Erster Teil: Geschichte Und Gegenwart
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Erster Teil: Geschichte und Gegenwart I Zwischen Türkei und Deutschland Für einen ersten Überblick über die historische Entwicklung des türkischen Lebens in Deutschland und seines Musikleben ist es hilfreich, sich eine sukzes- sive Übereinanderschichtung von fünf musikalischen Stilen vorzustellen, deren zeitliche Folge in etwa den Phasen der Migrationsgeschichte entspricht: Migrationsgeschichte Musikstil Bis 1961 Vorgeschichte ›Europäische‹ Kunstmusik 1961-1973 Immigrationsphase Anatolische Volksmusik, gurbetçi-Lieder Ab 1973 Familienzusammenführung Popularmusik, v.a. arabesk 1980er Jahre Politische Flüchtlinge / Politische Lieder / Niederlassungsphase Türkische Kunstmusik 1990er Jahre Dritte Generation pop müzik, Hiphop Jede musikalische Schicht entwickelte sich in Deutschland weiter, teils parallel zu musikalischen Entwicklungen in der Türkei, teils unabhängig davon, und begann darüber hinaus, mit den bereits in Deutschland vorhandenen Musiksti- len zu interagieren. So kam es in den 1970er Jahren, während sich unter den ›Gastarbeitern‹ mit arabesk eine türkische Popularmusik etablierte, gleichzeitig zu einer Ausdifferenzierung der bereits zuvor angekommenen anatolischen Volksmusik, außerdem setzten sich gerade in dieser Zeit viele ›westlich‹ ori- entierte türkische Musiker in Deutschland mit dieser Volksmusik auseinander. Die ›türkische‹ Musiklandschaft in Deutschland wurde insgesamt also im- mer komplexer. Umfang und Verlauf dieser Entwicklung verliefen in keiner Weise planvoll, und ihre Rekonstruktion ist heute außerordentlich schwierig. Aussagekräftige, datierbare Quellen über türkische Musik in Deutschland sind kaum vorhanden, und eine Darstellung auf der Basis von Interviews neigt dazu, in Einzelbiographien zu zerfallen. Nur selten reichen Erinnerungen weiter als bis etwa Ende der 1970er Jahre zurück. Im folgenden Kapitel sollen die Phasen der Migration aus der Türkei mit ih- ren Folgen für Musik und Musikleben skizziert werden sowie die Entwicklung 24 _____________________________________________ Zwischen Türkei und Deutschland eines transstaatlichen Musiklebens. Dabei sollen auch die vielgestaltig ver- schachtelten Identitätsdiskurse verdeutlicht werden, in den Migranten und ihre Nachkommen ihr Verhältnis zur Türkei und zu Deutschland wahrnehmen. 1 Reisen und Auswanderung Jahrhundertelang hatte im Osmanischen Reich an Reisen nach Europa wenig Interesse bestanden. Die intolerante Haltung christlicher Herrscher, die in allen eroberten Gebieten das Christentum mit Gewalt einführten, versprach für reisende Muslime keine allzu freundliche Aufnahme. Die ersten Türken, die ab dem 16. Jahrhundert zunächst vereinzelt nach Europa gelangten, waren Kriegsgefangene, sogenannte ›Beutetürken‹.1 Erst im 17. Jahrhundert begann das Osmanische Reich, politische Gesandt- schaften nach Europa zu schicken, seit dem 18. Jahrhundert entstanden in Städten wie Paris, London, Wien und Berlin feste osmanische Botschaften.2 Auch die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Deutschland – Europa überhaupt – und dem Osmanischen Reich wurden nun immer enger.3 Im 19. Jahrhundert kam eine wachsende militärische Zusammenarbeit hinzu, Ende des Jahrhunderts wurden im Zuge dieser Kooperation auch türkische Mi- litärs nach Deutschland geschickt.4 1 Bernhard Lewis (1983/1987): Die Welt der Ungläubigen, Frankfurt a.M.: Ullstein, S. 92. Zwischen 1683 und 1686 wurden beispielsweise über 800 türkische Kriegsgefangene aus Ungarn nach München verschleppt, die noch einige Jahrzehnte lang als Minderheit dort nachweisbar sind. 1699 vereinbarten das Kaiserreich und das Osmanische Reich einen Ge- fangenenaustausch. Ausländerinnenbeauftragte der Landeshauptstadt München, Hrsg., 1998: Türkei in München, S. 18ff; Hartmut Heller, 1996,: Beutetürken. Deportation und Assimilation im Zuge der Türkenkriege des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Gerhard Höpp, Hrsg.: Fremde Erfahrungen. Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und in der Schweiz bis 1945. Berlin: Das arabische Buch, S. 159-168. 2 Bernhard Lewis (1983/1987), S. 41ff. 1701 traf etwa der osmanische Gesandte Meklubsi Asmi Said Efendi mit 15 Begleitern in Berlin ein, 1763 Resmi el-Hadsch Ahmet Effendi mit bereits 70 Personen, die etwa ein Jahr blieben. Gültekin Emre (1983): 300 Jahre Türken an der Spree, Berlin: Ararat-Verlag; Gerhard Höpp (2001): Islam in Berlin und Branden- burg. Steinerne Erinnerungen. In: Gerhard Höpp, Norbert Mattes (Hrsg.): Berlin für Ori- entalisten. Ein Stadtführer, Berlin: Das arabische Buch, S. 7-23. 3 Bernhard Lewis (1961): The Emergence of Modern Turkey, London: Oxford University Press. 4 Ilber Ortaylı (1998): Osmanlı İmparatorluğu’nda Alman Nüfusu, Istanbul: Iletişim, S. 117. Zwischen Türkei und Deutschland _____________________________________________ 25 Vor allem Angehörige nicht-muslimischer Minderheiten bauten nun Kon- takte nach Europa aus,5 wohlhabende Armenier und Griechen der Großstädte begannen, ihre Kinder zum Studium nach Europa zu schicken. In der Zeit Abdülhamids II. (reg. 1876-1909) gingen bereits etwa ein- bis zweitausend Studenten aus dem Osmanischen Reich nach Westeuropa.6 Spätestens seit 1900 begannen deutsche Schellackplatten-Hersteller wie die ›Deutsche Grammophon Gesellschaft‹, ›International Talking Machine‹ (für ›Odeon‹), ›Beka‹, ›Odeon‹, ›Lindström‹ und ›Favorite‹ in Istanbul Schallplat- ten mit osmanisch-türkischer Musik aufzunehmen; 1910 waren bereits mehr als ein Dutzend deutscher Plattenfirmen dort aktiv.7 Noch um 1927/28 reisten ei- nige der bekanntesten türkischen Musiker ihrer Zeit, u.a. Münir Nurettin Selcuk, Safiye Ayla und Muhlis Sabahattin Bey mit dem Ensemble Darül- Talim Musiki Heyeti zu Plattenaufnahmen nach Deutschland.8 Auch am Auf- bau der Universität Istanbul waren zwischen 1915 und 1918 eine Reihe deut- scher Professoren beteiligt.9 Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebten alleine in Berlin etwa 1 300 Türken, Schüler und Lehrlinge, Soldaten zur Aus- bildung in der Armee, die ersten ›Gastarbeiter‹ in der Zigarettenindustrie, so- wie einige politisch Verfolgte. Parallel zu dieser wachsenden internationalen Verflechtung erlebte das Os- manische Reich im 19. Jahrhundert erstmals größere Auswanderungsbewegun- gen. Schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen verließen zwischen 1820 und 5 1860 wurde in Paris zur Unterstützung orientalischer Juden die Hilfsorganisation ›Alliance Israélite Universelle‹ gegründet. Lewis (1961), S. 146. 6 Klaus Kreiser: Türkische Studenten in Europa, in: Gerhard Höpp (Hrsg.) (1996): Fremde Erfahrungen. Asiaten und Afrikaner in Deutschland, Österreich und in der Schweiz bis 1945, Berlin: Das arabische Buch, S. 388. 7 Pekka Gronow (1981): The Record Industry comes to the Orient, in: Ethnomusicology, S. 251-284; Robert Anhegger / Cemal Ünlü (1991): Sözlü Ta Plaklar, in: Tarih ve Toplum, Nr. 85, S. 9-21; Nr. 86, S. 88-89; Nr. 87, S. 163-171; Nr. 94; Greve (1995), S. 144ff; Hugo Strötbaum (1992): Seventy-Eight Revolutions per Minute in the Levant. Discography of Favorite’s Oriental Recordings, in: De Turcis Aliisque Rebus Comentarii Henry Hofman dedicati, Utrecht Turcological Series 1, Utrecht: Institut voor Oosterse Talen en Culturen, S. 149-189. 8 Robert Anhegger, Cemal Ünlü (1991), S.164; CD Yurttan Sesler. Yeni Türkiye'nin Ezgileri (Yapı Kredi Kültür Sanat Yayıncılık, 1998), Booklet 1, S. 7. 9 Horst Widmann (1973): Exil und Bildungshilfe. Die deutschsprachigen Emigranten in der Türkei, Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 35ff, S. 186ff. 26 _____________________________________________ Zwischen Türkei und Deutschland 1920 das Osmanische Reich in Richtung Amerika, vor allem in die USA – dar- unter allerdings nur etwa 50 000 Türken.10 Ende der 1880er Jahre begann, ausgelöst durch Verfolgungen, ein Exodus von insgesamt etwa 50 000 Armeniern in die USA. In der Zeit der Umsiedlungen und Pogrome 1915/16 flüchteten zahlreiche weitere Armenier in alle Nachbarländer, darunter alleine etwa 250 000 nach Russland; Anfang der 1920er Jahre gingen erneut etwa 30 000 Armenier in die USA.11 Ein bekanntes Beispiel für osmanisch-armenische Migranten in den USA ist die Familie Zilciyan, eine in Istanbul bereits seit dem 15. Jahrhundert als Hersteller von Zimbeln und Becken bekannte Familie. Zur Förderung des Exports war mit Kerope Zilciyan ein erstes Familienmitglied nach England, Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien gereist und hatte im Jahr 1867 Zilciyan-Becken unter anderem auf der Pariser Weltausstellung präsentiert. Sein Neffe Avedis (1889-1979) wanderte ganz in die USA aus und baute in North Queens, Massachusetts die damals erste amerikanische Beckenfabrik ›A. Zildjian Co.‹ auf. Sein Sohn Robert Zildjian migrierte später weiter nach Ka- nada, wo er eine weitere Beckenfabrik namens ›Sabian‹ gründete.12 Seit 1893 wurden in Chicago und New York türkisch-armenische Schel- lackplatten produziert, daneben hatten sich verschiedene Musikgeschäfte eta- bliert.13 In den 1920er Jahren bestand in den USA mit ›Parsekian‹ ein eigenes armenisches Plattenlabel, in den 1940er Jahren erschienen vor allem in New York bei ›Kalaphon‹, ›Balkan‹ und ›Metropolitan‹ weitere armenisch-türkische Musikaufnahmen. Dort war in dieser Zeit eine eigene Clubszene mit osma- nisch-armenischer und griechischer Livemusik entstanden.14 Der bedeutendste armenische Musiker New Yorks war der ud-Spieler Marko Melkon, geboren 10 Kemal H. Karpat (1995): The Turks in America, in: Stéphane de Tapia (Hrsg.)(1995): Turcs d'Europe et d'Ailleurs. Paris: Institut National des Langues et Civilisations Orienta- les, S. 231-252, S. 233. 11 Aaron Segal (1993):