Alles,

Von Steven Meyer Fotos: Ryan James Caruthers

was fluter Nr. 73, Thema: Freundschaft ich hasste 28 29 Das Gegenteil von Freundschaft ist Feindschaft. Unser Autor hat sie in seiner Schulzeit zu spüren bekommen. Hier erzählt er, wie es sich anfühlt, gemobbt zu werden

„Was ist mit dir, Schwuchtel?“, rief der große, kräftige Typ mit den schwarzen Haaren. Er stand mit drei oder vier an- deren Jungs vor meiner Schule. Genau diese Situation versuchte ich immer zu vermeiden und ließ deshalb jeden Tag ungefähr eine Viertelstunde nach Schul- ende verstreichen, bis ich mich auf den Weg nach Hause machte. An diesem Tag warteten sie aber auf mich. Sie wuss- ten, dass ich irgendwann nach Hause gehen würde. Einer von ihnen kam auf mich zu. Er schubste mich. Alle lachten. Ich wusste nicht, was ich machen soll- te. Er war zwei Köpfe größer als ich, aber auch sonst hätte ich nicht den Mut gehabt, mich zu wehren. Er packte mich an den Schultern, holte mit dem Kopf nach hinten aus und schlug ihn mit voller Wucht gegen meinen. Aber mal von vorn. Als Kind habe ich gern mit Puppen gespielt, wollte Tierarzt werden und gründete mit einer Freundin den „Tier- und-Pflanz-Club“. Als mich meine El- tern in einen Fußballverein steckten, pflückte ich während der Spielzeit lieber Blumen, statt den Ball meinen Mitspie- lern zuzuspielen. Später war ich der einzige Junge im Turnverein, großer Fan von den No Angels und liebte es, Theater zu spielen. Auch wenn es mir damals noch nicht bewusst war: Für viele war ich wohl ein wandelndes schwules Klischee. Da ich nicht dem Rollenbild eines männlichen Teenagers entsprach, konn- te ich in der Pubertät auch den Erwar- tungen der Jungs aus meiner Klasse

29 nicht gerecht werden. Und so wurde um nicht zum Sportunterricht gehen zu ich zum ersten Mal mit meiner sexuel- müssen. Unzählige Male erklärte ich len Orientierung konfrontiert. Oder meinem Lehrer, wieso ich schon wieder besser gesagt: der Außenwahrnehmung verschlafen oder meine Sportkleidung davon. Anfangs war die Ausgrenzung vergessen hatte. noch subtil, doch das änderte sich, als Am liebsten wäre ich komplett zu ich in der siebten Klasse vom Gymna- Hause geblieben oder hätte zumindest sium auf eine Realschule wechselte. auf jede einzelne Minute außerhalb des Zunächst freute ich mich auf den Unterrichts verzichtet. Wenn ich zwi- Schulwechsel. Doch bereits als ich den schen den Stunden die Tafel wischen Klassenraum betrat, hatte ich das Gefühl, musste, hörte ich, wie Mitschüler hinter dass mich viele Schülerinnen und Schü- meinem Rücken flüsterten und über ler misstrauisch musterten. Sie sahen mich lachten. Oder bildete ich mir das in mir nicht nur den Neuen und denje- irgendwann nur noch ein? Ich wurde nigen, der zu schlecht fürs Gymnasium paranoid. Jeder Blick schien mir zu war, sondern auch einen Sonderling. gelten, alle waren gegen mich. Um in das Schulgebäude zu gelan- Meinen Eltern erzählte ich fast gen, musste man den Pausenhof über- nie von den Schikanen. Ich berichtete queren, auf dem alle auf das Läuten der aber von dem Jungen, der seinen Kopf Schulglocke warteten. Ich hasste diesen gegen meinen schlug. Als mich mein Moment. Denn jedes Mal drehten sich Vater eines Morgens zur Schule brach- Jungs oder Mädchen um und machten te und ich ihm den Jungen zeigte, hielt sich über meinen Gang oder meine er neben ihm, stieg aus dem Auto und Stimme lustig. Manche grölten mir packte ihn am Kragen. „Wenn du mei- „Schwuchtel“ hinterher und lachten da- nen Sohn nicht in Ruhe lässt, bekommst rüber. Die großen Pausen verbrachte du richtig Ärger. Hast du das verstan- ich allein im Treppenhaus. Ich war ein den?“, drohte er ihm. „Okay“, stam- Außenseiter und ein leichtes Opfer noch melte der Junge. Danach ließ er mich dazu. Wehren konnte ich mich nicht, in Ruhe. und ich hatte niemanden, der mich ver- Es dauerte nicht lange, bis ich an- teidigte. Ich fühlte mich verloren. fing, den Status des Außenseiters für Das Schlimmste war der wöchent- mich zu nutzen. Ich grenzte mich mit liche Sportunterricht, der nach Ge- meiner Kleidung absichtlich von den schlechtern getrennt war. Es waren zwar anderen ab und färbte meine Haare. Ich nur zwei Stunden, doch vor diesen fürch- errichtete eine Mauer um mich, an der Viele Schüler tete ich mich die gesamte Woche. Ich die Witze abprallten, und war stolz da- leiden unter Mobbing, schämte mich. Niemand wollte mich im rauf, nicht in der Masse unterzugehen. das zu Depressionen Team haben. Ich würde mich wie ein So wie die anderen wollte ich eh nicht führen kann Mädchen bewegen, sagten meine Mit- sein. Ich wollte nichts mit dem, was sie schüler und machten sich in der Umklei- mir an den Kopf warfen, zu tun haben. de über mich lustig. Woche um Woche Die anderen verstanden mich einfach dachte ich über eine neue Ausrede nach, nicht, dachte ich – mich in meinem Anderssein. Und eins stand für mich stellers. Aber wieso auch nicht, dachte fest: Schwul war ich nicht. Schwule Män- ich. Schließlich stelle ich mir vor, dieser ner wurden berechtigterweise aus der Mann zu sein, der mit einer Frau schläft. Gesellschaft ausgeschlossen, im Gegen- So jedenfalls mein Versuch, mich von fluter Nr. 73, Thema: Freundschaft satz zu mir, dachte ich. Wieso sonst meiner vermeintlichen Heterosexualität Niemand wollte leitete meine Lehrerin im Sexualkunde- zu überzeugen. Internalisierte Homo- unterricht das Thema Analsex mit den feindlichkeit nennt sich das, wie ich mich im Team Worten „Das ist ziemlich unangenehm, heute weiß. Das Mobbing trug sicherlich aber ich muss das mit euch besprechen“ einen Teil dazu bei. Ich hasste das, was haben. Ich bewege ein, worüber dann alle lachten. Ich war ich selbst war. nicht schwul, die anderen wollten mich Heute weiß ich, dass das Mobbing mich wie ein nur beleidigen. zur Folge hatte, dass ich einen großen Bis die Fassade bröckelte: Es fiel Teil meiner Persönlichkeit lange Zeit Mädchen, sagten mir immer schwerer, meine sexuelle komplett unterdrückte. Hätte ich mich sie und machten Orientierung zu verleugnen. Schaute früher mit meinen Gefühlen beschäftigt, ich mir Pornos an, erregte mich nicht wenn mich niemand fertiggemacht hät- sich lustig darüber die Frau, sondern der Penis des Dar- te? Gut möglich. Die Beleidigungen

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Der Mord am Onkel

30. Juli 1977. Ein heller Som- Klar ab. Mohnhaupt feuert mertag in Oberursel, einem weitere fünf Schüsse ab. Drei malerischen Ort zwischen Kugeln treffen Ponto am Kopf, Hochtaunus und Maintal. Es noch am Abend stirbt er im ist später Nachmittag, der Chef Krankenhaus. Das Trio flüch- der Dresdner Bank, Jürgen tet, und Susanne Albrecht Ponto, und seine Frau Ignes taucht in der DDR unter, die sitzen auf der Terrasse ihrer der westdeutschen Terroristin Villa und warten auf Besuch: bei der Flucht hilft. Sie lebt Susanne Albrecht ist bei ihrem dort unter falschem Namen. „Onkel Jürgen“ zum Tee ange- Erst nach dem Fall der Mauer meldet. Sie ist die Tochter von wird sie verhaftet und zu zwölf Pontos bestem Freund, dem Jahren Gefängnis verurteilt, Hamburger Rechtsanwalt wegen versuchter Entführung Hans-Christian Albrecht. mit Todesfolge. Es klingelt. Susanne Al- Eigentlich wollte das Trio brecht sagt nur kurz ihren Vor- mit der Entführung von Ponto, namen in die Gegensprechan- einem der einflussreichsten lage, woraufhin sich die Tür Bankiers Deutschlands, die öffnet. Albrecht trägt einen Freilassung der RAF-Mitglie- braunen Rock, eine geblümte der und Gud- Bluse, darüber eine blaue Jacke. run Ensslin erpressen. Die In der Hand hält sie einen saßen zur gleichen Zeit in Strauß Rosen. Mit ihr kommen -Stammheim im ebbten jedenfalls irgendwann ab, einen eine Frau und ein Mann ins Knast. Zur Vorbereitung hatte genauen Zeitpunkt kann ich nicht mehr Haus. Ponto freut sich, als er Susanne Albrecht vorher einen ausmachen. Erst Jahre später, als ich die Gäste sieht, und bittet sie zweitägigen „Intensivkurs in die Gedanken über meine sexuelle Ori- auf die Terrasse. Solidarität“ durchlaufen. Hat- entierung zum ersten Mal zuließ, wur- Plötzlich schreit der un- te sie nur die Wahl zwischen de alles besser. bekannte Mann: „Mitkommen, Verrat und Verrat? Dem Verrat Wenn ich heute an meine Schulzeit das ist eine Entführung!“ Der an ihrem Vater und dessen zurückdenke, sind manche Erinnerun- Mann heißt und Freund einerseits und dem Ver- gen verblasst. Aber ich entsinne mich ist zu diesem Zeitpunkt einer rat an ihren RAF-Freunden gut einzelner Momente, zum Beispiel der meistgesuchten Terroristen andererseits? Ignes Ponto be- wie ich mich nach der Schule oft weinend der „Roten Armee Fraktion“ zeichnete Susanne Albrechts aufs Bett schmiss. Ich weiß aber oft (RAF). Klar hat eine Pistole Tat in einem Fernsehbeitrag nicht mehr genau, wie ich mich fühlte, auf den Bankenchef gerichtet. als mehrfachen Verrat: als Ver- was ich dachte und was mich beschäf- Aber der wehrt sich. Als Ponto rat am Freund des Vaters, Ver- tigte. Ich habe einen Großteil meiner auf die unbekannte Frau zu- rat am Vater selbst, Verrat an Jugend verdrängt, um mit meiner tägli- läuft – die RAF-Terroristin der Freundschaft der beiden chen Realität klarzukommen. –, drückt Familien. Jenni Roth

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