. ne hatten, als nach Hause zu kommen; in der Geltinger Bucht Absolon, Das Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg. Sammlung der grundle- waren mehrere U-Boote und ein Zerstörer von ihren Besatzun- genden Gesetze, Verordnungenund Er- gen versenkt und zwei Schnellboote auf den Strand gesetztwor- lasse,Kornelimünster 1958. S. 78. den. Aus Esbjerg war eine Schnellbootflottille in Abwesenheit Siehe auch L. Gruchmann, Ausgewähl- te Dokumente zur Deutschen Marine- ihres Chefsund ohne BefehlinRichtungNorwegenausgelaufen. justiz im Zweiten Weltkrieg, in: Vier- Verschiedentlich hatten Offiziere gegenüber dem Kommodore teIjahreshefte für Zeitgeschichte 26 die Absichtgeäußert, imFalle einer Kapitulation zuden Russen (1978). S. 469. war es zu 10 Vgl.Justiz undNS-Verbrechen,Bd. überzugehen. Vereinzelt bereits Plünderungen undei- 5,a. a.O-, S. 203. genmächtigen Entlassungengekommen. Mannschaften machten

165 Der ehemalige „Führer der Schnell- sich zunehmend über ihre Offiziere lustigund verweigerten Be- boote", Kommodore Petersen, bei ei- fehle. Schließlich war Petersen nicht verborgen geblieben, daß ner sogenannten Musterung anläßlich der Niederholung der Flaggen am 8. am frühen Morgendes 5. Mai ein Teilder Besatzungdes Minen- Mai1945in der Geltinger Bucht suchbootes M 612 unter Waffenandrohung ihre Offiziere einge- (Foto:Nitsche, KirchspielarchivStein- sperrt und gegen deren Willen, statt nach Kurland auszulaufen, berg). RS mit gehißter roter Fahne Kurs auf Flensburg genommen hatte. Unterwegs war die M612 von Schnellbooten eingeholtund auf- " gebracht worden. Wegen Meuterei waren elf Matrosen noch am Ebd. S. 225; dto. Bd. 10, 477 f.; — zumFallderErschießungen der Matro- gleichen Tag die Dänen feierten bereits ihre Befreiung von sen der M 612 siehe Standgerichtsur- deutscher Besatzung — voneinem Kriegsgericht zum Tode ver- teil vom 5.5.1945 gegenHeinrich Glas- urteilt und in der Nacht vom 5. zum 6. Mai 1945 auf der Reede macher und 19 andere Matrosen, in: Bundesarchiv-Zentrale Nachweisstelle von SonderborganBordder taghell erleuchteten M612 erschos- (BA-ZNS),Nr. Fr 105;literarisch wur- sen worden." de der Fall verarbeitet vonS. Lenz, Ein Das Schreckgespenst des November 1918 lebte auf. Petersen Kriegsende, Hamburg 1984. Vgl. auch J. Karwelat, Sie wollten nach Hause selbst rechnete mit weiteren schweren Ausschreitungen, wie er und wurden erschossen, in: die tages- später vor Gericht zu Protokollgab.12 Zudem empfand er die Er- zeitung v.6.5.1994. eignisse von 1918als Schandfleck für dieMarine undbefürchte- 12 Kieler Nachrichten v. 20.5.1948, te, „Todesurteilenachder Kapitulation" daß wie weiland 1918 folgenschwere Dinge auf die Marine 13 11 Urteil Landgericht Hamburg vom zukommen könnten. Bestärkt in seinerHaltung,unbedingt Dis- 27.2.1953 in der Strafsache gegenRu- ziplin zu halten,kostees, was es wolle,und die weitereEinsatz- dolf Petersen u. a., in: Justiz und NS- Verbrechen,Bd. 10, Amsterdam 1973, fähigkeit der Marinenicht zu gefährden, wurde der Kommodore S. 478. in seinen Gesprächenmit Dönitzam 4. und 6. MaiinFlensburg. Eine ganz private Das Kriegsende nahte. Bekanntlich kapitulierte am 4. Mai der den britischen Streitkräften gegenüberstehende Teil der Deut- Kapitulation schen Wehrmacht. Die zwischen dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Generaladmiral von Friedeburg, und Feldmar- schall Montgomery am 3. Mai inLüneburg ausgehandelteKapi-

166 tulation umfaßte alle deutschen Streitkräfte in Nordwest- Deutschland einschließlich Schleswig-Holstein, Dänemark und Holland. Am 5. Mai wurde die Teilkapitulation unter der Be- zeichnung „Waffenruhe"über den Sender Flensburg bekanntge- geben. Am Abenddieses Tages hielt der Führer des „Bataillons Sander", das Ende April auf Befehl des Oberkommandos der Kriegsmarine aus Angehörigen der Schnellbootwaffe zusam- mengestellt worden war, um noch in letzter Minute bei den Kämpfen umBerlin eingesetzt zu werden, währendeines Kame- radschaftsabends inSvendborg aufFünen eine Rede,in der San- der u. a.auf die Möglichkeitendes Einsatzes im Osten hinwies. Der vor dem deutschen Volke liegende Wiederaufbau müsse im nationalsozialistischen Geiste erfolgen. Kameradschaft, Treue, Disziplin und Einsatz fürs Vaterland bezeichnete er als unver- gängliche nationalsozialistischeWerte. Als ob nichts geschehen sei, sang man Kriegslieder wie „Es zittern die morschen Kno- chen",in dessenRefrain esbekanntlichhieß: „ Wir werden weiter- marschieren, wenn alles in Scherbenfällt,"denn heute gehörtuns Deutschland und morgen die ganze Welt. Der Kameradschafts- abend endete in einem allgemeinen Zechgelage undeiner wüsten Schlägereizwischen einemOberleutnant undeinem Trappenzahn- arzt;beide waren wegeneiner Marinehelferin aneinandergeraten. Noch im Verlaufe des Abends beschlossen vier Soldaten — der jüngste von ihnen 20 Jahre, der älteste 26 Jahre alt — ihre Einheit zu verlassen und sich auf den Weg nach Hause zu ma- chen.Der Matrose Fritz Wehrmann aus Leipzig, der unterseinen Kameraden als Kommunist galt, und der Marinefunker Alfred Gail aus Kassel befürchteten die Gefangennahme durch die Engländer, außerdem erschienen ihnen weitere Kampfeinsätze völlig sinnlos.Die vonmarkigen Sprüchen durchsetzte Rede ih- res Bataillonskommandantenkam ihnen wie schlechtes Theater vor. Beide sorgten sich um ihre Angehörigenund wollten nach Hause. Indem späterenAbschiedsbrief an seineElternund seine Braut schrieb Gail: „Als am 5. Mai herauskam, daß Waffenruhefür uns ist, hielt uns unser Kommandeur eine Ansprache und sagte, daß wir si- cher dem Tommy übergeben würden. Dieser Gefangennahme wollten wir ausweichen undflüchteten, um uns irgendwie nach Deutschland durchzuschlagen, um Euch beschützen zu kön- nen."'4 Für den aus Ostfriesland stammenden Obergefreiten Martin Schilling war der Krieg einfach zu Ende und damit die Stunde gekommen, nach Hause zu gehen. Ein vierter Kamerad schloß sich den dreikriegsmüden Soldatenan.ImMorgengrauen des 6. Mai verließ die GruppeihreUnterkunft in Svendborg,um ein Boot zur Überfahrt nach dem Festland aufzutreiben. Man kam jedoch nicht weit. Wenige Kilometer vor der Anlegestelle wurden die vier Soldaten voneiner größeren Anzahl bewaffneter Dänen festgenommen und zurück zur Ortskommandantur nach Svendborggebracht, dort zunächst imKeller der Truppenunter- kunft und nach Einschiffung des Bataillons in Richtung Geltin- gerBucht— in einem dunklen Verließ an Bord desBegleitschiffes— „Buea" eines beschlagnahmten dänischen Dampfers ge- 14 Vgl. J. Kammler: Metzelei,a.a.O. fangengehalten.Hiererfuhren die vier amNachmittag des 7. Mai S. 72.

167 von der bedingungslosenGesamtkapitulation, die am 8. Mai um 23.00 Uhr in Kraft treten sollte. Befürchtungen, daß das Verlas- sen ihrer Einheit noch irgendwelche disziplinarische oder mi- litärstrafrechtlicheKonsequenzen habenkönnte,kamenden vier Gefangenen daher zunächstnicht in den Sinn, zumal am 8. Mai feierlich die Kriegsflaggeauf den in der Geltinger Bucht liegen- den Schnellbooteneingeholt wurdeundder Krieg damit endgül- tig zuEnde zu sein schien.Diese Annahmesollte sich jedoch als tödlicherIrrtum erweisen.Das Kriegsende bedeutetelängst nicht das Ende der Militärjustiz. Invielerlei Hinsicht war der 8. Mai 1945 ebennicht jenevielzitierte„StundeNull". Drei Justizmorde in NachdemEintreffen der „Buea"in derGeltinger Buchtmeldete Sander den Vorfall demKommodore der Schnellbootwaffe,Ka- der Geltinger Bucht pitän zur See RudolfPetersen, der sich vor dem Hintergrundder eingangs geschildertenEreignisseüber die disziplinarischen Zu- stände seines Verbandes äußerst besorgt zeigte, ein Ab- schreckungsurteil statuieren wollteunddaher nocham Tage der deutschen Gesamtkapitulation den Befehl gab, eine Kriegsge- richtsverhandlung gegendie vier Soldaten durchzuführen. AlsVorsitzender des Gerichts wurde der 33jährige Stabsrich- ter Adolf Holzwig bestimmt, der als einziger über juristische Kenntnisse verfügte und zuvor schon als Anklagevertreter auf der M 612 tätig gewesen war. Holzwig, Sohn eines Zeichenleh- rers aus Pasewalk, hatte zunächst die Staatliche Kunstakademie in Königsberg besucht und anschließend von 1932 bis 1936 Rechtswissenschaft in Königsberg,Berlin und Marburgstudiert. Nach seiner Referendarausbildung inStettin war er 1939alsAs- sessor von der Staatsanwaltschaft Köslin in den Justizdienst übernommen worden. Da Holzwig wegen einer Herzmuskel- schwäche nicht frontverwendungsfähig war, meldete er sich 1941 alsMarinerichter.Der NSDAPgehörteer seit 1933 an. Als Beisitzer standenihmder aus Berlinstammende 30jährige Ober- Das Schnellbootbegleitschiff „Buea" stabsarztDr. mcd. Buschundder 25jährige Marine-Hauptgefrei- warein dänisches Passagierschiff, das te undSchreiber imBataillonsstabFaustmann zur Seite. Als An- 1944 von der deutschen Kriegsmarine beschlagnahmt wurde. Von 1964-1977 klagevertreter füngierte der 35jährige Führer der 1. Kompanie benutzte die dänische Marine dieses des „BataillonsSander", Kapitänleutnant vonDresky aus Halle, Schiff wieder als U-Boot-Tender unter der bislang noch an keiner Kriegsgerichtsverhandlung teilge- dem Namen „Henrik Greiner" (Foto aus: Jane's Fighting ship 1971, nommen hatte. Dresky stammte aus einer alten Offiziersfamilie. KirchspielarchivSteinberg). — RS 1937 hatte er in Hamburg seine Prüfung als Kapitän für große

168 Fahrt bestanden. Verteidiger wurden den Angeklagten entgegen den Bestimmungen der Kriegsstrafverfahrensordnung nicht zur Seite bestellt, obwohl man ohne Probleme Marinejuristen aus Flensburg in die Geltinger Bucht hätte beordern können. Amersten Tagdes neuenFriedens,dem 9. Mai 1945,konstitu- ierte sich das KriegsgerichtimMesseraumder „Buea".Hinterei- nem mit der Reichsflagge bedeckten Tisch nahm das Gericht Platz. Im rechten Winkel hierzu standen die verängstigten und eingeschüchterten Angeklagten, denen die Mitglieder des Ge- richts völligfremd waren und dieimmer noch nicht recht glau- benkonnten, was mitihnen geschah. Zeitweise nahmen etwa 20 Angehörigedes Bataillons an der zwei- bis dreistündigen Ver- handlung indem engen Raum teil. Schon die Vernehmung ge- staltete sich praktisch zu einer einzigen Anklage, und so über- raschte es nicht,als der Anklagevertreter vonDreskybeantragte, alle vier Soldaten wegenFahnenflucht zum Tode zu verurteilen. Während der nun anschließenden Beratungen des Gerichts zeigte es sich, wie sehr das Novembertrauma noch handlungsre- levant war, wie sehr also schiefe Geschichtsbilder das Verhalten von Menschen noch Jahrzehnte später prägten. Ohne lange Motivsuche zu leisten, wurde von dem Kriegsgericht der Tatbe- stand der Fahnenflucht nach § 69 Militärstrafgesetzbuch aner- kannt. Die Teilkapitulation interpretierten die Richter als „Waf- fenruhe", die den Krieg, das Dienstverhältnis inder Wehrmacht und die Dienstpflicht inkeiner Weise berühre, zumal man davon ausging,denKrieg gegebenenfalls an der Seite der Westalliierten gegen die Sowjetunionfortzuführen. Dienoch vor der Kriegsge- richtsverhandlunginKraft getreteneGesamtkapitulation demge- genüber spielte bei den Beratungenkeine Rolle. Bei der Festle- gung des Strafmaßes gingen dieRichter bei drei der vier Ange- klagten von folgenden Erschwernisgründen aus, die nach den „RichtliniendesFührers und OberstenBefehlshabers der Wehr- macht für die Strafzumessung bei Fahnenflucht" vom 14. April 1940 zwingenddie Todesstrafe vorschrieben: der gemeinschaft- liche Akt der Fahnenflucht,dieBegehung im Ausland sowie die Gefährdungder „Manneszucht".Dem vierten Angeklagten,dem SoldatenKurt Schwalenberg, wurde zugute gehalten, daß er sei- ne Tat bereue und er zudem von seinen Kameraden „verführt" wordensei. Schwalenberghatte es verstanden,sich geschickt zu verteidigen unddamit seinenKopf aus der Schlinge zu ziehen. Für den VorsitzendenRichter kam es vor allem darauf an, an- gesichts der Zersetzungserscheinungenund der sich mehrenden Disziplinschwierigkeiten unter allen Umständen die „Mannes- zucht" aufrechtzuerhalten. WieHolzwigspäter selbst vor Gericht bekannte,befürchtete er Ausschreitungenvon Soldaten auf dem Festland. Nach Ansicht des Hamburger Schwurgerichtes Iaus dem Jahre 1949hatte Holzwignoch Jugenderinnerungenan das Jahr 1918 und sei daher bestrebt gewesen, „eine Wiederholung derartiger Zustände aufjedenFallzu verhindern ". AuchbeiDr. Busch, der im Falle des Marinefunkers Gail wegen dessen Ju- gend voneinerTodesstrafeabsehen wollte,habe „dieinderMa- 15 rine Anschauung eine gespielt, Vor- Urteil Landgericht Hamburg vom herrschende Rolle daß die 4.8.1949, in: Justiz undNS-Verbrechen xi gänge vom November 1918 sich nicht wiederholen dürften". a.a.0., Bd.5. S. 223 f.

169 Eines derOpfer derdeutschenMarine- Gerichtsbarkeit: Der 1925 geborene Alfred Gail, der sich 1943 mit 18 Jah- renfreiwillig zurMarine gemeldet hat- te. „Wir werden nundie letzten Opfer dieses Krieges sein, undauch umsonst, wie so viele Gefallene ... Bei dieser Verhandlung habe ich die Gerechtig- keit nur als Hohn empfinden können, aber man kann ja nichts daran än- dern", schreibtder 20jährige kurz vor derErschießung seinenEltern. (Die Fotos wurden uns freundlicher- weise vonHermann Gail, Kassel, zur Verfügung gestellt). — RS

170 171 Insbesondere aber der Mannschaftsbeisitzer Faustmann trat ve- hement für dieTodesstrafe ein, so daß Busch überstimmt wurde und das Gericht indreiFällen dem Antrag des Anklagevertreters zustimmte und auf Todesstrafe befand. Nach kurzer Beratung verkündete das Gericht sein Urteil. Wie sich der zu drei Jahren Zuchthaus verurteilte vierte Soldat, Kurt Schwalenberg, später erinnerte, sei das Urteil ohne jegliche Begründung ausgespro- chen worden.Auf dieMöglichkeiteines Gnadengesuches seien dieAngeklagtenzudemnicht hingewiesenworden.16 Unter denBesatzungsmitgliedernder „Buea"wurde dasUrteil — wie spätere Zeugenaussagen vor Gericht ergaben — wider- sprüchlich aufgenommen. Währendes die Jüngeren inderMehr- zahlbegrüßten, traf es unter denzumeist älteren Reservisten auf Unverständnis und Kritik. Viele von ihnen glaubten, das Urteil würde nicht mehrbestätigt werden. Einzelne Soldaten machten sich Gedanken, die Offiziere festzusetzen und so eine Urteils- vollstreckung zu vereiteln, verwarfen dann aber aus Angst vor DenunziationundeigenerBestrafung wieder ihrenPlan. Unter dem Eindruck der eingangs geschilderten disziplinari- schen Verhältnisse und seiner Gesprächemit Dönitzfaßte Kom- modore Petersen am Vormittag des 10. Mai den Entschluß, das ihmvorliegende Todesurteil zubestätigenund vollstrecken zulas- sen. (Nur zur Erinnerung: die Spitzen des Dritten Reiches hatten sich zu diesem Zeitpunkt entweder bereits das Leben genommen oder befanden sichmit falschen Papierenausgestattet längstauf der Flucht.) Auch PetersensahFahnenflucht als schimpflichste Tatund als todeswürdiges Verbrechen an undglaubte, nur durch ein hartes Urteil diezerbrechendeDisziplin inder Marineaufrechterhalten zu können.Militärisch geboten, wennman sichdiese Logiküberhaupt zu eigen macht, war die „Aufrechterhaltung der Manneszucht" längst nicht mehr.Nicht militärische Gründe waren es daher, die Petersenbewogen, das Leben der dreijungen Soldaten zu opfern, sondern alleindieAufrechterhaltungdes Status quoimInnern: die VerhinderungeinespolitischenUmsturzes wie weiland 1918. Die drei vollstreckten Todesurteile an Wehrmann, Schilling undGail zählten zu jenen vermutlich in die Tausende gehenden vollstreckten Todesurteilen der NS-Militärjustiz in den letzten Kriegstagen bzw. unmittelbar nach der Kapitulation, deren ge- naue Zahlsichniemals mehr wirdermittelnlassen. NachdenBe- rechnungender beidenMilitärhistoriker ManfredMesserschmidt und Fritz Wüllner ließen deutsche Kriegsgerichte während des 16 Schleswig-Holsteinische Volks- Zweiten Weltkrieges insgesamt etwa 15.000 Todesurteile wegen Zeitung v. 21.7.1949: „Schnellverfah- Fahnenflucht vollstrecken; nach den Recherchen des Berliner ren mit ,Stillgestanden'". Historikers Norbert Haase17 entfielen hiervon etwa ein Zehntel 17 Manneszucht, Vgl. N. Haase, a. a. — — auf den Bereich der Marine. Relation O. also 1.500 In zur 18 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Größe der beiden anderen Waffengattungen zeichnete sich damit M. Messerschmidt, Deutsche Militär- die Marinejustiz sowohl qualitativ wie quantitativ durch die gerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, Strafhärte aus.18 Obwohl sich die Marine quantitativ kei- in: H. J. Vogel/H.Simon/A. Podlech größte (Hrsg.), Die Freiheit des Anderen. neswegs mit demHeer messen konnte, entfielen auf alle von der Festschrift für Martin Hirsch, Baden- NS-Wehrmachtjustiz im ersten Halbjahr 1944 insgesamt ver- "Baden 1981. S. 137. hängten 3328 Todesurteileimmerhin 227 aufihrenBereich.Und Vgl. L. Gruchmann, Ausgewählte DokumentederdeutschenMarinejustiz auch der Anteil der TodesurteilebeiFahnenfluchtdelikten wurde imZweiten Weltkrieg, a.a. 0., S. 472. vonkeineranderenWaffengattung übertroffen. 19

172 Wie spätestens seit dem „Fall Filbinger"20 bekannt, warendieEr- Über dasKriegsende schießungen auf derReede vorSonderborg bzw. inderGeltinger Bucht nur zwei Beispiele ineiner langenReihe von vollstreckten hinaus Todesurteilen unmittelbar zu bzw. nach Kriegsende, die auf das Blutkonto der deutschen Militärrichter gehen und die keines- wegsnur auf den Bereich der Marine beschränkt waren. Und sie waren nicht einmal die letzten Todesurteile der NS-Militärjustiz. Einige Beispiele aus Schleswig-Holsteinmögendies verdeut- lichen: InFlensburg-Mürwik wurden noch nach der (Teil-)Kap- itulation DutzendeTodesurteile gefällt und auf dem dortigenMa- rineschießstand vollstreckt. So hatte etwa der Kommandant von Dönitz'Befehlssonderzugnach Bekanntwerden der Kapitulation seine Untergebenen unterAushändigungihrerPapiere amAbend des 4. Mai 1945 entlassen, sich selbst zu seiner Familie in der Nähe von Flensburgbegeben und sich dort am folgenden Mor- genordentlichbeim Bürgermeister angemeldet, um garnicht erst den Eindruck einer Desertion aufkommen zu lassen. Aber auch diese Vorsichtsmaßnahme rettete dem Kapitänleutnant nicht das Leben. Am Vormittag des 6. Mai wurde er festgenommen, von einem Standgericht wegen— Fahnenflucht zumTode verurteiltund noch am selben Abend trotz Fürsprache von Kameraden bei Dönitz — auf dem Marineschießstand Twedter Feld in Flens- burg-Mürwik, wo nach Erinnerungen von Zeugen bereits etliche weitere Opfer derNS-Militärjustizlagen,exekutiert undnotdürf- tig verscharrt.21 Am7.MaierlittenhierdreiMatrosendesZerstö- rers „Paul Jacob" (Z 5) das gleiche Schicksal. Sie hatten den 20 Vgl. U.Vultejus: Kampfanzug, a.a. Kreiselkompaß ihres Schiffes zerstört, um dessen Auslaufen 0., S. 102. RichtungOsten zuverhindern.22 Am selbenTage verweigerte der 21 Standgerichtsurteil vom 5.5.1945 gegen den Kommandanten des Be- Gefreite Hans Süß ebenfalls in Mürwik das Anheizen eines fehlssonderzuges Kapitänleutnant A. Kriegsschiffes, wofür ihn ein Bordkriegsgericht am 10. Mai J., BA-ZNS, Nr. 8970; Vgl. auch 1945 unter Marineoberstabsrichter Dr. Theodor Constabel zum Schleswig-Holsteinische Volks-Zei- — tung vom 5.6.1947, sowie V. Lassen, Tode verurteilte. Das Urteil wurde amkommenden Tag eben- — Todesurteile zur See. Zur Rolle der falls auf dem Schießplatz Twedter Feld vollstreckt.23 Und deutschen Marinegerichtsbarkeit im 2. auch aus dem Bereich der in Schleswig-Holstein stationierten Weltkrieg, in: Informationen zur ist bekannt, daß hier noch nach Inkrafttreten und schleswig-holsteinischen Zeitge- Be- schichte 6 (1985), S.21-38. Wie fanati- kanntgabe der deutschen Kapitulation von Kriegsgerichten ver- siert die „Volksgemeinschaft" selbst in hängte Todesurteile vollstreckt wurden.24 Schließlich wissen wir diesen letzten Stunden noch immer zu aus Töstrupbei Kappeln, daß dort zwischen dem 12. und dem ihrer Führung stand, zeigte sich daran, daß der örtliche Pfarrer den Angehöri- 14. Mai 1945 ein österreichischer Obergefreiter der Luftwaffe gen anläßlich der Bestattung des Hin- von Angehörigeneines Feldgendarmeriezuges erschossen wur- gerichtetendie Nutzung der Friedhofs- de, er kapelleverweigerte. weil über keinen Marschbefehl mehr verfügte und zudem 22 hatte, 25 Vgl. Deutschlandim ZweitenWelt- erklärt für Deutschlandnicht mehrkämpfen zu wollen. krieg,Bd. 6, Köln1985, S. 776. Trotz des formellen Status als Kriegsgefangene blieben die 2:5 Todesurteil des Gerichts des Be- deutschen Soldatenauchnach Kriegsende imRahmen ihrer bis- fehlshabers des Ausbildungsverbandes dem der Flotte vom 10. Mai 1945 gegen den herigen Truppenteile unter Kommando ihrer bisherigen Vor- Masch. Gefr. Hans Süß, BA-ZNS, Nr. gesetztenund wurde diemilitärische Strafverfolgung wiebisher 46446. praktiziert. Die Kapitulation hatte nämlich keineswegs das 24 Leserbrief vonS. Kahlen(Leck)im Dienstverhältnis weder der einfachen Soldaten noch das der Flensburger Tageblatt v.9.2.1995. 25 Heimatgeschichtlicher Wegweiser Kriegsrichterbeendet.Undunglückerlicherweise hatten auchdie zu den Stätten des Widerstandes und Alliierten dem Treiben der deutschen Militärgerichtsbarkeit der Verfolgung 1933-1945, Bd. 7: nicht sogleich mit der Kapitulation ein Ende bereitet. Generell Schleswig-Holstein I. Nördlicher Lan- desteil, hrsg. vom Studienkreis Deut- schafften sie zwar die NS-Militärgerichte sowie die Kriegsson- scher Widerstand, Frankfurt a. M. derstrafrechtsverordnungmit allen ihren Änderungs- undErgän- 1993.S. 206.

173 Zungsverordnungen ab, beließen aber — zur Aufrechterhaltung der Disziplin beider Auflösungder Wehrmachtsverbände — die Feldgerichteauchnach der KapitulationimAmtbzw.unterstellten sie alliierter Aufsicht. Der Chef der Kriegsmarine verfügte daher in einemErlaß vom 10. Mai, daß die Gerichtsbarkeit der Wehr- macht unabhängig von den Bestimmungen des Waffenstillstands weiterhinvondenWehrmachtsgerichtenausgeübt unddieFahnen- fluchtals typische Auflösungserscheinungtodeswürdig bleibe.26 InHolland wieinNorwegen wurden daherauchnoch nachder GesamtkapitulationHitlerdeutschlandsetliche Todesurteilevoll- streckt.Am12.Mai 1945hatte so etwaderkommandierende Ge- neraldes 30. Armeekorps ineinem Befehldie Ansicht vertreten, daß seineOffiziere und Soldatenauchnachder Kapitulation kei- ne Kriegsgefangenen, sondern weiterhin „Angehörigederdeut- schen Wehrmacht" seien unddamit der Wehrmachtsgerichtsbar- keit unterstünden. Fahnenflüchtige seien auch fortan mit dem Tode zu bestrafen. Bereits amkommenden Tage fällte ganz in diesem Sinn eindeutsches Kriegsgericht ein Todesurteil gegen zwei fahnenflüchtige Soldaten, das vom zuständigen britischen Divisionär bestätigt und nach der Aushändigung von zehn Ge- wehren an die bereits entwaffnete Truppe vollstreckt wurde.27 Vor allem aber in Norwegen, wo der Rücktransport der deut- schen Soldaten ins Reichsgebietaufgrund mangelnder Schiffska- pazitätennoch monatelang auf sich warten ließ, gab es Urteile deutscher Kriegsgerichte bis hin zur Todesstrafe noch bis zur Auflösungder letzten Einheiten imFebruar 1946.28 Bei der Marinearbeiteten vor allem die Feldkriegsgerichte je- ner Minenräumverbände weiter, die nach den Waffenstillstands- bedingungendie Minen in Nord- und Ostsee zu beseitigen hat- ten. Allein imBereichdes Minenräumdienstkommandos Schles- wig-Holstein waren nach einer unvollständigen Statistik zwi- schen dem 10. Mai und dem 5. August 1945 nochca. 750 Straf- verfahren anhängig, davon allein 424 wegenFahnenflucht.Noch nicht erledigte Verfahren vonaufgelösten Marinegerichten wur- den an die eigens eingerichtete Marine-Auffangstelle in Flens- burg-Mürwik abgegeben, die sichbereits imApril 1945 vonei- ner Sammelstelle für Akten und unerledigte Verfahren aus den geräumten westeuropäischenBesatzungsgebieten mit ausdrück- licher Genehmigung des britischen Oberbefehlshabers in Deutschland zu einer zentralen Abwicklungsstelle für nicht ab- geschlossene Strafverfahren entwickelt hatte.29 Darüberhinaus war vor allem in den westalliierten Kriegsge- fangenenlagern die deutsche Militärgerichtsbarkeit noch mona- telang weiter tätig. Bis 1946behielt siehier eine ihrer bisherigen 26 Erlaß des OKM vom 10.5.1945 Funktionen: die „Aufrechterhaltung derManneszucht" des deut- vgl. L. Gruchmann, Ausgewählte Do- — kumente, a.a. 0.,S. 477 f. schen Soldaten unddies teilweise mitDuldungundUnterstüt- 27 Kieler Nachrichten v. 20.5.1948: zung der ehemaligen alliierten Kriegsgegner, die an der „Todesurteile nach der Kapitulation". Aufrechterhaltung der Disziplin unter ihren Kriegsgefangenenja 28 Vgl. F. Seidler, Fahnenflucht, a. a. 0.,S. 331 ff. durchaus interessiert waren. Illegal bestanden deutscheMilitär- 29 L. Gruchmann,Ausgewählte Doku- gerichte inden alliierten Kriegsgefangenenlagernsogar noch im mente, a.a.0., S. 484 ff. Jahre 1947,auf deren Konto — wie wir neuerdings aus den Stu- 30 Hierzu demnächst N. Haase, „Frei- — heit hinter Stacheldraht". Regimegeg- dien vonNorbertHaase wissen zahlreiche Fememorde insbe- ner in alliierter Kriegsgefangenschaft. sondere an deutschen Hitlergegnern gingen.30

174 WährenddendeutschenDeserteurendesZweiten Weltkrieges ei- Freispruch für die ne ideelle und materielle Entschädigung bis heute verweigert NS-Marinejustiz wird, setztendie NS-Militärrichter nach 1945 vielfachungehin- dert ihre Karrieren fort. Der Marinestabsrichter und spätere ba- den-württembergische Ministerpräsident Dr. Hans Filbinger ist nur das bekanntesteBeispiel von vielen.Vor allem in Schleswig- HolsteinbildetennationalsozialistischeMarinerichternach 1945 das Rückgrat der Nachkriegsjustiz. Der Marinekriegsrichter Dr. BernhardLewerenz etwa amtiertehier von1954 bis 1957 als Ju- stizminister; auch sein Nachfolger Gerhard Gaul war aus der Marinejustiz hervorgegangen. Dr. Hartwig Schlegelberger — vom Gericht der—KriegsmarineinBerlinund zeitweise auchVoll- streckungsleiter brachte es 1961 zunächst zum Finanz-,1963 dann gar zum schleswig-holsteinischenInnenminister. (Bis vor kurzem agierte Schlegelberger als Präsident des Deutschen Ro- ten Kreuzes in Berlin.)31 Vor allem bei den Amts- und Landge- richten sowie bei den Staatsanwaltschaften in Kiel und Lübeck tummelten sich ehemalige NS-Marinerichter. Angesichts solcher personeller Kontinuitäten und der weiter- hin wirksamen Selbstrekrutierang westdeutscher Richter ver- wundert es kaum, daß die bundesdeutsche Nachkriegsjustiz die Todesurteilein der GeltingerBucht vom 10. Mai 1945 ungesühnt ließ. Daher soll abschließend die Geschichte der justiziellenAuf- arbeitung der Erschießungen in der Geltinger Bucht skizziert werden.Dies erscheint sinnvoll,da sie zentrale Veränderungen sowohl im Rechtsverständnisder Nachkriegsjuristen als auch in derRechtskultur der frühen Bundesrepublik widerspiegelt. Noch vor der Gründung derBundesrepublik ergingam 4. Juni 1948ein erstesGerichtsurteildesHamburger Schwurgerichtsge- gendieKriegsrichter der „Buea",das das Todesurteilinder Gel- tingerBuchtmit Verweis aufdas Richterprivileg zwar als rechts- gültig wertete, gleichwohl aber den Vorsitzenden des Kriegsge- richts Holzwig undden Bataillonsführer Sander nach Artikel II lc dcs alliierten Kontrollratsgesetzes wegenVerbrechens gegen die Menschlichkeit zu zwei Jahren Gefängnis verurteilte, weil diese Kommodore Petersen zur Bestätigung und Vollstreckung dcs Todesurteils gedrängt hätten. In seiner Urteilsbegründung zog sich das Gericht auf den Standpunkt dcs formalen Rechts zurück undbeharrte darauf, daß dieKriegsrichter für ihren ord- nungsgemäß zustandegekommenenund dem Gesetz entsproche- nen Urteilsspruch selbst nicht bestraft werden dürften. Andern- falls bedeute dies „das Ende jeder unabhängigen Rechts- pflege".22 Der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone in Kölnals nächsthöhereRevisionsinstanz mochte sich dieser Interpretation nicht anschließen und hob daher am7.Dezember 1948 das Ham- burger Urteil auf und verwies die Sache unter Bezugnahme auf 11 Vgl. K. Bastlein, Die Hinrichtung naturrechtliche, Normen der Humanitas zur er- des Friedrich Rainer im April 1945 auf überpersönliche Sylt, in: Grenzfriedenshefte 3 (1989). neuten Verhandlung undanderweitigen Entscheidung zurück an S. 138 f.; zu Schlegelberger vgl. auch das Hamburger Schwurgericht. Nach Ansicht des Kölner Ge- DerSpiegel Nr. 8 v.20.2.1995. richts zeige der Gesamthergang in der Geltinger Bucht deutlich 12 Kieler Nachrichten v. 5.6.1948: „Petersen freigesprochen"; J. Frie- „dieMerkmale der nazistisch gelenkten Terrorjustiz"■ drich, Freispruchfür die Nazi-Justiz,a. „Um höchstmöglicheAbschreckung zu erreichen, wird im er- a.0., S. 146 f.

175 sten beliebigen Falle des Ausbrechens aus der befohlenen Ord- nung auch bei nur geringer Schuld die höchsteStrafe verhängt, obwohl dieses Mißverhältnis zwischenSchuldundStrafe gerade- zu unerträglichist. Solche Strafpraxis bedeutetfür ihre"Opfer ei- nen Angriff gegenMenschen wert undMenschenwürde. Die Unmenschlichkeit des damaligen Urteils sei mit Händen zu greifen gewesen, zumal „niemandund nichts — auch nicht dieKapitulationsbedingungen— oder die Weisungen von Dönitz vonPetersen verlangten, dieDisziplin mit unmenschli- chenMitteln aufrechtzuerhalten".In derFrage desRichterprivi- legs, d. h. der Unantastbarkeit desRichters für ordnungsgemäße Urteilssprüche, kam derOberste Gerichtshof— zueiner völligkon- trären Position, die sich erst heute 50 Jahre nach Kriegsende — durchzusetzen scheint. „ Wenn in einer Zeit, inder Gewalt und Willkür das öffentliche Leben beherrschten,Richter aus Geist oder Anordnung dieses Systems ihr Amt zur Begehung von Unmenschlichkeiten mißbrauchten, so war das eine dergefährlichsten undunerträg- lichsten Formen dieser Verbrechensart. Es wäre vollends unver- ständlich, geradesolcheRichter von derKennzeichnungundBe- auszunehmen, strafungals Unmenschlichkeitsverbrecher " weil sie Richter waren undunabhängighätten urteilen sollen. 33 DieRevisionsverhandlung vor dem Hamburger Schwurgericht mit Urteil vom 4. August 1949 erkannte daraufhin fünf Ange- klagte des Verbrechens gegen die Menschlichkeit für schuldig und verurteilte Kommodore Petersen zu zwei Jahren Gefängnis; der ehemalige Marinestabsrichter Holzwig erhielt fünf Jahre, Oberstabsarzt Dr. Busch ein Jahr, der Mannschaftsbeisitzer Faustmann und der ehemalige Kapitänleutnant Sander zwei Jah- re Gefängnis. In der mehrstündigen Urteilsbegründung wies der Vorsitzende Richter auf die Funktionen der Wehrmachtjustiz für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft hin. Aber auch in subjektiver Hinsicht hätten sich die Angeklagten schuldig ge- macht. Manhabe zu unmenschlichen Mitteln gegriffen und drei Menschenleben verantwortungslos geopfert, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. „Die Angeklagten haben völlig übersehen, daß es mit dem Krieg aus war", erklärte Landgerichtsdirektor Wulff. Aus einer durch die Ereignisse des November 1918 ge- prägten „Scheinideenwelt"heraus,sei ein Justizmord begangen worden.34 Insbesondere kritisierte das Gericht dasMißverhältnis zwischen Schuld und Sühne, durch welches „Menschenwürde und Menschenwert" zutiefst verletzt seien. Das durch die Fah- nenfluchtbestimmungen des Militärstrafgesetzbuches geschützte Rechtsguthabe zur Tatzeit entscheidend anBedeutung verloren. „Geschützt werden sollte nicht mehr die Kampfkraft der bewaff- netenMacht, sondern nur noch die Aufrechterhaltung der äuße- ren Ordnung...Die irreparable Todesstrafe" standineinemuner- den Taten. An den exekutierten 33 Revisionsverfügung des Obersten träglichen Mißverhältnis zu Gerichtshofes derBritischen Zone vom Soldaten habe man lediglich das Weiterbestehen einer Ordnung 7.12.1948, in: Justiz und NS-Verbre- demonstrieren wollen, „deren innere Berechtigung nicht mehr chen, Bd.5, a.a.0., S. 259 und S.264. gegeben war". Alle Angeklagten, auch wenn sie keine ausge- 34 Schleswig-Holsteinische Volks- Zeitung v. 6.8.1949: „Sühne für das sprochenen Anhänger des Nationalsozialismus gewesen seien, Verbrechenin der GeltingerBucht". hätten unter dem Eindruck des „1918-Komplexes der Marine"

176 und der Neigung, abschreckend zu wirken, gehandelt, wodurch ihnen die Gerechtigkeit der Entscheidunggleichgültig geworden sei.Aber selbst aus Abschreckungsgründen seien die Todesurtei- lenicht zwingendgewesen.35 Mit der Revision der verurteilten Kriegsrichter aus derGeltin- gerBucht ging die Auseinandersetzung1952 indienächsteRun- de. Am 29. Mai 1952 kamen die Erschießungen vom 10. Mai 1945 vor dem 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofes (BGH), dessen langjähriger Senatspräsident Paulheinz Baldus selbst während des Krieges als Feldkriegsgerichtsrat gewirkt hatte36, erneut zur Verhandlung.Erstmals stand jetzt ein Kriegssrichter des Dritten Reiches vor den Schranken eines bundesdeutschen Gerichts, das nun seinerseits mit erstmaliger Bezugnahme auf deutsches Strafrecht das Urteil aus dem Jahre 1949 aufhob und zur erneuten Verhandlung nach Hamburg zurückverwies. Insei- ner Begründung stellte der BGH die Argumentation des Ober- sten Gerichtshofes der Britischen Besatzungszone auf den Kopf undkehrte zum formalen Rechtsstandpunkt des Hamburger Ur- teils von 1948 zurück, wonachdie Todesurteile in der Geltinger Bucht formalgerecht zustandegekommenund daher nicht zu be- anstanden seien. Es lohnt sich,den Urteilsspruch desBGHnäher zubetrachten, dain ihm die lange Zeit gültige und die ehemaligenNS-Richter exkulpierende Rechtsbeugungstheorie entwickelt wurde, wo- nach einRichter nurmehr für die feste Absicht zur Rechenschaft gezogen werden kann, das Recht zu beugen. Als Recht wurde grundsätzlich das Gesetz zur Tatzeit betrachtet, erweitert um das ungeschriebene,gewohnheitsrechtlicheVerbot des unmenschlich harten Strafens. Das Richterprivileg sollte explizit auch für die Blutjuristen des Dritten Reiches gelten. In seiner Begründung nahm das Gericht prinzipiell zur Stellung des Richters im NS- Staat Stellung und führte aus: „Der Richter, der ein Todesurteilfällt, kann sich dadurch nur dann strafbarmachen, wenn er dasRecht beugt. Dies setzt vor- aus, daß er bewußte undgewollte Verstöße gegendas Verfahrens- rechtoder das sachlicheRecht begeht, ohnedie es zu keinem To- desurteilgekommen wäre ... Solangeder Richter bestrebt ist, in einem ordnungsgemäßen Verfahren das sachliche Recht zu ver- wirklichen,ist erfür eine etwaigeFehlentscheidungunterkeinen Umständen strafrechtlich verantwortlich. Nur wenn er bewußt und gewollt gegendas Gesetz entscheidet," das heißt das Recht beugt, 31 " trifftihn diese Verantwortung. Justiz undNS-Verbrechen,Bd. 5, a. Längst hatte zu dieser Zeit auch die offizielle Politik im Zei- a.0.,S. 235,237,254. chenvon Korea-Krise,McCloy-Amnestie von 1951 undder Ein- M I. Müller, Furchtbare Juristen. Die Jahr, der unbewältigteVergangenheit unsererJu- fügung des Artikels 131 ins Grundgesetz im gleichen stiz,München 1987.S. 218 ff. praktisch allen Staatsdienern des Dritten Reiches ein Recht auf 17 Urteil des Bundesgerichtshofes WiederverwendungimöffentlichenDienst zubilligte, ihrenFrie- vom 29.5.1952in der Strafsache gegen den mit Hitlers Funktionseliten geschlossen.38 Das spiegelte Rudolf Petersen u. a., in: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 10, a. a. 0., S. auch das Urteil des Hamburger Landgerichts vom 27. Februar 509. 1953 wider, das die vorangegangenenUrteile gegendieBlutrich- " Siehehierzujetzt die Studie vonU. ter aus der Geltinger Bucht nach den jetzt bindenden Kriterien Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergan- der des Rechts genheitsbewältigung und Westintegra- Rechtsbeugungstheorie(Verletzung formalen zur tion in der Ära Adenauer, Hamburg Tatzeit, Verletzungdes GerechtigkeitsgebotsimStrafmaß, Motiv 1994. S. 32 ff.

177 39 Urteil des Landgerichts Hamburg des Täters) überprüfte und alle Angeklagten rechtskräftig vom vom 27.2.1953 in: Justiz und NS-Ver- Vorwurf des Totschlages bzw. der Rechtsbeugung freisprach. brechen, Bd. 10, a. a. 0., S. 498 und 492. Zwar mochte sich das Gericht nicht dem tabula-rasa-Gedanken 40 Zur VerfolgungvonNS-Gewaltver- der Verteidigung anschließen, die gefordert hatte, daß nach Be- brechen nach 1945 exemplarisch für endigung eines Krieges niemand mehr für Taten, die mit dem Hamburg siehe H. Grabitz,DieVerfol- Zusammenhang stünden, gung von NS-Gewaltverbrechen in der Kriegsgeschehen in verantwortlich ge- Zeit von 1946 bis heute, in: dies./K. macht werdendürfe, gleichwohljedochbescheinigte das Gericht Bästlein/J.Tuchel (Hrsg.), Die Norma- den Angeklagten, daß weder Todesurteile noch deren Bestäti- lität des Verbrechens. Bilanz undPer- gung damals gültiges Recht verletzt hätten und auch subjektiv spektive der Forschung zu den natio- nalsozialistischen Gewaltverbrechen. denAngeklagtennicht vorzuwerfen sei,daß sie sichinihrer Ent- Festschrift für Wolfgang Scheffler zum scheidung von rechtsfeindlichen nationalsozialistischen Grund- 65. Geburtstag, Berlin 1994. S. 300- sätzen leiten lassen. Ganz im Gegenteil bescheinigte das -324. hätten „aus 41 M. Messerschmidt, Die Wehrmacht Gericht dem Ex-Kommodore Petersen, dem Gefühl der im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Verantwortlichkeitfür dieErhaltungderDisziplin seines gesam- Hamburg 1969. ten Verbandes und das, wiederum hiervon abhängige Wohl 42 für H. Heer/K. Naumann (Hrsg.), Ver- eines Teils des Deutschen Volkes" gehandelt zu haben.Marine- nichtungskrieg. Verbrechen der Wehr- — macht 1941-1944,Hamburg 1995; vgl. stabsrichter Holzwig demgegenüber— seit Kriegsende Kunst- hierzu auch die Rezension von Wolf- maler im Ostfriesischen sei eine typische Künstlernatur. ram Wette in: Die Zeit vom 5.5.1995; Schon von daher sei einebewußte Rechtsbeugungmit dem vgl. ebenso P. Kohl, Der Krieg der ihm deutschen Wehrmacht und der Polizei Ziel,Unschuldigezu Tode zubringen,gänzlich „persönlichkeits- 1941-1944. Sowjetische Überlebende fremd" gewesen. Mit den angeklagten ehemaligen Marinerich- berichten,Frankfurt a.M. 1995. tern wurde sogleich die gesamte Marinejustiz exkulpiert, der es nach Ansicht der Hamburger Richter gelungensei, „sich vonder von Hitler undder Partei ausgehendenPolitisierung derRecht- sprechungfreizuhalten".39 Statt drei Justizmorde zu sühnen, en- dete diejuristische AuseinandersetzungumdieErschießungen in der Geltinger Bucht so mit dem genauen Gegenteil: dem pau- schalen Freispruch für dieMarinejustiz des DrittenReiches. 40 50Jahre später Heute, 50 Jahre später, zeichnet sich eine andere Sichtweise der DeutschenWehrmacht des Zweiten Weltkrieges, ihrer Deserteu- re unddamit auchder Tätigkeit derNS-Militärgerichtsbarkeitab. Fast zeitgleichbeginnen zwei große Legenden der Nachkriegs- zeit zu zerbrechen: dieLegende von der „sauberen"Truppe, die die Wehrmacht selbst, sekundiert durch große Teile der Politik, der Justiz undderbundesdeutschen Öffentlichkeit, inszenierthat sowie dieLegende von den vermeintlich vaterlandslosenund fei- gen Deserteuren,die derkämpfenden Trappe in den Rücken ge- fallen seien. Obwohl Manfred Messerschmidt schon Ende der 60er Jahre in seinem Buch „Die Wehrmacht im NS-Staat" mit dem Mythosvonder anständigenundsauberen Trappe aufräum- te41,setzt sicherstindiesen Tagen —u. a.forciertdurchdieAus- stellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung42 — mas- senwirksam die Erkenntnis durch, daß dieWehrmacht vor allem im Ostenund Südosten Europas vonAnbeginn an einenVernich- tungsfeldzug führte, dierassistischenPositionendes Nationalso- zialismus weitestgehendübernommen hatte und vielunmittelba- rer an der Ermordung des europäischen Judentums beteiligt war, als bislang vielfach angenommen wurde.Deutsche Soldaten wa- ren Komplizen und vielfach selbst Mittäter dieses Genozids,der unter den exkulpierenden Tarnbezeichnungen „Partisanen- bekämpfung" oder „Sühnemaßnahmen" geführt wurde. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis und der noch weiterreichenden

178 Auffassung des ehemaligen hessischen Generalstaatsanwaltes 43 Ähnlich jetzt auch H. Schueler, in: Fritz Bauer, wonach das Dritte Reich im Sinne gar Die Zeit v. 10.2.1995, der betonte, daß eigentlichen die Totalität des nationalsozialistischen 43 nicht hochverratsfähig war , erscheint nun auch das Verhalten Unrechts unteilbar sei und Hitler von der Deserteure,Kriegsdienstverweigerer und derBefehlsverwei- Anfangan die Legitimation fehlte, Sol- gerer inneuem Licht und wird deutlich,daß sichdiese Menschen dateneidespflichtig zu machen. — — „weil er ein Verbrecher und deshalb unabhängig von ihren sehr subjektivenMotiven der weite- selbst nicht eidesfähig war. Daran ren Komplizenschaft mit der Terrorpolitik des Dritten Reiches krankt bis heute unheilbar auch jedes in seinem erlassene verweigertenund so ihren ganz privaten Beitrag zur Kriegsbeen- Herrschaftsbereich" digung leisteten.44 Die moderne Zeitgeschichtsforschung— wie Militärgerichtsurteil. 44 Zur Änderung des Meinungswan- sie etwa in der Gedenkstätte— Deutscher Widerstand in Berlin dels siehe die Dokumentation der ver- ihrenAusdruck findet ordnet dasVerhaltendieserMänner da- schiedenen politischen Anträge und her durchaus konsequent dem Begriff des Widerstandes zu.45 Reden seit 1990 im Bundestag bei W. Wette (Hrsg.), Deserteure der Wehr- Aber auch in der politischen Öffentlichkeit wird der Ruf nach macht. Feiglinge, Opfer — Hoffnungs- Anerkennungdieser langeZeit diskriminierten Soldaten von Tag träger? Dokumentation eines Mei- zu Tag lauter.46 So forderten erst in jüngster Zeit der deutsche nungswandels, Essen 1995. S. 140ff. 45 Deserteure aus politischer Gegner- Schriftsteller Günter Grass und der japanische Literaturnobel- schaft. Ihre Darstellung in der Berliner preisträgerKenzaburo Oe dieRehabilitierung derDeserteure des Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Zweiten Weltkrieges. Und auch bei den bundesdeutschen Ge- ebd.S. 123-137. neue an. 46 Vgl. W. Wette, Verweigerung und richten deutet sich eine Rechtsprechungspraxis Unter Desertion im Wandel der öffentlichen ausdrücklicher Bezugnahme auf die militärgeschichtlichen und Meinung, in:N. Haase/G. Paul(Hrsg.), rechtshistorischen ForschungenvonMesserschmidt und Wüllner Die anderen Soldaten. Wehrkraftzer- sprach so etwa das Bundessozialgerichtin Kassel 1991 der NS- setzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg, Militärjustiz jede rechtsstaatliche Qualität ab und bezeichnete Frankfurt a. M.1995. S. 189 ff. diese Institution des Dritten Reiches als „terroristisch"und „ver- 47 Urteil des Bundessozialgerichts brecherisch". Von unabhängiger Rechtsprechung könne keine vom 11.9.1991 (Az.: 9a RV 11/90), vorn, auszugsweise abgedruckt in: Wette, Rede sein. Das Gericht machte einen großen Schritt nach Deserteure der Wehrmacht, a.a. 0., S. indem es die Todesurteile gegen Deserteure generell als „offen- 234-248. sichtlich unrechtmäßig" und die Militärgerichte als „Gehilfen des NS-Terrors" und als Mittäter in einem „völkerrechtswidri- gen Krieg"bezeichnete.Wer indiesem Unrechtsstaat dieTruppe verließ oder den Gehorsam verweigerte, leistete dem BSG zufol- ge „Widerstand".47 Ob diese Einschätzung allerdings auch für diein diesem Aufsatz thematisiertenDeserteure der allerletzten Minute zutrifft, ist eher fraglich. Opfer einer barbarischen NS- Militärjustiz waren sie allemal.

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