S_01_Titel 15.03.2006 14:54 Uhr Seite 3

MAGAZIN DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Nr. 18 / März 2006

SPIEL DER WELT DAS FUSSBALL-HEFT ::LVVHQZDVPDQZLOOLVVHQZD 6FKOLFKWH3DUROHQXQGHLQIDFKH:DKUKHLWHQ ‡ (LQVLFKWHQJHZLQQHQ ²GLHÅ,QIRUPDWLRQHQ K|UVWGXMHGHQ7DJ:HUQLFKWDOOHVJODXEHQ ]XUSROLWLVFKHQ%LOGXQJµXQGYLHOHDQGHUH ZLOOEUDXFKWIXQGLHUWH6WDQGSXQNWH$XI 3XEOLNDWLRQHQ]XPRQOLQH/HVHQRGHU ZZZESEGHKROVWGXGLUGDVSROLWLVFKH:LV +HUXQWHUODGHQ VHQ]XGHQ7KHPHQGLHGLFKDQJHKHQ9RQ$ ZLH$UEHLWVPDUNWELV=ZLH=XZDQGHUXQJ ‡ %HJULIIHQDFKVFKODJHQ²PLWGHQ SROLWLVFKHQ2QOLQH/H[LNDDXIZZZESEGH ZZZESEGHLVWGLH,QWHUQHW$GUHVVHIUDOOH GLHPHKU:LVVHQZROOHQ=XP%HLVSLHOEHU GDVSROLWLVFKH6\VWHPXQGGLH*HVFKLFKWH ‡ $QVLFKWHQYHUVWHKHQ ²GLH9LGHR 'HXWVFKODQGV'LH5XEULNÅ7KHPHQ´ELHWHW ,QWHUYLHZVPLW([SHUWHQXQG=HLW]HXJHQ EHUVLFKWOLFKH6FKZHUSXQNWHPLWYLHOHQ 3XEOLNDWLRQHQXQG0DWHULDOLHQ]XDOOHQ3ROLWLN IHOGHUQ ‡ :LVVHQEHVWHOOHQ²%FKHU0DJD]LQH XQG&'520VEHUGHQ2QOLQH6KRSQDFK +DXVHOLHIHUQODVVHQ

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ZZZESEGH 3ROLWLVFKHV:LVVHQLP,QWHUQHW S_03_Inhalt 16.03.2006 9:44 Uhr Seite 1

EDITORIAL / INHALT

4 Platzwahl: Fußball,heißt es,ist die schönste Nebensache der Welt.fluter hat nachgeschaut.

6 Nachspielzeit: Der ecuadorianische Schiedsrichter Byron Moreno.

9 Abseitsposition: Emmanuel Olisadebe war mal Polens Torjägerhoffnung.

10 Wechselabsicht: Johnny Sandino lebt in Costa Rica und hat eine Zukunft – dank „Fútbol por la vida“.

14 Personalfrage: Warum Juden manchmal gar keine Juden sind.

16 Sportlerherz: Neun Liebeserklärungen an den Fußball.

20 Mengenlehre: Was im Stadion geschieht und warum es weniger Spaß macht, Fußball allein zu schauen. Interview mit Joachim Hohl.

23 Verwarnung: Manche Leute sind im Stadion einfach fehl am Platz.

24 Wurzelbehandlung: Das Wunder von Bern: ein Mythos?

26 Zeitlupe: Von China bis ins Deutsche Kaiserreich – die Geschichte des Fußballsports.

28 Spielmacher: Die Münchner Initiative „bunt kickt gut“.

30 Ausgleichstreffer: Interview mit Birgit Prinz, der Weltfußballerin. Editorial 34 Verbandsmaterial: Die Fifa und die Vergabe der WM.

Fußball ist ein globales Phänomen. Ein radikales Medi- 38 Ehrentreffer: Manchmal denken Fußballer über die 90 Minuten hinaus. um, wie sonst nur Geld, Gott und wenig anderes. Fuß- ball begeistert Menschen jeglichen Alters und jeglicher 40 Spielvereinigung: Interview mit Franklin Foer über einen Sport als Bei- Herkunft. Gekickt wird in den Andenausläufern von spiel für das Funktionieren der Globalisierung. ebenso wie im niederländischen Flachland. Über Fußball werden heute Megamarken bestimmt,das 43 Impressum Spiel wird immer wieder, z.B. bei Weltmeisterschaften, 44 Fanprojekt: Was machen eigentlich Ultras? ein ökonomischer Machtfaktor und bekommt enorme mediale Bedeutung. Das Geschehen im Stadion wird 44 Werbebande: Der Marketingwahn im WM-Jahr. zum emotionsgeladenen Massenerlebnis, das Gemein- schaftsgefühl stiftet oder auch Gewalttätigkeiten eine 46 Austragungsorte: Wenn Fußball zur Politik wird. Und umgekehrt.

Olaf Unverzart Plattform gibt. Dieser Sport schreibt Geschichten und macht mitunter auch Geschichte,wie 1954,als die Welt- 50 Ehrenrunde: Gewinnspiel. privat, meisterschaft für (West-)Deutschland zu einem Grün- dungsmythos wurde. Deshalb fragt fluter im WM-Jahr: Warum ist Fußball so wichtig? Wie wurde Fußball zum

otos Inhalt: Caroline von Lowtzow, 28, interessiert sich nur dann für Fuß- Weltsport des 20. und 21. Jahrhunderts? ball, wenn die Europa- oder die Weltmeisterschaften stattfin- fluter berichtet aus den Ländern unserer WM-Gegner laif F

/ den. Als sie hörte, dass sich Fans der Tottenham Hotspur für in der Vorrunde,aus Costa Rica,Ecuador und Polen.flu- Juden halten und feiern, obwohl sie keine sind, fand sie das ter spricht mit der erfolgreichsten deutschen Spielerin, trotzdem sofort spannend genug,um sich mit dem Sport zu be- Birgit Prinz. Und wir fühlen der scheinbar allmächtigen schäftigen. Ihr Weltmeistertipp 2006: Portugal. >>Seite 14 Jonkmanns Fifa satirisch auf den Zahn. Dass Fußball heute eine immense gesellschaftliche Be- deutung hat,ist leicht zu sehen und zu hören.Warum das Christoph Leischwitz,33,war Kuttenträger.Seit 17 Jahren steht so ist und was das über unsere Gesellschaft sagt,ist schon er,sooft es geht,in der Südkurve und feuert den FC Bayern an, schwerer zu fassen. Aber einen Versuch wert. Mit dem früher mit Schals und unzähligen Aufnähern auf der Jacke.Die „Fussball in Rio“, ersten Heft in diesem Jahr haben wir fluter einen neuen neue Fußball-Arena in München gefällt ihm nicht, weil sie zu Schriftzug gegeben und ab Mai wird auch die Website viele Eventtouristen anlockt und echte Fans vernachlässigt wer-

itelfoto: den. Mit beiden Gruppen hat er sich für fluter beschäftigt. Sein T fluter.de runderneuert – damit fluter noch besser aufge- stellt ist. Thorsten Schilling Finaltipp 2006: Brasilien–Italien. >> Seite 23, 44

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PLATZWAHL

Hauptsache Nebensache

König Fußball beherrscht ein Weltreich. Oder nicht? Eine Rundreise.

Text: Daniel Erk, Michael Brake Illustrationen: Florian Gmach

LIBANON PAKISTAN NICARAGUA Wie fast alles im Liba- Der Fußball kommt aus Pakistan.Rund Wie in mehreren Län- non ist auch der Fußball 80 Prozent der weltweiten Ballproduk- dern Mittelamerikas in dem kleinen,von unzähli- tion findet in dem südasiatischen Land ist in Nicaragua nicht gen Volksgruppen und Reli- statt, ein nicht unbedeutender Anteil Fußball,sondern Béis- gionen bevölkerten Land eng durch Kinder.Ansonsten spielt Fußball bol der unumstrittene mit Politik und Glauben ver- in Pakistan kaum eine Rolle, trotz all- Nationalsport - in den Siebzigern wur- bunden. Das heißt: Man ist gemein großer Sportbegeisterung.Die de in Nicaragua sogar zweimal die Base- immer Fan der Mannschaft, die Mittel- und Oberschicht begeistert sich ball-WM ausgetragen. Auch heute hat die eigene Volksgruppe repräsentiert. für Hockey und Polo,bei den einfachen jedes Kind einen selbst gebauten Schlä- Schiiten, Sunniten, Christen – alle ha- Leuten ist Kite beliebt, ein recht ag- ger, jedes Dorf einen Béisbol-Platz, je- ben „ihre“ Teams, die in der libanesi- gressives Drachensteigen. Und natür- de Region ihre eigene,kleine Liga.Falls schen Profiliga gegeneinander spielen. lich das von den englischen Kolo- jemand Fußball spielen will, muss er Das gemeinsame Spiel ist hingegen wei- nialherren eingeführ- folglich auf das Béisbol-Feld ausweichen terhin von geringem Erfolg gekrönt,die te Kricket: An je- und den zentral gelegenen Werferhügel Libanesen identifizieren sich bei Welt- der Straßenecke als Hindernis beim Dribbeln in Kauf meisterschaften notgedrungen mit er- spielen Kinder nehmen.Dementsprechend schwach folgreicheren Teams.Anlässlich des WM- den National- ist auch die Nationalmannschaft. Finales 2002 war Beirut,die Hauptstadt sport, notfalls Erst seit 1994 nimmt sie überhaupt des Libanon, deshalb wie so oft gespal- mithilfe von an den Qualifikationsspielen zur ten:Wer für Deutschland und wer für Backsteinen, WM teil und holte bei vier Anläufen Brasilien war, entschied sich allerdings Stöcken und, auch gerade mal einen einzigen Punkt:2004 nicht nach der Religion,sondern allein hier,selbst genähten beim 2:2 Unentschieden gegen die In- nach Sympathien. Bällen. sel St.Vincent/Grenadinen.

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KENIA CHILE SÜDAFRIKA Nairobi, die kenianische Egal,ob auf der Straße, Orlando Pirates oder Kaizer Chiefs? Hauptstadt, ist gespal- am Strand oder im Südafrikanische Fußballfans müs- ten: Im Westen le- Fernsehen:Fußball sen sich mit dem Herzen ent- ben die Reichen, ist in Chile die scheiden, denn oberflächlich darunter die Wei- Sportart, die Arm sind die Unterschiede margi- ßen, in bewachten und Reich, Alt nal: Beide Teams kommen aus Straßen und Villen, im und Jung begeistert. Soweto,einem südwestlichen Vorort Osten die Armen in Für den größten Erfolg von Johannesburg. Beide Clubs spie- den Slums und auf den der Landesauswahl der len im selben Stadion und sowohl Pi- Müllkippen. Wohl am letzten Jahre blieb fast das rates als auch Chiefs waren während schlimmsten sind die ganze Land auf, um den der Apartheid Clubs der unterdrück- Verhältnisse in Mathare, hier reicht der Anpfiff um vier Uhr nachts ten Schwarzen. Überhaupt: Fuß- Müll bis auf das kleine Feld der Matha- mitzuverfolgen: Chile hatte das End- ball ist in Südafrika eher der re Youth Sports Association (MYSA), spiel bei den im Fußball unbedeutenden Sport der Schwarzen und die vor 17 Jahren gegründet wurde,um Olympischen Spielen in Sydney er- der Townships, die wei- den Kindern eine Alternative zum Bet- reicht.In der chilenischen Profiliga do- ße Minderheit spielt teln, Klebstoffschnüffeln und zur allge- minieren seit Jahren zwei Vereine: Colo traditionell Kricket genwärtigen Kriminalität zu bieten. Colo und Universidad de Chile. Beide und Rugby.Mit dem Heute spielen mehr als 15000 Kinder kommen, wie fast alle Clubs, aus Santi- Ende der Apartheid und Jugendliche in den 1050 Sportclubs ago de Chile, aber ihre Rivalität hat ei- endete auch die Sperre der der MYSA,fünf von ihnen haben es bis ne besondere Note.Während Univer- Fifa für Südafrika und damit in die kenianische Nationalmannschaft sidad de Chile als Zentrum der Lin- die lange Dürre im südafrika- gebracht.Wenn diese gewinnt,was nicht ken gilt, hatte Colo nischen Fußball. 1996 gewan- sonderlich häufig der Fall ist, dann Colo zeitweise ei- ne die Bafana Bafana („die jubeln auch die Reichen – drüben, nen ganz beson- Jungs“) die Afrikameisterschaft, im Westen Nairobis. deren Präsiden- 1998 in Frankreich gab Südafrika sein ten:den faschis- WM-Debüt. Momentan sorgen zwar KANADA tischen Dikta- die verpasste Qualifikation für Der kanadische Fußball blickt auf tor Pinochet. die WM 2006 und diverse Skandale für eine lange Geschichte zurück – lange eine Krise,aber das wird 2010,wenn in zurückblicken muss man auch, um ka- TRINIDAD & Südafrika die erste WM des Kontinents nadische Erfolge zu finden.Der höchs- TOBAGO ausgetragen wird, vergessen sein. te Sieg der kanadischen National- Fußball fristete auf mannschaft datiert aus dem Jahre 1904, Trinidad & Tobago NEUSEELAND als die USA mit 7:0 geschlagen wur- bisher ein eher unaufgeregtes Dasein. Gegen Rugby, Segeln, Tennis und den,der letzte Erfolg war die Teilnahme Die Ligaspiele waren mäßig besucht, Kricket hat Fußball in Neuseeland kei- an der WM 1986.Heute spielt Fußball Kricket begeistert die Massen. Seit der ne Chance. Fußball ist eine absolute maximal eine Nebenrolle, Kanada ist erfolgreichen Qualifikation für die WM Randsportart, die Nationalmannschaft fest in der Hand des Eishockeys und die 2006, der ersten für die Soca Warriors zieht selbst gegen die schwachen Geg- Fußballnationalmannschaft leidet unter überhaupt, ist das ein bisschen anders. ner der Australien/Ozeanien-Qualifi- ihrer Erfolglosigkeit und dem Desinte- Am 19. November 2005, dem Tag des kationsgruppe den Kürzeren,zuletzt ge- resse der Kanadier. Dennoch werden entscheidenden Spiels in Bahrain, un- gen die Salomon-Inseln.Wenn Fußball internationale Turniere verfolgt. Dann terbrach das Parlament seine Sitzung, gespielt wird,dann allein zum Spaß und schlägt das Herz der sonst sehr patri- Tausende waren schon mittags auf den meist ohne größere technische Fines- otischen Kanadier für Straßen und in den Kneipen und der sen. Nur im Fernsehen hat Fuß- ihre europäischen Premierminister rief den nächsten ball einen gewissen Stellen- Abstammungs- Tag zum Feiertag aus.Plötzlich wert: Dank der Zeitum- länder, wie et- gab es keinen Zwist mehr stellung kann man die wa bei der Eu- zwischen den Einwohnern Spiele der englischen ropameister- der beiden Inseln, zwi- Liga am Sonntagmor- schaft 2004, schen den Hindus und gen live ansehen – als als man in den Christen,zwischen Arm und sehr frühes Frühstücks- Straßen Torontos Reich – und auf einmal wurden fernsehen. zahlreiche portu- von den überwiegend schwarzen ☞ Auf www.fluter.de: Noch giesische und grie- Anhängern auch die wenigen mehr Länder und der Stellen- chische Flaggen sah. weißen Nationalspieler bejubelt. wert des Fußballs dort.

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NACHSPIELZEIT

Byron Moreno bei der Seiten- wahl des Spiels, das ihn berühmt und berüchtigt ma- chen sollte: WM 2002, Italien gegen Südkorea. S_06_09_Bryon_Moreno 15.03.2006 17:15 Uhr Seite 46

NACHSPIELZEIT

Verhöhnt, ausgepfiffen, bespuckt.

sich in der komischen Gestalt dieses Schiedsrichters die ganze wun- werde, werden seine Freudentränen über die Nominierung zur dersame Begeisterung der Ecuadorianer für ihren Sport,den Fußball. Schlagzeile gemacht. „Ein Traum geht in Erfüllung“, sagt Moreno Byron Moreno nämlich war lange Jahre Stolz. Immer war und erklärt, seine Nominierung sei ein Beweis dafür, dass der Fuß- er der Jüngste und immer der Beste.Als Jugendlicher schon pfiff er ball und das Schiedsrichterwesen Ecuadors eine neue Qualität er- Partien der Liga Bellavista, der Amateurliga der Stadtviertel des Lan- reicht haben. Doch als Moreno von der WM zurückkehrt, von ganz des, mit 18 war er jüngster Schiedsrichter Ecuadors, mit 23 leitete er Italien gehasst und der Welt verdächtigt, erwartet ihn ein gespaltenes Spiele der Ersten Liga. Als er 26 wurde, beschlossen FEF und Fifa, Land: Die eine Hälfte verteidigt ihn weiter als den Gerechten und dass Byron Moreno von nun an auch Länderspiele pfeifen dürfe.Sein schreibt unzählige Briefe, er solle bitte nur nicht aufhören; die ande- Ruf war makellos und furchtbar zugleich. In einem Land wie Ecua- re Hälfte klagt ihn als Betrüger an und verfolgt begierig,wie die Me- dor, in dem Fußball mit unerhörter Leidenschaft gespielt wird, in dien von vielen Anrufen Morenos am Tag des Achtelfinales und da- dem die meisten Spieler einen ebenso zärtlichen wie brutalen Spitz- nach von einem neuen Haus und einem neuen Auto berichten. namen bekommen – so wird der Stürmer Darwin Caicedo „La Me- Moreno versucht sich zu verteidigen; er gibt Interviews und sagt, das tralla“ genannt, die Maschinenpistole –, in einem derartigen Land Auto sei ein Opel, das Haus zur Miete und sein Gewissen rein, aber hatte es Moreno als Schiedsrichter zu einem eigenen Ehrennamen ge- es hilft nichts: Er hat seine Aura des Gerechtesten der Gerechten un- bracht: Sie nennen ihn „El Justiciero“ – der Gerechtigkeitsliebende. ter den Schiedsrichtern verloren. Seine Feinde warten nur noch auf Keinen gibt es, der die Regeln besser kennt und strikter auslegt als einen Fehler.Am 8. September 2002 ist es so weit. Morenos Schluss- Byron Moreno. „Ich kämpfe für das saubere Spiel“, pflegt er zu sa- pfiff in der 102.Minute des Spiels zwischen Quito und Guayaquil wird gen, so pfeift er auch – die kleinste Regelwidrigkeit wird geahndet. auch zum Schlusspfiff seiner Karriere. Zwar erbringt die Untersu- 1998, in der Begegnung zwischen einer mexikanischen und einer chung des ecuadorianischen Verbandes keine Beweise für Betrug, brasilianischen Mannschaft, stellt Moreno sechs Spieler vom Platz. auch darf Moreno nach der Sperre von zwanzig Spielen wieder pfei- Den Aufruhr darüber versteht er nicht.In Ecuador hatte er schon ein- fen, doch es ist vorbei – egal, wie er nun in einem Spiel entscheidet, mal sieben Spieler des Feldes verwiesen, Rekord, worauf er erklärte: am Ende wird er immer ausgepfiffen, bespuckt, verhöhnt. Er steht „Sie ließen mir keine andere Wahl.“ Ecuadors Sportjournalisten ma- allein. Sechs Monate hält er aus. Dann gibt er seinen Rücktritt be- chen sich bald einen Spaß daraus,Statistiken über Morenos rote Kar- kannt.„Ich glaube an einen sauberen Fußball“,sagt er,„und ich wer- ten zu führen,in seiner besten Saison kommen sie auf 1,08 Stück pro de bis zu dem Tag,an dem ich sterbe, ein Schiedsrichter bleiben.“ Er Spiel. Gleichzeitig wählen sie ihn regelmäßig zum besten Schieds- meint es ernst. Byron Moreno arbeitet inzwischen als Kommentator richter des Landes.Er ist mit seiner strikten Liebe zu den Regeln der für den Sender Telesistema und beurteilt dabei Schiedsrichterent- Gegenpol zu der zügellosen Liebe zum Fußball in seinem Land, die scheidungen. Bis heute pfeift er ehrenamtlich Spiele der Liga Bella- Spieler wie Fans oft ohne Rücksicht handeln lässt.Das bringt ihm so vista, der Amateurliga der ecuadorianischen Stadtviertel. Sein letztes viele Freunde wie Feinde.Vor al- großes Spiel war die Meister- lem aber macht es ihn zum Star. schaft der „Barrios“,am 8.Janu- Als im Januar 2002 bekannt ge- ECUADOR – DEUTSCHLAND ar 2006, 25K Arabia Guayas ge- geben wird, dass Moreno als wann 5:3 gegen Aguarico Jr.Su- zweiter Ecuadorianer in der Ge- 20. Juni, 16 Uhr, cumbíos. Byron Moreno ver- schichte bei einer WM pfeifen teilte acht gelbe Karten. ●

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DER GERECHTE

In Ecuador ist der Schiedsrichter Byron Moreno bekannt wie ein bunter Hund. In Italien hasst man ihn einfach. Text:Roland Schulz

ls der Erste aus den Katakomben trat, stiegen Leuchtraketen Rage, dass er nicht merkt, dass er einen Fehler begeht: Er spricht be- in den Himmel,verfolgt von funkensprühenden Kugeln und ständig davon, dass die Partie 112 Minuten gedauert habe. Es ist ihm A heulenden Wirbeln, mit einem Schlag standen im Norden egal. Er sagt, von diesem Tag an sei nichts mehr so, wie es einmal war wie im Süden die Fankurven in Flammen. Die Fans hatten bengali- im Fußball Ecuadors. sches Feuer gezündet und Donnerschläge, sie schossen mit Signal- Von 102 Minuten Spielzeit und einem „dramatischen Triumph“ des munition, bis sie nur mehr Qualm atmeten.Als der letzte Spieler aus Lokalmatadors berichten die Medien der Hauptstadt Quito,die mäßi- den Katakomben kam, ließen sie dutzende Rollen Klopapier auf das gend einzugreifen bemüht sind. Nur kurz schildern sie die Aus- Spielfeld regnen,die kometengleich mit wehendem Schweif auf dem schreitungen der „Hinchas“, der fanatischen Fans, die nach der Par- Rasen aufschlugen. Alles war wie immer.Wie jeden Sonntag bei tie mit Wut im Bauch und Steinen in der Hand ungezählte Auto- und Heimspielen im „Estadio Casa Blanca“, der Festung von Liga Depor- Fensterscheiben in Scherben schlugen. Umso mehr suchen sie den tiva Universitaria Quito. Der Schiedsrichter pfiff, das Spiel begann. Verlauf der Partie zu erklären.Wie Guayaquil schon in der dritten Mi- Als es endete, war alles anders. Es waren 112 oder 102 oder 90 Mi- nute in Führung gegangen war.Wie das Spiel dann wild wurde.Wie nuten vergangen, hier kommt es wie bei der Bewertung des ganzen Schiedsrichter Moreno seine Entscheidungen traf:zwei Elfmeter,für Geschehens auf den Standpunkt des Betrachters an. Sicher ist nur jede Mannschaft einen, zwei rote Karten, für jede Mannschaft eine, dreierlei: dass der Schiedsrichter an diesem 8. September 2002 By- dazu ein wegen Handspiels annulliertes Tor von Liga Quito und ron Moreno hieß, so berühmt wie berüchtigt für seinen Auftritt schließlich jenes unglückselige Ende – in der 90. Minute signalisiert während der Weltmeisterschaft drei Monate zuvor, als er das Achtel- Byron Moreno sechs Minuten Nachspielzeit, doch spielen lässt er finale zwischen Italien und Südkorea leitete, das Italien umstritten zwölf. In der 99. Minute schießt Liga den Ausgleich.In der 101. Mi- verlor; dass sich außerdem an diesem Sonntag Morenos Leben wan- nute den Siegtreffer.In der 102.pfeift Moreno ab.Er muss das Stadion delte und dass Liga Quito dieses Spiel gegen Barcelona Guayaquil 4:3 unter Polizeischutz verlassen.Von 90 Minuten Spielzeit spricht By- gewann, durch ein Tor keine zwei Minuten vor dem Schlusspfiff. Es ron Moreno selbst. Er habe ein reines Gewissen, sagt er in einem In- war der Höhepunkt einer Geschichte, wie sie der Fußball Ecuadors terview nach der Partie,denn er habe,wie stets,genau gemäß den Re- noch nicht gesehen hatte. geln gehandelt. Den Regeln nach dauere ein Fußballspiel immer 90 Von 112 Minuten Spielzeit sprechen nach der Partie die Zeitungen Minuten;eventuelle Verzögerungen während dieser Zeit seien direkt der Küstenregion Ecuadors, die lauthals ihre Wut über die Niederla- im Anschluss durch Nachspielzeit auszugleichen. Nichts anderes ge ihrer Mannschaft und vor allem über den Schiedsrichter in die Welt habe er gemacht, sagt Moreno, „ich habe mir nichts vorzuwerfen“. schreien.Dieser Herr,so zitieren sie den Vereinspräsidenten von Bar- Dann kommt die Nachricht, dass der ecuadorianische Fußballver- celona Guayaquil,sei ein Betrüger,der nichts weniger als einen Mord- band FEF den Schiedsrichter für zwanzig Spiele sperrt und eine Un- anschlag auf den ecuadorianischen Fußball verübt habe, denn dieser tersuchung anstellt. Moreno zieht sich zurück. Er wartet. Herr habe gegen alle Regeln 112 Minuten spielen lassen – genau so Im Land ist derweil die Meinung der Öffentlichkeit wechselhaft.An lange, bis Liga Quito, in der regulären Spielzeit noch 2:3 im Rück- einem Tag verhöhnt man Moreno,am nächsten wäscht man ihn rein, stand, zwei Tore geschossen hatte.Was für ein Zufall, höhnt der Prä- am dritten schließlich fordert man seinen Kopf – er gilt abwechselnd sident Guayaquils, dass dieser Herr sich gerade jetzt unter dem Slo- als Lichtgestalt oder als Witzfigur des ecuadorianischen Fußballs. gan „Rote Karte für die Korruption“ um eine Sitz im Stadtparlament Byron Moreno,ein Mann,dessen hängende Augenlider ihn träge und

Foto: Sandra Behne / Bongarts Getty Images von Quito bewerbe. Der Vereinspräsident Leonardo Bohrer ist so in tölpelhaft wirken lassen, wird zu einem Sinnbild – es ist, als bündele

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ABSEITSPOSITION

ENDE EINER HOFFNUNG

Emmanuel Olisadebe, Polens erster schwarzer Nationalspieler, sitzt nun auf der Tribüne. Text:Raphael Honigstein

en „traurigen Stürmer“ nennt man Japan und Südkorea.Seit 1986 hatte Polen an kei- Emmanuel Olisadebe in seinem ner WM mehr teilgenommen. D Heimatland, weil er nach To- „Olisadebe wurde zur Lichtgestalt des pol- ren nur sehr dezent jubelt – für ni- nischen Fußballs“, sagt der Fußballjour- gerianische Verhältnisse zumin- nalist Martin Harasimowicz,„er versprach dest.Grund zur Freude gibt es für eine Rückkehr zu den glorreichen Zei- den 27-Jährigen zurzeit über- ten der siebziger und achtziger Jahre,als haupt wenig. Beim englischen Polen eine europäische Spitzenmann- Erstligisten FC Portsmouth, zu dem er im Winter von schaft war.“ Eine öffentliche Debatte Panathinaikos Athen wechselte,sitzt er wegen anhalten- über seine Einbürgerung fand praktisch nicht der Knieprobleme zumeist auf der Tribüne. Sein großer statt. Das Land brauchte ihn dringend, er wollte Län- Traum,mit Polen zur WM nach Deutschland zu fahren, derspiele machen; man sah das ganz pragmatisch. „Ich ist in weite Ferne gerückt. Obwohl Nationaltrainer Pa- träume nicht mehr von Nigeria.Ich spiele für Polen“,sag- wel Janas nicht gerade ein Überangebot an Torjägern hat, te „Oli“. Damit war alles gesagt. muss Olisadebe das Turnier wohl vom Sofa aus verfolgen. Selbst die in der polnischen Liga sehr umtriebigen Ras- Vor sechs Jahren sah alles ganz anders aus.Olisadebe,der aus der sisten brachte er mit seinen Toren zum Schweigen. Bei Stadt Warri in Südnigeria stammt,hatte Polonia Warschau mit sei- Polonia hatte man ihn oft angespuckt und mit Bananen nen Treffern zur Meisterschaft geführt und war mit Abstand der beschmissen; sein nigerianischer Kollege Adeniyi Agbe- beste Spieler in der „“. Der damalige Nationaltrainer jule wurde nach einen Foul von einem Schiedsrichter hatte eine nahe liegende Idee:Olisadebe solle für Po- gefragt,ob er aufstehen wolle oder lieber vorher eine Ba- len spielen. „Ich dachte, er macht einen Witz“, sagte der An- nane haben wollte. Als er das Nationaltrikot anzog, hör- greifer, als er von Engels Gesuch erfuhr. „Aber letztendlich ten die Schmähungen auf.Die Polen waren stolz,dass er für war die Entscheidung einfach. In Nigeria hatte man mich die Nationalmannschaft und Panathinaikos in der Champi- übersehen.Ich wollte Nationalspieler sein.Polen gab mir die ons League einen Treffer nach dem anderen erzielte. Gelegenheit und ich nutzte sie.“ Staatspräsident Aleksander Leider konnte Polen bei der WM 2002 die Hoffnungen der Kwasniewski nahm sich der Sache höchstpersönlich an.Nur Qualifikation nicht einlösen. Olisadebe machte ein Tor, das einen Tag nachdem er den Antrag auf Einbürgerung einge- reichte nicht, um das Aus nach der Vorrunde zu verhindern. reicht hatte,hielt Olisadebe den polnischen Pass in den Hän- Danach verletzte er sich immer wieder an den Knien und kam den. In Polens Nationalelf war er der erste schwarze Spieler. nur noch sporadisch zum Einsatz. Der Wechsel nach England In Nigeria hieß man ihn einen sollte das Glück noch einmal Verräter, in Polen wurde er zum erzwingen, doch der Körper Nationalhelden. Mit sieben Toren DEUTSCHLAND – POLEN macht nicht mehr mit.Nigeria in der WM-Qualifikation schoss tritt nicht in Deutschland an. er die Mannschaft quasi im Al- 14. Juni, 21 Uhr, Dortmund Olisadebe,der Pole aus Nigeria,

Foto: imago / Ulmer leingang zur Weltmeisterschaft in auch nicht.Traurig.

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DAS SPIEL DES LEBENS

Abhängen, rauchen, trinken: So sahen die Tage von Johnny Sandino aus. Jetzt spielt er Fußball und möchte Ingenieur werden. Zu verdanken hat er das einem ehrgeizigen Projekt in Costa Ricas Hauptstadt San José: „Fútbol por la vida“. Text:Klaus Ehringfeld

ohnny Sandinos neues Leben begann im Sommer 2004. Ein Die Idee zu „Fútbol por la vida“ hatte vor drei Jahren ein deutscher Cousin hatte ihm von einer Fußballschule erzählt und ihn zum Spielervermittler, der in Zentralamerika arbeitete. Er sah die vielen J Training mitgenommen.„Ich war neugierig“,sagt Johnny,„und Kinder in den Elendsvierteln San Josés auf der Straße spielen,die bar- weil ich Fußball sehr mag, bin ich geblieben.“ fuß oder in Badelatschen gegen Dosen oder alte Gummibälle traten. Zwei- bis dreimal pro Woche tauscht der 15-Jährige nachmittags die Mit dem Konzept einer Fußballschule für Kinder aus sozial schwa- Schuluniform gegen das Leibchen, auf dem ein stilisierter Fußball in chen Verhältnissen ging er zu „Brot für die Welt“, gemeinsam mit Grün, Gelb, Rot und Blau gedruckt ist – das Logo von „Fútbol por la dem Bildungsinstitut der Lutherischen Kirche Costa Ricas entstand vida“ („Fußball für das Leben“).Auf dem Sportplatz von Alajuelita so das Projekt,das nicht nur Fußball lehrt,sondern rund 500 Mädchen im armen Süden von San José, der Hauptstadt Costa Ricas, trainiert und Jungen zwischen sieben und 18 Jahren auch Perspektiven für ihr Johnny in einer gemischten Mannschaft das Zusammenspiel,den Ab- Leben aufzeigt. schluss,die Taktik.Die Trainerin unterbricht das Training immer wie- „Wir versuchen, ihr Selbstwertgefühl zu steigern, und bieten ihnen der, um den etwa dreißig Kindern, die zwischen zehn und 15 Jahre Gespräche zu Themen wie Drogen und Sexualität an“, erzählt Sozial- alt sind,Tipps und Anweisungen zu geben.Am Spielfeldrand beob- arbeiter Arias. Die Kinder üben, den Ball zu stoppen und mit dem achtet Marvin Solano das Training.Der frühere Fußballprofi ist Chef- Außenrist zu passen,und nebenbei sollen sie lernen,was es heißt,to- trainer des Fußballprojekts.Er ist zufrieden mit dem,was er sieht.„Bei lerant und solidarisch zu sein.Daher arbeiten neben den sechs haupt- uns gibt es mindestens zwei Mädchen und zehn Jungs,denen ich den amtlichen Fußballtrainern auch zwei Psychologen und zwei Sozial- Sprung in den Profifußball zutraue“, freut sich der 49-Jährige. arbeiter für „Fútbol por la vida“.Auch sie sind regelmäßig beim Trai- Dabei ist es weder Zweck noch Ziel von „Fútbol por la vida“, die ning dabei. Für viele Kinder ist das Projekt zur Ersatzfamilie gewor- Fußballstars von morgen zu finden.Es geht auch nicht darum,die Bes- den, hier können sie ihre schulischen und persönlichen Probleme ten eines Jahrgangs oder eines Viertels zu entdecken.Denn anders als besprechen. Fußball sei der beste Schlüssel, um Kinder für andere bei den Fußballakademien der costaricanischen Erstligaclubs,die mo- Themen zu sensibilisieren und ihr Vertrauen zu gewinnen, erklärt natlich bis zu 100 Euro kosten und streng nach Leistung sortieren, Melvin Jiménez,Präsident der Lutherischen Kirche Costa Ricas und kann bei „Fútbol por la vida“ jeder kostenlos mitmachen. In Spielen Mitbegründer des Programms: „Fußball ist wie das Leben. Du ver- gegen Mannschaften aus anderen Fußballschulen messen die Kinder lierst,du streitest und freust dich und du trägst Konflikte aus.Manch- zwar ihr Können, aber gewinnen müssen sie nicht. Die Sozialarbei- mal musst du dich geschlagen geben und manchmal gehst du als Sie- ter stellen auch nicht die elf Besten auf, sondern achten darauf, dass ger vom Platz. Auf dem Spielfeld lernst du alles, was du später ein- alle spielen können. „Die einzige Voraussetzung ist, dass die Kinder mal brauchst.“ aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen“,sagt Roy Arias.Der Neunzig Prozent der Kinder wachsen in Elternhäusern auf,in denen 33-jährige Sozialarbeiter ist der Koordinator des Projektes und hat ei- das Leben von Armut,Alkohol und Arbeitslosigkeit bestimmt wird. ne einfache Formel für seine Arbeit: „Wir verbinden Fußball mit So- Die Sozialarbeiter reden mit ihnen darüber,wie gefährlich es ist,Dro- zialarbeit“,erklärt er.„Kinder aus Armenvierteln ohne Zukunftsper- gen zu nehmen;sie versuchen,die Kinder von einer kriminellen Kar- spektive haben bei uns die Möglichkeit zum Spielen und sie be- riere abzuhalten.Denn oftmals gleicht das Leben der Kinder dem ih-

Foto: / Mauritius Torino kommen persönliche Unterstützung.“ rer Eltern, sagt Arias: „Viele brechen die Schule ab, manche werden

Blindtext

11 S_10_13_CostaRica 15.03.2006 17:24 Uhr Seite 2

WECHSELABSICHT

Stadtansicht von San José, der Hauptstadt Costa Ricas. S_10_13_CostaRica 15.03.2006 18:23 Uhr Seite 4

WECHSELABSICHT

Johnny bei seiner Großmutter, umringt von Neffen, Nichten, Cousinen und Cousins.

Johnny Sandino – nachmittags tauscht er die Schuluniform gegen das Leibchen von Fútbol por la vida.

Vor dem Trainingsspiel.

kriminell und fast jedes unserer Kinder hat schon Erfahrungen mit unbefestigten Wegen.Inzwischen hat der Staat zumindest an manchen Marihuana, Crack oder anderen Drogen.“ Durch das gemeinsame Stellen kleine, grün und gelb gestrichene Einheitshäuser gebaut und Training und die Möglichkeit zu reden sei schon viel erreicht: Die Straßen angelegt. Auch Johnnys Großmutter Maria konnte vor gut Kinder merken schnell, wenn jemand ihre Sorgen und Ängste ernst einem Jahr die alte Blechhütte gegen ein festes Dach über dem Kopf nimmt. Und sie wissen es zu schätzen. eintauschen. So wie Johnny.Arias kann sich noch erinnern, wie der schwarzhaa- Als Johnny ein Jahr alt war, siedelte seine Familie aus dem bettel- rige Junge anfangs rauchend und angetrunken zum Training kam – armen Nicaragua in das vergleichsweise wohlhabende Costa Rica um. eine Zeit, an die der Junge nicht gern erinnert werden will. „Früher Das zentralamerikanische Land, etwa so groß wie Niedersachsen, ist habe ich den ganzen Tag rumgegammelt“, ist das einzige, was er da- eine Ausnahme auf der schmalen Landbrücke zwischen Nord- und zu sagen möchte.Das hat sich geändert:Nach der Schule geht Johnny Südamerika.Während man mit Nicaragua, El Salvador und Guate- nach Hause und macht seine Aufgaben. Dann kommt er zum Fuß- mala vor allem Bürgerkrieg, Bandenkriminalität und Armut verbin- ball. „Er hat den Sprung geschafft“, sagt Arias. Seit einem Jahr geht det, hat sich Costa Rica in den vergangenen fünfzig Jahren den Ruf Johnny auf die weiterführende Schule. Er hat sein altes Viertel ver- eines wirtschaftlich stabilen und demokratischen Landes erarbeitet,das lassen und wohnt nun bei einer Patentante, nicht weit entfernt von in vieler Hinsicht an einen europäischen Wohlfahrtsstaat erinnert. „Fútbol por la vida“. Anschließend möchte er einen der Vorberei- Seit dem 19.Jahrhundert besteht Schulpflicht,was die Analphabeten- tungskurse für das Abitur machen,um studieren zu können.Nach Te- rate unter fünf Prozent gedrückt hat.1948 schaffte die Regierung die jarcillos, in seine alte Welt, kehrt der Junge nur zurück, wenn er sei- Armee ab und investierte das Geld in Bildung, staatliche Fürsorge ne Großmutter besucht, bei der er 14 Jahre lang gelebt hat. und die Schaffung einer Reihe von Staatsmonopolen im Dienstleis- Maria Auxiliadora García hat für ihren Enkel kalte Limonade vor- tungs- und Versorgungssektor. Seither sind Energie,Telekommuni- bereitet und zieht noch schnell den Schonbezug auf dem Sofa glatt. kation,Versicherung, die einzige Erdölraffinerie und große Teile des Zwischen Johnny und seine Oma drängeln sich Nichten, Neffen, Bankensystems sowie der Alters- und Krankenvorsorge in den Hän- Cousinen und Cousins. In drei Zimmern leben elf Menschen auf den des Staates. In Costa Rica genießen die staatlichen Universitä- dreißig Quadratmetern.Das Wohnzimmer,wo der schuhkartongroße ten einen besseren Ruf als die privaten – eine absolute Ausnahme für Fernseher den ganzen Tag läuft, dient zugleich als Küche.Tejarcillos Lateinamerika.Nahezu überall fließt trinkbares Wasser aus den Häh- liegt am südlichen Rand von San José und ist eines der ärmsten Vier- nen und in fast jedem Winkel gibt es ein Telefonhäuschen. Zudem tel der Stadt. Jahrelang war es Ziel verarmter Kleinbauern, denen ihr schuf der Staat in den vergangenen Jahrzehnten ein dichtes soziales kleines Feld kein Auskommen mehr ermöglichte und die deshalb ihr Netz, das mit zu dem bescheidenen Wohlstand beitrug, der Costa Glück in der Stadt suchten. Heute kommen vor allem Einwanderer Rica den Beinamen „Schweiz Zentralamerikas“ eingetragen hat.Nur aus dem benachbarten Nicaragua hierher. Für fast alle ist das Viertel jeder fünfte Costa Ricaner lebt in Armut, während sonst in Latein- Endstation der Träume von einem besseren Leben. Die Arbeitslosig- amerika fast jeder Zweite nicht genügend zu essen und weder Strom keit ist hoch, die meisten Menschen leben vom Straßenverkauf: noch fließendes Wasser in seiner Behausung hat. Einige bieten Orangen oder Süßigkeiten an – andere Drogen.Früher Bei einem Spaziergang durch Tejarcillos erzählt Johnny von seinem gab es in Tejarcillos nur Behausungen aus Wellblech und Karton an früheren Leben. „Ich war von sieben bis zehn Uhr vormittags in der

12 S_10_13_CostaRica 15.03.2006 17:25 Uhr Seite 5

Training bei „Fútbol por la vida“.

Johnny in seinem alten Viertel Tejarcillos, hier hat er 14 Jahre gelebt.

Schule,bin nach Hause,habe was gegessen und bin raus auf die Straße. abzuweisen, aber wir stoßen an unsere Grenzen“, sagt Melvin Jimé- Bis spätabends.“ Der Tagesablauf war immer gleich: abhängen, rau- nez. Das Projekt besitzt keine eigenen Plätze, für die Trainingsstun- chen und trinken. „Manchmal haben wir Mango- und Apfelbäume den werden Anlagen von den Gemeinden,von Schulen oder Firmen geplündert und Vögel gejagt“, sagt er. Seinen Vater hat Johnny nie angemietet; die sechs Trainer sind schon sechs Tage die Woche im kennen gelernt, seine Mutter war schwer krank und nicht in der La- Einsatz, um in drei verschiedenen Stadtteilen Kinder trainieren zu ge, sich um ihren einzigen Sohn zu kümmern, daher nahm ihn sei- können. ne Großmutter auf. Das Projekt hat so großen Erfolg, weil Fußball in Costa Rica die ab- Der Spaziergang führt über Schotterwege und enge unbefestigte Gas- solut wichtigste Sportart ist.Während sich in anderen Ländern Zen- sen, vorbei an brennenden Müllbergen und Abwasserrohren: „Hier tralamerikas der starke Einfluss der USA auch dadurch bemerkbar an dieser Ecke verkaufen sie Drogen“, erzählt Johnny. Marihuana macht,dass mehr Baseball gespielt wird,huldigen die „Ticos“,wie sich kostet umgerechnet einen Euro, ein Stückchen Crack ist schon für die Costa Ricaner selbst nennen, dem Fußball.Wenn die National- 75 Cent zu haben.„Die große Mehrheit meiner Freunde hat Rausch- mannschaft spielt,kommen die Geschäfte im Land zum Erliegen und gift genommen, ich habe nur getrunken“, gibt Johnny zu. „Da, wo die Menschen versammeln sich vor dem Fernseher. Für die Fußball- ich heute wohne, gibt es keine Drogen.“ Und Kriminalität? „Klar“, weltmeisterschaft werden in vielen Städten und Dörfern des Landes sagt der 15-Jährige.„Viele meiner Freunde finanzieren sich mit klei- große Leinwände montiert, damit alle das Eröffnungsspiel gegen nen Diebstählen und Überfällen.“ Deutschland am 9. Juni und die anderen Spiele der Nationalmann- Der Rundgang endet auf einer Anhöhe,dem höchsten Punkt von Te- schaft verfolgen können. Für die Costa Ricaner ist es eine besonde- jarcillos.Von hier aus überblickt man das ganze Viertel.Dicht an dicht re Ehre, dass ihre Mannschaft die Weltmeisterschaft eröffnen wird. stehen die Wellblechhütten. Rund tausend Familien leben auf der Beim Anstoß wird es in San José es elf Uhr vormittags sein.Nach dem Fläche weniger Fußballfelder zusammen. Und in jeder Hütte woh- Spiel wird in ganz Costa Rica nur noch gefeiert oder getrauert wer- nen zwischen acht und zehn Menschen.Weiter hinten sieht man die den, je nachdem. Fest steht, dass an diesem Tag Schule und Arbeit besseren Viertel San Josés mit ihren Villen,Hochhäusern und Parks. Nebensache sein werden. Sie scheinen weit entfernt,hier in Tejarcillos.„Wäre ich nicht von hier, Johnny Sandino wird sich das Eröffnungsspiel natürlich auch an- ich würde hier nicht nachts allein durch die Straßen gehen“, sagt schauen, wo, das weiß er noch nicht. Er träumt davon, später selbst Johnny. einmal im Mittelfeld der Nationalmannschaft zu stehen. „Wenn das Mehr als zwei Jahre nachdem die Schule ihre Tore geöffnet hat,steigt nicht klappt, werde ich Ingenieur“, sagt er. In naher Zukunft zählt die Nachfrage täglich.Vertreter aus Armenvierteln San Josés, in de- etwas anderes: „Wir werden Deutschland schlagen.“ ● nen „Fútbol por la vida“ nicht präsent ist,bitten darum,einbezo- ☞ Auf www.fluter.de: Das gen zu werden.Auch aus anderen DEUTSCHLAND – COSTA RICA Straßenfußballprojekt „Defenso- Städten des Landes kommen An- res del Chaco“ bereichert das Le- fragen.Doch das Geld reicht nicht 9. Juni, 18 Uhr, München ben von 1200 Kindern in Argen-

Fotos: Klaus Ehringfeld aus. „Wir versuchen, niemanden tinien. S_14_15_Identitäten 15.03.2006 16:42 Uhr Seite 44

PERSONALFRAGE

Wortgefechte

Die Fans des Londoner Vereins Tottenham Hotspur bekommen in anderen Stadien zischende Gasgeräusche zu hören und feiern Jürgen Klinsmann als Juden.Alles ganz normal. Text: Caroline von Lowtzow

„Yiddos! Yiddos! Does your Rabbi,does your den,und deuten so den eigentlich abwertend ihm zu ducken, sich als Ehrennamen zu Ei- Rabbi,does your Rabbi know you’re here?“, gemeinten Spitznamen positiv um. gen machten,das hat dem Spott die Wirkung brüllten Arsenal-Fans den Fans des Lokal- John M. Efron, Professor für jüdische Ge- genommen“, sagt Efron. rivalen Tottenham Hotspur entgegen,um sie schichte an der Universität von Kalifornien, Tottenham und auch Ajax Amsterdam, wo zu provozieren.Es war der 3.April 1976 und Berkeley, erlebte im Herbst 2000 bei einem man ein ähnliches Phänomen der Identitäts- die „Yiddos! Yiddos!“-Sprechchöre beglei- Spiel zwischen Manchester und Tottenham annahme beobachten kann,gelten als „Juden- teten seit einem Jahr regelmäßig die Derbys selbst,wie beim Einlaufen der Mannschaften clubs“, obwohl sie es nie waren, sie hatten zwischen Tottenham und den anderen Lon- ein gewaltiges Geschrei einsetzte und aus tau- höchstens mal einen jüdischen Präsidenten doner Clubs West Ham,Chelsea und Arsenal. senden Männerkehlen der gleiche Schlacht- oder ein paar jüdische Spieler. Dennoch hat Am 3.April 1976 hatten die Tottenham-Fans ruf ertönte: „Yids,Yids,Yids!“ Seitdem er- Ajax eine jüdische Tradition, die mit der genug. Ein Hooligan-Trupp stürmte die forscht er,wie es dazu kam,dass die Fans von jüdischen Tradition von Amsterdam als „Jeru- Nordkurve,wo die Arsenal-Fans standen,und Tottenham Hotspur eine jüdische Identität salem Europas“ zusammenhängt. skandierte dort: „Yiddos took the North annahmen. Denn die Mehrzahl der Totten- Zwar liegt Tottenham in Nordlondon,wo die Bank! Yiddos took the North Bank!“ Seit ham-Fans sind überhaupt keine Juden. Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung Lon- diesem Tag bezeichnen sich die Tottenham- „Dass die Tottenham-Anhänger den rassis- dons lebt, doch haben Arsenal, ebenfalls in Anhänger selbst stolz als „Yids“, also als Ju- tisch gemeinten Spitznamen, statt sich vor Norden gelegen, und Chelsea im Westen

14 S_14_15_Identitäten 17.03.2006 13:35 Uhr Seite 45

Fans von Tottenham Hotspur. Links: Fankurve im Stadion von Ajax Amsterdam.

mehr jüdische Fans. Seinen Ruf als Juden- israelische Flagge zu sehen,Tottenham-Fans ham und Ajax nur noch von den Fans von club verdankt Tottenham dem Fernsehen. In tragen T-Shirts mit Aufdrucken wie „Yid 4 Roter Stern Belgrad bekannt,die sich die als den 1960ern lief in England die populäre Co- Life“ und Atemschutzmasken als Kippas. Schmähung gedachte Bezeichnung „Zigeu- medyserie Till Death Us Do Part.Der Haupt- „Nichts schweißt eine Gruppe mehr zusam- ner“ zu Eigen machten. darsteller,ein rassistischer Nationalist mit dem men als eine Attacke von außen“, erklärt der Je mehr die Ajax- und Tottenham-Fans die Schal seines Vereins West Ham um den Hals, Fußballsoziologe Gunter A.Pilz diese Reak- jüdische Identität annahmen, umso schlim- beklagte dauernd den Niedergang Englands. tionen. Identität ist für Fangruppen extrem mer wurden die Beleidigungen.Anfangs ging Einmal sagte er, dass West Ham bald gegen wichtig.Deshalb wollen sie regelrecht gehasst es meist um die Beschneidung oder jüdische die „Yids“ spielen werde. „Seitdem ist die und als Außenseiter gesehen werden. Nichts Essensgewohnheiten,dann rückte der Holo- Verbindung von Tottenham und ,Yids’in die wirkt da so gut wie Antisemitismus – ein Ju- caust in den Mittelpunkt der Schmähungen. Umgangssprache eingegangen“, sagt Efron. de genannt zu werden heißt, marginalisiert Die schlimmste Form: Alle Fans auf der Bis die „Yiddo-Kultur“ entstand, wie Efron zu sein. Um sich nach außen abzugrenzen, Tribüne zischen und imitieren so das Aus- AFP / Getty Images die Selbstbezeichnung der Tottenham-Fans nimmt man vollkommen die Identität der strömen von Gas.„Die nichtjüdischen Totten- als „Yids“ oder „Yid Army“ und die Reak- Gruppe,in diesem Fall des Vereins,an.Schon ham-Fans haben darauf so entsetzt reagiert, tionen der Gegner darauf nennt, vergingen in den dreißiger Jahren wiesen die Sozialpsy- wie man es nur von wirklichen Juden er- Andersen / allerdings noch einige Jahre. chologen Muzafer und Carolyn Sherif dieses warten würde“,sagt Efron.„Wenn sie ins Sta- In den Siebzigern schwappte mit dem Auf- gruppendynamische Verhalten in ihrem so dion gehen,fühlen sie sich wirklich als Juden kommen der National Front eine rassistische genannten Ferienlagerexperiment nach. Die und nennen auch jeden Spieler, den sie mö-

oepsel; Odd Welle über den englischen Fußball.Schwarze Aneignung der Vereinsidentität hat laut Pilz gen einen ,Yiddo’.“ Das bekannteste Beispiel Spieler, die vermehrt in der englischen Liga aber noch eine zweite Funktion: „Wenn ein ist Jürgen Klinsmann, der 1994 nach Totten- spielten,wurden mit Bananen beworfen.Und Verein beschimpft wird und ich nehme den- ham kam. „Zur Melodie von Mary Poppins die Tottenham-Fans, unter ihnen viele Skin- noch genau diese Identität an,provoziere ich sangen die Fans ihm zu Ehren: Chim chi- heads, wurden eben mit antisemitischen damit die andere Seite. Die Provokation minee, chim chiminee, chim chim churoo,

Bongarts / Christof K Sprechchören empfangen,bis sie sich die Be- nimmt dann noch zu,wenn die Gegner wis- Jürgen was a German, but now he is a Jew!“ schimpfung als neue positive Identität aneig- sen:Das sind überhaupt keine Juden.“ In Eu- ☞ Lesetipp: Brenner,Reuveni: Emanzipation otos:

F neten.Bei Spielen der Hotspur ist seither die ropa ist dieses Phänomen außer bei Totten- durch Muskelkraft. Göttingen 2006.

15 S_16_19_Fussball_Liebe 15.03.2006 17:35 Uhr Seite 44

SPORTLERHERZ

DANKE, DASS ES DICH GIBT!

Neun Liebeserklärungen. Texte:Anne Haeming, Barbara Lich, Bastian Obermayer

Caroline Boßmann, 15, Mädels sind unkomplizierter. Die Jungs fan- stress. Ich glaube nicht, dass ich bei einer an- Nachwuchs-Schiedsrichterin gen bei jeder Entscheidung an zu debattieren. deren Sportart,Handball zum Beispiel,so ein beim FV Knittlingen, Bretten Übel beschimpft wurde ich übrigens von den Zufriedenheitsgefühl entwickeln könnte. Als Nachwuchsspielern von Chelsea London.Da meine Familie im vergangenen Sommer um- Es fing an mit einer Wette. Ich habe früher fielen heftige Ausdrücke – zum Glück auf ziehen musste, habe ich – noch bevor wir immer in Jungsmannschaften gespielt. Ein Englisch, da habe ich nicht alles verstanden. eine neue Wohnung gefunden hatten – sofort Teamkollege sagte damals: Die Schiedsrich- Ob ich lieber spiele oder pfeife? Das hängt nach Vereinen in der Umgebung gesucht. terprüfung schaffst du nie.Jetzt pfeife ich seit von der Tagesform ab.Sicher ist:Für mich ist Wenn ich mal zwei, drei Wochen nicht auf anderthalb Jahren, Mädchen wie Jungs. Die Fußball der absolute Ausgleich zum Alltags- dem Platz stehe, werde ich total zickig.

16 S_16_19_Fussball_Liebe 15.03.2006 18:08 Uhr Seite 45

David Mamunz, 18, Schüler Nürnberg

Fußball bedeutet mir alles. Mehr als die Schule, mehr als meine Freundin. Ich trainiere jeden Tag dafür, dass mein großer Traum in Erfüllung geht: eine Karriere als Profifußballer. Dann könn- te ich mit Fußball Geld verdienen wie andere im Büro und ich könnte ganz si- cher in Deutschland bleiben. Ich kam ungefähr mit 14 Jahren hierher, meine Eltern wurden im Krieg zwischen Ar- menien und Aserbeidschan erschlagen. Ich wurde am 29. Dezember 1990 auf der Straße gefunden und auf drei Jahre geschätzt, das ist also jetzt mein offiziel- les Geburtsdatum.Wie alt ich wirklich bin, weiß ich nicht.Aber ich weiß:An- dere in etwa meinem Alter spielen schon in der ! Ich will später nicht sagen müssen, dass ich mich mehr hätte anstrengen können. Deswegen trainiere ich am Wochenende und in den Ferien sogar zweimal,ich merke ja,dass ich im- mer noch viel lernen muss.Mein Trainer muss mich manchmal bremsen,wenn ich es übertreibe mit dem Training. Es muss ja gar nicht der FC Bayern sein, die Zweite Bundesliga wäre auch toll.

Jörg Laufenberg, 31, Präsident der Vereinigung der Groundhopper Deutschlands (V.d.G.D.), Aachen

Groundhopper sammeln Stadionbesuche.Wohin geht’s als Nächstes? Eigentlich wollte ich demnächst mein letztes österreichisches Stadion feiern, das von Rapid Wien.Jetzt ist das Lokalderby doch im Ernst-Happel-Stadion. Ich fahre trotzdem.Normalerweise geht kein Groundhopper freiwillig zwei- mal in das gleiche Stadion.Es gibt aber unterschiedliche Typen,man muss nicht Mitglied bei uns sein: Die einen wollen nur Stadien und Länderpunkte sam- meln, bei den anderen steht der Heimatverein im Mittelpunkt – so wie bei mir . Was sind Länderpunkte?

Alfred Jansen Es gibt ein Buch,in dem alle Stadien der Welt verzeichnet sind.Jeder Ground- , hopper führt seine eigene Statistik und hakt ab, wo er schon war.Aber eine Rangliste gibt es nicht. Ich habe etwa 1500 Stadien in 41 Ländern gesehen, ich hebe jede Eintrittskarte auf. In Europa fehlen mir fast nur noch kleine Paul Kranzler Staaten wie etwa Andorra, Mazedonien und die Färöer. Wie organisieren Sie das alles? Wir bilden Fahrgemeinschaften,ich verzichte auf Luxus wie teure Klamotten: Das ist es mir wert – ich mag die Atmosphäre im Stadion, die ist in jedem

Frederick Busch, Land anders und diese Fankultur erlebt man so intensiv nur als Ground- hopper.Am schönsten ist das Stadionerlebnis in England:Dort haben die Fans otos:

F das beste Gespür dafür, wann die Mannschaft Unterstützung braucht.

17 S_16_19_Fussball_Liebe 15.03.2006 17:35 Uhr Seite 46

SPORTLERHERZ

Okka Gundel, 31, WDR-Sportberichterstatterin, Köln

Ich liebe Flutlichtspiele,da ist es immer so melancholisch! Mein Alltag als Sport- moderatorin ist eher sachlich.Wenn Rot-Weiß Essen spielt,gehe ich zur Presse- konferenz – da sitzen Journalisten,Trainer,Spieler.Wenn mich einer nicht kennt, denkt der:Die ist blond und ‘ne Frau – forget it.Als Frau muss ich in dieser Bran- che doppelt so gut sein wie ein Mann.Den kleinsten Fehler bekomme ich drei- mal um die Ohren gehauen.Aber rüde Sprüche klopfen kann ich auch. Ich ha- be schließlich schon als Kind mit meinem großen Bruder gekickt.Als der noch beim VfB Lübeck war, habe ich mal ein Spiel für den NDR-Hörfunk kom- mentiert. Er ist nicht gut weggekommen. Mein erster Stadionbericht fürs Ra- dio war über das Spiel Lüneburger SK gegen Göttingen 05 am 29.8.99. Beim Fernsehen bin ich seit 2003,ich moderiere die WDR-Regionalligasendung Sport im Westen. Ich habe Sport studiert und auch schon den Tennis World Team Cup kommentiert – aber Sportberichterstattung ist ja fast nur über Fußball.Mir macht das Spaß, ich bin ja mit diesem Sport aufgewachsen. Und ich habe einen Fuß- baller geheiratet. Eigentlich bin ich also auch Spielerfrau.

Dr. Othmar Hermann, 53, Eintracht-- Fan und Sammler von Stadionheften, Frankfurt

Wie kamen Sie auf die Idee, Stadionhefte zu sammeln? Ich bewahre gern Dinge auf, die auch biografisch für mich wich- tig sind.Im August 1965 bin ich mit einem Schulfreund ins Wald- stadion gegangen,meine Premiere.Das war das erste Spiel der Sai- son: Eintracht gegen HSV.Die Eintracht hat 2:0 gewonnen. Die Atmosphäre und der Nervenkitzel haben mich so fasziniert, dass ich anfing, regelmäßig ins Stadion zu gehen. Und immer ein Programmheft mitzunehmen? Genau.Weil ich keine halben Sachen mache, fing ich schließlich an, intensiv zu sammeln. Ich bin kein Messie, aber ein Bewahrer, ein Papiersammler. Seit mehr als vierzig Jahren sammle ich außer den Stadionheften auch Tickets, Bücher, Fotos, Zeitschriften und die Zeitungsberichte zu den Eintracht-Spielen. Da kommen pro Saison immer drei Ordner dazu.Mittlerweile habe ich,abgesehen vom Verein selbst,das größte Eintracht-Archiv und generell viele rare Sachen. Zum Beispiel? Stefan Mohme, 39, Organisator der Freizeitliga Die Vereinszeitungen ab 1909 sowie Programme zu Liga- und Royal Bavarian Liga, München Freundschaftsspielen ab 1920: Darunter sind viele Highlights. Außerdem besitze ich Programm und Ticket zum Länderspiel Wenn ich sehe, wie der Spielbetrieb für mehr als 140 Mann- Deutschland gegen die Schweiz 1922 am Riederwald. Die alten schaften fast reibungslos funktioniert und so viele Freizeitkicker Sachen sind der Stolz meiner Sammlung. ihre Begeisterung in unserer Liga mit Abstieg,Aufstieg, Cham- pions Liga, Pokal und Hallenturnieren ausleben können, beant- worte ich gern zehn Mails und sechs Anrufe am Tag.Wie aus ei- ner winzigen Punkterunde mit acht Mannschaften etwas so Großes werden konnte! Als ich die Ligaleitung vor elf Jahren übernahm, stand Fußball in meinem Leben klar an erster Stelle. Allein für das Infoblatt habe ich alle zwei bis drei Wochen acht Stunden lang die aktuellen Tabellen und Ergebnisse für die da- mals sechzig Mannschaften abgetippt, kopiert, zur Post gebracht. Heute,mit Internet,kostet mich die Liga immer noch eine Stun- de am Tag, anstrengend ist aber nur der Abschlussbericht, dafür muss ich vier Tage freinehmen.In den Vorstand wollte ich nur,weil ich dachte: Dann traut sich keiner mehr, dich umzuhauen.

18 S_16_19_Fussball_Liebe 15.03.2006 17:35 Uhr Seite 47

Simon Müller, 23, Ultra in der Schickeria, München

Irgendwie habe ich Fußball immer im Kopf. Da- bei geht es gar nicht mehr so um den Sport an sich,sondern eher um die Lebenswelt,die mir der Fußball erschlossen hat.Eine Welt,die ich mit mei- nem Engagement mitgestalten kann,als Capo der Schickeria.Drei bis vier Stunden am Tag beschäf- tige ich mich intensiv mit Fußball, wenn ich Spruchbänder oder Fahnen bemale, Artikel für das Südkurvenbladdl, unseren Internetauftritt oder Forumsbeiträge schreibe,mir neue Liedtexte aus- denke oder mit anderen Ultras zusammensitze. Am Anfang war ich einfach gern ab und zu im Stadion, diese Saison habe ich noch kein Pflicht- spiel der Bayern verpasst,egal ob auswärts oder in der Allianz Arena, ob DFB-Pokal oder Champi- ons League. Man wächst da in eine Gemeinschaft hinein und das ist es, was mich fasziniert. Mittler- weile stammen fast alle meine Freunde aus dem Ultra-Umfeld, sogar meine Freundin. Allerdings wird ihr meine Begeisterung trotzdem manchmal zu viel.Aber so ist das eben: Ultra.

Gerhard Stoll, 37, blinder Fan von , Köln Jürgen Apfel, 46, ehrenamtlicher Wenn ich im Stadion bin, läuft bei mir ein innerer Film KSC-Jugendtrainer, ab. Sicher, es ist ein Film der siebziger und achtziger Jah- Kandel re. Ein Film aus der Zeit also, als ich noch gesehen habe, vor dem Unfall mit 13 Jahren. Im Stadion sind wir Blin- Wie sieht Ihr Wochen- den stark auf Emotionen angewiesen,auf die Ohs und Ahs ende aus? der Fans,auf die Gesänge,die Stimmung.Schon wenn ich Da spielen meine „Fuß- von meiner Wohnung zum Stadion fahre, steigt das Ad- ballkinder“: Meine U13- renalin. Seit 1999 gehe ich regelmäßig zu Bayer 04 Le- Mannschaft und mein 13- verkusen. Hier reportieren Jugendtrainer für blinde Fans jähriger Sohn spielen zum das Spiel über Kopfhörer.Wenn ein Spieler aufs Tor zurennt Glück zeitlich oft hinter- und alle brüllen oder pfeifen, dann hören wir das ja. Den einander, so kann ich bei Rest berichten uns unsere Reporter. Mit Radiohören ist beiden dabei sein.Als mein das nicht zu vergleichen, da ist man nun mal nicht mit- Sohn letztes Jahr in mei- tendrin.Fußball bedeutet für mich,Teil einer riesengroßen ner Mannschaft war,haben Gemeinschaft zu sein.Deshalb bin ich auch gern bei Aus- wir unter der Woche gemeinsam trainiert: dreimal nachmittags, andert- wärtsspielen dabei, selbst wenn es dort den Blindenser- halb Stunden. Das geht, weil ich von zu Hause arbeite. vice nicht immer gibt. Spielen Sie auch selbst? Manchmal muss ich ein- Ab und zu bei den Senioren.Aber eigentlich spiele ich schon mein ganzes fach in die Kurve.Fußball Leben: Ich bin 1960 geboren, das war noch die Zeit des Straßenfußballs. ist für mich mein Ventil, Ich wollte den Großen nacheifern: Seeler, Beckenbauer. Das Kicken war im Stadion kann ich so mein Ventil.In den Verein bin ich erst mit 15 eingetreten, mit 18 wurde richtig aus mir rausgehen: ich Jugendtrainer. Die Trainerausbildung habe ich später nachgeholt. Beim Spiel Leverkusen Und warum ausgerechnet Jugendfußball? gegen Manchester United Mit Kindern zu arbeiten macht mir Spaß.Es ist eine verantwortungsvolle bin ich vor Freude mal so Aufgabe,Talente zu fördern. Ich möchte den Kindern etwas mitgeben: hoch gesprungen,dass mir soziales Miteinander,Teamgeist – das wird heute kaum geübt.Aber es ist der Kopfhörer um die

Fotos: Olaf Unverzart,Alfred Jansen, Dorothee van Bömmel, Frederick Busch zentral für den Mannschaftssport, das lernt ein Einzelkämpfer nicht. Ohren geflogen ist.

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MENGENLEHRE DIE MASSE MACHT’S Was geschieht mit Menschen in einer Fankurve und warum ist es langweilig, Fußball allein zu schauen? Der Psychologe Dr. Joachim Hohl weiß es. Interview:Anne Siemens S_20_23_Masse 15.03.2006 16:44 Uhr Seite 45

29. Mai 1999: Fans von Eintracht Frankfurt feiern im Waldstadion den Klassenerhalt der Eintracht nach einem Sieg über den 1. FC Kaiserslautern.

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MENGENLEHRE

Fußball zusammen mit Freunden zu schauen, im Fernsehen selbstkritisch und selbstkontrollierend denken,weil man unter vielen oder im Stadion, macht mehr Spaß als allein.Warum? Menschen ja nicht so sehr auffällt. Man schwimmt einfach mit, so ist In einer Gruppe erlebt man Gefühle viel intensiver.Das ist nicht nur in der Masse jede Menge Raum für spontane Emotionalität. Das ist beim Fußball so,sondern in allen Lebensbereichen.Egal,ob man sehr der Grund,warum Rituale wie Gesänge so bereitwillig übernommen glücklich oder traurig ist,in der Gruppe verstärken sich Gefühle.Man werden. Die anderen singen – warum also nicht mitsingen? guckt die anderen an und ist noch glücklicher.Zu Hause mit Freun- Und was ist der Effekt? den vorm Fernseher zu sitzen bedeutet also einen Lust-Zugewinn. Die Massenbindung wird gestärkt. Menschen, die miteinander sin- Daneben passiert sozialpsychologisch noch etwas sehr Interessantes: gen, haben eine starke Bindung zueinander. Sozialpsychologisch ge- Über die Fernsehübertragung nimmt die Gruppe an den Mechanis- sehen, bedeutet zu singen, die Gemeinsamkeit zu stärken. Deswegen men im Stadion teil.Man schimpft wie die Leute auf der Tribüne auf singen Familien an Weihnachten,deswegen singen Soldaten,die mar- den Schiedsrichter oder springt bei einem Tor aus dem Sessel,es gibt schieren. In dem Moment, in dem wir singen, sind wir uns näher. eine Bindung zu den Fans im Stadion. Ist dieser Prozess, in dem der Verstand zurücktritt und man Wie entsteht diese Bindung? in der Masse aufgeht, etwas Unbewusstes? Die Gruppe vor dem Fernseher und die Fans im Stadion identifizie- Wenn man darüber nachdenken würde,täte man es nicht.Wer über- ren sich mit einer der beiden Mannschaften – es gibt also etwas überge- legt, ob er mit wildfremden Menschen Lieder singen will, hat schon ordnetes Drittes, dessentwegen man zusammenkommt und das man eine Distanz zur Masse geschaffen – und ist nicht mehr Teil von ihr. bewundert. Die Identifikation schafft Bindung, so entsteht Masse. Über dieses Prinzip der Masse wurde im Dritten Reich viel Ein Robbie-Williams-Konzert funktioniert also genauso? erreicht. Kann man das mit dem Fußballstadion vergleichen? Ja.Anderes Beispiel:die Trauerfeier anlässlich des Todes von Papst Jo- Im Dritten Reich fand Massenbildung ja nicht spontan statt. Die hannes Paul II. Die Anlässe sind verschieden, aber überall fallen sich Mitglieder der Masse hatten eine Sozialisation durchlaufen, waren massenweise Menschen in die Arme – wegen eines Tors, des Papstes über Jahre von der Parteispitze durch die Hitlerjugend und ähnliche oder eines Popstars auf der Bühne. Die sozialpsychologischen Basis- Organisationen ideologisch geprägt worden. Die Menschen waren mechanismen sind immer dieselben. Ohne darauf eingestimmt,sich mit dem Führer zu den gemeinsamen Inhalt, der verbindet, identifizieren und darüber in der Masse mit- wären uns diese gerade noch umarmten einander zu verschmelzen.Das ist der große Menschen hingegen egal.Das unterscheidet Unterschied zu einem Fußballspiel oder ei- Menge von Masse.Wer käme auf die Idee, nem Popkonzert, aber daneben kommt es samstagmittags auf dem Münchner Marien- natürlich auch immer noch auf den qualita- platz oder in der Fußgängerzone Menschen tiven Inhalt der Massenbildung an. in den Arm zu nehmen? Das eine hat mit dem anderen also Niemand natürlich. Und warum nicht? nichts zu tun? In der Fußgängerzone gibt es kein überge- Nein, das stimmt so auch nicht. Die sozial- ordnetes Drittes, das alle miteinander ver- psychologischen Basismechanismen im Sta- bindet.Man befindet sich dort in einer Men- dion sind dieselben wie bei der Massenbil- ge – in einem Haufen von Menschen, wo dung im Dritten Reich: Identifikation mit jeder seinen Interessen nachgeht. dem übergeordneten Dritten, die Ver- Sonst streben wir doch nach Individua- schmelzung darüber und das Zurücktreten lität. Warum suchen wir dann solche Fans des 1. FC Kaiserslautern am 29. Mai von Kritikfähigkeit und Eigenverantwor- Menschenmassen? 1999: Noch ist ihr Verein erstklassig. tung in der Masse. Man kann also nicht sa- Wir leben im Westen in Industriegesell- gen: Das eine ist doch völlig harmlos und schaften, in denen Individualität eine große Rolle spielt. Dieser Zu- hat mit dem anderen nichts zu tun – „unschuldige“ Masse, die gibt stand hat zwei Seiten:Wir entscheiden selbst über unser Leben und es nicht.Aber Menschen, die 1943 auf die Frage „Wollt ihr den to- werden als einzelne Menschen wahrgenommen. Gleichzeitig sind talen Krieg?“ begeistert „Ja“ brüllten, mit grölenden Fußballfans wir abgetrennt von anderen Menschen, da wir nicht mehr in größe- gleichzusetzen wäre völlig falsch. ren sozialen Verbänden leben.Auf der anderen Seite gibt es natürlich Sind alle Menschen für Massenmechanismen gleichermaßen nach wie vor das menschliche Bedürfnis nach Verbundenheit.Auch empfänglich? in einer Gesellschaft, in der die Individualität von Menschen eine Es gibt Menschen, die sich von Massenveranstaltungen fern halten – immer größere Rolle spielt. aus verschiedensten, individuellen Gründen. Doch auch von ihnen Eine Masse hilft uns also? würde die Mehrzahl, wenn sie sich in einer Masse befände, ganz si- Wir sind soziale Wesen und die Masse befriedigt genau dieses Be- cher von der Dynamik erfasst. dürfnis. Sie gibt uns die Möglichkeit, mit anderen Menschen zu ver- Sich in einer Masse zu befinden bedeutet bei aller Begeiste- schmelzen – jedenfalls für eine bestimmte Zeit.Die Grenzen der In- rung auch, bestimmte Risiken einzugehen – man wird an- dividualität werden in der Masse aufgehoben und man ist nicht mehr gerempelt, geschubst, schlimmstenfalls gerät man in eine das soziale Atom, das auf eigene Faust existiert. Prügelei. Und trotzdem gehen Menschen ins Stadion. Wenn im Stadion eine Gruppe anfängt zu singen – und plötz- Die Frage nach den Risiken stellt sich jemand überhaupt nicht, der lich singen alle:Welcher Mechanismus steckt da dahinter? begeistert ins Stadion geht.Im Gegenteil:Dass es mal zur Sache geht, In der Masse tritt die Vernunft, die uns normalerweise im Alltag be- sich gegnerische Fangruppen beschimpfen,der Schiedsrichter verbal

gleitet, ein wenig zurück. Man darf sich gehen lassen, muss nicht so niedergemacht wird oder man beim Rausgehen drängelt und schubst, Fotos: Sorin Moran; starshot.de

22 S_20_23_Masse 15.03.2006 18:10 Uhr Seite 47

VERWARNUNG

gehört bei dieser Art von Massenbildung ab- solut dazu. Das erhöht sogar die Attraktivität der Veranstaltung. Fußball ist also ein Ventil, um Aggres- sionen auszuleben? Sport insgesamt gibt uns die Möglichkeit, in IHR KÖNNT einer zivilisierten Form – und das heißt: selbstkontrolliert und an Regeln orientiert – NACH HAUSE bestimmte Aggressionen auszuleben. Es gibt zwei Varianten, wie das abläuft. Erstens: Die GEHEN! Menschen selbst sind in ihrem Verhalten nicht aggressiv, sie nehmen durch Zuschauen am aggressiven Verhalten anderer teil – ob das In Stadien sitzen immer nun der Wettkampf auf dem Feld ist oder das mehr Leute, die da nichts Schubsen beim Rausgehen aus dem Stadion. Die zweite Variante: Aggressionen werden zu suchen haben. Findet durch Taten unmittelbar ausgelebt.Das wären unser Autor. dann die Fans, die rempeln, oder in der Stei- gerung die, die prügeln.Wobei Letztere eine Text: Christoph Leischwitz Minderheit darstellen. Zu Variante eins: Ist diese Art, Aggres- sionen auszuleben, dieselbe wie im al- Auf dem Platz: Ronaldinho, Adriano, durch Sozialdruck zur Teilnahme ver- ten Rom bei den Gladiatorenkämpfen? Riquelme.Aber die meisten Fotos wur- pflichtet.Fußball ist massentauglich ge- Ja, nur handelte es sich damals um ein ganz den von der Eckfahne gemacht. Eine worden, weil es sich oft gar nicht mehr anderes Kaliber von Aggressivität.Oder neh- Digitalkamera nach der anderen blitzte um ein Fußballspiel handelt, sondern men wir die mittelalterlichen Ritterduelle, auf, vor dem Sucher grinsende Men- um ein „Event“. Der Star bin ich, denn da ging es auch um Leben und Tod.Vergli- schen mit erhobenem Daumen und ich hab ein Ticket.Zum Stadionbesuch chen damit sind ein Boxkampf heute oder dem Spruch:„Ist das Wasser drauf?“ Der trägt die Dame Highheels und tiefes ein Fußballspiel, auch wenn man es in der vom starken Regen produzierte Was- Dekolletee,der Herr Barbour-Jacke und Fankurve erlebt, gesittete und harmlose Ver- serfall ergoss sich stundenlang auf die Helmut-Lang-Jeans. Gesehen werden anstaltungen – entsprechend unserem zivili- Ecke des Spielfeldes. Der erste wirklich zählt, nicht sehen. Dass viele von ihnen satorischen Fortschritt.Niemand käme heu- große Jubel brandete auf,als ein Spieler von den 90 Minuten eines Spiels nur 60 te auf die Idee, Menschen zum Amüsement dort einen Eckball ausführen musste. erleben, weil sie zu spät kommen, dann von Zuschauern totzuschlagen – bei allen Ein Loch im Cabriodach der Frankfur- dreimal rausgehen um etwas zu essen zu barbarischen Resten, die es in uns gibt. ter WM-Arena ist das, woran sich die holen, und zehn Minuten vor Abpfiff Brauchen wir Katalysatoren wie Fuß- meisten Leute erinnern, die eine Karte gehen, weil sie ja sonst im Parkhausstau ballspiele, um Aggressionen auszuleben? für das Confed-Cup-Finale hatten.Aber stehen, stört sie folgerichtig nicht. Das Die Zivilisation kann uns bei aller Selbst- weiß noch jemand,wie es ausging? Wie Endergebnis hört man auch im Autora- kontrolle, die wir ja heute leben, nicht alle die beiden Mannschaften taktisch ein- dio und überhaupt:Wer gegen wen war unsere „natürlichen“ Bedürfnisse austreiben. gestellt waren? Spielten ja auch nur Ar- das gerade noch mal? Ein Stadion rand- Deswegen bietet die Gesellschaft immer wie- gentinien gegen Brasilien – die derzeit voll mit echten,mitfiebernden Fans gibt der Anlässe,bei denen wir ein Stück weit auf besten Mannschaften der Welt. es nur noch in der Zweiten oder Drit- die Kontrolle, die sie uns ja sonst abverlangt, Wenn der Confed Cup auch für die ten Liga, in Dresden, Freiburg,Aachen. verzichten können.Bessere Beispiele noch als Zuschauer die Generalprobe zur WM Bei der WM werden die Arenen voll Fußballspiele wären das Oktoberfest oder der gewesen sein soll, muss sich niemand sein mit Eventtouristen, die einen Kölner Karneval. Da kann man beobachten, ärgern,der keine WM-Karten hat.Aber schnellen Internetzugang haben oder wie Menschen einen Haufen Zwänge bei- das WM-Spektakel ist nur das Symp- das soziale Glück,jemanden zu kennen, seite lassen. tom, nicht der Grund des Problems. der jemanden kennt.Viele von ihnen Ohne diese Möglichkeiten... Fußball-Laien haben schon lange die haben – außer beim Robbie-Williams- ... würden wir über kurz oder lang alle neu- Sitze in den großen Stadien übernom- Konzert – noch nie ein Stadion von in- rotisch werden. men, vor allem bei wichtigen Spielen, nen gesehen und werden womöglich die im Fernsehen übertragen werden tatsächlich glauben, die Stimmung sei und bei denen die Karten mehr kosten gut.Über die Aufstellung aber muss man Dr. Joachim Hohl arbeitet am Lehrstuhl für Sozi- als ein gutes Essen zu zweit.Vielleicht mit ihnen nicht diskutieren,und wie das alpsychologie der Universität München.Zu seinen kann man da mal in die Kamera win- Spiel ausging,werden sie da schon nicht Arbeitsschwerpunkten gehören „Zivilisation und ken.Ganz sicher kann man bei den Kol- mehr wissen.Der Spruch,wonach Fuß- Barbarei“ und „Historische Konstitution des In- legen damit angeben,dass man hingeht. ball die schönste Nebensache der Welt dividuums“. Dass man da war. Oder man fühlt sich ist – so war er nicht gemeint.

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WURZELBEHANDLUNG

Das Tor zur Welt

Unerwartet gewann die deutsche Fußballnational- Für manchen war damit der letzte Nachweis erbracht, dass im Wankdorfstadion der emo- mannschaft 1954 in Bern die Weltmeisterschaft tionale Kern der Volksseele ruht – wenn schon gegen Ungarn. Ein Sieg für die Demokratie sei das der Kanzler Tränen vergießt! Seltsam un- pathetisch wirkt dagegen die Reaktion des gewesen, für die Republik, gegen die Vergangen- damaligen Kanzlers:Konrad Adenauer schick- heit.Was ist wirklich dran, am Wunder von Bern? te ein sachliches Telegramm ohne patrio- Text: Boris Herrmann tische Zwischentöne, in dem er der Mann- schaft seine „herzlichsten Glückwünsche“ aussprach. Pflichterfüllung.Weder der Kanz- o kann man sich täuschen. „Dass ich seines größten Sportverbandes – hatte die ler noch andere hochrangige deutsche Poli- 1954 zwei Tore geschossen habe“, sag- WM gewonnen.„Aus!“ war das Spiel jedoch tiker waren am 4.Juli 1954 beim Finale in der Ste Helmut Rahn einmal, „interessiert nicht.Bücherregale kann man füllen mit Be- Schweiz anwesend. doch heute keinen mehr.“ Vier Jahrzehnte schreibungen, die in diesem Schlusspfiff erst Das Beispiel veranschaulicht,weshalb das ge- waren vergangen, seit der Rundfunkreporter den Anfang sahen: die Legitimation der De- flügelte Wort von der Geburtsstunde der Bon- Herbert Zimmermann im Berner Wankdorf- mokratie, den Startschuss des Wirtschafts- ner Republik auf dem Rasen von Bern an- stadion festgestellt hatte,dass ebendieser Rahn wunders, die mentale Gründung der Bun- gezweifelt werden darf.Die zweifellos außer- aus dem Hintergrund schießen müsste.Rahn desrepublik. Die wahren Wurzeln des Landes gewöhnliche Begeisterung, die der Titelge- schoss. Und traf. 3:2 für Deutschland. Banges liegen demnach unter jenem nassen Rasen winn für kurze Zeit in der Bevölkerung aus- Warten,die längsten sechs Minuten der Nach- im Berner Wankdorfstadion.Neunzig Minu- löste, wird heute selten auf die Dramaturgie kriegsgeschichte. Zimmermann: „Die Un- ten haben sie gebraucht, um auszutreiben. des Endspiels zurückgeführt.Dabei konnte in garn erhalten einen Einwurf zugesprochen, August 2003.Bundeskanzler Gerhard Schrö- keinem anderen Finale der WM-Geschichte der ist ausgeführt, kommt zu Kocsis – aus! der hat die Premierenfeier des Kinofilms Das ein Außenseiter einen 0:2-Rückstand noch Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland Wunder von Bern von Sönke Wortmann be- drehen. Stattdessen wird von den kollektiven ist Weltmeister!“ Womit Zimmermann Recht sucht.Dreimal,so die Überlieferung,habe der Jubelarien automatisch auf den Ausdruck ei- hatte:Deutschland – zumindest eine Auswahl Bundeskanzler vor Rührung weinen müssen. nes neuen Nationalgefühls geschlossen, ob-

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wohl dieser Zusammenhang keineswegs hin- Tisch. Die Menschen hatten andere Sorgen. tete, ist nicht verwunderlich. Gründungs- reichend belegt ist. So existieren aus den Der Regierung Adenauer war das recht. Ihr mythen werden erst wirksam, wenn sie sich fünfziger Jahren kaum Untersuchungen, die Ziel war es, rasch in die internationale Staa- auf eine Zeit berufen,die so weit zurückliegt, darauf hindeuten, dass die Euphorie, die sich tengemeinschaft zurückzukehren. Während dass die Erzählung nicht mehr real nachvoll- in Helmut Rahns Schuss zum 3:2 kristalli- Herbergers Elf sich anschickte,die Weltherr- ziehbar ist. Der Titelgewinn von 1954 ge- sierte,in den Alltag verlängert wurde und der schaft auf dem Rasen zu übernehmen, ver- wann genau in der Phase an Relevanz,in der Nation ein neues Selbstbewusstsein vermit- handelte Adenauer um die Aufnahme in die die Erinnerung durch Geschichte ersetzt telte.Auch ein Blick in die Presseberichter- Europäische Verteidigungsgemeinschaft.Aus- wurde.Waren 1994 von der Berner Elf bis stattung der damaligen Zeit fördert Erstaun- ländische Beobachter sollten daher nicht mit auf drei noch alle am Leben, so waren zehn liches zu Tage. „Ein großer Sieg, ein großer dem Eindruck eines erstarkten Deutschlands Jahre später bis auf drei alle tot.Helmut Rahn Tag, aber nur ein Spiel“, titelte die Süddeut- erschreckt werden.Nationale Ekstase war un- starb am 14.August 2003 – wenige Tage vor sche Zeitung. Die Frankfurter Allgemeine ent- ter allen Umständen zu vermeiden. dem Kinostart des Wortmann-Films. schloss sich, auf der Aufmachersseite des Umso erstaunlicher, dass Schröder 49 Jahre Der 4.Juli 1954 ist weniger Datum der men- Sportteils den Rennfahrer Manuel Fangio später beim Anblick des Linkschusses von talen Gründung der Bundesrepublik als Start- abzubilden, der für Mercedes-Benz den Rahn weinen musste – ein schöner Beleg für schuss für die Popularität des Fußballsports Grand Prix in Reims gewonnen hatte. Da- die Existenz einer nationalen Gefühlskultur in Deutschland – über Klassen-, Alters- und neben war ein Bericht über das Finale in Bern in Deutschland.Die neue Emotionalität geht Geschlechtergrenzen hinweg.Den vielleicht zu lesen – ohne Foto. Im Gegensatz zum mit der anhaltenden wirtschaftlichen und ge- eindrücklichsten Beleg dieser Tatsache hat die deutschen Fußball konnten die Silberpfeile sellschaftlichen Krise des Landes einher und Süddeutsche Zeitung 1954 überliefert: „Unse- eine erfolgreiche Vorkriegsgeschichte vor- äußert sich durch ein Rückbesinnen auf Tra- re hübsche Mama zum Beispiel, die neulich weisen. Die Formulierung „Wir sind wieder dition,eine Suche nach Helden,den Hunger noch sagte, Fußball sei ein Spiel, das von sie- wer“ passte besser auf die Autorennstrecke als nach Geschichte. Nur in diesem Kontext ist ben Männern gespielt wird, die nach einem ins Fußballstadion. Nur ein einziges Mal, am die Konjunktur des Wunders von Bern seit Korb springen,diese gleiche Mama sitzt jetzt Tag nach dem Endspiel, schaffte es die WM Mitte der Neunziger Jahre zu verstehen. auf der anderen Seite des Radios, strickt, 1954 auf die Titelseiten der Tageszeitungen. Dass der Sieg von Bern seine staatstragende lässt zwei Maschen fallen und murmelt:Wenn

Illustration:Alexandra Rusitschka Zwei Tage später war das Thema wieder vom Bedeutung erst in den letzten Jahren entfal- der Rahn doch nur abgeben würde!“

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ZEITLUPE

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

Eine kleine Geschichte des beliebtesten Sports der Welt.

Im zweiten Jahrtausend v. Chr. wurde in Teilen besteht. Die Römer kannten einen China ein fußballähnliches Spiel ausgetra- ähnlichen Wettbewerb namens „Harpas- gen – Ts’uh-küh.Wahrscheinlich diente es als tum“.Die Mannschaften konnten aus bis zu militärisches Ausbildungsprogramm. Zwi- 27 Spielern bestehen, es gab ein rechtecki- schen Bambuspfähle wurde ein Netz aus ges Feld mit einer Mittellinie und das Ziel Seide gespannt,die Spieler mussten den Ball war, den Ball über die Grundlinie des Geg- im Netz unterbringen. Das Netz war wohl ners zu bugsieren.Mit den Römern kam das ein 40 x 40 cm großes Quadrat. Das Spiel Spiel nach Britannien, es war aber eher ein breitete sich auch im Volk aus und man Vorfahre von Hurling als von Fußball. Si- versuchte, mit strengen Regeln Gewalt und cher ist, dass die entscheidenden Entwick- Text: Dirk Schönlebe Ruppigkeiten zu verhindern. Der Ball war lungsschritte in Schottland und England pas- Illustrationen: Florian Gmach aus Lederstücken zusammengenäht und mit sierten. Federn und Tierhaaren ausgestopft. Zwischen dem 7. und 9. Zwischen 600 v. Chr. und 300 n.Chr. war Jahrhundert entstan- in Japan ein Spiel namens „Kemari“ be- den in England, der kannt. Ziel des Spiels: einen Ball zwischen Normandie, Cornwall, zwei Pfosten zu platzieren.Die Spieler pass- Schottland, und Ir- ten sich den Ball zu, der den Boden nicht land verschiedene Ballspiele berühren durfte. – am populärsten war „Mob Football“. Das Spiel wur- Im antiken Griechenland wurde „Episky- de zu bestimmten Festen ros“ gespielt,eine Mischung aus Hand- und zwischen ganzen Dörfern Fußball. Platon schreibt in seinem ausgetragen und war Phaidon über einen Ball,der aus zwölf ausgesprochen

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gewalttätig.Ziel des Spiels war es,den Ball Einwanderer ent- abgekürzt worden waren. So war „Rug- auf den Marktplatz des anderen Dorfes zu deckten in Neueng- ger“ die Slangbezeichnung für bringen.Bis heute wird „Shrovetide Foot- land Ureinwohner, die Rugby Football. Ein Student aus ball“ gespielt: Zwei Mannschaften treten ein Spiel mit dem Ball be- Oxford kreierte „Soccer“ als Kunst- gegeneinander an, die Tore sind die Häu- trieben,auf dem harten Sand wort aus „“. ser der beiden Mannschaftskapitäne. Er- des Watts bei Ebbe – „Pasuck- laubt ist praktisch alles, der Ball darf ge- quakkohowog“. Es spielten zwei Am 6. Dezember 1882 wur- schossen, getragen und geworfen werden. Mannschaften,Waffen waren verbo- de das International Football ten,Wetten auf den Spielausgang wurden Die mit dem Spiel verbundene Gewalt ver- angenommen.Die Größe der Mannschaf- anlasst den englischen König Edward II. ten könnte zwischen 30 und 1000 Spie- 1314 dazu, das Ballspiel bei Androhung lern geschwankt haben. Der Ball war aus von Gefängnisstrafen zu verbieten. Er er- Hirschhaut. klärt: „Forasmuch as there is great noise in the city caused by hustling over large balls Am Eton College wurden 1815 from which many evils may arise which Regeln festgelegt, die später auch God forbid, we command and forbid, on von anderen Colleges und Uni- behalf of the King, on pain of imprison- versitäten benutzt wurden.Die- ment, such game to be used in the city in se Regeln wurden 1848 in den the future.“ 1424 erklärt der schottische so genannten Cambridge Ru- König James I.im Parlament:„That na man les standardisiert. Zu ihnen play at the Fute-ball.“ Dies tat der Popu- gehörte die Vorschrift, dass larität des Sports jedoch keinen Abbruch. Tore nicht mit der Hand er- Association Board (IFAB) gegrün- Nicht zufällig sind jedoch die frühesten zielt werden durften – det. Das IFAB ist die einzige In- Belege der Fußballgeschichte Gericht- einer der entschei- stitution, die die Regeln des sakten, in denen über Tote und Ver- denden Schritte Spiels weltweit verbindlich än- letzte berichtet wird,sowie Er- auf dem Weg der dern darf.Der IFAB gehören lasse und Verordnungen, in Trennung von Fußball und je ein Vertreter des engli- denen das Spiel verboten Rugby. schen, schottischen, walisischen und iri- wird. schen Fußballverbandes an sowie,seit 1904, Sechs Jahre nach der Grün- vier Repräsentanten der Fifa. Für eine Bei den Mayas und dung des ersten Fuß- Regeländerung sind sechs Stimmen erfor- Azteken gab es ein ballclubs – Sheffield FC – derlich.Während die Vertreter der briti- kultisches Steißballspiel, das im wei- wurde 1863 in London die schen Verbände einzeln votieren können, teren Sinne mit Fußball verglichen erste Fußballorganisation dürfen die Fifa-Vertreter nur en bloc ab- werden kann.Auch in Italien und Frank- der Welt gegründet, die stimmen. reich wurden mit dem Treibballspiel ver- Football Association (FA). wandte Kampfspiele gespielt – zum Bei- Am 8.Dezember veröffentlich- Im Deutschen Kaiserreich wurde der spiel seit dem 15. Jahrhundert in Florenz te die FA die „Laws of Football“. aus England importierte Fußball als neue der „Calcio Storico“, eine brutale Mi- 1870 begrenzte sie die Zahl der Spieler auf Form der Körperkultur angesehen. 1900 schung aus Rugby,Fußball und American elf, ein Jahr später verbot sie allen Feld- wurde der Deutsche Fußball-Bund (DFB) Football. spielern das Handspiel. Damit wurde erst- gegründet. Heute ist der DFB mit mehr mals das Fußballspiel vom damals weit ver- als sechs Millionen Mitgliedern in über Nachdem Heinrich VIII.schon 1526 das breiteten Rugby Football abgegrenzt. Das 26 000 Vereinen der größte Sportverband erste bekannte Paar Fußballschuhe bestellt erste offizielle Länderspiel fand 1872 zwi- der Welt. Die erste Fußball-Weltmeister- hatte – für vier Shilling, nach heutigem schen England und Schottland statt,es en- schaft wurde 1930 in Uruguay ausgetra- Wert etwa 125 Euro –, veränderte sich bis dete 0:0. Am 8. September 1888 startete gen, den ersten Weltmeistertitel erspielte 1618 die königliche Sicht auf das Spiel der Spielbetrieb der Football League, der sich der Gastgeber: endgültig: König James I. von England ersten Fußballliga der Welt. ein 4:2 gegen Ar- empfahl Fußball nach dem Kirchgang.Die gentinien. erste Erwähnung eines Fußballspielers fin- In den 1880er Jahren entstand das Wort det sich in König Lear von William Shake- „Soccer“ als Bezeichnung für den Sport. speare. Im 1. Akt, 4. Szene heißt es: „Nor Zu der Zeit war es üblich, im Slang ein tripped neither, you base football player.“ „er“ an Wörter anzuhängen,die zuvor

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SPIELMACHER

RUDIS RACKER S_28_29_Bunt_Kickt_Gut 15.03.2006 18:11 Uhr Seite 45

Eine Münchner Initiative hat aus Fußball ein Sozial- nien, Afghanistan und dem Kongo zusam- men, der Stürmer, der nie den Ball abgibt, projekt für Kinder aus der ganzen Welt gemacht – weil kommt aus China. „Etwa 60 Prozent der der Sport das Einzige war, das jeder verstanden hat. Kinder haben einen Flüchtlingshintergrund“, sagt Heid.„buntkicktgut“ ist eine Erfolgsge- Text: Marc Baumann Fotos:Olaf Unverzart schichte - aber kein Märchen.„Rudi,was war mit der Schlägerei letzte Woche?“, fragt ein uch in der Hölle spielen sie Fußball. Aufenthaltsgenehmigung,er ist nur geduldet, Mädchen.Ein gegnerischer Spieler wurde im Und das gar nicht schlecht.Die Höl- solange Afghanistan so unsicher ist. „Ich bin Bus auf dem Heimweg verprügelt, „der hat- Ale,das ist der Kongo,der dortige Bür- bald im Fernsehen, cool was?“, sagt Farhad. te eine richtige Beule am Kopf“, hat sie gerkrieg, in dem fast vier Millionen Men- Das ZDF dreht eine Dokumentation über gehört. „Darüber reden wir mit allen Betei- schen getötet wurden. Aus dem Kongo hat das Projekt,das bereits vom Bundespräsiden- ligten am Montag, beim Ligarat“, sagt Heid Chadrac viel Kraft mit nach Deutschland ten ausgezeichnet wurde. ruhig. Früher gab es oft Raufereien auf dem gebracht, dabei ist er erst zehn Jahre alt. Nur Ende 1995 hat Rüdiger Heid in einer Flücht- Platz. „Jugendbeamte der Polizei haben uns zielen muss er noch besser.Die Bälle krachen lingsunterkunft im Stadtteil Sendling eine eine Zeit lang nur die ,Schlägerliga’genannt“, gegen die Wand der Turnhalle,gegen erinnert sich Heid. Aber sie haben den Pfosten und gegen die Vertei- das Problem in den Griff bekom- diger, aber sie gehen nicht ins Tor. men, mit Gesprächen und Geduld. Chadrac hat das Fußballspielen im „buntkicktgut“ kann den Kindern Kongo gelernt, vor einem Jahr ist nur eine Freizeitbeschäftigung bie- seine Familie geflohen, heute ist er ten,was sie abseits des Fußballfeldes zum zweiten Mal beim Training machen,entscheiden sie selbst.„15, von „buntkicktgut“, der interkul- 16 Jahre ist das problematischste Al- turellen Münchner Straßenfußball- ter“, sagt Heid.Vor der Pubertät ist Liga. Seine Mutter sitzt am Spiel- der Fußball das Größte,danach gibt feldrand, winkt ihm zu und strahlt es auch Partys,Alkohol,Musik.Heid über das ganze Gesicht. „Man er- erzählt von einem albanischen Jun- liegt dem Charme der Kinder ganz gen, der von Anfang an bei „bunt- schnell“, sagt Rüdiger Heid, der kicktgut“ dabei war, mit 17 Jahren Leiter von „buntkicktgut“. Hier fing er an mit Drogen, heute kon- nennen ihn alle „Rudi“, besser ge- zentriert er sich wieder auf den sagt „RUUUDI!“. So laut und so Fußball, er ist ein Vorbild für die quengelig rufen die Kinder im Fünf- Kleineren. Sekunden-Abstand seinen Namen. Unter Münchner Politikern gilt Es ist Mittwochnachmittag. In ei- „buntkicktgut“ als das beste Inte- ner Turnhalle in Giesing,einem der grationsprojekt der Stadt, in Ham- weniger schicken Stadtviertel Mün- burg und Dortmund gibt es schon chens, laufen zwölf Kinder einem Trainingspause. Kinder der „buntkicktgut“-Liga ruhen sich vom ähnliche Initiativen. Der gute Ruf Hallenkick in Giesing aus. Ball hinterher,noch mal so viele und hilft,Spendengelder zu bekommen: einige Mütter und Väter schauen ih- Die Stadt,das Innenministerium,so- nen zu.Am Spielfeldrand sitzt Heid und ver- Fußballmannschaft gegründet. Er war dort gar die EU unterstützen sie. „buntkicktgut“ sucht, vieles gleichzeitig zu tun. Sozialarbeiter und „Fußball war das Einzige, hat sich verändert,seit 1997 die Liga entstand: Er will die Geschichte von „buntkicktgut“ was alle kannten“.Erst spielten sie nur auf ei- Die großen Flüchtlingswellen des Jugosla- erzählen,nebenbei muss er die elektronische ner Wiese,etwas später gegen Jungs aus einer wienkrieges sind vorbei, es spielen nun auch Anzeigentafel bedienen und einem Spieler anderen Asylbewerberunterkunft. Im Som- viele Kinder aus Einwandererfamilien mit, Trost wegen eines aufgeschürften Fingers mer 1996 veranstaltete Heid mit Kollegen ein aus Tagesstätten, von Jugendzentren und an- spenden.Ein Mädchen bittet ihn um eine S- erstes Turnier der Flüchtlingsheime. Eigent- deren sozialen Einrichtungen.Während der Bahnfahrkarte und der kleine Junge namens lich sollte der Fußball nur ein Zeitvertreib sein, WM 2006 organisiert „buntkicktgut“ die Fahrrad stellt immer gleich drei Fragen auf „daraus wurde ein Integrationsprojekt und International Streetfootball League in Mün- einmal.Fahrrad heißt eigentlich Farhad,„aber zunehmend auch eine Gewalt- und Krimi- chen,mit Mannschaften aus der ganzen Welt. nenn mich einfach Fahrrad, das ist leichter“, nalitätsprävention“. 2005 hat „buntkicktgut“ Es wäre schön,wenn Chadrac,der kleine Jun- sagt er. Farhad ist in Afghanistan geboren, 1200 Ligaspiele von 85 Mannschaften in ge aus dem Kongo, dann mitspielen würde. „nein, halt, in Pakistan, glaube ich“. Er ist München organisiert,mit Spielern zwischen Auf die Frage, was er den ganzen Tag macht, neun Jahre alt und genauso vorlaut wie wu- sechs bis 21 Jahren, Jungs und Mädchen.An wenn er nicht bei „buntkicktgut“ Fußball selig, man mag ihn sofort. Farhad hat keine diesem Nachmittag spielen Kinder aus Bos- spielt, antwortet er: „Nichts.“

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AUSGLEICHSTREFFER

„Frauenfußball ist nichts besonde- res mehr, zumindest nicht in Deutschland.“, sagt Birgit Prinz. S_30_33_Frauenfussball 15.03.2006 16:52 Uhr Seite 45

„Nur Fußball zu spielen ist mir zu langweilig“

Deutschlands Weltfußballerin Birgit Prinz über Emanzipation, Mädchenfußball in Kabul und und ihr Studium in Frankfurt. Interview: Kathrin Steinbichler

Frau Prinz, die DFB-Frauen sind Weltmeister, mehr als denke aber, dass man sich etwas angucken sollte, bevor man 630000 Frauen in Deutschland spielen Fußball, im ver- urteilen kann.Wenn man es sich angesehen hat und immer gangenen Jahr haben sich etwa 20 Prozent mehr Mäd- noch sagt: Das gefällt mir nicht, das ist kein Fußball, wie ich chenmannschaften gegründet als noch 2004. Sind Fuß- ihn mag – dann ist das eben so. ballerinnen eine Selbstverständlichkeit geworden? Inzwischen betreiben Fußballerinnen einen hohen Auf- Auf alle Fälle.In meinen Augen sind wir nicht mehr exotisch. wand, um in Bundesliga oder Nationalmannschaft be- Frauenfußball ist eigentlich nichts Besonderes mehr, zumin- stehen zu können.Trotzdem werden nur die wenigsten dest nicht in Deutschland. wie Profis entlohnt.Wird sich das ändern? Trotzdem schotten Sie sich zurzeit ziemlich ab, nach- Der Frauenfußball entwickelt sich sehr positiv und immer dem das Interesse an Ihnen seit Ihrer dritten Wahl zur mehr Spielerinnen bekommen die Möglichkeit, ihn profes- Weltfußballerin Ende 2005 noch einmal enorm ange- sionell zu betreiben.Aber klar ist auch: Man kann kein Geld stiegen ist. ausgeben, das man nicht hat. Solange nicht mehr Sponsoren- Viele interessieren sich für mich, weil sie mich aus den Me- und Zuschauergelder fließen,solange die Fernsehgelder noch dien kennen. Auch wenn ich es wollte: Ich kann das nicht so verteilt sind,wie sie es nun mal sind,so lange wird im Frau- mehr ändern, obwohl es ja noch etliche andere gute Fußbal- enfußball nicht mehr Geld ausgegeben. Das ist wie in der lerinnen gibt in Deutschland.Aber das ist in anderen Sport- Wirtschaft:Was man nicht hat, kann man nicht ausgeben. arten ja auch so, dass sich die Öffentlichkeit nur auf ganz we- Dafür machen wir allerdings das Ganze schon recht gut. nige konzentriert, weil die etwa Titel haben oder bei Groß- Warum wird nicht mehr Geld in den Frauenfußball ereignissen auffallen.Vielleicht gibt es in Afrika eine super gesteckt? Das afghanische Fußballprojekt „Learn & Spielerin, aber keiner bekommt es mit, auch ich nicht, weil Play“ für Frauen und Kinder, für das Sie 2005 die Pa- niemand über sie berichtet. Als Einzelne ist man durch die tenschaft übernommen haben, wird ja wohl nicht aus Medien etwas Besonderes,aber Frauenfußball an sich ist nor- wirtschaftlichen Gründen unterstützt? mal geworden. Man kann den deutschen Frauenfußball nicht mit so einem Lange Zeit hieß es, Fußball sei kein Sport für Frauen Projekt in Afghanistan vergleichen. Leistungssport hat nichts und Fußball spielende Frauen seien nicht schön an- mit Entwicklungshilfe zu tun. Und dieses Projekt in Afgha- zusehen. Gibt es diese Vorbehalte noch? nistan ist Entwicklungshilfe. Ob ja oder nein, ist doch relativ egal.Wenn jemandem Frau- Nachdem also der Frauenfußball hierzulande normal enfußball nicht gefällt, habe ich da überhaupt kein Problem geworden ist, wollen Sie dabei helfen, ihn in anderen damit. Soll er ihn sich eben nicht ansehen. Ich schaue mir ja Ländern voranzubringen?

Foto: Left Lane Productions / CORBIS auch nicht jeden Sport an und mir gefällt auch nicht alles.Ich Sport an sich ist in Afghanistan keine Normalität, für Frauen

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AUSGLEICHSTREFFER

FRAUENFUSSBALL

erst recht nicht. In Kabul sterben jeden Tag eine Hand voll Erst 1970 erlaubte der Deutsche Fußball-Bund Frauen Menschen, und zwar nicht durch Autounfälle, sondern offiziell das Fußballspielen, heute sind rund zehn Pro- durch Bomben oder andere Anschläge. Letzten August ha- zent der 6,3 Millionen DFB-Mitglieder Frauen. In- be ich das Projekt besucht, um 36 Frauen ihre ersten Trai- zwischen ist Fußball mit rund 30 Millionen Spielerin- nerlizenzen zu überreichen und das erste jährliche Ju- nen weltweit die beliebteste Sportart von Frauen. Die gendturnier einzuweihen, den Prinz-Cup. Die Menschen dort zu erleben war schon krass. Das Projekt in Kabul ist ja Frauen-Bundesliga gilt neben der schwedischen Da- für Jungen und Mädchen, es ist auf ein Miteinander aus- mallsvenskan als beste Liga der Welt. Führende Clubs gerichtet. Das ist für ein Land, in dem sehr lange die Ge- sind der aktuelle UEFA-Cup-Gewinner und DFB-Po- schlechter getrennt waren, sehr wichtig: dass die Leute et- kalsieger 1. FFC Turbine Potsdam und der deutsche was miteinander erleben und sich kennen lernen. Und ge- Rekordmeister 1.FFC Frankfurt,bei dem die Spitzen- rade für die Frauen ist der Sport etwas,was sie endlich dür- verdienerinnen des Frauenfußballs spielen, die jedoch fen.Etwas,um sich selbst darzustellen.Um auch wichtig zu sein. Um gleiche Rechte zu haben.Aber das Prinzip hin- eine Ausnahme darstellen.Anders als ihre männlichen ter dem Projekt ist, dass die Kinder in der dazugehörigen Kollegen können die wenigsten Fußballerinnen von Schule eine gute Ausbildung bekommen und eine Zukunft dem Sport leben oder für die Zeit nach dem Karriere- haben.Auch das ist dort nicht so selbstverständlich wie bei ende sparen. Nur wenige international gefragte Stars uns und das steht für mich und die Organisatoren auch im wie Birgit Prinz,WM-Siegtor-Schützin Nia Künzer Mittelpunkt. oder Nationalverteidigerin (alle 1. FFC Wie viel Einfluss kann Fußball überhaupt auf Mei- nungsbildung nehmen? Frankfurt) sind durch eine Reihe von Werbeverträgen Es ist einfach gut, etwas zu haben, worüber man ins Ge- Vollprofis. 2003 gewann die Frauen-Nationalmann- spräch kommt. Ich war in Kabul selbst sehr neugierig und schaft vor rund zwölf Millionen deutschen Fernsehzu- habe versucht,mit den Lehrerinnen an der Schule und den schauern erstmals die WM.Vom DFB gab es dafür ein Frauen, die in Kabul gerade beim Trainerinnen-Lehrgang eigenes Trikot mit einem WM-Stern und pro Spielerin waren, zu reden. Ich wollte ja auch verstehen.Wollte wis- 15000 Euro Titelprämie.Zum Vergleich:Die deutschen sen, wie sie denken, denn das ist einfach eine ganz andere Kultur. Allein, dass man als Frau dieses Kopftuch tragen Männer bekamen für die Qualifikation zur WM 2002 muss, ist ja für uns Europäer unheimlich schwer zu verste- je 128000 Euro Prämie.Auch bei der TV-Vermarktung hen. Es gibt eben vieles, das die Frauen in Afghanistan ma- stehen die Frauen noch hinten an: Die Frauen-Bun- chen müssen, ohne dass es einen richtigen Grund dafür desliga ist Teil des DFB-Fernsehvertrages mit der Sport- gibt. Es gibt einfach Vorschriften, die die Gesellschaft und rechtefirma SportA. Je nach Anteil an der Übertra- die Familie ihnen machen. Fußball zu spielen ist etwas, das ihnen hilft, aus diesem Rahmen herauszutreten. gungszeit bekommen die zwölf Frauen-Bundesligisten Ist es richtig, einen Sport zu so einem politischen derzeit 68 000 Euro pro Saison. Ansatz zu nutzen, oder kann Sport so einen hohen Anspruch in der Gesellschaft gar nicht erfüllen? Man muss das nicht so politisch sehen. Grundsätzlich sind solche Projekte auf alle Fälle ein guter Ansatz,der auch ge- lebt werden kann.Im Prinzip ist es aber das,was die Sport- vereine hier ja schon jeden Tag leisten. Zumindest in den Großstädten ist es so,dass in vielen Fußballvereinen 60 oder 70 Prozent Ausländer spielen, aus den unterschiedlichsten Nationen. Die Kinder lernen sich über den Sport kennen und sind so in der Lage, über den gemeinsamen Sport Vor- urteile abzubauen. Einfach weil man merkt: Hey,der ist ja auch nicht anders als ich. Deswegen finde ich, dass man Sport nicht politisch sehen muss, sondern als Chance be- greifen kann,miteinander Dinge zu erleben.Als eine Mög- lichkeit, gemeinsam Emotionen zu erleben, wodurch es schon mal schwerer fällt, andere auszugrenzen, nur weil man sie nicht kennt.

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Vor einigen Jahren noch haben Sie es entschie- Pokalsiegerin, haben also sportlich nahezu alles den abgelehnt, Ihre Bekanntheit zu nutzen.War- erreicht. Warum spielen Sie immer noch Fuß- um glauben Sie jetzt, als Fußballerin Menschen ball? prägen zu können? Es macht mir einfach immer noch Spaß. Ich habe Fußball Tatsache ist,dass einen die Leute ohnehin irgendwie wahr- schon immer gespielt, weil er mir Spaß macht, nicht weil nehmen. Und Tatsache ist auch, dass mir die Leute durch ich damit vielleicht etwas erreichen kann.Und den ganzen meine Bekanntheit mehr zuhören als anderen.Ich habe das Trubel rundherum,der zurzeit herrscht,den habe ich mitt- Gefühl, etwas Sinnvolles mit meinem Namen anfangen zu lerweile gut kanalisiert. Ich habe mich durch meine Fuß- können,und ich denke inzwischen,das ist eine Chance,die ballkarriere ganz gut kennen gelernt und weiß mittlerwei- Leute zum Nachdenken anzuregen.Ich will nicht,dass an- le, was ich will und was ich nicht will.Wenn ich etwas tue, dere meine Meinung übernehmen.Aber ich will sie zum dann möchte ich es immer zu hundert Prozent machen, Denken anregen. egal, ob das Fußball ist oder etwas anderes.Wenn das nicht Denken Sie denn, als Fußballerin etwas erreichen zu der Fall sein sollte, würde es wohl keinen Spaß mehr ma- können? Etwa durch die Antirassismus-Kampagne chen.Aber auch wenn es mit den Jahren stressiger gewor- der Fifa, für die Sie sich einsetzen? den ist: Ich habe viel erlebt durch den Fußball und das Er- Wenn das Thema Rassismus aufkommt, beziehen wir Na- leben geht weiter. ● tionalspielerinnen ganz klar Stellung. Es ist auf einer so öf- fentlichen Bühne wie dem Sport wichtig, ganz klar zu sa- ☞Auf www.fluter.de:Monika Staab träumt von einer Frauen- gen,dass man gegen Rassismus ist.Dass das im Sport nichts fußballschule in Frankfurt. Und: Das Lexikon zum Frauenfuß- zu suchen hat, dass er überhaupt in der Menschheit nichts ball, von A wie attraktive Kleidung bis Z wie Zuwachsraten. zu suchen haben sollte.Ich habe Rassismus selbst zum Glück noch nie erlebt, weder mit der Nationalmannschaft noch in der Bundesliga der Frauen. Aber das zu erwähnen und darauf aufmerksam zu achten ist wichtig. Glauben Sie, als Fußballerin ein gutes Vorbild zu sein? Das kann ich nicht beurteilen,da müssen Sie andere fragen. Aber grundsätzlich finde ich es gut,wenn Kinder Vorbilder haben und jemandem nacheifern können. Das hat eine ✬ Birgit Prinz ✬ wichtige Funktion,denke ich.Aber es ist nicht so,dass man alles, was Fußballer von sich geben, wie ein Heiligtum be- Birgit Prinz wurde am 25.10.1977 in Frankfurt am Main handeln sollte. Es gibt durchaus größere Errungenschaften geboren, wo sie auch heute lebt. Sie gehört mit einer Kör- der Menschheit als Fußballspielen. Und es ist klar, dass in pergröße von 1,79 Metern und einem Gewicht von 76 Ki- vielen Bereichen vielleicht andere Leute mehr Ahnung von logramm zu den dynamischsten und durchsetzungsfähigs- der Sache haben, weil sie spezialisiert darauf sind. ten Spielerinnen weltweit. Die 28-jährige Nationalstür- Haben Sie deshalb jetzt an der Universität in Frank- merin des deutschen Rekordmeisters 1. FFC Frankfurt ist furt noch ein Psychologiestudium angefangen, ob- staatlich geprüfte Physiotherapeutin und studiert Psycho- wohl Sie bereits eine Ausbildung zur Physiothera- logie an der Universität Frankfurt. In der deutschen Na- peutin haben? Von Ihren männlichen Nationalmann- tionalmannschaft ist Prinz Spielführerin und Rekordtor- schaftskollegen würde man so eine Beschäftigung schützin. Mit der DFB-Elf nicht erwarten. gewann die Weltfußballerin Nur Fußball zu spielen ist mir einfach zu langweilig,ich füh- der Jahre 2003, 2004 und le mich da nicht ausgelastet und zu sehr auf eine Sache fi- 2005 die WM 2003,die EM xiert. Außerdem will ich mir Zukunftsperspektiven auf- 1995, 1997, 2001 und 2005 bauen. Das ist etwas, woran männliche Fußballprofis viel- sowie die Olympische Bron- leicht nicht so denken müssen. Physiotherapeutin zu sein zemedaille 2000 und 2004. ist zwar schön, aber ich wollte mir für die Zukunft einfach Auf Vereinsebene feierte Bir- noch andere Möglichkeiten schaffen. Und ich bin zwar git Prinz bislang acht DFB- durch die vielen Lehrgänge der Nationalmannschaft und die Pokalsiege, sieben Deutsche UEFA-Cup-Spiele mit dem 1.FFC Frankfurt ziemlich ein- Meisterschaften, die US- gespannt, aber noch lässt es sich ganz gut einteilen. Meisterschaft 2002 mit Ca- Sie sind Weltmeisterin, Europameisterin, UEFA- rolina Courage und den

Foto: imago / Hoch Zwei Sportstock; dpa Cup-Siegerin, mehrmalige Deutsche Meisterin und UEFA-Cup-Titel 2002.

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VEBANDSMATERIAL

FIFA-Präsident Joseph Blatter (rechts) mit dem Exekutivkomitee-Mitglied aus Neuseeland, Jack Dempsey, abge- bildet zu einem Artikel in der Tages- zeitung Die Welt. S_34_37_Fifa 15.03.2006 16:53 Uhr Seite 45

Eine schrecklich nette Familie

Wenn der Weltfußballverband alle vier Jahre die WM vergibt, geht es um milliardenschwere Wirtschaftsinteressen. Dass dabei auch Korruption im Spiel sein könnte, gibt niemand gern zu. Unser Autor schon.

Text:Martin Sonneborn

m 9. Juni findet in München das Eröffnungsspiel der Turnverein geführt wird“, konnte ich mir einfach nicht vor- Fußball-Weltmeisterschaft 2006 statt.Aber wenn un- stellen, dass das schon für eine WM ausreichen sollte, was uns Ater dem Jubel der Zuschauer die Mannschaften von der Sender Phoenix da am Vortag der Entscheidung live in die Deutschland und Costa Rica im Stadion einlaufen, wird ein Titanic-Redaktion übertrug:Schwitzend schwadronierte „der Mann nicht an der Spitze der deutschen Elf traben – und die- Kaiser“ auf einer Bühne über die ungeheure Qualität deut- ser Mann werde ich sein. Leider. Obwohl ich mich natürlich scher Straßen und Hotelzimmer, während hinter ihm Gün- körperlich fit zu halten suche, seit der Anwalt von Franz Be- ter Netzer,Boris Becker,Claudia Schiffer und Gerhard Schrö- ckenbauer mich seinerzeit in der Lobby des Stuttgarter Ho- der eine halbe Stunde lang stumm lächelnd die Daumen tels „Marriott“ anfuhr:„Ja,ja,und Sie machen wir noch zum drückten.Der Großteil der 24 Fifa-Delegierten,die am nächs- Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft!“ Auch ten Tag über die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft zu wenn der Tonfall seiner Stimme mir merkwürdig sarkastisch entscheiden hatten, war wesentlich älter als die deutschen erschien und er mir wenige Minuten später dann mit einer 600- Autobahnen; und es sah nicht so aus, als hätten Beckenbau- Millionen-Klage der Fifa drohte,schlug ich selbstverständlich ers Argumente sie restlos beeindruckt. So würde das nichts ein:„Einverstanden,abgemacht.“ Rein rechtlich gesehen,dürf- werden, davon waren wir fest überzeugt. te damit ein mündlicher Vertrag zustande gekommen sein, Ich beschloss zu handeln. Zumindest ein paar Bestechungs- auch wenn ich momentan nicht allzu viel auf Einhaltung sei- faxe könnte ich aufsetzen, das war ja wohl das Mindeste! Im- tens des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) setzen würde. merhin umwehte doch ständig und seit langem der Hauch der Im Grunde genommen ist sowieso Franz Beckenbauer an al- Korruption die Fifa-Delegierten und besonders ihren um- lem schuld. Beziehungsweise die denkwürdige Bewerbung strittenen Präsidenten Joseph „Sepp“ Blatter,dessen Führungs- um die WM 2006,die er für den DFB in Zürich vor dem Exe- stil gern mit dem des alten DDR-Politbüros verglichen wur- kutiv-Ausschuss der Fédération Internationale de Football de. Auch wenn die Staatsanwaltschaft ihm bisher nie etwas Association, kurz Fifa, ablieferte, damals im Juli 2000. Auch nachweisen konnte, weil Blatter selbst hoch verdächtige wenn nicht nur die Zürcher Sonntagszeitung sich seit Jahren 25000-Dollar-Geschenke ganz nonchalant mit reiner Men-

Foto: privat wundert, „dass der Milliardenkonzern Fifa wie ein lokaler schenfreundlichkeit zu erklären pflegte.

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VERBANDSMATERIAL

„This final fax broke my neck.“

Fifa-Präsident Blatter (links) und sein Vorgänger, der Brasilianer João Havelange., bei der WM 1998 in Paris.

Aber was hatten wir von Titanic in einer ordentlichen Beste- ternacht – unter den Türen der Fifa-Herren durchschieben chungsaktion denn eigentlich groß zu bieten? Die Fifa nahm würde, konnte ich nicht ahnen. Dadurch bekam die ganze mit der Vermarktung des WM-Turniers und der Fernseh- Angelegenheit so eine leicht unseriöse Note. rechte alle vier Jahre derartige Mengen an Geld ein, dass es Bei der Abstimmung am nächsten Tag waren wir in der den Mitgliedern ihres Exekutivausschusses doch wahrschein- Titanic-Redaktion genauso überrascht wie sämtliche Exper- lich schon wieder zu den Ohren herauskam! Zumal wenn ten,dass Deutschland in der geheimen Wahl knappestmöglich sie – ohne jegliche Kontrolle – noch kleinere Nebengeschäfte den Zuschlag für die WM erhielt.Aber es dauerte nicht lan- mit dem WM-Kartenkontingent ihres jeweiligen Verbandes ge, bis Fifa-Präsident Sepp Blatter gegen jegliche demokrati- machen konnten: Jack Warner etwa, der Vertreter von Tri- sche Gepflogenheit offen legte, dass der Neuseeländer Char- nidad & Tobago,hatte es dank seiner Fifa-Tätigkeit innerhalb les Dempsey, der im Auftrag seines Verbandes eigentlich für weniger Jahre vom schlecht bezahlten Geschichtslehrer zum Südafrika stimmen sollte,sich der Stimme enthalten – und da- Multimillionär gebracht und macht nach Berechnungen der mit das Zünglein an der Waage gespielt hatte! Dempsey,mit Berliner Zeitung mittels der 13000 WM-Tickets, die seinem 78 Jahren vermutlich einer der geistig Regeren im Komitee, Verband für die WM in Deutschland zustehen,diesmal wie- war noch sportlich genug, sofort in Richtung Flughafen zu der rund sechs Millionen Euro Gewinn. sprinten und die nächste Maschine nach Hause zu nehmen. Mit anderen Worten:Wenn wir bestechen wollten,würden wir Vor den Journalisten, die ihn in Neuseeland bereits erwarte- mit den 350 Euro,die sich gerade in der Titanic-Kasse befan- ten, sprach er dann von zahlreichen nächtlichen Beste- den, wohl nicht sehr weit kommen.Während ich grübelte, chungsversuchen und erklärte:„This final fax broke my neck!“ fiel mein Blick auf das offizielle Fifa-Foto des US-Delegier- Heute weiß ich, dass Charles Dempsey vor der Abstimmung ten Chuck Blazer.Auf einmal wusste ich, was man Männern eine schlaflose Nacht verbrachte.Selbst Nelson Mandela und bieten kann, die schon alles andere haben: Für eine Stimm- Gerhard Schröder hätten noch telefonisch Druck auf ihn aus- abgabe zugunsten Deutschlands annoncierte ich in meinem geübt,schreiben die Zeitungen in den Tagen nach dem Skan- Bestechungsfax:„a fine basket with specialities from the black dal. Mittlerweile scheint es fast, dass der gebürtige Schotte forest, including some really good sausages, ham and – hold sich der Stimme enthielt,um sich allen Einflussnahmen zu ent- on to your seat! – a wonderful coocoo-clock“. Die „ver- ziehen – und dass das nächtliche Fax ihm dazu einen will- dammt guten Würste“ bot ich im Fettdruck an;wenn Sie wie kommenen Anlass bot. Dass er mit seiner Entscheidung den ich gerade das Bild des sehr, sehr gut genährten Chuck Bla- Weg für Deutschland frei machte,war für den greisen Demp- zer vor Augen hätten, wüssten Sie auch, wieso. sey offenbar ebenso überraschend wie die Tatsache,„dass Fuß- Das Ganze unterschrieb ich mit „sincerely yours:Martin Son- ball für viele Menschen so wichtig ist“. Zu den BBC-Re- neborn,Secretary TDES“,denn ich hatte gehört,dass in Wirt- portern, die nach Dempseys Stellungnahme als Erste vor der schaftskreisen gar nicht ernst genommen wird,wer unter dem Titanic-Redaktion in Frankfurt auftauchten, sagte ich: „Ich eigenen Namen nicht das Wort „Secretary“ nebst einer sinn- tat es für mein Land!“ Von den Briten, die sich bekanntlich und wahllosen Buchstabenkombination führt. Dass TDES ein recht unverkrampftes Verhältnis zu ihrer Nation bewah- für „Titanic, das endgültige Satiremagazin“ stand, wussten ren, wurde das fraglos akzeptiert.Auf die Frage, ob man das Mr. Blazer und seine Fifa-Kollegen nicht. Bestechungsangebot wirklich habe ernst nehmen können, Um sicherzustellen, dass die Angebote auch ankamen, infor- pflegte ich zu antworten: „Ja, wenn man sehr hungrig war.“ mierte ich die Dame an der Rezeption des Zürcher „Grand Die Reaktionen in Deutschland fielen dagegen recht unter- Hotel Dolder“ per Telefon darüber,dass gleich ein paar wich- schiedlich aus.Vor allem als die Bild-Zeitung – empört, dass tige Dokumente per Fax kämen, und bat sie, diese weiterzu- „der Kaiser“, die Fifa, der Fußball in den Ruch von Korrup- leiten.Dass sie die Faxe falten,in Briefumschläge stecken und tion gerieten! – auf der Titelseite dazu aufrief,uns in der Re-

– in Anbetracht der fortgeschrittenen Stunde,es war fast Mit- daktion mal die Meinung zu sagen, und als Service für ihre Foto: Getty Images / Bongarts

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Leser auch gleich unsere Telefonnummer veröffentlichte.„Va- terlandsverräter! Euch Hunden droht der Tod!“,meinte ein Teil der Anrufer.„Ihnen sollte man die Satirelizenz entziehen“, Was ist was: Die Fifa verlangten andere.„Im Rechtsstaat gehören Leute wie Sie ins KZ!“,formulierten fein Dritte oder forderten:„Man sollte Sie Die Fédération Internationale de Football As- auswandern!“ Ein Anrufer hinterfragte kritisch:„Sind das ech- sociation (Fifa) wurde am 21. Mai 1904 in Paris te Deutsche bei Ihnen? Oderrr grrrroße Arschlöcher? Ich tippe auf Nummerrrro zwo!“ Richtig sprachlos aber macht gegründet, seit 1932 ist ihr Sitz Zürich. Grün- mich bis heute der Vorwurf:„Wegen euch Schweinen haben dungsmitglieder waren Frankreich, Belgien, wir die WM nicht gekriegt!“ Dänemark, die Niederlande, Spanien, Schwe- Nicht wirklich begeistert zeigte sich auch der DFB. „Die den und die Schweiz. Deutschland trat noch Grenzen der Satire sind weit überschritten“, resümierte ein Sprecher.Aber selbst nachdem halbwegs seriöse Medien wie 1904 bei. Heute gehören der Fifa 207 National- FAZ und Tagesthemen mittlerweile festgestellt haben, dass die verbände an, die in sechs Kontinentalverbän- „satirisch gemeinte Bestechungsaktion“ unserem Land „die den organisiert sind, für Europa ist dies die Fußball-WM, 30000 neue Arbeitsplätze und rund zwei Mil- UEFA. Aufgabe der Fifa ist es, die Fußball- lionen Euro Bruttosozialproduktzuwachs“ brachte,bekommt man beim DFB noch sehenswerte Wutanfälle, sobald nur der Weltmeisterschaft, den Konföderationenpokal, Name Titanic fällt. Allein Ex-Teamchef Rudi Völler bot uns die U-20- und U-17-Weltmeisterschaften, die öffentlich die Hand, als er auf einer Pressekonferenz erklärte: Beach-Soccer-Weltmeisterschaft, gemeinsam mit dem IOC das Olympische Fußballturnier so- wie die Frauenfußball-WM zu organisieren. Veranstalter der WM 2006 ist nicht Deutsch- land oder der Deutsche Fußball-Bund, sondern die Fifa. Das höchste Fifa-Entscheidungsorgan ist der alle zwei Jahre zusammentretende Kon- gress, der über die Statuten entscheidet und den Präsidenten wählt. Bei dieser Wahl hat je- des Mitglied eine Stimme, Togo genauso wie England. An der Spitze der Fifa steht der Ge- neralsekretär, derzeit ist das der 70-jährige Schweizer Joseph S. Blatter, insgesamt be- Die Männer, die entscheiden, wo eine WM stattfindet: das Fifa-Exekutiv- schäftigt die Fifa 270 Menschen. Die Fifa be- komitee bei der Präsentation der WM-Kanditaten im Juli 2000. ansprucht alle im Zuge einer Fußball-WM ent- „Ich wollte mich noch mal bedanken, die Jungs von Titanic stehenden Bild-, Rundfunk-, Fernseh-, Marken-, haben ja die WM nach Deutschland geholt.“ Marketing- und Urheberrechte. Über die Ver- Wenn ich auch weiterhin – und bis zur letzten Minute! – auf wertung dieser Rechte entscheidet das Fifa- die versprochene Ehrenspielführerschaft hoffe,zumindest um Exekutivkomitee. Für die Fernsehrechte 2006 die angedrohte 600-Millionen-Klage sind wir noch einmal knapp herumgekommen. Beckenbauers Anwalt stellte mich hat die Fifa insgesamt etwa 1,6 Milliarden Fran- in der Lobby des „Marriott“ letztlich vor die Alternative, ein ken eingenommen, weitere rund 700 Millionen von ihm vorbereitetes Schriftstück zu unterzeichnen. In die- Franken kassiert die Fifa von Unternehmen, die ser Erklärung sollte ich mich verpflichten,zeit meines Lebens mit der WM werben wollen. Die Ausrichtung nicht noch einmal durch Bestechungsfaxe auf die Vergabe von Fifa-Turnieren Einfluss zu nehmen.Ich gebe zu,es war nicht kostet die Fifa rund eine Milliarde Franken. Das ganz einfach,beim Leisten der geforderten Unterschrift ernst Fifa-Budget wird jeweils für die Dauer von vier zu bleiben; einen guten Witz macht man schließlich eh nicht Jahren festgelegt, für die Zeit vom 1.1.2003 zweimal. Aber letztendlich gelang es mir; immerhin ging es bis 31.12.2006 werden Einnahmen in Höhe von ja um sehr viel Geld. ● 2,1 Milliarden Franken erwartet, denen Aus- Martin Sonneborn war Chefredakteur der „Titanic“.Von ihm er- gaben in Höhe von 1,9 Milliarden Franken ge- schien gerade: „Ich tat es für mein Land.Wie Titanic einmal die genüberstehen. Fußball-WM 2006 nach Deutschland holte. Protokoll einer erfolg- reichen Bestechung“, Bombus 2005.

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EHRENTREFFER

Wichtig ist neben dem Platz In ihrer Freizeit widmen sich Profifußballer nur ihren blonden Frauen, der Playstation oder dem Golf-Handicap, denkt man. Bei manchen mag das zutreffen. Es gibt aber auch andere. Text: Christoph Leischwitz S_38_39_Engagement 15.03.2006 16:55 Uhr Seite 45

Oliver Kahn Der Welttorhüter des Jahres 2002 wurde vor einem Su- gegründete „Indienhilfe Kaiserslautern“ effizienter zu permarkt angesprochen,von einer Frau,die nicht einmal machen, es blieb nicht nur beim Zähnerichten. Mittler- wusste,wie er heißt.Gisela Rockola kannte den blonden weile wurden fünf Waisenhäuser, drei Schulen und ein Sportler aber irgendwie aus dem Fernsehen.Was sie ganz Altenheim gebaut. Ganz nebenbei gilt Merk als erfolg- genau wusste: Er konnte helfen. Und so erzählte sie ihre reichster Schiedsrichter der Welt, schon mehrmals wur- Geschichte.Dass ihr Sohn an Drogensucht gestorben war, de er als solcher ausgezeichnet.Solange er das bleibt,wird nachts in seinem Bett.Nicht an einer Überdosis,sondern auch das Indienprojekt erfolgreich weiterwachsen. an einem Herzstillstand nach falscher Eigenbehandlung. ☞ www.merk-es-dir.de Er wollte wieder clean werden, aber der rettende Thera- pieplatz war noch besetzt gewesen. Sie gründete ein Jahr später eine Drogensoforthilfe. Oliver Kahn hörte zu. Er Pablo Thiam war beeindruckt von der Frau und ihrem Willen, ande- Pablo Thiam,Profi beim VfL Wolfsburg, packt selbst mit ren ein ähnliches Erlebnis zu ersparen. Schon am nächs- an: Für das „Kinderprojekt Arche“ spendet er nicht nur, ten Tag spendete er und seitdem nimmt er regelmäßig an er gibt den Kindern auch Fußballtrainingsstunden.Die et- Benefizaktionen für die Soforthilfe teil. Außerdem un- wa 150 Mädchen und Jungen, die in Berlin-Hellersdorf terstützt er das Münchner Projekt „buntkicktgut“, das täglich zu der christlichen Einrichtung kommen,sind die Straßenfußball-Ligen organisiert (Artikel auf Seite 28 in sichtbaren Opfer der steigenden Armut in Deutschland. diesem fluter) und schon vielen Jugendlichen, darunter Bei der „Arche“ bekommen sie warme Mahlzeiten,schu- Waisenkindern, erst die Förderung durch einen richti- lische Unterstützung und, wenn nötig, auch Schutz vor gen Verein möglich gemacht hat. Im Februar 2006 ver- den eigenen Eltern.Thiams Ehefrau arbeitet dort aus- steigerte Kahn sich selbst auf eBay, das heißt: zehn Mi- hilfsweise mit. „Ich weiß, wie gut es mir und meiner Fa- nuten mit ihm,unmittelbar nach einem Fußballspiel.Der milie geht, und ich weiß auch, dass es Kinder und Ju- Erlös von 1700 Euro ging an „bunt kickt gut“. gendliche gibt, denen ich helfen kann. Deswegen setzen wir uns für die Arche ein“, sagt Pablo Thiam.So können auch Feriencamps finanziert werden, um den Kindern Thierry Henry Abwechslung zu bieten. Eine Gruppenreise übernahm Im Herbst 2004 verbreiteten sich in vielen Fußballstadi- Thiam auch schon selbst: 25 Kinder durften zu einem en Europas, vor allem in Spanien und Italien, Rassismus- Spiel des VfL Wolfsburg, inklusive Stadionführung. Mit gesänge. Bald waren sie Alltag. In Italien unterbrach des- Happyend:Wolfsburg gewann 2:1 gegen Kaiserslautern. wegen sogar ein Spieler von der Elfenbeinküste eine Par- ☞ www.kinderprojekt-arche.de tie,indem er den Ball in die Hand nahm und den Schieds- richter aufforderte,etwas zu unternehmen.Thierry Hen- ry,28-jähriger französischer Stürmer des FC Arsenal Lon- Christoph Metzelder don, wurde in Madrid beschimpft, als Spanien gegen Eigentlich war Kaplan Jochen Reidegeld FC-Bayern- Frankreich spielte. Zuvor hatte der spanische National- Fan. Doch weil er im Münsterland wohnt, fragte er vor trainer Luis Aragonés Henry als einen „Scheißneger“ be- fünf Jahren einmal beim viel näher gelegenen Verein zeichnet.Dumpfe Fans nahmen die Steilvorlage auf.Ara- an. Er hoffte, Spieler für den „Ro- gonés ist übrigens immer noch Trainer. Ausnahmsweise ten Keil“ gewinnen zu können, ein Netzwerk gegen in- startete nicht ein großer Konzern eine Kampagne, son- ternationale Kinderprostitution. Der Kaplan war sehr er- dern Henry fragte umgekehrt die Sponsoren. Die folgreich. Mittlerweile helfen viele Sportler und Sport- berühmten schwarz-weißen Armbänder haben sich seit- reporter (Marcel Reif,Dieter Kürten) dem Netzwerk bei dem hunderttausendfach verkauft. Der Erlös dient der der Öffentlichkeitsarbeit und Fredi Bobic,Sebastian Kehl Finanzierung einer Studie,die sich mit Rassismus in Fuß- und Christoph Metzelder sind sogar die ersten Gesich- ballstadien befasst. ter, die man auf der Homepage des „Roten Keils“ zu se- hen bekommt.Vor allem der 25-jährige BVB-Verteidiger und Nationalspieler Metzelder engagiert sich regelmäßig für das Projekt: Er übernahm nicht nur die Schirmherr- Die Einschaltquoten für das EM-Finale in Portugal 2004 schaft für Benefizspiele, sondern auch Patenschaften für waren in Indien überdurchschnittlich hoch. Grund war ausländische Schulen.Der „Rote Keil“ arbeitet aber auch der deutsche Schiedsrichter, der dort ein hohes Ansehen im eigenen Land: „Deutschland ist nicht nur ein Land genießt. Seit Jahrzehnten fährt Markus Merk mit seiner der Täter,sondern auch der Opfer“,schreibt Metzelder in Frau nach Indien in den Urlaub,wobei es sich eigentlich einem Buch, das er gerade gemeinsam mit Kaplan Rei- nicht um Urlaub handelt. Der 44-jährige Zahnarzt geht degeld zusammenstellt.Der Kaplan ist jetzt übrigens nicht dort seinem ursprünglichen Job nach und richtet jenen mehr Bayern-,sondern Dortmund-Fan.„Da hat tatsäch- Menschen die Zähne,die es sich niemals leisten könnten, lich eine Bekehrung stattgefunden“, sagt er.

Foto: dpa dafür zu zahlen. Markus Merk half mit, die vor 15 Jahren ☞ www.roterkeil.net/

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SPIELVEREINIGUNG

DIE GLOBALLISIERUNG

Fußball wird auf der ganzen Welt gespielt, geliebt und verstanden. Fußball verkauft sich blendend und mit ihm kann man überall alles Mögliche verkaufen.Warum ist das so? Der amerikanische Journalist Franklin Foer hat sich mal umgeschaut.

Interview:Tobias Moorstedt Fotos: Neville Gabie

Meine Lieblingsmannschaften sind der FC dass man es in jedem Klima spielen kann. Arsenal und vor allem der FC Barcelona. Der zentrale Grund ist aber wohl seine Ge- Dann sind Sie ein Globalisierungs- schichte. Fußball war das erste Beispiel für gewinnler. Sie profitieren als Fußballfan das Phänomen,das wir heute Globalisierung von dem Prozess, den der Globalisie- nennen. Fußball war der erste weltweite rungs-Euphoriker Thomas Friedmann Hype – vor Hula-Hoop und Coca-Cola – als „unerbittliche Integration der Märk- und ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts in te, Nationen und Technologien“ be- einer massiven, nie da gewesenen Welle um schrieb, die es Individuen und Unter- die Erde gegangen. Der Fußball kam zur Londonderry, Nordirland nehmen ermögliche, „sich schneller, ef- richtigen Zeit am richtigen Ort zur Welt. fektiver und billiger als je zuvor um den Sein Geburtsland England war damals die Globus zu bewegen“. Rollt jetzt auch kulturelle Hegemonialmacht und übte gro- Le Kef, Tunesien der Ball schneller? ßen Einfluss auf andere Länder aus. Außer- Für mich hat die Globalisierung positive Fol- dem entstand gleichzeitig die Massenkultur; gen gehabt. Aber genau wie die wirkliche mit Massenmedien wie Radio und später Welt ist auch die Fußballwelt kompliziert, dem Fernsehen.Durch all diese Faktoren si- unübersichtlich und voller Widersprüche.Es cherte sich der Fußballsport ein Monopol, hieß doch einmal, dass die Globalisierung bevor er sich einer ernst zu nehmenden Kon- den Entwicklungsländern helfen werde, ih- kurrenz gegenübersah. re wirtschaftlichen Probleme zu lösen; dass Nqutu, Südafrika wir alle davon profitieren,wenn die Welt klei- ner wird. Globalisierung ist nicht prinzipiell gut oder böse. Aber genau wie dieser Pro- Herr Foer, Fußballfans in den USA hat- zess auf der wirtschaftlichen Ebene Dinge ten es lange Zeit nicht leicht. Die USA wie Sweatshops oder exzessives Outsourcing waren eine fußballfreie Zone. hervorgebracht hat, verschärft er im Fußball Das waren schlimme Zeiten.Doch nach und Probleme wie Korruption oder Rassismus. nach schlossen neue Technologien diese Sie haben Fußballspiele in Brasilien, im Lücke. Heute bringen Internet und Satelli- Iran, in der und in Spanien be- ten-TV, der Herr sei gepriesen, Fußballspie- sucht.Wissen Sie jetzt, warum Fußball le aus Europa und Südamerika in mein auf der ganzen Welt so beliebt ist? Mit der Eleganz des Hackentricks hat Wohnzimmer. Zum Beispiel den vereins- Es gibt sicher eine gewisse Verbindung zwi- das also gar nichts zu tun? eigenen Kabelkanal von Real Madrid oder schen dem Spiel selbst und seinem Erfolg: Kaum.Wenn Basketball unter den gleichen Partien aus Paraguay, England und Italien. dass man kaum Ausrüstung dafür braucht, Voraussetzungen auf die Welt gekommen

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Belfast, Nordirland

wäre, hätten wohl Dunking und Dreier die wie eine komplett globalisierte Welt einmal Welt heute ähnlich im Griff wie Fallrück- funktionieren wird.Mit welchen Problemen zieher und Foul. Der Grund für den Erfolg und Widersprüchen sie zu kämpfen haben des Fußballs hat wirklich mehr mit dem so- wird. Fußball ist für mich eine Metapher zioökonomischen und politischen Wandel zu dafür,wie Menschen ihre Identität unter glo- tun als mit der Schönheit des Spiels. balisierten Bedingungen definieren.Fans be- Ernüchternd. Trotzdem hat der Sport kommen heute Ergebnisse und Bilder aus einen enormen Einfluss. Jürgen Klins- der ganzen Welt.Da stellt sich doch die Fra- mann schreibt im Vorwort zu Ihrem ge:Verändert sich dadurch die Bindung an Buch mit gewohntem Übermut, dass regionale Clubs? Pont d’Ardes, Frankreich „sich die Probleme und Hoffnungen Und? Tut sie das? der Welt im Fußball spiegeln“. Zunächst einmal: Fußball ist Teil einer re- Rhetorik und Symbolik der Lazio-Rom- Fußball wird auf der ganzen Welt geliebt. gionalen Kultur. Deshalb ist die Erfahrung Fans gegen das linke Fanlager von Livorno. Fans und Spieler bilden einen gigantischen des Fanseins in jedem Land,ja,in jeder Stadt Politik, Kultur und Geschichte sind immer Markt – mit noch gigantischerem Wachs- einzigartig.In Kiew dominiert als Deutungs- um uns herum und üben ihren Einfluss aus. tumspotenzial. Das führt dazu, dass die Glo- muster des Spiels zum Beispiel der ukraini- Die These der Globalisierung lautet aber: balisierung hier schneller voranschreitet als sche Nationalismus.In Italien,das keine lan- Jeder Mensch wird aufgehen in einer Kultur in anderen Branchen. Fußball ist das globa- ge Geschichte des Nationalstaats kennt,wer- der Massenunterhaltung, in der TV-Shows, lisierteste Phänomen überhaupt auf unserem den Spiele als Symbole inneritalienischer Ver- Kinomärchen und andere Programmarten Planeten: noch vor Rockmusik, Coca-Cola teilungskämpfe oder politischer Konflikte wie der Fußball die verschiedenen Rassen in und Hollywood.Das macht aus diesem Sport überhöht: zum Beispiel das reiche Mailand einen allgemein gültigen Bezugsrahmen ein- ein gutes Labor,in dem man erkennen kann, gegen das arme Neapel, die faschistische binden würden.

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SPIELVEREINIGUNG

den Fußball, weil sie ihn als unamerikanisch empfinden und Angst haben, dass Amerika mit dem Baseball auch gewisse Werte über Bord wirft. Sind Fußballvereine also so etwas wie Stämme? Ich denke, es ist Teil der menschlichen Na- tur, dass man sich in Gruppen aufteilt. Fuß- ballclubs sind wirklich Clubs,also soziale Ver- einigungen, die eine Nachbarschaft, einen Block repräsentieren. Die besten Beispiele hierfür findet man in Lateinamerika.In Städ- ten wie Sao Paulo gibt es Dutzende Clubs: Palmeiras ist der Club der italienischen Ein- wanderer,Portuguesa jener der Portugiesen, Corinthians spielt für die Arbeiterklasse und der FC für die Elite. Die Menschen fühlen sich in diesen Stammesstrukturen sicher. Aber es heißt doch, dass der Fußball die Quijing, China Welt zusammenbringe. Was stimmt denn nun? Auch das ist wahr. Es gibt viele Beispiele, in denen der Fußball als mächtige Kraft der so- Das würde bedeuten, dass alle Men- sich in Glasgow bis heute das geschilderte zialen Kohäsion und kulturellen Vielfalt schen Fans von Real Madrid werden. fußballerisches Stammessystem erhalten,weil wirkt. Nehmen Sie die Feiern nach dem In Ihrem Buch schildern Sie aber, wie es seinen Bewohner eine Art pornografisches französischen WM-Sieg 1998, als das ganze das Glasgower Lokalderby mit unver- Spektakel bildet.Die Rangers unterscheiden Land das neue bikulturelle Frankreich mit änderter Intensität ausgetragen wird. sich kaum von anderen Vereinen wie AC weißen und schwarzen Spielern bejubelte. Lokalderbys sind überall die Spiele mit dem Mailand oder Arsenal London. Trotzdem Was stimmt, ist auch, dass die Weltmeister- meisten Zündstoff. Niemand, so scheint es, sind Wappen und Traditionen für die Fans ei- schaft die Erde schrumpfen lässt. Jeder wird kann hassen wie ein Nachbar. Doch hinter ne wichtige Konstante. Teil einer einzigen, globalen Konversation. der Rivalität zwischen Celtic und den Ran- Eine Konstante, die von den Menschen Es gibt nur ganz wenige Ereignisse,die das zu gers steckt mehr als Feindschaft durch Nähe. trotz der scheinheiligen Inszenierung Stande bringen. Es geht um den nie beendeten Kampf um als authentisch erlebt wird und an der Ende der Neunziger kämpften die eu- die englische Reformation.Die Rangers sind sie sich festhalten können, in der zu- ropäischen Vereine weniger um die der Club der Protestanten, die Celtics der nehmend unübersichtlichen Welt. Champions League und mehr um die der Katholiken. Ich stand einmal bei einem Die Globalisierung lässt die Menschen asiatischen Märkte. Ist es möglich, dass Glasgower Derby im Fanblock von Celtic scheinbar auf ältere Quellen ihrer Identität ein Club Fans auf der ganzen Welt hat? und ich sage Ihnen, mir wurde ganz schön wie Religion oder das Stammessystem Es ist schwer, von diesen Megamarken wie mulmig, als die Rangers-Fans sangen: „Wir zurückgreifen. Zu diesen Tiefenstrukturen Manchester oder Madrid nicht eingeschüch- stehen bis zu den Knien in eurem Blut.“ Das eines Gemeinwesens gehört auch der Sport. tert zu werden. Sie haben sich symbiotisch klingt, als hätte sich in den letzten 100 Jah- Er wird als Teil der eigenen Identität begrif- mit Konzernen wie Nike und Adidas ver- ren nichts verändert. Aber natürlich spielen fen,die gegen die einstürmende Welt vertei- bunden und Kontinente übergreifend Fans auch Rangers und Celtics unter den Bedin- digt werden muss.Eine derartige Globalisie- aus alten Loyalitäten herausgelöst und neue gungen der Globalisierung. Da spielen Bra- rungsphobie kann man selbst in den USA Anhänger herangezogen. Das geht natürlich silianer,Dänen,Franzosen,Afrikaner.Seit En- beobachten.Dort sind viele Menschen gegen auch nur, weil die Clubs selbst internationa- de der Neunziger schicken die Rangers fast genauso viele Katholiken aufs Feld wie Cel- tic.Aber sie verkaufen immer noch orange- farbene Trikots der protestantischen Bewe- gung und spielen über die Stadionlautspre- cher antikatholische Lieder. Und der Ran- gers-Kapitän,ein Italiener und Katholik,feu- ert die Fans an, lauter zu singen. Das ist ganz schön absurd. „Play global, be local!“ Ist das dann al- so das Stichwort? Entgegen der Logik der Globalisierung hat Busan, Südkorea Belfast, Nordirland

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ler werden und so neue Identifikationspo- IMPRESSUM tenziale bereitstellen. Bei Bayern spielt doch fluter – Magazin der Bundeszentrale für auch ein Iraner, oder? Aber es gibt nur zwei politische Bildung, Ausgabe 18, oder drei wirklich global erfolgreiche Fuß- März 2006 ballvereine.Das war fast ein bisschen wie zur Herausgegeben von der Bundeszentrale Zeit des Kolonialismus: Du kommst als Ers- für politische Bildung (bpb), Adenauerallee 86, 53113 Bonn, ter an einem Markt an,steckst deine Vereins- Tel. 01888 / 515-0 flagge in die Erde und rufst: meins! Bei uns hat sogar der Zweitligist TSV Redaktion: Thorsten Schilling (verantwortlich), 1860 München chinesische Websites. Liverpool, England Bundeszentrale für politische Bildung Das ist witzig. Die wird sicher nicht oft ge- ([email protected]), Dirk Schönlebe (redaktionelle lesen. Denn auch im Fußball gilt: Man Koordination), Heiko Zwirner (Chef vom braucht eine gewisse Größe, um vom Welt- Dienst), Thomas Kartsolis (Art Direction), markt zu profitieren. Alexandra Rusitschka (Grafik) Aber auf dem Platz wächst die Welt zu- Texte und Mitarbeit: sammen, oder? Bei den meisten Profi- Marc Baumann, Michael Brake, Dr. Klaus Ehringfeld, Daniel Erk, Anne Haeming, Mannschaften spielen mehr ausländi- Boris Herrmann, Raphael Honigstein, sche als einheimische Spieler. Christoph Leischwitz, Barbara Lich, Caroline von Lowtzow, Tobias Moorstedt, Es gab diese Zeit in den Neunzigern, als Bastian Obermayer, Dirk Schönlebe, Evi plötzlich baskische Mannschaften unter wa- Schreiber, Jakob Schrenk, Roland Schulz, Rio de Janeiro, Brasilien Anne Siemens, Martin Sonneborn, lisischen Trainern mit türkischen und hollän- Kathrin Steinbichler

Fotos und Illustrationen: Frederik Busch, Dorothee van Bömmel, Florian Gmach, land machen die Fans Affengeräusche,wenn Alfred Jansen, Paul Kranzler, Sorin Morar, ein afrikanischer Spieler aufläuft. Olaf Unverzart, Alexandra Rusitschka

2006. Am Ende beschreiben Sie Ihre Vision

, Schlussredaktion: Isolde Durchholz eines aufgeklärten Weltbürgerfans.Wie

erlag Redaktionsanschrift / Leserbriefe: V sieht der aus? fluter – Magazin der Bundeszentrale für Es gibt Clubs mit einer multinationalen und politische Bildung. sv corporate media pluralistischen Identität wie etwa den FC GmbH, Emmy-Noether-Straße 2 / E, 80992 München, Barcelona. Barca rettet den Fußball vor der Tel. 089/2183-8327; Dunkerque, Frankreich Kritik, dass er die Menschen auch im 21. Fax 089/2183-8529; Jahrhundert zu Steinzeitmenschen macht. [email protected] In Barcelona gibt es ein Bewusstsein,das ich Satz+Repro: IMPULS GmbH, Taubesgarten 23 dischen Spielern aufliefen. Aus meiner Fern- „milden Nationalismus“ nennen möchte. 55234 Bechtolsheim sehsesselperspektive sah es so aus, als wären Die Barca-Fans vergöttern ihren Club – und nationale Grenzen und Identitäten im Müll- versteigen sich fast nie in Feindseligkeiten Druck: Bonifatius GmbH Druck – Buch – Verlag eimer der Fußballgeschichte gelandet.Aber gegenüber anderen Fans.Dafür sind sie viel Paderborn als ich dann vor Ort war,zeigte sich ein ganz zu beschäftigt,der Schönheit und dem Zau- [email protected] anderes Bild. ber des Fußballs zu huldigen. Ob ich damit Abo verlängern & abbestellen: Wie sah es aus? Recht habe,kann ich nicht sagen.Ich bin ja Tel. 05251/153-188 (24 Std.) Fax 05251/153-199 ore“ von Neville Gabie © by Gabie/Sanssouci Es gibt auch im Fußball enorme Migrations- nur ein Fan. ● „T bewegungen von Süd nach Nord. Fast wie Abo bestellen & Service die realen Flüchtlingstrecks aus der Dritten Auf www.fluter.de: Kreisklassenglobalisie- Tel. 05251/153-180 ☞ Fax 05251/153-190 in die Erste Welt. Und die Menschen reisen rung – warum im Bayerischen Wald auf tschechi- aus ganz ähnlichen Gründen.Es spielen 5000 sche Spieler gesetzt wird. Bonifatius GmbH Stichwort: fluter Brasilianer auf der ganzen Welt.Aber das sind Postfach 1269 nicht nur Starmärchen, die auf der großen 33042 Paderborn Bühne in Mailand aufgeführt werden. Die Franklin Foer, 30, ist der jüngere Bruder von Jona- Nachbestellungen von fluter werden Jungs spielen auch auf den Färöer-Inseln, in ab 1 kg bis 15 kg mit 4,60 Euro than Safran Foer (Alles ist kostenpflichtig. Albanien oder Rumänien. Weil es überall erleuchtet) und begann besser ist als daheim. In der Ukraine spielen 1982 in Washington D.C. Papier: Dieses Magazin wurde auf zum Beispiel 15 Nigerianer. Glücklich ge- mit dem Fußball. Gebracht umweltfreundlichem, chlorfrei gebleich- hat das Training nichts. tem Papier gedruckt. worden sind sie nicht. Die nigerianischen Foer beginnt sein Buch Wie Spieler leiden in der minus 30 Grad kalten man mit Fußball die Welt erklärt (München, ISSN 1611-1567 Bundeszentrale für Winterpause. Neid,Vorurteile und Rassis- 2006) mit den Worten: „Ich bin ein lausiger politische Bildung Bilder entnommen aus dem sehr schönen Bildband: Spieler.“ Foer ist Redakteur des Politikmaga- [email protected], www.bpb.de mus zerstören die Utopie. Das ist in der EU zins The New Republic in Washington. otos: Online-Bestelladresse: F nicht anders:Selbst im multikulturellen Eng- www.fluter.de/abo S_44_45_Fankurve 15.03.2006 16:59 Uhr Seite 44

FANPROJEKT DIE KURVEN DISKUSSION

Die Tigris Ultras, Fans von Paris Saint-Germain. S_44_45_Fankurve 15.03.2006 16:59 Uhr Seite 45

Sie sorgen für Stimmung in den Stadien und manchmal für Stirnrunzeln bei Vereinen und der Polizei: Mit den Ultras hat sich im deutschen Fußball einiges geändert. Text:Christoph Leischwitz

egaphone,Transparente mit Dop- sierten, um ihren Verein zu unterstützen. die Letzteres zutrifft. In Mönchengladbach pelhalter, Gesänge, Fanartikelver- Nachdem Fans des AC Turin einmal einen wurde ein Ultra des FC Bayern dabei erwi- Mkauf:Würden sie nicht in einem Schiedsrichter, mit dessen Entscheidungen scht, wie er auf einer Toilette einen Aufkle- Fußballstadion stehen,man könnte Ultras für sie nicht einverstanden waren, bis zum Flug- ber hinterließ – er bekam mehrjähriges,bun- eine Ökogruppe halten, die in den achtziger hafen verfolgten, nannte eine Zeitung dies desweites Stadionverbot. Und in Freiburg Jahren hängen geblieben ist.Auf Transparen- „ultra“ – die Bewegung hatte ihren Namen. wurden einem Fan von einem Polizisten ten protestieren sie gegen die Kommerziali- In den achtziger Jahren gab es Ultra-Grup- mehrere Zähne ausgeschlagen. Doch zu ei- sierung des Fußballs oder die Politik der Ver- pierungen mit mehr als 10 000 Mitgliedern, nem Streit ge-hören immer zwei und die Ul- eine, möglichst nur noch angepasste Fans ins zum Beispiel die Fedayn (SSC Neapel) oder tras sind gute Provokateure. „Es gehört zu Stadion zu lassen.„Gegen den modernen Fuß- Fossa dei Leoni (AC Mailand). Einzelne ihrem Selbstverständnis,die Polizei als Feind- ball“ oder „Was ihr nicht kaufen könnt, ver- Gruppen sind konkreten politischen Rich- bild zu haben“,sagt Pilz:Weil Ultras gern ih- bietet ihr“ gehören zu ihren Slogans. Ultras tungen zuzuordnen: Die Irriducibili Lazio re eigenen Regeln aufstellten,gerieten sie au- unterstützen Aktionen wie „15.30“, weil sie (Lazio Rom) sind rechtsextrem, die Brigate to-matisch mit Offiziellen aneinander, mit nicht wollen, dass Fernsehsender ein Mit- Autonome Livornesi (AS Livorno) linksex- dem Verein oder den Ordnern.Zum Beispiel spracherecht bei den Anstoßzeiten der Bun- trem.Und sie haben Einfluss.Die nazistischen beim Thema Pyrotechnik: Bengalische Feu- desliga haben. Ultras planen aufwändige Ak- Fans von Hellas Verona beispielsweise ver- er gehören eigentlich zu den normalen Uten- tionen, mit denen sie die Fankurve oder das hinderten mehrmals den Einkauf von silien eines Ultras, in Deutschland wird aber ganze Stadion in die Farben ihres Vereins tau- schwarzen Spielern. Einmal demonstrierten sehr genau darauf geachtet, dass nichts der- chen.Ihre Ziele:Spaß haben,den Fußball fei- sie im Stadion mit Ku-Klux-Klan-Kapuzen gleichen ins Stadion geschmuggelt wird.Am ern und ihren Verein unterstützen,immer und schlechten Image sei auch das Fernsehen überall. schuld, sagt der Anhänger von Hannover 96: Die Organisation von Ultra-Gruppierungen „Der Begriff „Wenn in der Zweiten Liga ein bengalisches begann in Deutschland vor rund zehn Jahren, Feuer brennt,sind das Verbrecher.Aber wenn sie fiel zusammen mit dem Niedergang der Ultra ist eine bewusste am Sonntagabend auf DSF internationaler britischen Fankultur,die bis dahin jahrzehn- Fußball gezeigt wird, ist es auf einmal süd- telang das Bild der deutschen Fankurven ge- Provokation ohne ländische Begeisterung.“ Nicht zufällig sind prägt hatte: grölende Gesänge auf bekannte die Medien das zweite große Feindbild der Melodien, mehrere Schals in den Farben der politische Inhalte.“ Ultras.„Sie fühlen sich von den Medien ent- eigenen Mannschaft, alles in penetranten mündigt, sie wollen ihr eigenes Event auf- Biergeruch getaucht.Der so genannte „Kut- ziehen“, sagt Pilz. tenträger“ war eine speziell deutsche Form erfolgreich gegen eine bevorstehende Ver- Politische Ambitionen kann Pilz bei den dieses Proll-Fans: das Vereinsemblem auf die pflichtung. deutschen Ultras nicht erkennen, seiner An- Rückenseite der Jeansjacke genäht,drum her- In Deutschland sehen Vereine, Medien, DFB sicht nach kokettieren sie lediglich mit ei- um dutzende Aufnäher. und Sicherheitsbehörden die Ultra-Bewe- nem Begriff, der in Deutschland sofort die Anfang der Neunziger gewann die italieni- gung auch wegen dieser in Italien entstande- Assoziation zum Extremismus weckt. „Der sche Fankultur an Einfluss. Das lag vor allem nen Tendenzen bisweilen skeptisch und ver- Begriff Ultra ist eine bewusste Provokation daran, dass sich das Publikum im Fußballsta- suchen,etwaige Parallelen mit aller Macht zu ohne politische Inhalte.“ Die Schickeria dion änderte. „Ultras kommen aus dem Bil- verhindern.Die Ultra-Bewegung macht sich, München oder die Mehrheit der St.-Pauli- dungsbürgertum,sehr oft sind sie Studenten“, kaum zehn Jahre alt,daher schon Sorgen um Fans sind dem neutralen oder eher linken sagt Gunter A. Pilz, Soziologe aus Bremen, ihren Nachwuchs.„Die Jüngeren bekommen Spektrum zuzuordnen – was nicht die Un- der seit mehr als zwanzig Jahren die Gewalt ein verzerrtes Bild vom Rechtsstaat und der terstützung einer bestimmten Partei bedeutet. im Stadion erforscht.Ein Mitglied der Ultras Polizei,sie werden ständig drangsaliert.“ Das Auch wenn sicher nicht alle Ultras so ge- Hannover,selbst Geschichtsstudent,bestätigt erzählt der Hannoveraner Ultra, der darum waltfrei leben, wie sie häufig selbst behaup- das: „Viele Ultras haben sich aus der Kut- bittet, seinen Namen nicht zu nennen. Er ten,meint Gewaltforscher Pilz doch,dass die tenszene rekrutiert. Damals dachte man ir- sagt, Ultras ließen sich nicht gern von ande- Verbände anders mit ihnen umgehen sollten. gendwann: Das sind doch alles Assis.“ Heute ren reinreden. Andererseits seien die Reak- Die Medien- und Konsumkritik der Ultras, werden viele Erst- und Zweitligavereine von tionen der Polizei auch nicht immer ange- ihre regionale Verankerung sollten ernst ge- Ultra-Gruppierungen unterstützt, denen ei- messen: „Wenn jemand gewalttätig ist und nommen werden,sagt Pilz.„Sie sind der Seis- nige hundert Mitglieder angehören. dann bestraft wird, sagt niemand etwas.Aber mograf für die gesamte Gesellschaft und de- Die Ultra-Kultur entstand in den sechziger man wird ja schon bestraft, wenn eigentlich ren Wünsche und Bedürfnisse. Das sind kei-

Foto: imago / PanoramiC Jahren in Italien, als sich Jugendliche organi- gar nichts passiert ist.“ Es sind Fälle belegt,für ne Spinner.“

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WERBEBANDE

BALL TOTAL

Die WM-Euphorie hat die Werbeindustrie erreicht. Das werden wir noch bereuen. Text: Bastian Obermayer

eutschland, im Jahr der WM: „Die Die Werbung ist endgültig im Jahr der Welt- doch irgendwie mit der Weltmeisterschaft in beste Aufstellung für 2006“, jubelt meisterschaft angekommen und es gilt an- Verbindung bringen könnte.Laut einer Um- Dein Spruchband und darunter, im scheinend der Satz: Eine Marke kann gar frage wollen 70 Prozent der werbetreiben- Schaufenster der Hypovereinsbank, stehen nicht so fußballfern sein,als dass man sie nicht den Unternehmen aus Deutschland die WM ein Paar über den Waden abgeschnittene Fuß- werblich nutzen. Die WM ist das Ereignis ballerbeine herum. Es scheint um ein Anla- schlechthin, daher sind Sensibilität und Auf- gemodell zu gehen. Die Postbank füllt ein Turnierburger, merksamkeit beim Thema Fußball um ein Stadion mit gelben Bällen und Volkswagen Vielfaches höher als sonst.Also,so die Philo- erklärt den Polo zum Libero und den Golf Flugzeugnasen, sophie der Werbenden, sollte man sein Pro- zum Goalgetter. Im Werbespot der Bayeri- Wettmeister – dukt damit in Verbindung bringen.Vorsich- schen Zimmerer- und Holzbauverbände tigen Schätzungen zufolge werden während (VBZH) taucht eine Fußballspardose auf und Hauptsache der WM rund 5000 Werbebotschaften pro eine den Kräuterschnaps Kümmerling trin- Fußball, oder? Tag auf die Kunden einprasseln, die alle ir- kende Runde macht Fußballwitze. Und das gendwie mit dem Großereignis zu tun haben alles ist erst der Anfang. wollen.Der Fachmann spricht da vom Over-

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kill. Davonlaufen geht nicht, also wird der Kon- sument irgendwann alles ignorieren, was sich nicht von der Fußballmasse abhebt. Nicht nur Michael Trautmann von der Werbeagentur Kem- pertrautmann warnt vor der „größten Werbeta- RELIGION pete, die es jemals in unserem Land gab.“ Eckhart Müller vom Fachblatt Kressreport ergänzt: „Erfolg werden nur die Firmen haben, die intel- UND ligent und kreativ mit der WM umgehen“. Der Kressreport veranstaltet sogar Seminare, auf denen Werber diskutieren,wie eine gute WM-Werbung aussehen muss und wie man rechtliche Hürden RAUSCH umschifft. Denn um ihre eigenen Kampagnen exklusiv zu halten, haben die offiziellen Sponso- ren viel Geld an die Fifa gezahlt, jeder der 15 Hauptsponsoren allein rund 45 Millionen Euro. Nur sie dürfen zum Beispiel mit dem offiziellen Die Macht des Fußballs beruht auf Religion und WM-Logo werben. Auch Begriffe wie „Fußball- Emotion, Patriotismus und Konsumismus, sagt Weltmeisterschaft“ oder „WM2006“ sind für an- dere verboten. Aber im Weltmeisterschaftsjahr der Berliner Soziologe und Sportphilosoph Prof. verbinden wir jeden Fußball,jedes Trikot und je- Dr. Gunter Gebauer. de Eckfahne automatisch mit der WM.Daher ha- ben auch wilde Werber gute Chancen auf die von Interview: Jakob Schrenk den Unternehmen erhoffte Aufmerksamkeit. Schon jetzt kann man auf so genannte Guerilla- Kennen Sie den Werbespot der T-Com? Marketingkampagnen von Nichtsponsoren Den finde ich furchtbar. gespannt sein.WM-Sponsor Emirates Airline bei- Dicke und dünne, alte und junge, hässliche und hübsche Deutsche spielsweise muss hilflos zuschauen, wie Nicht- ziehen da ein Nationaltrikot an und stellen sich an einer Linie auf, sponsor Lufthansa mit auf die Flugzeugnasen ge- wie Soldaten: ein Land, geeint hinter dem Fußball. malten Fußbällen durch WM-Deutschland fliegt. Wir identifizieren uns nun mal besonders leicht mit der Nationalmann- Den „Turnierburger“ wird der offizielle WM- schaft. Die Spieler heißen genauso wie wir: Frings, Schneider, Mertesacker. Sponsor McDonald’s seinem Konkurrenten Bur- Sie sehen auch aus wie wir, bewegen sich genauso ungelenk – das sind ein- ger King kaum verbieten können und auch die fach „unsere Leute“. So ein Gefühl lässt sich natürlich leicht für bestimmte Mediamarkt-Werbung „Wir holen den Titel“ ist Formen von Patriotismus und Nationalismus missbrauchen. rechtlich unangreifbar. Wortspiele werden im In der T-Com-Werbung schauen alle andächtig zum Himmel – wie Sommer Hochkonjunktur haben, ein Schoko- Gläubige, die auf die Erlösung warten. riegelhersteller ruft den „Wettmeister“ aus, ein Fußball ist religiös! Fans beten vor dem Fernseher, damit der Elfer reingeht, Getränkefabrikant wird den Geschmack „Wäld- sie hoffen auf ein „erlösendes“ Tor, das oft von einem „auserwählten“ An- meister“ anbieten.„Eine witzige Werbung bringt führer erzielt wird. Unsere Stadien sind wie Kathedralen, in denen eine be- im Zweifel mehr,als sich ‚Hauptsponsor der WM’ sonders glaubensfeste Gemeinde durch Krach und Gesang ihre Macht de- aufs Plakat zu pinseln“,meint Müller.Im Notfall monstriert. Und gewinnt die eigene Mannschaft, liegen sich Wildfremde in greift man eben zu Fußballvokabeln,preist „Steil- den Armen – das ist ein geradezu transzendentales Gefühl der Zusammen- pässe in die Zukunft“ an,wie das Stadtmarketing gehörigkeit. von Köln. Hauptsache Fußball, oder? Damit kann man auch gut verdienen. „Nein, genau da liegt die Gefahr.Viele Unter- In gewisser Weise gehört das zusammen. Eine Fußball-Weltmeisterschaft ist nehmen werden ihr Budget sinnlos mit unkrea- ein Spektakel der Gefühle,unglaublich intensiv,und daher besonders gut ge- tiven und vor allem unwirksamen Aktionen ver- eignet zum Geldverdienen, beispielsweise durch Werbung. Dadurch wird geuden“, meint Müller. Firmen sollten es sich Fußball dann noch präsenter, noch sichtbarer. Das ist ein Prozess, der sich also genau überlegen, ob sie sich wirklich in die selbst verstärkt. Reihe der WM-Werbenden einreihen wollen. Wir sind also wie Abhängige im Vollrausch.Wann müssen wir dann Trotz der Weltmeisterschaft, meint Lothar S. mit dem Kater rechnen? Leonhard von der Werbeagentur Ogilvy & Ma- Vielleicht nie. Seit Jahren wird in Deutschland orakelt, dass die Leute bald ther,sollten die beworbenen Marken schon einen von Fußball genug haben – aber die Begeisterung wächst jedes Jahr,obwohl halbwegs schlüssigen Bezug zu den Themenfel- die Bundesligateams und die Nationalmannschaft so schlecht spielen. Ra- dern Männer,Sport oder,idealerweise,sogar Fuß- tional kann man das nicht erklären, Fußball scheint eine besondere Droge ball haben.Leonhard beruhigt vor allem Inhaber zu sein. fußballfremder Marken: „Es wird keiner unter-

Illustration: Ruzi gehen, der nicht mit dem WM-Zug mitfährt.“

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AUSTRAGUNGSORTE Internationale Härte

Fußball ist ja nur ein Sport? Von wegen. Text: Michael Brake, Daniel Erk

Der Fußballkrieg Spieler beider Mannschaften im Verhältnis 6:5 aufstellen, ohne dass Die innenpolitische Situation in Honduras und El Salvador war an- diese sich aufeinander hatten einspielen können.Gleich in der ersten gespannt,als die Nachbarländer im Sommer 1969 in der WM-Qua- Runde scheiterte die favorisierte großdeutsche Mannschaft an der lifikation aufeinander trafen. El Salvador versuchte auf Kosten von Schweiz. Honduras eine Wirtschaftskrise zu vermeiden,Honduras plante,sal- vadorianische Siedler zu vertreiben. Schon beim Hinspiel hatte es Eine Niederlage als Sieg Unruhen gegeben, nach dem Entscheidungsspiel eskalierte die Si- 2001 erreichte der Konflikt um Tibets Unabhängigkeit von China tuation vollends:Nachdem in der Verlängerung das 3:2 für El Salva- Kopenhagen. Ein dänisch-tibetanischer Freundschaftsverein hatte dor gefallen war, kam es in Honduras zu Ausschreitungen mit die in indischen und nepalesischen Flüchtlingslagern gebildete Na- Todesopfern, die sich mit den Unruhen um die Vertreibung der sal- tionalmannschaft Tibets zu einem Freundschaftsspiel gegen das zu vadorianischen Siedler mischten. Die Regierung von El Salvador Dänemark gehörende, aber teilautonome Grönland eingeladen. Die schickte daraufhin am 14. Juli 1969 Truppen ins Nachbarland, der chinesische Regierung protestierte erfolglos. Das Spiel fand statt, in so genannte Fußballkrieg begann.Innerhalb von vier Tagen wurden der 13. Minute ging Tibet sogar in Führung. Grönlands Politiker 6000 Menschen verletzt,3000 Menschen getötet.Dann endeten die hatten indes ganz andere Sorgen: Sie fürchteten, China könnte so Kämpfe auf Druck der Organisation Amerikanischer Staaten.El Sal- verärgert sein,dass es den für Grönlands Wirtschaft wichtigen Krab- vador qualifizierte sich für die WM 1970. benhandel boykottieren würde.Am Ende gewann Grönland 4:1.Der Handel mit den Krabben ging unbeeinträchtigt weiter. Die Welt zu Gast bei Diktatoren Argentinien,WM-Gastgeber von 1978, war in den Jahren vor der Ländersache WM von schweren wirtschaftlichen und politischen Krisen er- Bei Fußball-Länderspielen spielen Länder gegeneinander,so einfach schüttert worden, in deren Wirren 1976 eine rechtskonservative ist das.Was aber ist mit den Ländern, die es auf der politischen Welt- Militärdiktatur unter Jorge Rafael Videla die Macht übernommen karte nicht gibt, mit Autonomieregionen, mit Völkern, die keinen hatte – was die Fifa nicht daran hinderte, am Austragungsland fest- eigenen Staat haben und folglich auch von der Fifa nicht anerkannt zuhalten. Und das, obwohl die Militärjunta viele hundert Regime- werden? Diesen Mannschaften wollen die belgischen Erfinder des al- gegner hatte ermorden lassen und tausende Menschen ohne Prozess ternativen „Viva World Cup“ eine Plattform geben.Lappland soll ge- verhaftet wurden oder spurlos verschwanden. Schließlich ging der gen Tschetschenien spielen können,der Kosovo gegen Nordzypern, Stadienbau gut voran und die Sicherheit der WM schien gewährleis- Kurdistan gegen das Baskenland und die Shetlandinseln gegen den tet. Immerhin: Einige Spieler und der Trainer der argentinischen Vatikan – auch mit dem Ziel, dem Wunsch einiger dieser Verbände Mannschaft, César Luis Menotti, verweigerten „ihrem Präsidenten“ Nachdruck zu verleihen, Mitglied in der Fifa zu werden. Eine Aus- nach dem WM-Sieg den Handschlag. Sie hätten für das argentini- nahme unter den Ausnahmen ist Monaco: Das Fürstentum ist ein sche Volk gespielt und gewonnen – nicht für die Militärjunta. anerkannter Staat,verzichtet aber auf einen eigenen Fußballverband und eine eigene Nationalmannschaft, damit der Fußballverein AS Großdeutsch raus Monaco in der französischen Liga spielen darf. Es war die größte Zeit des österreichischen Fußballs: In den dreißi- ger Jahren begeisterte die Nationalmannschaft mit ihrem technisch Staatsräson versierten Kurzpassspiel, die Finalteilnahme bei den Olympischen Arthur Friedenreich,1892 geborener Sohn eines deutschen Ingeni- Spielen 1936 machte berechtigte Hoffnung auf ein gutes Abschnei- eurs und einer schwarzen Wäscherin,schoss während seiner Laufbahn den bei der WM 1938 in Frankreich.Doch mit dem Anschluss Öster- über 1300 Tore.Bei der Copa América 1921 in Brasilien selbst durf- reichs an das Deutsche Reich am 12. März 1938 zerplatzte dieser te er dennoch nicht auflaufen: Staatspräsident Epitácio Pessoa un- Traum,die Österreicher wurden mit der deutschen Auswahl zwangs- tersagte Farbigen die Turnierteilnahme,Brasilien wurde auch deshalb vereinigt. Diese war zwar amtierender WM-Dritter, doch pflegte sie lediglich Zweiter. Die allgemeine Verärgerung darüber war so groß, einen gänzlich anderen, wesentlich kampfbetonteren Stil. Bei der dass Pessoa den Beschluss widerrufen musste: Friedenreich und an- WM musste Reichstrainer Sepp Herberger auf politischen Druck dere dunkelhäutige Spieler durften – wieder – für Brasilien auflau-

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fen.Allerdings nicht ohne Einschränkungen:Vor jedem Spiel muss- Wir gegen uns ten sie die krausen Haare glätten und ihre Haut mit Reismehl ein- Die Vorrundenpartie der Nationalmannschaften von BRD und DDR reiben. bei der WM 1974 war die erste Begegnung der beiden deutschen Staaten auf dem Fußballfeld:Freundschaftsspiele zwischen Ost- und Wo liegt Israel? Westmannschaften waren nicht üblich, bei Pflichtspielen waren die Als Israel bei der WM-Qualifikation erstmals 1958 auf Ägypten,den deutschen Staaten nie zueinander gelost worden. In der westdeut- Sudan und Indonesien treffen sollte, zogen die muslimischen Län- schen Mannschaft spielten Beckenbauer, Netzer und Gerd Müller, der ihre Teilnahme zurück: Unter keinen Umständen wollten sie in die BRD war amtierender Europameister,die DDR nahm zum ers- Israel auflaufen,fast hätte Israel sich dadurch für die WM qualifiziert. ten Mal überhaupt an einer WM teil.Entsprechend siegesgewiss ti- 1974 hatten sich die Verhältnisse verschoben, nun musste Israel in telte Bild: „Warum wir heute gewinnen.“ Doch die DDR konnte Folge der wachsenden Bedeutung der arabischen Mitglieder aus dem das Spiel lange offen halten und gewann schließlich durch das Tor von asiatischen Fußballverband austreten. Eine kleine Odyssee begann: Jürgen Sparwasser. Erst als im Februar 1990 die Qualifikationsgrup- 1978 spielte Israel in der Ostasien-Gruppe, 1982 in einer der Euro- pen für die EM 1992 ausgelost wurden, landeten BRD und DDR pa-Gruppen und 1986 in der Ozeanien-Gruppe um einen WM- dann doch noch mal in einer Gruppe,während der Prozess der Wie- Platz.Seit Beginn der neunziger Jahre haben die Israelis nun endgültig dervereinigung bereits voranschritt. Nun titelte Bild: „Wir gegen in Europa ihre fußballerische Heimat gefunden. 1994 wurden sie uns – So ein Quatsch!“ Die DDR spielte schließlich nicht mit, die UEFA-Mitglied und spielen seitdem auch in der Qualifikation zur deutsche Mannschaft zog ins EM-Finale ein, mit zehn westdeut-

Illustration: Damentennis & Ruzi Europameisterschaft mit. schen Spielern und dem Ostdeutschen Matthias Sammer.

49 S_50-51_Gewinnspiel 15.03.2006 17:02 Uhr Seite 2

EHRENRUNDE

Sieges- garant

Volle Offensive oder erst mal abtasten – Hauptsache richtig. Das Gewinnspiel.

Kevin Keegans Spitzname ist: p) Dangerous Duck q) Carving Cat r) Fighting Frog s) Mighty Mouse

Welcher Verein war schon 100 Sai- sons lang in der obersten engli- schen Spielklasse? a) FC Liverpool b) Manchester United c) FC Everton d) Sheffield United

Welcher Weltklasse-Fußballtor- hüter wurde in seinem Land auch Landesmeister als Eishockeytor- wart? Gerade ist Brasilien zum fünften Mal Weltmeister geworden – ein Pärchen f) Gordon Banks, England feiert den Finalsieg über Deutschland 2002. g) Dino Zoff, Italien h) Lev Jashin, Sowjetunion Nummer sechs war’s.Empfehle Elfmeter Notiere die vier Buchstaben der rich- i) Peter Schmeichel, Dänemark und Platzverweis.“ Schiedsrichter:„Rafa, tigen Antworten.Vier weitere Fragen erzähl bloß keinen Mist. Ich scheiße auf gibt es in Teil zwei des Rätsels unter Der Linienrichter Rafael Guerre- meine Mutter, wenn das nicht stimmt.“ www.fluter.de. Dort erfährst du auch, ro Alonso ist in Spanien eine Be- Der Schiedsrichter stellte die Nummer was es zu gewinnen gibt. rühmtheit.Warum? sechs vom Platz.Täter war die Nummer Das gesuchte, acht Buchstaben lange v) Er rettete 2004 einem Fußballspieler, drei. Guerrero Alonso soll auch bei der Lösungswort finden manche clever, der bei einem Spiel mit einem Herzin- WM 2006 zum Einsatz kommen. andere unsportlich. farkt auf dem Platz zusammenbrach, das x) Guerrero Alonso war vor seiner Zeit als Schicke die Lösung bis zum 30.April Leben.Alonso ist Arzt von Beruf. Linienrichter spanischer Nationalspieler, 2006 an: w) Er ist berüchtigt für seine Fehlentschei- berühmt für seine Fähigkeit, stets am gewinnen@ fluter.de dungen. Bei einem Spiel kam es 1996 zu Rande des Abseits zu wandeln.Als Lini- oder an: folgender Szene, aufgenommen von TV- enrichter entscheidet er jetzt im Zweifel Redaktion und Alltag Mikrofonen: Der Schiedsrichter holt sich stets für den Abwehrspieler. Stichwort: fluter-Rätsel einen Rat bei Alonso. Schiedsrichter: z) Er ist der Vater von Formel-1-Weltmeis- Pasteurstraße 8 / 10407 Berlin Zeitenspiegel / Lasse Sebastian oto: „Was war los?“ Guerrero Alonso: „Die ter Fernando Alonso. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. F

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Im Mai bekommt fluter.de ein neues Gesicht: mit täglich neuen Beiträgen aus der fluter.de-Redaktion und neuen Community-Tools.

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Im April dreht sich auch auf fluter.de alles um den Weltsport Fußball: mit Berichten von Fußballforschern, einer Reportage über Argentiniens bekannte- ste Straßenkicker und einem Porträt eines Nachwuchs-Schiedsrichters. Dazu Fußball zum Gucken mit „Kick it like Beckham“, zum Lesen mit Nick Hornbys „Fever Pitch“ und ein Potpourri der schönsten Fangesänge zum Anhören.

fluter leuchtet ein. S_52_Anzeige_U4 16.03.2006 10:30 Uhr Seite 1

bpb / WM-Spielplan

bpb.de – WM Spezial Tippspiel, Länderpuzzle, Politik- und Fußballquiz, Fußballgeschichte, Fankultur und vieles mehr. Unter www.bpb.de/themen Bin ich Deutschland? Jubeln für Deutschland! Jubeln für Brasilien? Das Befragungsprojekt „Forschen mit GrafStat“ beschäftigt sich mit dem Nationalgefühl. Dazu: Mach selbst Umfragen an deiner Schule oder in deinem Ort. Mehr unter: www.bpb.de/grafstat

Fanshop der Globalisierung – Wanderausstellung In einem Seecontainer präsentiert die bpb das Wirtschaftsphänomen Fußball unter den Aspekten „Wertschöpfung“, „Vernetzung“, „Migration“, „Kulturelles Image“, „Social Divide“. In Dortmund, Frankfurt, Stuttgart, München, Leipzig, Hannover, Hamburg, Berlin. Mehr unter: www.bpb.de/themen Trainingslager 17 Filmszenen auf CD-ROM: zwei Spielrunden zu den Themen „Einstellung“ und „Sprachliches Handeln“ aus unterschiedlichen Perspektiven zum Mitspielen und Bessermachen. www.bpb.de/publikatio- nen