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Marcus Terentius Varro – De Lingua Latina Liber Decimus Übersetzung und Kurzkommentar

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von Fabian WEGER

am Institut für Klassische Philologie (Latein)

Begutachterin: Ao.Univ.-Prof. Mag. Dr.phil. Claudia ENGLHOFER

Graz, 2019 Quod me patientissimi adiuverunt gratias ago :

Magistrae semper benevolenti et diligenti:

Claudia Englhofer

Matri

Patri

Magdalenae

Amicis

maxime curantibus

2 Inhaltsverzeichnis

I) Zielsetzung der Arbeit 5

II) Vorbemerkungen 5

III) Probleme der Interpretation-Methodische Überlegungen 6

IV) Vita Brevis 8

V) De Lingua Latina

1) Allgemeines 9

2) Quellen und Abhängigkeiten 10

3) Die Etymologie 11

4) Die “Analogiebücher“ VIII, IX, X

a) Allgemeines 14

b) Historischer Exkurs

bα) Abriss der Entwicklung der Wortarte 14 - und Flexionslehre

bβ) Analogie und Sprachreinheit 15

bγ) Der Begriff der Anomalie - der Analogiestreit 19

b) Buch VIII 20

c)Buch IX 22

3 d)Buch X 24

5) Der Systematische Ansatz 24

6) Sprache und Stil 27

VI) Lateinischer Text: De Lingua Latina Liber X 28 mit deutscher Übersetzung

VII) Kurzkommentar 73

VIII) Conclusio 94

IX) Literaturverzeichnis 95

4 I) Zielsetzung der Arbeit

Für diese Arbeit hat es sich der Verfasser zum Ziel gesetzt, einerseits eine treffende Übersetzung der behandelten Stelle, Varros zehnten Buches aus de lingua latina (kurz LL), zu liefern und andererseits die Möglichkeit einer solchen Auslegung kulturhistorisch plausibel zu untermauern. Hierfür wird ergänzend zur Übersetzung eine Einleitung, die auch dem Laien verständlich sein soll und sich großteils aus dem Studium entsprechender Sekundärliteratur nährt, in der Arbeit enthalten sein. Der darauf folgende Kommentar setzt die Einleitung inhaltlich voraus und unterzieht das zehnte Buch einer bisher noch nicht durchgeführten argumentationstheoretischen Prüfung. Dies alles soll im kleineren Rahmen so geschehen, dass dem Leser ein Einblick in die Textsituation (mit ihren wesentlichen Belangen) und somit auch in die Forschungsdebatte gewährt wird, die sich schon seit geraumer Zeit um de lingua latina rankt. Als Abschluss der Arbeit soll eine conclusio die Einschätzung der erreichten Forschungsergebnisse leisten, welche unter anderem die Zurückweisung einer Perspektive der modernen Forschung und der damit verbundenen Erkenntnisse darstellen.

II) Vorbemerkungen

Da es sich hierbei um eine Diplomarbeit handelt, entfällt der Apparat. Der benutzte Text baut, wie alle Editionen von LL X, auf einem codex, genannt “F“, der in Florenz in der Bibliotheca Medicea-Laurentiana gehütet wird, auf. Die neueste Edition wurde von Taylor1 herausgegeben und ausführlich textkritisch recherchiert. Auf diese stützt sich der hier verwendete Text in nahezu identischer Weise. Wo in den allerseltensten Fällen davon abgewichen wird, ziehe ich Kent und Traglia heran2. Was die Sekundärliteratur betrifft, geben die Titel im Quellenverzeichnis eine Auswahl aus dem Bereich der aktuellen Forschung wieder, zumal nur wenige Veröffentlichungen ein für diese Arbeit zu berücksichtigendes Thema behandeln. Die letzte umfassendere historische Untersuchung, von Fehling, liegt 55 Jahre zurück und fußt im Wesentlichen auf den Studien Dahlmanns sowie der umfangreichen Arbeit Barwicks, die heute umso interessanter wirkt, als es an intertextueller Arbeit an Varro fehlt. Die letzten 30 Jahre haben eine Verschiebung der Forschungsperspektive erfahren, sodass Varro mehr textimmanent beleuchtet wurde.

1 Siehe Fußnote 6 2 Für weitere textbezogene Information wende man sich an Taylor, 1996,30-56; Traglia,1956, 54-63; Kent 1958,II, vii-lii

5 III) Probleme der Interpretation-Methodische Überlegungen

Bevor näher auf die Gliederung und den Inhalt von LL VIII-X eingegangen wird, gilt es noch einige Überlegungen anzustellen, die dem Leser im Folgenden ein Orientierungsbehelf sein sollen. Dass dies vor Ausbildung eines konkreten Interpretationsansatzes geschehen soll, erklärt die Notwendigkeit methodischer Vorarbeit oder Begriffsklärung, da man sonst die wissenschaftliche Beurteilung in keinem vorgegebenen Rahmen sieht und sich Trugschlüsse schwerer vermeiden lassen. In Konfrontation mit dem konkreten Text stellen sich zahlreiche Fragen, für deren Beantwortung man ein großes Assoziationsspektrum benötigt, das historisch geordnet abrufbar sein soll. Jedes singuläre Texterzeugnis ist geschichtlich verankert und kann nie kraft seines Verfassers allein entstehen. Die Darstellung ist gemäß empirisch- historischer Prinzipien wie Mimesis und sonstiger äußerlicher Beeinflussung, stark umweltabhängig, was scheinbar in der Wissenschaft stillschweigend als trivial vorausgesetzt wird. Der Einfluss, den die Griechen auf die Römer ausübten, hat sich in der klassischen Philologie in einem Paradigma niedergeschlagen, das auf den Großteil römischer Texte erkenntnisbringend angewandt wurde und noch immer wird (auch beim vorliegenden Text erfolgt die Einordnung in die Tradition unausweichlich). Dies ist solange gerechtfertigt, als es genügend verwertbare Quellen gibt, die solcherlei Schlüsse für jeden einzelnen Fall zulassen- aber nur unter Berücksichtigung der prinzipiellen erkenntnismäßigen Divergenzen zwischen Interpret und Autor.Die Forschungstendenzen hinsichtlich LL lassen sich im Groben auf zwei Richtungen festlegen: Erörterungen, die von Varro ausgehend, dessen Beeinflussung und inhaltliche Abhängigkeit vor allem durch griechisches Gedankengut zeigen wollen und solche, die dessen Eigenständigkeit hervorheben möchten. Natürlich hat jede Behandlung Varros selbständige Aspekte, doch hilft die getroffene Einteilung auch, prinzipielle ideologische Differenzen der Interpreten zu berücksichtigen. Beispiele für die solche Tendenzen sind die Arbeiten Fehlings3 und Taylors4. Erstgenannter geht über größtenteils rekonstruierte Quellen5 von einer Missdeutung der griechischen Vorlagen durch Varro aus. Diese Sichtweise beurteilt die Tradition als normative Vorgabe, der die Ergebnisse der tatsächlichen historischen Prozesse jedoch nicht verpflichtet sind. Außerdem unterstellte er ihm Verwechslungen, Mißverständnisse et cetera6. Andererseits könnte sich einem benevolens Ansatz entsprechend eine positive Deutung im Sinne der Eigenständigkeit des Verfassers etablieren, beispielsweise die der in sich geschlossenen Sinnhaftigkeit von Varros Ausführungen. Da Taylor (der die Wichtigkeit der Quellen nicht bestreitet) im Wesentlichen eine solche textimmanente Untersuchung betreibt, welche die Wahrscheinlichkeit von Varros Eigenständigkeit untermauern will, wird

3 Vgl. Fehling, 1955,113-122 4 Vgl. Taylor, 1974, v-xiii 5 Vgl. Fehling, 1955, 3-7; Barwick,1922, 3-111 6 Vgl. Fehling,1955, 8

6 diesem, thematisch den diachronen Diskurs ergänzenden Ansatz, prinzipiell auch sein Recht einzuräumen sein. Die beiden angeführten Standpunkte werden hier als repräsentativ angenommen. Vor allem aber bedarf die intertextuelle Betrachtung in Zukunft weiterer Unterstützung, da ihr Bereich potentiell mehr Information birgt. Nun haben wir es mit zwei oder mehreren Möglichkeiten zu tun und es stellt sich die Frage nach einem Entscheidungskriterium. Dass es sich bei den Thesen einmal um sicheres Wissen im strengen Sinn handeln kann, wird aus gut bekannten Überlegungen ausgeschlossen. Wahrscheinlichkeitskriterien sind genau genommen ebenfalls fehl am Platz, denn quantitativ-vorhersagbare Zusammenhänge werden hier nicht beurteilt. Wenn man Wahrscheinlichkeit in einem empirsch-psychologischen Sinn sieht, wird der Willkür des Interpreten und dessen Urteilsvermögen ein dominanter Platz zugestanden, was letztendlich in Auseinandersetzung mit den konkreten Texten die entscheidende Rolle spielt. Ich bin nichtsdestotrotz der Meinung, dass der historische Vergleich bei der Beurteilung Varros die unumgängliche Methode ist, denn Abhängigkeit wie Eigenständigkeit seiner Arbeit lassen sich nie aus dem Primärtext allein “nachweisen“. Nur anhand des Vergleichs zur Tradition, der über das Prinzip der Fremdbeeinflussung eines Autors gerechtfertigt wird, kann eine verhältnismäßig gesicherte Erkenntnis entstehen. Da nun aber die Quellenlage für LL größtenteils über spätere Autoren indirekt in mehreren rückwärts gewandten Arbeitsgängen bestimmt wurde, kommen die meisten relevanten Thesen auch nicht mit den für Geisteswissenschaften weniger stringenten Erkenntniskriterien zur Deckung.

Die Forschungsdebatte scheint aus diesen Gründen nicht endgültig entscheidbar und die Thesen werden in erster Linie als mehr oder weniger aus der Erfahrung plausible Ausprägungen des antiken kulturellen Überbaus gesehen.

Für die Interpretation ergibt sich daher eine vorsichtig exegetische Heran- gehensweise, denn trotz der Unklarheiten hinsichtlich Varros Intention, die es zu Beginn vorauszusetzen gilt, muss man das stark kontextbezogene Latein, das ein und dasselbe Wort für umgangssprachliche Wendungen und termini technici kennt, dem viel höheren Spezialisierungsgrad des modernen Deutsch anpassen.

7 IV) Vita brevis

Über Marcus Terentius Varros (Reatinus) Leben sind wir größtenteils durch Fremdzeugnisse von Autoren wie zum Beispiel Cicero, Caesar Plinius und Hieronymus unterrichtet7. Ergänzend finden sich vereinzelte autobiographische Daten in seinem Werk verstreut angeführt, ohne dass man dabei auf die erhaltene Biographie de vita sua zurückgreifen könnte. Er wurde 116 v. Chr. geboren und starb im Jahre 27 v. Chr. Seinen Familiensitz unterhielt er in Reate (r.r. II praef. 6), wovon sich sein zweiter Beiname Reatinus ableitet, während er in Rom seinen bürgerlichen Verpflichtungen nachging. Der Geburtsort dürfte ebenfalls einer der beiden sein (Rom nach Aug. civ.dei 4,1; Reate nach Symm. ep. I,2) . Wahrscheinlich dem Ritterstand zugehörig, schlug er die Ämterlaufbahn ein (Gell. noct. Att. XIII 12, 6) und brachte es zur Prätur (Appian bell. civ. IV, 47, 202). Während des Seeräuberkrieges war er als Günstling des Pompeius 67 v. Chr. Legat an Teilen der ionischen Küste, sowie ca. von 75-70 v. und 49 v. Chr in Spanien und gehörte gemeinsam mit jenem 59.v. Chr der 20-köpfigen Landverteilungskommission über die lex iulia agragria an (Varro r.r. I 2,10).Nach dem Bürgerkrieg in Spanien kam es zum Arrangement zwischen ihm und Cäsar, der ihn von da an protektierte (Suet.Iul.44,2). Im Jahr 47 v. Chr. wurde er von Cäsar mit der obersten Stelle im römischen Bibliothekswesen betraut (Suet. Caes. 44).Von Marc Anton wurde er nach Cäsars Tod auf die Proskriptionsliste gesetzt, entging aber der Exekution (Appian bell. civ. 4,202). Seine extensive schriftstellerische Tätigkeit wurde von einem großen Privat- vermögen, über dessen Existenz uns Plinius referiert (nat. 33,55), begünstigt. Von Gellius (III, 10, 17) erfahren wir, Varro selbst hätte behauptet, 70 Hebdomaden von Büchern bis zum vollendeten 77. Lebensjahr verfasst zu haben, wobei es zu beachten gilt, dass eine Hebdomade 7 Bücher umfasst und ein Buch in etwa einem heutigen Großkapitel gleichgesetzt werden kann. Ritschl legte die Zahl der Werke Varros ungefähr auf 74 fest, auf die sich 620 Bücher verteilten. Es wird die Existenz von mindestens zehn linguistischen Arbeiten Varros angenommen. Am häufigsten wird auf seine drei in verschiedenem Grad erhaltenen Werke de lingua latina, de re rustica sowie die Menippäischen Satiren zugegriffen. Eines seiner bedeutendsten Werke waren die enzyklopädisch aufgebauten antiquitates rerum humanarum et divinarum, ein Lexikon römischer Kulturgeschichte, das nur durch Fremdbelege bekannt ist. Über den Schriftsteller ist außerdem festzuhalten, dass er Schüler des römischen Grammatikers und Sprachforschers L. Aelius Stilo Praeconius (2.Jh.v. Chr., Varro LL VII 2) sowie des Sprachlehrers Antiochos von Askalon (ca.140-68 v. Chr.; Cic. ep. IX 8,1) war, den er wahrscheinlich in den 80ern des ersten Jhs. v. Chr in Athen hörte (Cic. Acad. Post. I 12). Beziehungen unterhielt er außerdem zu Cicero sowie dem Tragiker Accius (170-90 v. Chr.) und übte großen Einfluss auf spätere Schriftsteller aus. Varro hatte sich im Verlauf seines Schaffens den Ruf des römischen

7 Vgl. zu den nächsten drei Absätzen Cardauns, 2001, 9-13; Taylor, 1996, 1-4; Dahlmann, 1935, 1172-1180

8 Universalgelehrten schlechthin angeeignet, so finden wir bei Quintilian den Ausdruck „vir Romanorum eruditissimus“ (10, I, 95). Augustinus (354-430 n. Chr.), einer von Varros aufmerksameren Rezipienten schrieb “...doctrina tamen atque sententiis ita refertus est, ut in omni eruditione, quam nos saecularem, illi autem liberalem uocant, studiosum rerum tantum iste doceat, quantum studiosum uerborum Cicero delectat.“ “aber von Wissen und Weisheiten ist er so prall erfüllt, dass er in jeglicher Art von Bildung, die wir weltlich und jene liberal nennen, dem, der um Sachwissen eifert, so viel beibringt, wie Cicero denjenigen erfreut, der nach sprachlichem Wissen strebt“. Erwähnenswert ist zusätzlich die Tatsache, dass Varro die Echtheitsfrage in der Plautusüberlieferung, nach vorangehender Bearbeitung durch Aelius Stilo, löste und die Zahl der verlässlich authentischen Stücke auf 21 festlegte.

V) De Lingua Latina

1) Allgemeines

Das Werk de lingua latina bestand ursprünglich aus 25 Büchern, von denen lediglich 5-10 in beschädigtem Zustand überliefert sind8. Für den Veröffentlichungszeitpunkt wird das Jahr 43.v.Chr als terminus ante quem angenommen, da alle Bücher außer II- IV (an P. Settimius9) Cicero gewidmet sind, der in jenem Jahr ermordet wurde. Über den genauen Zeitraum der Entstehung hat man noch keine Klarheit erlangt. Was den Aufbau betrifft, so dürfte das erste Buch als Einleitung gedient haben, die Bücher 2-7 die Etymologie, 8-13 morphologische Veränderungen im Brennpunkt von Analogie und Anomalie und die Bücher 14 - 25 die lateinische Syntax behandelt haben 10. Über die Disposition im Allgemeinen sagt Varro zu Beginn des achten Buches (LL VIII,1,1-4): “Quom oratio natura tripertita esset, ut superioribus libris ostendi cuius prima pars, quemadmodum vocabula rebus essent imposita, secunda, quo pacto de his declinata in discrimina ierint, tertia, ut ea inter se ratione coniuncta sententiam efferant ...“. „Da die Sprache von Natur aus dreiteilig ist, handelt deren erster Bereich, wie ich in den vorangehenden Büchern zeigte, davon, wie Bezeichnungen den Dingen aufgeprägt wurden, der zweite, wie die von diesen Neuprägungen deklinierten Formen sich in die Fälle aufteilen , der dritte, wie diese untereinander im richtigen Maß verbunden einen Satz ergeben sollen...“ Klarerweise erfolgt die Dreiteilung erst durch Interpretation, so handelt nicht die Natur von dieser Dreiteilung, sondern deren Darstellung. Dennoch schimmert Varros Grundkonzept ausreichend deutlich durch. Die Bücher V-VII enthalten den Abschnitt über etymologische Praxis, die Bücher VIII-X die theoretische Partie des morphologischen Abschnitts, per analogem Umkehrschluss darf man annehmen, dass

8 Vgl. Taylor, 1996, 5-8 9 Vgl. Traglia,1956 ,15-16 10 Vgl. Dahlmann, 1964, 1

9 die verlorenen Bücher II-IV den allgemeinen Teil der Etymologie darstellten, so wie die Bücher XI-XIII den praktischen Teil der morphologischen Untersuchungen. Der restliche Teil von LL war der Behandlung der lateinischen Syntax eingeräumt. Die dialektische Methode11, die in de lingua latina zur Präsentation des Stoffes eingesetzt wird, hat möglicherweise akademische Einflüsse zugrunde liegen und wurde ebenfalls von Cicero beispielsweise in natura deorum und de finibus angewandt12.

2) Quellen und Abhängigkeiten

Die schriftliche Überlieferung für die griechische Flexionslehre ist spärlich13. Außer den Scholien des Dionysius Thrax (2.Jh.v.Chr.), der Polemik des Sextus Empiricus (2.Jh.n.Chr) adversus grammaticos, den Fragmenten der grammatici latini, unbekannten Fragmenten sowie einigen aus Herodians (180-250 n.Chr) Werk haben wir kaum Hinweise. Varro nimmt in LL zwar Bezug auf griechische Gewährsmänner, präsentiert seine Ausführungen aber teilweise in anderen Zusammenhängen. Im Vergleich zu den späteren grammatischen Werken im vierten und fünften Jahrhundert sind die begrifflichen Differenzen zu groß, als dass man LL als ausreichende Quelle dafür setzen dürfte. Man hat als Erklärung, um solche Unstimmigkeiten auszuräumen, die hier einer einheitlichen Tradition trotzen, die Konkurrenz mehrerer vertretener Sichtweisen angenommen, ohne dass eine bereits dominant gewesen wäre. Nun hat aber Barwick große Teile von Remmius Palaemons (1.Jh.n.Chr.) ars grammatica rekonstruiert und auf eine grammatische Tradition verwiesen, die auch auf römischem Boden bis ins zweite Jh. vor Christus gereicht haben soll. Palaemon habe großteils die Grammatik des Dionysius latinisiert und der römische Typ der ars grammatica gehe dabei auf eine griechische Vorlage zurück von der auch Dionysius Thrax abhängen soll. Ein weiterer Archetypus schließe an das stoische Werk τέχνη περὶ τὴς φωνῆς an. Auch Varro wurde mit de sermone latino / de grammatica in diese Tradition eingereiht. Fehling ist es seiner Dissertation14ein Anliegen, den Anfang von de sermone latino in Anlehnung an Barwicks Ergebnisse und entgegen der obigen These durch Quellenvergleich zu rekonstruieren und de lingua latina quasi als Ausreißer darzustellen, der aufgrund unkundigen, profilbedürftigen Eklektizismus' von Seiten Varros als Sonderfall der Tradition gegenüber zu betrachten ist. Für diese Rekonstruktion greift er auf zahlreiche lateinische Quellen zurück: Quintilian (1.Jh.n.Chr), sowie und das Compendium der grammatici latini mit den Autoren: Probus (1.Jh.n.Chr), Donatian, Pompeius Festus (2.Jh.n.Chr.), Charisius, Diomedes, Cledonius, Servius, Donatus (4.Jh.n.Chr.), Maximus Victorinus, Augustinus (4-5.Jh.n.Chr), Consentius (5.Jh.n.Chr.); Dazu gesellen sich Gellius

11 Vgl. Ax, 1995 12 Vgl. Dahlmann, 1935, 1174 13 Vgl. zu diesem Absatz Fehling, 1955, 3-10, 14-15; Barwick, 1967, 111-215 14 Vgl. Fehling, 1955, 3-9

10 (2.Jh.n.Chr), Martianus Capella (5.Jh.n.Chr), sowie die Isidor (7.Jh.n.Chr). Konkrete Abhängigkeiten sind für LL wegen der terminologischen Probleme schwer nachzuweisen, wo jedoch der Versuch einer Bestimmung für das Verständnis des zehntes Buches hilfreich ist, wird er im Kommentar erwähnt.

3) Die Etymologie

In den ersten drei Büchern der Etymologie (II-IV) arbeitet Varro eine dialektische Beziehung derselben aufeinander aus15: “...in primo volumine est quae dicantur cur ἐτυμολογικ ή neque ars sit neque ea utilis sit, in secundo quae sint, cur et ars ea sit, et utilis (VII 109). “Im ersten Buch werden die Gründe angeführt, warum die Etymologie nicht systematisch ist und auch nicht nützlich, im zweiten Buch die Erklärung, warum sie doch ordentlich und nützlich ist“. Das vierte Buch stellt die Synthese von II und III dar. Varro richtete seine Überlegungen nach dem begrifflichen Gegensatzpaar τέχνη (ars/ratio) – συνήθεια (consuetudo) aus. Wie wir später genauer besprechen werden, wurde der systematische Aspekt der Sprachlehre allgemein als ein Kriterium für Sprachreinheit gesehen, doch fasste Varro auch die Etymologie als ein jener dienliches Instrument auf, ähnlich wie die Gelehrten um Aristophanes (257-180 v. Chr.) es für das Griechische taten. Beim praeceptor Quintilian finden sich (1,6,28-28) die etymologische Praxis lobende Worte, jedoch teilt er die Methode der “willkürlich“- fiktiven Wortkonstruktionen, die als Zwischenstufen für Ableitungen manchmal benötigt werden, nicht und verneint damit die Möglichkeit einer methodisch “sauberen“ Wissenschaft. Varro sträubt sich vor solch spekulativer Handhabung jedenfalls nicht (V6, VI,2, VII,1). In Sextus Empiricus' adversus grammaticos wiederum (241) lässt sich, dessen programmatischem Ansatz entsprechend, die Anfechtung der τέχνη als in der Etymologie prävalenten Prinzips zeigen. Schon Platon (ca. 428-348 v. Chr.) handelte im Kratylos ein allgemeines sprachliches Problem, das des Verhältnisses zwischen Wort und Ding ab: er ließ seinen Kratylos Aufklärungsarbeit gegen die fälschlich angenommene Gleichsetzung von Sache und Bezeichnung unternehmen. Aristoteles (384-322 v.Chr.) setzt sich mit diesem Problem in περὶ ἑρμηνείας (16 a 3 ff.) auseinander und disponiert folgendermaßen: die Dinge - πράγματα νerursachen Abbilder - ὁμοιώματα als Eindrücke - παθήματα τῆς ψυχῆς. Die Dinge sind wie die Eindrücke natürlich gegeben, die Wörter nicht, weshalb sie als Etymologiegrundlage unzuverlässig seien. Unter den Stoikern herrschte reges Interesse an der etymologische Methode. Ihrer Auffassung von Weltordnung - ὀρθὸς λόγος - nach, war der Mensch mit seiner natürlich am Weltlogos teilhabenden Raisson - λογικὲ φύσις - in der Lage, sprachliche Probleme selbst mit seinen gegebenen Voraussetzungen zu meistern. Die ersten Laute der

15 Vgl. Dahlmann, 1964, 1

11 Menschen seien der Natur entsprechend geschehen, was in einer Art der Nachahmung gründet. Dementsprechend wurde diese natürliche “Erstbeziehung“ zum Angriffspunkt für die stoische Etymologie. Die Stoiker ihrerseits sollen von Heraklit (520-460 v.Chr.) beeinflusst worden sein. Insbesondere scheint der ebenfalls stoische Philosoph Chrysipp (ca. 281-208 v.Chr.) großen historischen Einfluss auf seine Nachfolger ausgeübt zu haben und auf dem Feld der Begriffsklärung der erste bekannte Akteur gewesen zu sein. Auch Aristophanes von Byzanz (257-180 v. Chr.), der bekannte Homerphilologe, und dessen technische Gefährten waren mit der etymologischen Arbeitsweise vertraut. Ebenso dürfte dies für Dionysius Thrax gelten. Varros Intentionen bezüglich der Auffindung des Wortursprungs scheinen weniger philosophisch als die Chrysipps geartet und nicht auf das Wesen der Dinge gerichtet gewesen zu sein; er verfolgte den nüchternen grammatischen Ansatz mit der Frage, “a qua re vocabulum sit impositum16“ (V,2). Ergänzend ist folgende Erklärung aufschlussreich : “Sie [die Etymologie] eruiert bei genuin lateinischen Wörtern das Etymon des betreffenden Wortes, sowie die sachliche Motiviertheit (cur) einer Benennung; bei Wörtern dagegen, die aus anderen Sprachen entlehnt sind, begnügt sie sich damit, das Wort der Ausgangssprache (a qua re) zu bestimmen“.17 Dahlmann betont den Unterschied zwischen Varros Herangehensweise und der stoischen, welche ihm aber wohl bei der Gliederung seiner Etymologie beistand18. Die stoische Lehre sieht Sprache und Interpreten als Ausbildung des Weltlogos, bei Varro spielt eine derartige metaphysische Grundannahme keine Rolle, und er rückt den impositor der Wörter durch den Verstandesakt der θέσις, der Setzung der explizit sprachlichen (implizit gedanklichen) Beziehung zum Objekt, in den Mittelpunkt. Jener schließt auch auf alexandrinische Vorlagen, da für diese Schule der Begriff θέ σις ὀνομάτων belegt ist und dieser Ansatz ebenfalls einem Teil der grammatischen Lehre Varros entspricht.

Varros Etymologische Praxis umfasste vier Stufen19. Von Interesse ist hierfür die Stelle LL, 5, 7/8:

“Nunc singulorum uerborum origines expediam, quorum quattuor explanandi gradus. Infimus quo populus etiam venit... Secundus quo grammatica escendit antiqua, quae ostendit, quemadmodum quodque poeta finxerit verbum...Tertius gradus, quo philosophia ascendens pervenit atque ea quae in consuetudine communi essent aperire coepit... Quartus, ubi est adytum et initia regis, quo si non perveniam ad scientiam, at opinionem aucupabor, quod etiam in salute nostra nonnumquam facit cum aegrotamus medicus.“ “Nun werde ich die Ursprünge der einzelnen Wörter darlegen, denen vier Ränge in der Worterklärung zustehen. Der unterste ist derjenige, wohin auch das Volk

16 Vgl. Dahlmann,1964, 10 17 Pfaffel, 1981, 8; für technische Details über die Etymologie Varros sei dieses Werk zur Lektüre empfohlen 18 Vgl. Dahlmann, 1935 ,1206-1208 19 Vgl. Pfaffel, 1981, 7-35

12 gelangt....Der zweite der, zu welchem schon die alte Sprachlehre emporstieg, welche aufzeigte, wie sich der Dichter welches Wort ausgedacht hat...Der dritte, wohin die Philosophie aufstrebend gelangte und das zu eröffnen begann, was mit dem gemeinschaftlichen Sprachgebrauch zusammenhängt...Der vierte Rang, wo Ende und Anfang des königlichen (bzw. sakralen) Einflusses liegen; wenn ich dorthin mit meinem Wissen nicht gelangen sollte, werde ich trotzdem auf eine Mutmaßung pochen, was der Arzt auch manchmal bei unserem Gesundheitszustand macht macht, wenn wir erkranken.“

Die unterste Stufe bezieht sich auf simpel durchzuführende Worterklärungen, wie sie auch vom Volk gemacht werden. Der zweite Rang umfasst die Tätigkeit der methodisch fundierten Dichtererklärung. Aelius Stilo und eben Aristophanes v. Byzanz waren auf diesem Gebiet beschäftigt. Der dritte Grad schließt sprachphilosophische Erörterungen (über den Sprachgebrauch definiert), wie die hellenistische Sprachtheorie, ein. Als Vertreter wird der Stoiker Kleanthes (wahrscheinlich stellvertretend für die ganze Schule20) genannt. Der Sinn der Beschreibung des vierten Ranges ist weniger klar, aber man vermutet, dass es sich dabei um die Erforschung der ursprünglichen Sprachstiftung durch die Könige und Priester21 handelt. Über die Disposition des praktischen Teils sagt Varro in LL, 5, 1: In hoc libro (V) dicam de vocabulis locorum et quae in his sunt, in secundo (VI) de temporum et quae in his fiunt, in tertio de utraque re a poetis comprehensa. “ “In diesem Buch werde ich über Bezeichnungen von Orten und allem räumlich Verankerten sprechen, im zweiten über Bestimmungen von Zeit und Geschehnissen, im dritten über die Integration beider Aspekte durch die Dichter“. Diese Gliederung kann keinesfalls als alleiniges Kriterium für innere Zusammenhänge der Wortformen gelten, denn Bezeichnung und Bezeichnetes bestehen für einander nur im Denken, welches im Setzen der sprachlichen Bezeichnung “willkürlich“ arbeitet. Querverbindungen zwischen Wortformen werden jedoch oft von semantischer Verwandtschaft begleitet. Was die etymologische Technik Varros anbelangt, so stellte er zwar den lateinischen Wörtern die griechischen Entsprechungen gegenüber, verglich diese jedoch auf keine Verwandtschaft hin, sondern nahm die onomatopoetisch jeweils selbstständige Entwicklung der verglichenen Wörter an. Einige seiner Wortpaarungen: sus – ὗς, bos – βοῦς, ovis – ὄις; Zur Veranschaulichung der nominalen Erstbeziehung sei noch die wahrscheinlich korrekte lautmalerische Genese, die Varro für folgende Wörter als Erklärung anbietet, am Rande erwähnt: upupa (Wiedehopf), cuculus (Kuckuck), ulula (Eule).

20 Vgl. Dahlmann, 1964, 12, Fußnote 1 21 Vgl. Kent, 1958,I, 9

13 4) Die “Analogiebücher“ VIII, IX, X

a) Allgemeines

Die sogenannten Analogiebücher, also der theoretische Teil der Abhandlung über die Formenlehre, ist wie der allgemeine Bereich über die Etymologie ein dialektisches Tripel: These, Antithese und Synthese werden nacheinander vorgetragen. Der inhaltliche Nexus der Bücher untereinander ist gegeben, wenn auch nicht alle einzelnen Argumente aus Buch VIII in IX konfrontiert werden22, sodass man die obige Einteilung treffen darf. Das zehnte Buch stellt die Synthese der beiden Vorgänger dar.

b) Historischer Exkurs

b α )Abriss der Entwicklung der Wortarten- und Flexionslehre

Die Beschäftigung mit sprachlichen Problemen ist tief in der intellektuellen griechisch-römischen Tradition verwurzelt und entbehrt nicht, wie viele spätere “technische“ Errungenschaften jenes Zeitraumes (ca 400 v. - 400 n.Chr.), einer philosophischen Grundlage. Bereits Platon teilte die Sprache in nominale Bestandteile - ὀνόματα und verbale – ῥήματα. Die Bestimmungen “Subjekt“ und “Prädikat“ hatten zu jener Zeit noch keinen Ausdruck. Nach dem Engagement des Aristoteles auf diesem Gebiet wurden jene beiden Begriffe als Redeteile - μερὴ λό γου - oder partes orationis aufgefasst. Dieser ergänzte den jungen terminologischen Bestand um die Begriffe σύνδεσμος - “Verbindungswort“ (Präpositionen und Konjunktionen) und ἀρθρὸν - “Artikel“ (Artikel und Pronomen), welche aber aufgrund ihrer Klassifikation als unselbstständig noch nicht den Status der Wortart erlangten23. Die Fundamente der Flexionslehre wurden ebenfalls von Platons bekanntestem Schüler gelegt, indem dieser die Fälle des Substantivs benannte und es nach Geschlecht und Endung betrachtete. Auf dem Gebiet der Wortarten konnte die ältere Philosophenschule der Stoa (ca. 333- 136 v. Chr.) weitere Errungenschaften vorweisen, da ihre Gelehrten (speziell Kleanthes: 332-232 v.Chr, und Chrysipp) zwischen Eigennamen, Begriffswörtern und Adverbien differenzierten und dem gemäß folgende Einteilung trafen: προσηγορία-appelλativum, ὄνομα- Eigenname, ἄρθρὸν-Artikel und Pronomen, ῥῆμα-Verb, σύνδεσμος-Konjunktion. Eine Veränderung der Perspektive auf die Wortbeugungen vollzog sich durch die Arbeiten des Aristophanes von Byzanz, dem Begründer der Alexandrinischen Schule und dessen Schüler Aristarch von Samothrake (ca.216-144v.Chr.). Ersterer dürfte als

22 Vgl Dahlmann, 1964, 77 23 Vgl. ebenda, 71; vgl. dazu Ax, 1990, 6-18

14 Begründer der systematischen Lehre von der κλίσις oder ἀναλογία (Beugung)24 gelten. Nach ergänzender Arbeit durch Aristarch ist dessen Schülergeneration die Fixierung der Doktrin zuzuschreiben. Dionysius Thrax (2.v.Chr) verfügte wahrscheinlich bereits über eine “fertige“ Version davon. Die Festlegung der Redeteile auf acht dürfte ebenfalls unter Aristarch passiert sein. Zusätzlich zu den bereits geläufigen Termini wurden die Begriffe ἐπίρρημα (Adverb), μετοχὴ (Partizip), ἀντωνυμίαι (Präpositionen) eingebracht.

b β )Analogie und Sprachreinheit

Der zentrale Begriff der Analogie25 (analogia, ἀ ναλογ ί α) und die dazu antithetisch präsentierte Anomalie (anomalie, ἀ νομαλ ί α), eines von mehreren anzutreffenden Gegensatzpaaren in LL, sind Anlass einer langwierigen Diskussion geworden, in der die Frage nach der Historizität hinter der literarischen Debatte thematisiert wurde. Ursprünglich als gegeben angenommen, wird die Realität des Streits außerhalb von Varros Darstellungen heute stark bezweifelt26. Hinter den beiden Konzepten stehen Ordnungsaspekte, die sich in der theoretischen Beschäftigung (nicht nur) mit der Sprache ergeben und bei Varro, zu argumentativ totalitären Standpunkten verhärtet, einander gegenübergestellt werden. Analogie ist in Varros LL ein terminus technicus für eine zweistellige Relation die zwei weitere zweistellige Relationen einschließt [(a zu b) wie (c zu d)] und auch in diesem Sinne linguistische Verwendung findet. Allgemein sind in ihr Ordnungsversuche zur Beherrschung des sprachlichen Materials ausgedrückt. Im Griechischen wurde die Analogie als Kriterium für Lesung, Orthographie sowie der Flexion als regelmäßiger Formenreihe verwendet und nach ihrem Ergebnis bestimmt: z.B. Soll die Analogie die vielfältigen Lautäußerungen der Sprache in kurzer Form handhabbar und vorhersagbar machen. Als Beispiel einer Erklärung im Sinne von Analogie als der Flexionsgrundlage: “... ἀναλογία ἐστὶν συμπλοκὴ λόγων ἀκολούθων ἐν κλίσεσι μερῶν λέξεως, id est conexus orationum consequentium in declinationibus partium orationibus (Donatiani fragmentum 275, 16).27“ “Analogie ist die Verflechtung aufeinander bezogener Wörter in den Beugungen der Redeteile.“ Im Lateinischen gilt für alle (besonders die spätantiken) Definitionen der Analogie Varros verlorenes, aber inhaltlich teilweise rekonstruiertes Werk de sermone latino28 als Bezugspunkt, denn allein von de lingua latina aus lässt sich die Brücke zur

24 Vgl. ebenda, 1964, 56 25 Vgl. zu diesem Absatz auch Baier, 2001,7-19; Robins, 1996 26 Vgl. Taylor, 1996, 9; Vgl. Fußnote 2 27 Vgl. Fehling, 1955, 28 28 Vgl. Dahlmann, 1935 , 1215

15 Tradition nicht schlagen. Folgende lateinische Bestimmung der Analogie ist für die Tradition repräsentativ: Latini analogiam sic definierunt: analogia est similium similis declinatio. vocatur autem Latine similium comparatio vel proportio. eius haec vis est, ut, quod dubium est, ad aliquid simile, quod non est dubium, referatur, et incerta certis probentur (Pomp. 197, 24)29 “Die Lateiner bestimmten Analogie folgendermaßen: Analogie ist die ähnliche Beugung ähnlicher Wörter. Sie heißt lateinisch ebenfalls “Vergleich“ oder “Verhältnis ähnlicher Wörtern“. Ihre Macht ist es, dass, was zweifelhaft ist, auf etwas Ähnliches, das klar ist, bezogen wird und so Ungewisses durch Sicheres belegt wird.“

Im Griechischen sollten Zugehörigkeiten verschiedener Formen zueinander durch analoges Flexionsverhalten klassifiziert und Unterscheidungen zwischen verschiedenen Wortgruppen durch distinktive Flexionsmerkmale getroffen werden30. Als Impuls für das Ordnungsbestreben wird die normative Kraft des Hellenismus gesehen31. Als Definition des Ἑλληνισμός32 (Schol.D.Thr. 446,6 ff) gilt dialektabhängig, die syntaktisch und lexikalisch korrekte Sprache mit dem Ziel der Vermeidung von Barbarismen (lexikalische Fehler) und Solözismen (Syntaxfehler)33. Ähnliche Absichten liegen dem wahrscheinlich aus dem griechischen Sprachraum eingebürgerten Begriff der latinitas34 zugrunde, welche Quintilian als “orationis non lex, sed observatio“ wohl auch im Sinne von Sprachpflege meint (vgl. Unten, Quin., 1,6,16). Kriterien des reinen Griechisch waren (vgl. oben Dionysius Thrax) ἀναλογία und χρῆσις, der Sprachgebrauch. Fehling erschließt weitere vier, über Varro rekonstruierte, für das Lateinische ebenfalls geltende, Determinanten, nämlich ἐτυμολογία (etymologia), διάλεκτος (keine lateinische Entsprechung), ἱστορία (auctoritas) und συνήθεια (consuetudo). Der Begriff der ἱστορία umfasst den tradierten Sprachgebrauch, während für Varros auctoritas, welche als willkürlicher Einfluss den analogistischen Bereich einschränkte, die nicht ganz kongruenten Definitionen „secundum veterum lectionem“ (Diom, GL I, 439, 28) und „opinione oratorum“ (Char. GL I 50, 16-51)gegeben werden, 35. Was die συνήθεια anbelangt, so fungiert die Stelle Schol.D.Thr. 309, 6-36 als definitorisch im Sinne von “Spracheigenheit eines Autors“, wohingegen das lateinische Korrelat als gegenwärtiger Sprachumgang - consuetudo praesens (vgl. oben Charisius) festgelegt wird. Als für die eben angeführten, in Rom sesshaft gewordenen Begriffe aussagekräftige Stelle darf Quint. 1, 6 gelten36:

29 .Fehling, 1955, 29 30 Vgl. ebenda, 32 31 Vgl. Dahlmann,1932, 71 32 Vgl. Barwick, 1967, 256-260 33 Vgl. Fehling, 1955, 47-48; Barwick, 1967, 257-258 34 Vgl. auch Barwick, 1967, 54-56 35 Vgl. ebenda, 17 36 Vgl. hierzu Grebe, 2001

16 I. Est etiam sua loquentibus observatio, sua scribentibus. Sermo constat ratione vetustate auctoritate consuetudine. Rationem praestat praecipue analogia, nonnumquam etymologia. Vetera maiestas quaedam et, ut sic dixerim, religio commendat. II. Auctoritas ab oratoribus vel historicis peti solet (nam poetas metri necessitas excusat, nisi si quando nihil impediente in utroque modulatione pedum alterum malunt, qualia sunt "imo de stirpe recisum" et "aeriae quo congessere palumbes" et "silice in nuda" et similia): cum summorum in eloquentia virorum iudicium pro ratione, et vel error honestus est magnos duces sequentibus. III. Consuetudo vero certissima loquendi magistra, utendumque plane sermone, ut nummo, cui publica forma est. Omnia tamen haec exigunt acre iudicium, analogia praecipue: IV. quam proxime ex Graeco transferentes in Latinum proportionem vocaverunt. Eius haec vis est, ut id quod dubium est ad aliquid simile de quo non quaeritur referat, et incerta certis probet. Quod efficitur duplici via: comparatione similium in extremis maxime syllabis, propter quod ea quae sunt e singulis negantur debere rationem, et deminutione. V. Comparatio in nominibus aut genus deprendit aut declinationem: genus, ut, si quaeratur "funis" masculinum sit an femininum, simile illi sit "panis": declinationem, ut, si veniat in dubium "hac domu" dicendum sit an "hac domo", et "domuum" an "domorum", similia sint "domus" "anus" "manus". VI. Deminutio genus modo detegit, ut, ne ab eodem exemplo recedam, "funem" masculinum esse "funiculus" ostendit. “I. Menschen, die sprechen, haben (dabei) ihr spezielles Augenmerk, wie auch die Schriftsteller: die Sprache besteht aus Verhältnismäßigkeit, Tradition, Eigenständigkeit und der Gewohnheit (der Sprecher). Verhältnismäßigkeit leistet im Besonderen die Analogie, manchmal die Etymologie. Die erhabene Tradition empfiehlt Dinge, um es so auszudrücken, als religiöse Doktrin. II. Eigenständigkeit pflegt von Rednern oder auch Historikern erstrebt zu werden (denn die Dichter entschuldigt der Zwang des Metrums, außer wenn sie fallweise ohne hindernden Grund aus zwei (möglichen) Versbauweisen die unübliche bevorzugen, wie "imo de stirpe recisum“ (Stellung der Präposition + dicht. Maskulinum “stirps“) , "aeriae quo congessere palumbes" “wohin die luftigen Tauben sich begaben“ "silice in nuda"“auf dem nackte Stein“ und Ähnliches: wo, dadurch, dass ein Urteil nach Maßgabe der besten Redekünstler erfolgt, auch ein Fehler für die, welche den großen Vorreitern nachfolgen, ehrenhaft ist. III. Die Sprachgewohnheit jedenfalls ist die gründlichste Lehrmeisterin des Sprechens und man muss sich einer klaren Sprache bedienen, wie einer Münze, die staatliche Prägung hat. All diese Phänomene verlangen nach scharfem Urteilssinn, besonders die Analogie. IV. Diese brachten sie aus dem benachbarten griechischen Sprachraum in den lateinischen und nannten sie Verhältnis. Ihre Macht besteht darin, dass sie etwas Unklares auf etwas, worüber nichts in Frage steht, bezieht und Ungewisses durch Fakten belegt. Das wird auf zwei Arten erreicht: durch Vergleichen ähnlicher Wörter besonders in den Endsilben, außer dass jene, die nur aus je einer Silbe bestehen nicht als analogiefähig gelten, und durch Deminuition. IVDie Gegenüberstellung der Substantiva betrifft das Geschlecht oder

17 den Flexionsverlauf: das Geschlecht, damit, wenn gefragt wird, ob funis “das Tau“ männlich oder weiblich ist, das (männliche) Wort panis “ das Brot“ jenem ähnlich ist; das Geschlecht, damit, wenn es in Zweifel gerät, ob Ablativ hac domu oder hac domo und Genitiv plural domuum oder domorum gesagt werden muss, die Nominative domus, anus “alte Frau“ und manus “Hand“ dazu ähnlich sind. VI. Die deminutio oder Verkleinerung deckt nur das Geschlecht ab, damit, um nicht vom gegebenen (ersten) Beispiel abzuweichen, die Verkleinerungsform funiculus “kurzes Tau“ anzeigt, dass funis maskulin ist.“

Griechisch wurden analogistische Bemühungen τέχνη περὶ Ἑλληνισμόν genannt37, auf Latein de sermone latino oder de latinitate. Was die Arbeitsweise betrifft, so ergab sich nach der Differenzierung gruppenweise ähnlicher Wörter, welchem Kanon-κανών (Deklination/Konjugation) ein jedes zugehörig war. Bedingungen der Analogie (gleiches Geschlecht, Endung, lautliche Aspekte etc.) wurden aus der konkreten Beschäftigung mit verschiedensten Wörtern abstrahiert. Von großer praktischer Bedeutung für die Wortbestimmung waren die Flexionsregeln (Beispiel einer technischen Fragestellung: Warum deklinieren Wörter x y mit gleichem Nominativ verschieden im Genitiv? Antwort: Wegen eines bestimmten Konsonanten vor der Endung. Dieser wird unterscheidendes Merkmal für eine nominale Unterklasse und folglich erhält man eine Flexionsregel), die ihrerseits als konkrete Ordnungshilfen fungierten, während die Bedingungen noch eine Stufe allgemeiner zu sehen sind (Regeln werden im Rahmen der Bedingungen aufgestellt). Fehling schreibt (nach Donatian, fr. 275, 16) von fünf Bedingungen des Aristophanes, sechs Bedingungen des Aristarch (5 des Aristophanes +1 eigene ) und acht des Cäsar. Die fünf Bedingungen des Aristophanes waren: genus, casus, exitus, numerus syllabarum und sonus (Akzent). Aristarch fügte die Unterscheidung figura, das heißt, nach Simplicium und Kompositum hinzu. Später wurde die Beschaffenheit der vorletzten Silbe als Kriterium festgesetzt sowie der Unterschied von Eigenname und Begriffswort, genannt qualitas. Für den Vergleich wurde bei den Substantiven der Nominativ (außer als Aristarch ausnahmsweise den Vokativ als Basis angab) als Grundlage herangezogen. Wenn Wörter mit gleichem Nominativ verschieden beugten, bedurfte es eines Kriteriums außerhalb des Nominativs, damit durch verschiedene Flexionsregeln je separat Analogie herrschen konnte. Für die Unterscheidungen beim Verb benötigte man lediglich den Stammauslaut und den Akzent.

Hier noch eine interessante Bemerkung über die Bedingungen des Cäsar (Pomp. 197, 24)38: secundum Caesarem comparatio fit octo modis: ut sint sex illae partes quae accidunt nomini similies. Sex autem quae accidunt nomini ista; qualitas comparatio genus - in

37 Vgl. für diesen Absatz Fehling, 1955,12, 32-35, 37 38 Vgl. ebenda, 1955, 29

18 quo etiam mobilitas servanda - numerus figura casus: ecce sex partes: accedunt duo potestates syllabarum: exitus syllabarum ut sit similis; puta illud in us exit et illud in us: paenultimarum ratio ut sit similis, ut aut vocales sint aut consonantes: deinde ut tempora sint similia; si illa brevis est, et illa brevis sit;

“Gemäß der Einschätzung Caesars geschieht der Formenvergleich auf acht Weisen: zunächst, damit jene sechs Teile, die dem Substantiv zuteil werden (an den Wörtern) ähnlich sind; Die sechs Nominalakzidentien sind folgende: qualitas, comparatio, genus - worin auch die mobilitas (Eignung eines Substantivs für einen vollständigen Beugungsverlauf) bewahrt werden muss - sowie numerus, figura und casus. Zu den sechs Teilen kommen zwei Silbenkriterien hinzu: eines damit es ähnliche Endungen gibt; stell dir nun vor, dass das eine Wort wie das andere mit der Silbe -us endet: dafür gibt es das Kriterium der vorletzten Silbe, damit das Verhältnis der vorletzten Silbe ähnlich ist und es sich dabei entweder um Vokale oder Konsonanten handelt; schließlich, damit die Quantitäten ähnlich sind, dass, wenn eine Silbe kurz ist, es auch die andere ist (“tempora“ fällt unter “paenultima“, so kann die Achtzahl gelten).“

b γ ) Der Begriff der Anomalie - der Analogiestreit

Der dem aktuellen Wissensstand gemäß ursprüngliche Begriff der Anomalie wurde vor der Formulierung der Analogie von dem Stoiker Chrysipp in seinem Werk περὶ τῆς κατὰ τὰς λέξεις ἀνομαλίας (4 Bücher) verwendet39. Er machte sich darin sprachphilosophische Gedanken über das Verhältnis zwischen Bezeichnung und bezeichnetem Ding, beispielsweise, warum ein einfacher Gegenstand (des Denkens) mit einem Pluralwort gekoppelt wird. Als der Analogie entgegengesetzt wurde “Anomalie“ von Krates v. Mallos (2. Jh. v. Chr.) gebraucht. Jener soll in Hinblick auf Aristarchs Beschäftigungen mit der Sprache als eines Analogisten die Macht des Sprachgebrauchs betont haben40. In diesem “Austausch“ scheint der sogenannte Analogiestreit seinen Anfang genommen zu haben, zumindest war dies eine Zeit lang die geläufige Meinung unter den Gelehrten. Angeblich hätten die Anomalisten sich gegen die Durchsetzungskraft der Analogie auf dem Gebiet der Spracherklärung und - erforschung behaupten wollen und die Unregelmäßigkeiten in der Flexion hervorgehoben. Das hätte zu längeren Disputen unter den Grammatikern geführt. Nun wird aber angenommen, dass die Unregelmäßigkeit ebenfalls auf dem Gebiet der Etymologie vorherrschen musste und es drängt sich die Frage, besonders weil die theoretischen Bücher der Etymologie verloren sind und nicht exzerpiert wurden, nach einem Etymologiestreit auf. Varro ist die einzig bekannte unabhängige

39 Vgl. zu diesem Absatz Dahlmann, 1964, 52-55; Blank, 2005 40 Vgl. Fehling, 1955, 62-68

19 Quelle, von der man unter Umständen auf einen realen Streit schließen dürfte. Bei Dionysius Thrax, dessen Schaffen mitten in die Periode des angeblichen Streits fällt, ist nichts Diesbezügliches belegt. Sueton und Quintilian lassen hierfür interessante Information gänzlich vermissen. Auch in den Homerscholien findet sich keine Spur davon. Wenn man nun festhält, dass die für Krates bezeugte Verwendung des Begriffs der Anomalie nur bei Varro und von ihm abhängigen Quellen notiert ist und Verweise auf unbekannte Sprecher wie “dicunt“ oder “putant“ keine Beweiskraft haben, darf man, wenn man keinen ähnlichen Konflikt in der Etymologie vorausetzt, die Existenz des Streits als nicht ausreichend belegt erachten. In Sextus Empiricus' adversus grammaticos, das die fertige Flexionslehre voraussetzt, lassen sich keine Merkmale eines Einfluss des kratetischen Einwands (der jedoch möglicherweise in einer späteren Schülergeneration der Alexandriner in die Analogielehre integriert wurde) finden. Dagegen wird die Existenz der kratetischen Behauptung von Fehling bestärkt, da man Varro in dieser Sache glauben dürfte. Über Sextus Polemik gegen die Analogisten und Varro gelangt er zu der Vermutung, dass sich Krates vordergründig gegen die Analogie als einzigem Mittel der Sprachrichtigkeit äußerte. Der Streit wird demnach in größerer Tragweite als Konstrukt Varros hingestellt, denn Varro habe grammatische Inhalte nach diesen beiden Gesichtspunkten geordnet eingebracht.

c )Buch VIII

Im achten Buch wird die anomalistische These, die ihrerseits bereits eine Antithese ist, formuliert. Der Argumentationsgang verläuft negativ, setzt also bereits einen analogistischen Standpunkt, der, wie oben dargestellt, nicht unbedingt außerhalb von Varros Ausführungen vertreten wurde, voraus. Dabei wird die consuetudo als Vorkämpferin gegen die ratio auf dem Gebiet der Sprachpflege eingeführt. Die Gliederung verläuft in drei großen Teilbereichen: die Einleitung von §1-24, der allgemeine Teil von §25-43 und der spezielle Teil von §44-84, wo das Buch abrupt endet. Der spezielle Abschnitt teilt sich nach den Redeteilen in folgende Gebiete (nicht abgedeckte Paragraphen dienen der Einleitung oder sind Verbindungsteile bzw. Einlagen): §50-51 Behandlung der “articuli“, §52-79 Traktat der “vocabula“, §80-84 über die “nomina“.

An dieser Stelle sei je ein Textausschnitt repräsentativ für das allgemeine bzw. spezielle Segment:

VIII, 26:Omnis oratio cum debeat dirigi ad utilitatem, ad quam tum denique pervenit,

20 si est aperta et brevis, quae petimus, quod obscurus et longior orator est odio; et cum efficiat aperta, ut intellegatur, brevis, ut cito intellegatur, et apertam consuetudo, brevem temperantia loquentis, et utrumque fieri possit sine analogia, nihil ea opus est. Neque enim, utrum Herculi an Herculis clavam dici oporteat, si doceat analogia, cum utrumque sit in consuetudine, non neglegendum, quod aeque sunt et brevia et aperta.

“Da die ganze Rede auf die Nützlichkeit bezogen werden muss, gelangt sie dann letztlich zu ihr, wenn sie klar und knapp ist, was wir erreichen wollen, weil ein dunkler und umständlicher Redner Missgunst erntet; und da sie als klare wirkt, um verstanden zu werden und als kurze, um schnell verstanden zu werden, bewirkt der Sprachgebrauch die klare Rede, die Mäßigung des Sprechers die kurze und da beides ohne Analogie geschehen kann, bedarf man ihrer nicht; denn man muss gleichgültig darin sein, ob man Herculi oder Herculis (beides: 2.F.Sg. “Herkules') clavam “Keule“ (4.F.Sg) sagen soll, wenn die Analogie, weil beide Ausdrücke sich in üblicher Verwendung finden, womöglich darüber unterrichtet, da sie gleich klar und knapp sind.“

Dieser Abschnitt deutet einen Aspekt des Verhältnisses der consuetudo zur analogia an. Erstere vermag, getragen von der Willkür des jeweiligen Sprechers, Entscheidungen auch auf einer stilistisch-rhetorischen Ebene zu rechtfertigen, während die Analogie die bloße Klassifikation der Formen nicht überschreitet. Es wird durch die Verschränkung des “si-Satzes“ mit dem “cum-Satz“ eine doppeltes Postulat angedeutet, kraft dessen Erfüllung es erst zu einer Verwendung einer bestimmten Form kommen darf, wenn man die Befugnisse der Dichter ausklammert: das Bestehen eines regelmäßigen Flexionsschemas sowie die Geläufigkeit der betroffenen Form innerhalb einer gewissen Sprechergemeinschaft.

Zum speziellen Teil sei der Ausschnitt VIII, 63-64 notiert:

Relinquitur de casibus, in quo Aristarchei suos contendunt nervos. Primum si in his esset analogia, dicunt debuisse omnis nominatus et articulos habere totidem casus, nunc alios habere unum solum ut litteras singulas omnes, alios tris..., alias quattuor …, alios quinque..., alios sex... . Non esse ergo in casibus analogias.

“Es verbleibt die Untersuchung über die Fälle, auf welchem Gebiet die Gefolgsleute des Aristarch ihre Kräfte bemühen. Erstens, wenn es in den Fällen Analogie gäbe, behaupten sie, dass Adjektiva, Substantiva und Pronomina dieselbe Anzahl an Fällen aufweisen müssten. Nun haben aber einige nur einen einzigen Fall, wie alle Buchstaben, andere drei, vier, fünf oder sechs. Also gäbe es in den Fällen keine Analogie.“

Das anomalistische Argument bezieht sich auf die Anzahl der Fälle und ist folgerichtig, wenn man den Geltungsanspruch der Analogie als universell deklariert.

21 Tatsächlich jedoch herrscht Analogie nie gesamtheitlich, weder quantitativ in der Zahl der Fälle, noch qualitativ, durch Existenz bloß eines einzigen Flexionsschemas und man kann jegliche Abweichungen von einem solchen Idealzustand nur durch Anomalie erklären. Für sich genommen herrscht in den diversen Untergruppen jedoch Analogie.

d)Buch IX

Das neunte Buch ist die Antwort auf die anomalistischen “Attacken“ aus VIII. Die Form der Argumentation ist negativ in Bezug auf die Thesen des Vorgängerbuches, wobei die conclusio positiv präsentiert wird. Das behandelte Gebiet lässt sich, nachdem es einmal heuristisch abgetastet wurde, auf die dichotomen Begriffe analogia und consuetudo (im allgemeinsten Sinn als willkürliches oder unvorersagbares Moment) reduzieren, sodass aus der wahren Entkräftung eines wahren Arguments durch die consuetudo immer eine neu definierte Unterklasse als Reaktion auf dem Feld der Analogie folgt. Dies liegt sowohl dem Wesen des behandelten Gegenstandes als auch dem von Varros Ausführungen darüber zugrunde. Die Disposition des neunten Buches scheint weniger gelungen zu sein als die des achten41, denn erstens werden nicht alle Argumente des achten Buches im neunten adressiert42, zweitens ist die inhaltliche Abstimmung der Einzelbereiche weniger kohärent, sodass sich nur zähneknirschend Überblickseinteilungen treffen lassen. Nach einigen Bemerkungen über die Analogie in den §§1-3 gelangt Varro über Schilderungen zu den copulae(!) zur Äußerung seines Dispositionsvorhabens in § 7. Der allgemeine Teil beginnt in § 8, an diesen schließt der spezielle Teil in §37 an. Die §§ 40- 48 dieses Bereichs sind allgemeine Argumente. Danach folgen die speziellen Behauptungen. Längere Sinnkonglomerate sind von §55-62 über die genera, §63-69, über den numerus des Nomens, §75-94 über die Fälle, §95-109 über das Verb gegeben.

Die Textausschnitte für Buch IX entsprechen laut Dahlmann43 den für VIII zitierten Abschnitten:

IX, 48: Cum, inquiunt, utilitatis causa introducta sit oratio, sequendum non quae habebit similitudinem, sed quae utilitatem. Ego utilitatis causa orationem factam concedo, sed ut vestimenta: quare ut hic similitudines sequimur, ut virilis tunica sit virili similis, item toga togae, sic mulierum stola ut sit stolae proportione et pallium pallio simile, cum sint nomina utilitatis causa, tamen virilia inter se similia, item

41 Vgl. Fehling, 1955, 103-108 42 Vgl. ebenda, 108-110; Dahlmann, 1964, 76-81 43 Vgl. ebenda, 1964, 76-78

22 muliebria inter se sequi debemus. “Weil, so behaupten sie, die Sprache um der Nützlichkeit willen eingeführt wurde, ist nicht nur zu beachten, welchen Ähnlichkeitsgehalt sie aufweist, sondern, welchen Nutzen. Ich räume ein, dass die Sprache zwar der Zweckmäßigkeit wegen geschaffen wurde, und wie Kleidung fungiert : wie wir im einen Bereich Ähnlichkeiten nachgehen, weil eine Männertunica einer anderen ähnlich ist und ebenso eine Toga einer anderen, so müssen wir, weil eine Frauentunica einer Frauentunica im Verhältnis ähnlich ist und ein Mantel einem Mantel, obwohl die Wörter für den Nutzen da sind, trotzdem (noch dem grammatischen Geschlecht nach) Männliches und Weibliches je für sich beachten.“

In diesem Absatz gelangt Varro zur Forderung nach geschlechtsweiser Betrachtung von Wörtern, betont die Zweckmäßigkeit der Sprache und spielt auf Sparsamkeit in den Mitteln, ein beständiges Ziel der Rationalisierung, an.

IX, 51: Dicunt, quod vocabula litterarum Latinarum non declinentur in casus, non esse analogias. Hi ea quae natura declinari non possunt, eorum declinatus requirunt, proinde et non eorum dicatur esse analogia quae ab similibus verbis similiter essent declinata. Quare non solum in vocabulis litterarum haec non requirenda analogia, sed ne in syllaba quidem ulla, quod dicimus hoc BA, huius BA, sic alia.

Quod si quis in hoc quoque velit dicere esse analogias rerum, tenere potest: ut enim dicunt ipsi alia nomina, quod quinque habeant figuras, habere quinque casus, alia quattuor, sic minus alia, dicere poterunt esse litteras ac syllabas in voce quae singulos habeant casus, in rebus pluris; quemadmodum inter se conferent ea quae quaternos habebunt vocabulis casus, item ea inter se quae ternos, sic quae singulos habebunt, ut conferant inter se dicentes, ut sit hoc A, huic A, esse hoc E, huic E.

“Sie behaupten, weil die Bezeichnungen der lateinischen Buchstaben nicht in die Fälle gebeugt werden, gäbe es keine Analogie (dafür). Diese verlangen nach den Deklinationen der Wörter die von Natur aus nicht gebeugt werden. Folglich soll es angeblich auch von diesen Wörtern keine Analogie geben, die von ähnlichen auf ähnliche Weise gebeugt wurden. Daher darf Analogie nicht nur nicht unter den Buchstabenwörtern gesucht werden, sondern auch nicht in irgendeiner Silbe, weil wir “hoc BA“ (Nominativ), “huius BA (Genitiv)“ und ähnliches sagen.“

“Wenn jemand behaupten möchte, dass (auch) darin eine funktionale Analogie (im Gegensatz zur morphologischen) herrscht, kann er das durchsetzen: denn wie gerade sie anführen, dass einige Substantiva fünf Fälle haben, weil sie auf fünffache Weise

23 (morphologisch) vors Auge treten, andere vier Fälle und weniger, werden sie annehmen können, dass es Buchstaben und Silben gibt, die in der lautlichen (morphologischen) Ebene (nur) einen Fall haben, der grammatischen Substanz nach (funktional) mehrere; wie sie die Wörter untereinander vergleichen werden, welche der Bezeichnung nach je vier Fälle haben, so werden sie ebenso diese mit drei Fällen und einem Fall je untereinander vergleichen, so dass sie unter den (ähnlichen) Wörtern mit der Feststellung vergleichen, dass “hoc E“ (Nominativ) und “huic E“ (Dativ), sich wie “hoc A“ und “huic A“ verhalten.

Paragraph 75 rekurriert auf das oben zitierte anomalistische Argument, das die allgemeine Gültigkeit der Analogie einschränken kann. Dass es dabei nirgends Analogie gäbe, widerlegt § 76, indem der Geltungsbereich der Analogie eingeschränkt wird und die “unsichtbaren“ Fälle der Buchstabenwörter und Silben durch Verwendung eines Pronomens im entsprechenden Fall angedeutet werden. Dies geschieht durch die Unterscheidung voce/figura - re. Ersteres bezeichnet das sinnlich Wahrnehmbare an einer Form, wohingegen res auf deren funktionales Korrelat zu beziehen ist, etwa welche Zuordnung eine Form in einem grammatischen System erhält oder einfach mit welchem Geschlecht man eine Form verwendet.

e)Buch X

Das zehnte Buch wird als Synthese der beiden Vorgänger betrachtet, zumal in ihm aus beiden, im Grunde heterogenen Momenten, ein “Ganzes“ geformt wird, wobei die Frage nach der Systematik bei Varro, vorerst offen bleiben muss. Die Komposition erfolgt nach vier zusammenhängenden Begriffen: similitudo, ratio, analogia, consuetudo. Unglücklicherweise klaffen im erhaltenen Text von X zwei sich über drei Blätter erstreckende lacunae: die erste nach §23, worin ein Teil der Kasuslehre enthalten sein musste, die zweite in § 34, wo das Partizip behandelt wurde; die Erörterungen über das Adverb fehlen gänzlich. Die Gliederung verdankt sich zahlreicher kleinerer Sinnabschnitte, die im Kommentar behandelt werden.

5)Der Systematische Ansatz

In den letzten 35 Jahren hat Taylor neue Blickwinkel auf LL eröffnet, indem er diesbezüglich eine grundlegende Umdeutung vorangetrieben hat. Er betont die fruchtbare Eigenständigkeit der varronischen Arbeitsweise und rechtfertigt dies durch die prinzipielle Möglichkeit der sprunghaften Genese des (linguistischen) Wissens

24 einerseits und die schlechte Quellenlage andererseits. Zwar betont er die Beeinflussung Varros durch griechische Vorlagen aber stets auf dessen schöpferische Kraft pochend. Varro sei dank seiner mathematisch präzisen Definition der Analogie und der Erkenntnis des Unterschiedes zwischen Derivation und Flexion, den die historisch orientierten Forscher Dahlmann und Fehling44 noch nicht anerkannten, in der Lage gewesen, die formale Definition der Deklinationen/Konjugationen auf den Punkt zu bringen. Wesentlich für Varros Eigenleistung seien die systematischen Ausführungen des zehnten Buches, welche in ihrer historisch-linguistischen Signifikanz im §62 kulminieren würde. Dort werden die Deklinationen mittels des Vokals im Ablativ identifiziert, wobei er jedoch beim Bestimmen der Wortgruppen die Vokallänge außer Acht lässt und die “e-Deklination“ übersieht. Die in der Spätantike agierenden Vertreter der ars grammatica Tradition schufen diesem Mangel Abhilfe, da sie dem Genitiv, der sich als verlässlicheres Organon für grammatische Sektionen erwies, den Primat in der Klassifikation zugestanden. Varro gibt seiner Intention, ein System zu verfassen, jedoch nirgends Ausdruck, wenn er auch das Vorhaben einer umfassenden Neuordnung der auf das Griechische zugeschnittenen Sprachbetrachtungen zu Beginn des zehnten Buches ankündigt und sich seine Lehre, wie der Werktitel unschwer vermuten lässt, auf die lateinische Sprache bezieht. Ein genauerer Blick auf die Arbeiten Taylors offenbart, dass dieser alle Bücher von LL für seine systematische Exegese heranzieht und Varros Ansatz in einen theoretischen Teil über die Natur der Sprache und einen praktischen über die “linguistische Praxis“ disponiert45. Dabei gliedert sich die Sprache in drei wesentliche interdependente Gegenstandsbereiche, die je das Wort als Betrachtungsobjekt verwenden, was in den Begriffen von Etymologie, Morphologie und Syntax widerhallt. Der erste handelt vom Verhältnis zwischen Wort und Referenzobjekt, der zweite vom stark zeitabhängigen Formenbestand und der “korrekten“ Formenbildung, der dritte von der Verbindung von Wörtern zu Sätzen und den Satzarten. Ein begrifflicher Gegensatz fungiert als treibende Kraft hinter dem System, der von natura und voluntas. Als “natürlich“ in diesem Sinn wird die Regelmäßigkeit der Flexion angedeutet, die, wenn eingehalten, eine relative Vorhersagbarkeit der Endungen verspricht. Willkür dagegen bezeichnet die irrationale Kraft, die hinter der “Unordnung“ steckt. Ihrem Einfluss sind die Neuentstehungen von Wörtern zu verdanken und es leuchtet ein, dass für die Sprachentstehung beide Momente, wenn auch in verschiedenen Verhältnissen, notwendige Voraussetzungen sind.

Dreh- und Angelpunkt des besprochenen Ansatzes sind zwei Begriffe in ihrer von Taylor verwendeten, noch nicht allzu lange diskutierten Bedeutung: genus fecundum und genus sterile. Der erste bedeutet alle flektierbaren Wörter und als Neuerung auch Derivation durch Suffixe und Präfixe, der zweite die unflektierbaren Wörter, aus

44 Vgl Dahlmann, 1966, 60-61; ; Fehling, 1955, 75 45 Vgl. zu folgenden Absätzen: Taylor ,1974; Taylor, 1977;Taylor, 1996, 1-30; siehe auch Calbo, 2001, Cavazza, 1980

25 denen keine neuen entstehen. Zur leichteren Veranschaulichung hier der Textausschnitt VIII, 9 - 10:

“Causa, inquam, cur eas ab impositis nominibus declinarint, quam ostendi; sequitur, in quas voluerint, declinari aut noluerint, ut generatim ac summatim item informem. Duo enim genera verborum, unum fecundum, quod declinando multas ex se parit disparilis formas, ut est lego legi legam, sic alia, alterum genus sterile, quod ex se parit nihil, ut est et iam vix cras magis cur. “

“Den Grund, also (sinngemäß),warum sie diese (Formen) von neugeprägten Wörten beugten, habe ich schon gezeigt. Nun folgt, in welche sie diese beugen wollten oder nicht, wie ich Schritt für Schritt aufbauend darstellen werde. Es gibt zwei Arten von Wörtern, die erste fruchtbar, neue Formen hervorbringend, weil sie durch Deklination viele verschieden Formen von sich aus schafft, wie zum Beispiel lego “ich lese“, legi “ich las“, legam “ich werde lesen“ und andere, die zweite unfruchtbar für neue Formen, weil sie aus sich nichts hervorbringt, wie zum Beispiel die Adverben iam “schon“, vix “kaum“, cras “morgen“, magis “mehr“ und cur “warum“.

Taylor jedenfalls nimmt die Derivation, wie sich im zehnten Buch zeigt, hier wohl zurecht als bedeutet an und gibt ihr eine Schlüsselrolle als gleichrangige Bedingung neben der Flexion für die formal korrekte Begründung der Deklinationen und Konjugationen. Die Unterscheidung zwischen genus fecundum und sterile ist die sogenannte prima diviso unter den Wörtern. Die zweite Teilung erfolgt innerhalb der “fruchtbaren“ Klasse in declinatio voluntaria und declinatio naturalis als Eingliederung der oben besprochenen Konzepte natura und voluntas in sein System. Taylor will die Derivation in verbis voluntate declinatis untergebracht wissen. Die natürliche Beugung der Wörter hingegen ist regelmäßige Flexion, näher qualifiziert durch die Wortartenbestimmung, der tertia divisio, nach casus und tempus. Diese führt uns folgendermaßen zu den Redeteilen (LL VIII,11):

declinatio naturalis +/-casus +/- tempus pars orationis + - nominatus, articuli - + Verba (Zeitwörter) + + participia - - Adverba (lecte, docte etc.)

Dieser Einteilung folgen noch weitere mit diesen Kriterien für Redeteilung nicht

26 “sichtbar“ zu machende Subkategorien, auf welche im Kommentar näher eingegangen wird. Sprachliche Korrelate für den Begriff natura sind constantia, ars, ratio und analogia, die sich um die Flexion “drehen“. Der voluntas sind die termini impositio, inconstantia und historia zugeordnet, weil Erkenntnisse auf dem Feld der Willkür immer nur rückwärts gewandten Blicks möglich sind. Für die constantia der Flexionsschemata ist die Sprechergemeinschaft zuständig, also selber ein Moment der Willkür, begrifflich realisiert in der consuetudo, der Sprachgewohnheit. Die Etymologie hat nach vorliegender Einteilung keine klar definierte Methodik, während für die Klassifikation der Flexionsschemata die Analogie zuständig ist, die Varro, wie weiter oben erwähnt, als zweistellige Relation zweiter Ordnung[(a zu b) wie (c zu d)] einführt. Dabei “füttert“ er diese Vergleichsform mit Formen, wie den Fällen von Substantiven, oder auch mit Begriffen, wie den Zeiten von Verben, was Taylors Behauptung, Varro würde rein auf die Form bezogen operieren46 widerspricht, denn Zeit, ein Definiens für Verbalformen , ist ein semantisches Kriterium und somit wäre ein durch rein formale Analogie gezeigtes Zeitenverhältnis ein Ding der Unmöglichkeit, das heißt, in einem auf Form basierenden System nicht zu formulieren.

6) Sprache und Stil

Die rhetorische Aufmachung von de lingua latina ist äußerst bescheiden gehalten. Dafür seien der einschlägigen Forschung nach zwei Faktoren maßgeblich47: erstens, Varros kultureller Hintergrund, im Speziellen dessen Beeinflussung durch die mores maiorum. Diese Tatsache münde bei Varro in den aus klassischer Sicht archaischen, an Cato maior und die ältere Jurisdiktion erinnernden Stil. Zweitens scheine Varro die rhetorische Oberfläche an die Sache anzupassen. Dennoch ist zu bemerken, dass, wenn Varros Fokus vom bloßen Referieren abweicht, er rhetorische Stilmittel für inhaltlichen Nachdruck durchaus einzusetzen weiß. Besonders Gewicht aus seinem Repertoire kommt in LL der Anthithese, dem Parallelismus, sowie der rhetorischen Frage zu. Es ist festzuhalten, dass de lingua latina wahrscheinlich ein kaum ausgefeiltes Diktat ist, das möglicherweise einer stilistischen Kur noch unterzogen werden sollte.

46 Vgl. Taylor, 1996, 25 47 Vgl. zu diesem Abschnitt Dahlmann, 1935 , 1212-1214; Traglia,1982, 481-511

27 VI) Marcus Terrentius Varro: De Lingua Latina Liber Decimus

1. In verborum declinationibus disciplina loquendi dissimiltudinem an similitudinem sequi deberet, multi quaesierunt, cum ab his ratio quae ab similitudine oriretur vocaretur analogia, reliqua pars appellaretur anomalia. De qua re primo libro quae dicerentur cur dissimilitudinem ducem haberi oporteret, dixi, secundo contra quae dicerentur cur potius similitudinem conveniret praeponi. Quarum rerum quod nec fundamenta, ut debuit, posita ab ullo neque ordo ac natura, ut res postulat, explicita, ipse eius rei formam exponam.

2. Dicam de quattuor rebus quae continentur declinationibus verborum: quid sit simile ac dissimile, quid ratio quam appellant λόγον, quid pro portione quod dicunt ἀ ν ὰ λόγον, quid consuetudo; quae explicatae declarabunt analogiam et anomaliam, unde sit, quid sit, cuius modi sit.

3. De similitudine et dissimilitudine ideo primum dicendum, quod ea res est fundamentum omnium declinationum ac continet rationem verborum. Simile est quod res plerasque habere videtur easdem quas illud cuiusque simile; dissimile est quod videtur esse contrarium huius. Minimum ex duobus constat omne simile, item dissimile, quod nihil potest esse simile quin alicuius sit simile, item nihil dicitur dissimile quin addatur quoius sit dissimile.

4. Sic dicitur similis homo homini, equus equo, et dissimilis homo equo: nam similis est homo homini ideo quod easdem figuras membrorum habent, quae eos dividunt ab reliquorum animalium specie. In ipsis hominibus simili de causa vir viro similior quam vir mulieri, quod plures habent easdem partis; et sic senior seni similior quam puero. Eo porro similiores sunt qui facie quoque paene eadem habitu corporis, filo: itaque qui plura habent eadem, dicuntur similiores; qui proxume accedunt ad id, ut omnia habent eadem, vocantur gemini, simillimi.

5. Sunt qui tris naturas rerum putent esse, simile, dissimile, neutrum, quod alias vocant non simile, alias non dissimile, [Sed quamvis tria sint simile dissimile neutrum, tamen potest dividi etiam in duas partes sic, quodcumque conferas aut simile esse aut non esse.] simile esse et dissimile si videatur esse ut dixi, neutrum si in neutram partem praeponderet, ut si duae res quae conferuntur vicenas habent partes et in his denas habeant easdem, denas alias ad similitudinem et dissimilitudinem aeque animadvertendas. Hanc naturam plerique subiciunt sub dissimilitudinis nomen.

28 1. Viele fragten sich, ob beim Beugen der Wörter die Sprachlehre dem Begriff der Unähnlichkeit oder dem der Ähnlichkeit folgen sollte. Da nach diesen das Verhältnis, welches von der Ähnlichkeit ausgeht, Analogie genannt wurde, fiel dem anderen die Bezeichnung Anomalie zu. Hinsichtlich dieses Themas führte ich die Gründe, warum es notwendig sei, die Unähnlichkeit als leitende Kraft zu erachten, im ersten Buch an und im zweiten die Gegenargumente, warum es besser passe, dass die Ähnlichkeit vorgezogen wird. Weil von niemandem die Grundlagen dieser Begriffe gesetzt wurden, wie es notwendig wäre, noch ihre Ordnung oder ihr Wesen erklärt wurde, werde ich selbst die Umrisse dieses Gebiets darlegen.

2. Ich werde über vier Merkmale sprechen, die in flektierten48 Wörtern enthalten sind: was Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ist, was die Verhältnis ist, das sie mit λόγος bezeichnen, was im gleichen Verhältnis steht, welches sie ἀ ν ὰ λόγον nennen und was der Sprachgebrauch ist; diese Wörter werden, wenn sie klar erörtert sind, den Begriff der Analogie und Anomalie erklären: woher sie sind, was sie sind, auf welche Weise sie sind49.

3. Über Ähnlichkeit und Unähnlichkeit muss man sich daher zuerst äußern, weil dieser Unterschied den Ursprung aller Beugungen bildet und die Regelmäßigkeit der Wortflexion zusammenhält. Ähnlich ist, was anscheinend zahlreiche50 gleiche Merkmale hat wie jenes zu jeder jeweiligen Sache dann ähnliche. Unähnlich ist, was das Gegenteil davon zu sein scheint. Zumindest besteht das Ähnliche, wie das Unähnliche aus zwei Einheiten, weil nichts ähnlich sein kann, außer zu irgendeiner anderen Sache. Ebenso wenig wird etwas unähnlich genannt, wenn nicht etwas hinzu gegeben wird, wozu es unähnlich ist.

4. So wird behauptet, dass ein Mensch einem Menschen sowie ein Pferd einem Pferd ähnlich und der Mensch dem Pferd unähnlich ist: Denn ähnlich ist der Mensch dem Menschen deshalb, weil sie dieselben Formen der Gliedmaßen haben, welche sie von der Art der restlichen Lebewesen unterscheiden. In An- betracht der Menschen selbst ist aus ähnlichem Grund der Mann dem Manne ähnlicher als einer Frau, weil sie mehr Merkmale gemeinsam haben; auch ist so der Greis dem Greise ähnlicher als dem Knaben. Darüber hinaus gibt es Ähnlichere, die beinahe auch das gleiche Gesicht und die gleiche Körperhaltung haben, sowie aus dem gleichen Holz geschnitzt51 sind: daher werden diejenigen, die mehr gemeinsam haben auch “ähnlicher“ genannt; die, welche sich knapp der Tatsache annähern, alles gemeinsam zu haben, werden Zwillinge genannt –

48 Sinngemäß 49 Sinngemäßer Plural 50 Sinngemäß; 51 Sinngemäße Wiedergabe der Lateinischen Phrase mit der Bedeutung vom selben Aussehen sein

29 welche kaum zu unterscheiden52 sind.

5. Es gibt welche, die glauben, es gäbe drei Arten von Dinge, das Ähnliche, das Unähnliche und keines von beiden, das sie manchmal “nicht ähnlich“ heißen, dann wieder “nicht unähnlich“, [aber wenn Ähnliches, Unähnliches und das Neutrale auch drei sind, kann dennoch auch in zwei geteilt werden dergestalt, dass, was auch immer du vergleichst, ähnlich oder unähnlich ist]; solche die meinen,53 dass das Neutrale ähnlich und unähnlich sei, wenn es zu sein scheint, wie ich wiedergab, falls es in keine der beiden Richtungen ein Übergewicht gibt, so dass, wenn zwei Dinge, die verglichen werden je zwanzig Teile haben und davon je zehn gleiche und zehn andere Teile, welche sich in ihrer Gesamtheit54 zur Ähnlichkeit und Unähnlichkeit gleichermaßen neigen: solche Natur ordnen die meisten dem Begriff der Unähnlichkeit unter.

52 Sinngemäß 53Sinngemäße Ergänzung zum leichteren Verständnis 54Sinngemäß, vgl. Kommentar

30 6. Quare quoniam fit ut potius de vocabulo quam de re contoversia esse videatur, illud est potius advertendum, cum simile quid esse dicitur, cui parti simile dicatur esse - in hoc enim solet esse error - quod potest fieri ut homo homini similis55 sit et non sit, at multas partes habeat similis et ideo dici possit similis habere oculos, manus, pedes, sic alias res seperatim et una plures.

7. Itaque quod diligenter videndum est in verbis, quas partis oporteat similis habere, et quot modis similia esse dicuntur, ut infra apparebit, is locus maxime lubricus est. Quid enim similius potest videri indiligenti quam duo verba haec suis et suis? Quae non sunt, quod alterum significat suere, alterum suem. Itaque similia vocibus esse ac syllabis confitemur, dissimilia esse partibus orationis videmus, quod alterum habet tempora, alterum casus, quae duae res vel maxime discernunt analogias.

8. Item propinquiora genere inter se verba similem saepe pariunt errorem, ut in hoc quod nemus et lepus videtur esse simile, cum utrumque habeat eundem casum rectum; sed non est simile quod eis certae similitudines opus sunt, in quo est ut in genere nominum sint eodem, quod in his non est: nam in virili genere est lepus, ex neutro nemus; dicitur enim hic lepus et hoc nemus. Si eiusdem generis esset, utrique praeponeretur idem ac diceretur aut hic lepus et hic nemus aut hoc nemus, hoc lepus.

9. Quare quae et cuiusmodi sunt genera similitudinum ad hanc rem, perspiciendum ei qui declinationes verborum pro portione sintne quaeret. Quem locum, quod est difficilis, qui de his rebus scripserunt aut vitaverunt aut inceperunt neque adsequi potuerunt.

10. Itaque in eo dissensio neque ea unius modi apparet: nam alii de omnibus universis discriminibus posuerunt numerum, ut Dionysius Sidonius, qui scripsit ea esse septuaginta unum, alii partis eius quae habet casus, cuius eidem hic cum dicat esse discrimina quadraginta septem, Aristocles rettulit in litteras XIIII, Parmeniscus VIII, sic alii pauciora aut plura.

11. Quarum similitudinum si esset origo recte capta et inde orsa ratio, minus erraretur in declinationibus verborum. Quarum ego principia prima duum generum sola arbitror esse, ad quae similitudines exigi oporteat: e quis unum positum in verborum materia, alterum ut in materiae figura, quae ex declinatione fit.

55 Ich folge mit “similis“ hier Kent(1958) dessen Name im Folgenden für sein zitiertes Werk einstehen soll.

31 12. Nam debet esse unum, ut verbum verbo, unde declinetur, sit simile; alterum, ut e verbo in verbum declinatio ad quam conferetur eiusdem modi sit: alias enim ab similibus verbis similiter declinantur, ut ab erus ferus, ero fero, alias dissimiliter erus ferus, eri ferum. Cum utrumque et verbum verbo erit simile et declinatio declinationi, tum denique dicam esse simile ac duplicem et perfectam similitudinem habere, id quod postulat analogia.

13. Sed ne astutius videar posuisse duo genera esse similitudinum sola, cum utriusque inferiores species sint plures, si de his reticuero, ut mihi relinquam latebras, repetam ab origine similitudinum quae in conferendis verbis et inclinandis sequendae aut vitandae sint.

32 6. Daher ist man eher verpflichtet, darauf Acht zu geben, weil es geschieht, dass mehr56 über das Wort als die Sache der Streit sich zu handeln scheint, welchem Teil etwas angeblich ähnlich ist, wenn davon gesagt wird, dass es ähnlich ist (darin nämlich pflegt der Fehler zu lauern), weil es passieren kann, dass ein Mensch einem Menschen ähnlich und unähnlich ist, er trotzdem viele ähnliche57 Teile hat und deshalb von ihm gesagt werden kann, er habe ähnliche Augen, Hände, Füße - also einige Teile verschieden und einige gemeinsam.

7. Deshalb ist dieser Bereich, weil man bei den Wörtern sorgfältig Acht geben muss, welche Teile man als ähnlich zu erachten hat und auf wie viele Arten sie ähnlich genannt werden, wie sich unten zeigen wird, besonders irreführend58. Was nämlich kann für einen Unsorgfältigen ähnlicher aussehen als die zwei Wörter suis “nähen“ und suis “das/ein Schwein“? Sie sind es nicht, weil das eine die Tätigkeit des Nähens59 bedeutet, das andere das Tier Schwein. So erkennen wir, dass sie hinsichtlich der Laute und Silben ähnlich sind, an, aber sehen ein, dass sie unähnlich in Hinblick auf die Wortart sind, weil das eine Zeiten, das andere Fälle hat, welche Eigenschaften verschiedene Verhältnisgruppen60 klar und deutlich61 unterscheiden.

8. Ebenso bewirken Wörter, die ihrer Art nach miteinander näher verwandt sind oft einen ähnlichen Fehler, wie darin, dass nemus “Hain“ und lepus “Hase“ als ähnlich erscheinen, da beide denselben Nominativ haben; sie sind aber nicht ähnlich, weil sie (dafür) bestimmter Ähnlichkeiten bedürfen, dazu gehört für Substantive, dass sie vom gleichen Geschlecht sind, was bei diesen nicht der Fall ist: denn lepus “der Hase“ ist männlichen , nemus “der Hain“ neutralen Geschlechts; denn man sagt hic62 lepus (1.F.Sg.m) und hoc nemus (1.F.Sg.n). Wenn sie vom selben Geschlecht wären, würde beiden dasselbe Pronomen vorangestellt werden und es würde entweder hic lepus und hic nemus oder hoc nemus und hoc lepus heißen.

9. Deshalb muss von dem, der untersucht, ob die Beugungen der Wörter im gleichen Verhältnis stehen, klar erkannt werden, welche Arten von Ähnlichkeiten es gibt und wie sie sich zu dieser Problematik verhalten. Weil dieser Bereich knifflig ist, mieden ihn diejenigen, die über diese Angelegenheiten schrieben, entweder oder begannen ihn und konnten ihn nicht fertig stellen.

56 Übertragen gesehen 57 Siehe Kommentar 58 Im übertragenen Sinn 59 Sinngemäß 60 Konkret sinngemäß 61 Sinngemäße Paraphrase 62 Demonstrativpronomen 1.F.Sg

33 10. So gibt es hierin eine Streitfrage, die sie sich nicht nur auf eine Weise stellt: denn einige stellten bezüglich der Gesamtheit aller grammatischen Merkmale einen Zahlenwert auf, wie Dionysius Sidonius, der behauptete, es wären 71. Andere wiederum haben von dem Teilgebiet einen Zahlenwert angegeben, welches die Fälle beinhaltet. Während genau derselbe von diesem Gebiet behauptet, es habe 47 verschiedene Merkmale, führt Aristocles sie auf 14 Buchstaben zurück und Parmeniscus auf acht; so führen andere mehr oder weniger an.

11. Wenn die Grundlage dieser Ähnlichkeiten richtig ergriffen worden wäre, und sich daraus die Lehre entwickelt hätte, würde man bei den Wort- beugungen weniger irren. Es scheint, so glaube ich, alleinige erste Bestimmungsgründe, nämlich von zwei Klassen, zu geben, worauf die Arten der Ähnlichkeit63 mit Notwendigkeit zurückgeführt werden sollen: davon liegt einer im Wortmaterial, der andere gleichsam in der Gestalt des Materials64, welche nach der Beugung gegeben ist.

12. Denn es muss einen geben, damit ein Wort dem Wort, von dem es gebeugt wurde, ähnlich ist; den anderen, damit der Beugungsvorgang, mit welchem man vergleicht, von einem Wort zum anderen, von derselben Art ist: denn bald werden ähnliche Wörter ähnlich gebeugt, wie von erus “Meister“ und ferus “wild“ die Formen ero und fero (3./6. F.Sg.m/n) bald unähnlich, wie erus, ferus und eri (2.F.Sg.n/m), ferum(1.F.Sg.n, 4.F.Sg.m/n). Wenn beides, das Wort dem Wort, und die Beugung der Beugung, ähnlich ist, dann schließlich werde ich sagen, dass eine Ähnlichkeit besteht und eine doppelte also vollendete Ähnlichkeitsbeschaffenheit verkörpert, was die Analogie verlangt.

13. Damit ich aber nicht den Anschein erwecke, allzu klug nur zwei Arten der Unterscheidung aufgestellt zu haben, obwohl beide mehrere Unterarten besitzen, um mir einen Schlupfwinkel übrig zu lassen, wenn ich von ihnen schweige, werde ich deshalb vom Ursprung der Ähnlichkeiten ausholen, welche (von ihnen) es beim Vergleichen und Beugen der Wörter zu beachten gilt und welche zu vermeiden sind.

63 Sinngemäß konkret 64 Der Wortform

34 14. Prima divisio in oratione, quod alia verba nusquam declinantur, ut haec vix mox, alia declinantur, ut ab limo limabo, fero ferebam, et cum nisi in his verbis quae declinantur non possit esse analogia, qui dicit simile esse mox et nox errat, quod non est eiusdem generis utrumque verbum, cum nox succedere debeat sub casuum rationem, mox neque debeat neque possit.

15. Secunda divisio est de his verbis quae declinari possunt, quod alia sunt a voluntate, alia a natura. Voluntatem appello, cum unus quivis a nomine aliquo rei aliae imponit nomen, ut Romae; naturam dico, cum universi acceptum nomen ab eo qui imposuit non requirimus quemadmodum is velit declinari sed ipsi declinamus, ut huius Romae, hanc Romam, hac Roma. De his duabus partibus voluntaria declinatio refertur ad consuetudinem, naturalis ad rationem.

16. Quare proinde ac simile conferri non oportet ac dicere, ut sit ab Roma Romanus, sic ex Capua dici oportere Capuanus, quod in consuetudine vehementer natat, quod declinantes imperite rebus nomina imponunt, a quibus cum accepit consuetudo, turbulenta necesse est dicere. Itaque neque Aristarchii neque alii in analogiis defendendam eius susceperunt causam, sed, ut dixi, hoc genere declinatio in communi consuetudine verborum aegrotat, quod oritur e populi multiplici imperio: itaque in hoc genere in loquendo magis anomalia quam analogia.

17. Tertia diviso est quae verba declinata a natura. Ea dividuntur in partis quattuor: in unam quae habet casus neque tempora, ut docilis et facilis; in alteram quae tempora neque casus, ut docet facit; in tertiam quae utraque, ut docens faciens; in quartam quae neutra, docte et facete. Ex hac divisione singulis partibus tres reliquae re dissimiles. Quare nisi in sua parte inter se collata erunt verba, sin conveniunt, non erit ita simile ut debeat facere idem.

18. Unius cuiusque partis quoniam species plures, de singulis dicam. Prima pars casualis dividitur in partis duas, in nominatus et in articulos: articuli sunt quod aeque finitum et 65infinitum est ut hic et quis; de his generibus duobus utrum sumpseris, cum reliquo non conferendum, quod inter inter se dissimiles habent analogias.

65 Taylor hat “...quod aeque finitum neque finitum est …“ Logischer erscheint die von Kent geführte Version, die ich hier verwende.

35 14. Die erste Einteilung geschieht in der Redeteilung66, weil manche Wörter nie gebeugt werden, wie vix “kaum“ und mox67 “bald“ und manche schon, wie von limo “ich feile“ die Form limabo “ich werde feilen“ hergeleitet wird, von fero “ich trage“ das Imperfekt ferebam; und da es nur bei den Wörtern, die flektiert werden, Analogie geben kann, irrt derjeige, der behauptet, dass mox und nox “Nacht“ ähnlich sind, weil beide Wörter nicht derselben Art sind, zumal nox in die Klasse der Kasusträger fallen muss und mox das weder darf noch kann.

15. Die zweite Trennung verläuft bei diesen Wörtern, die gebeugt werden können; denn einige sind willkürlich abgeleitet, andere natürlich gebeugt. Willkür nenne ich, wenn ein beliebiger von irgendeiner Bezeichnung her einer anderen Sache den Namen aufprägt, wie Romulus Rom; Natur bezeichne ich, wenn wir alle von dem, der einen eingebürgerten Namen stiftete, nicht wissen wollen, wie er möchte, dass der Name gebeugt wird, sondern wir ihn selbst beugen, wie Genitiv Romae, Akkusativ Romam, Ablativ Roma “von/aus Rom“. Von diesen zwei Teilen wird die willkürliche Prägung auf die Gewohnheit zurückgeführt, der natürliche Beugungsverlauf auf Regelmäßigkeit.

16. Also darf man demnach weder als ähnlich zusammenstellen, noch behaupten, dass, wie das Wort Romanus “der Römer“ von Roma “Rom“ stammen soll, so Capuanus “der Capuaner“ notwendigerweise nach Capua benannt wird, was im Sprachgebrauch heftig schwankt, weil die Wortschöpfer unsachgemäß den Dingen Namen aufzwingen. Wenn der Sprachgebrauch die Namen von diesen übernommen hat, spricht man notwendigerweise Verworrenes aus. Folglich ergriffen weder die Gefolgsleute des Aristarchus noch irgendwelche anderen die Verteidigung einer etwaigen analogistischen68 Wortschöpfungslehre. Im Gegensatz dazu, krankt, wie ich sagte, die Neuprägung eines Wortes am gemeinsamen Sprachgebrauch, weil sie unter der vielfältigen Herrschaft des Volkes geschieht: daher gibt es bei dieser Art des Sprechaktes69 eher Anomalie als Analogie.

17. Die dritte Einteilung lautet: “welche Wörter natürlich gebeugt werden“; sie werden in vier Abschnitte aufgeteilt: in einen, der Fälle und keine Zeiten einschließt, wie docilis “gelehrsam“ und facilis “leicht“ (1.F.Sg.m/f); in einen, der Zeiten und keine Fälle hat, wie docet “er, sie, es lehrt“ und facit “er, sie, es macht“; in den dritten, der beides umfasst, wie docens “lehrend“ und faciens “machend“ und den vierten, der keines von beidem enthält, wie docte “auf gelehrige Weise“ und facete “auf gewitzte Art“. Nach dieser Ordnung sind jedem einzelnen Bereich je die drei anderen der Substanz nach unähnlich. Deshalb wird es, wenn die Wörter nicht in ihrer eigenen Klasse miteinander verglichen

66 Konkret 67 Verba indeclinabilia 68 Konkrete Auslegung 69 Im weitesten Sinn genommen

36 werden, nicht so eine Ähnlichkeit geben, welche die Wörter notwendig gleich macht.

18. Da jedes Gebiet mehrere Untergattungen hat, werde ich über die einzelnen sprechen. Zuerst wird der Abschnitt mit den Fällen in zwei Teile gegliedert, in den der Begriffswörter und Eigennamen sowie den der Pronomina: Pronomina sind bestimmt und unbestimmt wie hic “dieser“ und quis70 “wer/welcher“ (1.F.Sg.m); Welche von den beiden Arten du nimmst, sie darf mit der anderen nicht verglichen werden, weil sie untereinander verschiedene regelmäßige Merkmale71 haben.

70 Interrogativpronomen bzw fallweise Indefinitpronomen im Aussagesatz 71 Sinngemäß

37 19. In articulis vix adumbrata est analogia et magis rerum quam vocum; in nominatibus magis expressa ac plus etiam in vocibus quam in rebus ac similitudinibus suam optinet rationem. Etiam illud accedit ut in articulis habere analogias ostendere sit difficile, quod singula sint verba, hic contra facile, quod magna sit copia similium nominatuum. Quare non tam hanc partem ab illa dividendum quam illud videndum, ut satis sit verecundiae etiam illam in eandem arenam vocare pugnatum.

20. Ut in articulis duae partes, finitae et infinitae, sic in nominatibus duae, vocabulum et nomen: non enim idem oppidum et Roma, cum oppidum sit vocabulum, Roma nomen, quorum discrimen in his reddendis rationibus alii discernunt, alii non; nos sicubi opus fuerit, quid sit et cur, ascribemus.

21. Nominatui ut similis sit nominatus, habere debet ut sit eodem genere, specie eadem, sic casu, exitu eodem: specie, ut si nomen est quod conferas, cum quo conferas sit nomen; genere simile, ut non solum unum sed utrumque sit virile; casu simile, ut si alterum sit dandi, item alterum sit dandi; exituque, ut quas unum habeat extremas litteras, easdem alterum habeat.

22. Ad hunc quadruplicem fontem ordines deriguntur bini, uni transversi, alteri derecti, ut in tabula solet in qua latrunculis ludunt. Transversi sunt qui ab recto casu obliqui declinantur, ut albus albi albo; derecti sunt qui ab recto casu in rectos declinantur, ut albus alba album; utrique sunt partibus senis. Transversorum ordinum partes appellantur casus, derectorum genera, utrisque inter se implicatis forma.

23. Dicam prius de transversis. Casuum vocabula alius alio modo appellavit; nos dicemus, qui nominandi causa dicitur, nominandi vel nominativum...

HIC DESUNT TRIA FOLIA IN EXEMPLARI

24. ...et scopae, non dicitur una scopa: alia enim natura, quod priora simplicibus, posteriora in coniunctis rebus vocabula ponuntur, sic bigae, sic quadrigae a coniunctu dictae. Itaque non dicitur, ut haec una lata et alba, sic una biga, sed unae bigae, neque , ut dicitur hae duae latae, albae, sic hae duae bigae et quadrigae.

38 19. Bei den Pronomina wurde Analogie kaum angedeutet und auch mehr als eine der gebräuchlichen Merkmale72 als der Form; bei den falltragenden Wörtern wurde sie besser ausgedrückt und deutlicher noch in den Lauten als auf grammatischer Ebene; kraft der Ähnlichkeiten besitzt sie ihre Verhältnis- mäßigkeit. Dazu kommt auch noch, dass es schwierig ist bei den Pronomina Analogien aufzuzeigen, weil sie vereinzelte Wörter sind, es aber bei den Kasusträgern leicht fällt, weil es darunter eine große Fülle von ähnlichen gibt. Deshalb ist es weniger geboten, diesen Bereich von jenem zu trennen, als darauf zu achten, dass man sich genügend vorsieht73, auch jenen in dieselbe Arena zum Kampf aufzurufen.

20. Wie es bei den Pronomina zwei Bereiche gibt, “bestimmt“ und “unbestimmt“, so gibt es bei den Kasuswörtern zwei, Begriff und Eigenname: denn “Stadt“ und “Rom“ sind nicht dasselbe, da “Stadt“ ein Begriff, Rom ein Eigenname ist. Beim Referieren dieser Verhältnisse erkennen die einen deren Unterschied an, die anderen nicht. Wir aber werden, wenn es an irgendeiner Stelle sein muss, festhalten, was er ist und warum er besteht.

21. Damit ein Kasuswort einem anderen ähnlich ist, muss es die Eigenschaft aufweisen, vom selben Geschlecht, derselben Art, ebenso vom gleichen Fall und derselben Endung zu sein: von derselben Art, damit, wenn das, was du vergleichst, ein Eigenname ist, das, womit du verglichst, auch einer ist; vom selben Geschlecht, dass nicht nur ein Wort, sondern beide männlich sind; vom selben Fall, damit, wenn das eine im Dativ steht, auch das andere im Dativ steht; von derselben Endung, damit das eine dieselben letzten Buchstaben hat, wie das andere.

22. Passend zu dieser vierfachen Quelle werden je zwei Rubriken aufgestellt, die einen verlaufen horizontal die anderen vertikal, wie es auf der Tafel zu geschehen pflegt, auf welcher sie mit den Figuren spielen. Quer verlaufen die Felder, deren Wörter vom Nominativ in die anderen Fälle gebeugt werden, wie albus “weiß“ (1.F.Sg.m), albi (2.F.Sg.m/n), albo “(3./6.F.Sg.m/n)“; Vertikal sind die Felder, in denen die Wörter vom Nominativ in die anderen Nominative gebeugt werden, wie albus “weiß“ (1.F.Sg.m), alba (f), album (n). ; für jeden der beiden Beugungsverläufe gibt es je sechs Felder. Die Teilhaber der horizontalen Felder werden Fällen genannt, die der vertikalen, Geschlechter, und beide sind durch die Form miteinander verstrickt.

72 =funktionale Merkmale=nominale Merkmale, die sich alle, auch manchmal über eine tradierte Benennungsweise hinweg durch abweichenden Sprachgebrauch einbürgern, wie poeta (m!) puella (f.); 73 Sinngemäß

39 23. Zuerst werde ich über die Reihen sprechen. Jeder benennt die Fälle anders, wir werden den, der um des Nennens willen gesagt wird als Nennfall oder als Nominativ bezeichnen...

DREI BLÄTTER FEHLEN HIER IN DER VORLAGE

24. … und scopae74 “ Besen“, nicht una scopa: Sie (erg. die Pluralwörter) sind von anderer Natur, da die früher erwähnten Bezeichnungen einfachen, die späteren verbundenen Dingen auferlegt werden. So wurden bigae “ein Zweigespann“ und quadrigae “ein Viergespann“ nach ihrer tatsächlichen Zusammengesetztheit benannt. Deshalb sagt man nicht , wie zum Beispiel den Ausdruck una lata et alba “ eine breite und weiße...“, so una biga sondern unae75 bigae und man sagt nicht, wie man duae76 “zwei“ in Bezug auf latae und albae äußert, hae duae bigae et quadrigae “dieses Zweigespann und dieses Viergespann“.

74 Plurale tantum: reines Pluralwort 75Distributivzahlwort: bei Pluralwörtern, wird wie Kardinalzahlwörter bei Einzahl- und Mehrzahlwörtern übersetzt

76Kardinalzahlenwort

40 25. Item figura verbi qualis sit refert, quod in figura vocis alias commutatio fit in uno verbo, ut modo sǔit, modo sūit; alias in medio, ut curso cursito; alias in extremo, ut doceo docui; alias comunis, ut lĕgo lēgi. Refert igitur ex quibus litteris quodque verbum constet, maxime extrema, quod ea in plerisque commutatur.

26. Quare in his quoque partibus similitudines ab aliis male, ab aliis bene quod solent sumi in casibus conferendis, recte an perperam videndum. Sed ubicumque commoventur litterae, non solum eae sunt animadvertendae, sed etiam quae proxumae sunt neque moventur; haec enim vicinitas aliquantum potest in verborum declinationibus.

27. In quis figuris non ea similia dicemus quae similis res significant, sed quae ea forma sunt, ut eius modi res similis ex instituto significare plerumque solet, ut tunicam virilem et muliebrem dicimus non eam quam habet vir aut mulier, sed quam habere ex instituto debet: potest enim muliebrem vir, virilem mulier habere, ut in scaena ab actoribus haberi videmus, sed eam dicimus muliebrem quae de eo genere est quo indutui mulieres ut uterentur est institutum. Ut actor stolam muliebrem sic Perpenna et Caecina et Spurinna figura muliebria dicuntur habere nomina, non mulierum.

28. Flexurae quoque similitudo videnda ideo quod alia verba quam viam habeant ex ipsis verbis unde declinantur apparet, ut quemadmodum oporteat ut a praetor consul, praetori consuli; alia ex transitu intelleguntur, ut socer macer, quod alterum fit socerum, alterum macrum, quorum utrumque in reliquis a transitu suam viam sequitur et in singularibus et in multitudinis declinationibus. Hoc fit ideo quod naturarum genera sunt duo quae inter se conferri possunt, unum quod per se videri potest, ut homo et equus, alterum sine assumpta aliqua re extrinsecus perspici non possit, ut eques et equiso; uterque enim dicitur ab equo.

29. Quare hominem homini similem esse aut non esse, si contuleris ex ipsis hominibus animadversis scies; at duo inter se similiterne sint longiores quam sint eorum fratres, dicere non possis, si illos breviores cum quibus conferuntur quam longi sint ignores: si latiorum atque altiorum, item cetera eiusdem generis, sine assumpto extrinsecus aliquo perspici similitudines non possunt. Sic igitur quidam casus quod ex hoc genere sunt, non facile est dicere similis esse, si eorum singulorum solum animadvertas voces, nisi assumpseris alterum, quo flectitur in transeundo vox.

41 25. Ebenso ist es bedeutend, wie beschaffen die Gestalt des Wortes ist, weil bei einem Wort manchmal eine lautliche Veränderung am Wortbeginn geschieht, wie es einerseits sūit “er, sie, es näht“ und sŭit “er, sie, es nähte“ gibt, bald in der Wortmitte, wie bei curso “ich laufe umher“ und cursito “Frequentativ zu curso“. Bald gibt es einen Wandel am Wortende, wie bei doceo “ich lehre“ und docui “ich lehrte“, bald einen in beiden Silben, wie bei lĕgo “ich lese“ und lēgi “ich las“. Also ist es von Belang, aus welchen Buchstaben ein jedes Wort besteht, besonders die Endung, weil sie in den meisten Fällen verändert wird.

26. Weil die Ähnlichkeiten in diesen Teilen von einigen schlecht, von anderen trefflich beim Vergleichen der Fälle herangezogen zu werden pflegen, muss man sehen, ob dies korrekt oder falsch erledigt wurde; aber wo auch immer Buchstaben vertauscht werden, ist es geboten, nicht nur auf diese zu achten, sondern auch auf diejenigen, die unmittelbar daneben stehen und nicht verändert werden: diese Nähe hat einiges an Gewicht bei der Wortflexion.

27. Unter diesen Formen, werden wir nicht die Wörter77 ähnlich nennen, die ähnliche grammatische Merkmale anzeigen, sondern welche von einer solchen Form sind, dass sie derartig ähnliche Merkmale meist per Festlegung bezeichnet78, wie wir nicht diejenige Männer- und Frauentunica nennen, die Mann oder Frau besitzt, sondern diese, die er oder sie dem Brauch nach tragen muss: es kann nämlich ein Mann eine Frauentunica tragen und umgekehrt, wie wir sehen, dass sie auf der Bühne von Schauspielern getragen wird. Wir sagen aber zu derjenigen Frauentunica, die von der Art ist ist, dass es per Brauch verankert wurde, dass Frauen sie als Kleidung verwenden.Wie man sagt, dass ein Schauspieler die Frauentoga trägt, so heißt es, dass Perpenna, Caecina und Spurinna der Form nach nach weibliche Namen besitzen, aber nicht die von Frauen.

28. Die Ähnlichkeit des Beugungsschemas muss auch deshalb berück- sichtigt werden, weil daraus klar hervorgeht, welchen Weg einige Wörter von denen aus nehmen, von welchen sie gebeugt werden - wie es klar ist, auf welche Weise man von den Wörtern wie praetor und consul (1.F.Sg.m) die Dative praetori und consuli beugen muss; andere Wörter werden gemäß eines Fallübergangs79 verstanden, wie socer “Schwiegervater“ macer “mager“ (1.F.Sg.m), weil das eine zum Akkusativ socerum das andere zu macrum wird, von denen nach dem Übergang in den übrigen Fällen80 ihrem Weg in Einzahl und Mehrzahl folgen. Das passiert darum, weil es zwei Arten von Wortsubstanz

77 Sinngemäß 78 Poeta m neben regelmäßigem puella f., 79 Gemeint ist die Unregelmäßigkeit, die man oft im Verhältnis vom Nominativ Singular zu den anderen Fällen sieht 80 Konkret für declinationibus

42 gibt, die untereinander verglichen werden können, eine, die an sich erkannt werden kann, wie bei homo “Mensch“ und equus “Pferd“ (1.F.Sg.m); die andere kann ohne Zuhilfenahme einer Sache von außen nicht durchschaut werden, wie bei eques “Reiter“ und equiso “Stalljunge“, denn beides wird nach dem Wort equus “Pferd“ benannt.

29. Daher wirst du aus direkter Beobachtung der Menschen wissen, dass ein Mensch 81einem Menschen ähnlich ist oder nicht, wenn du sie vergleichst; du wirst aber wohl nicht sagen können, ob zwei Menschen82 im Vergleich um dasselbe Maß größer sind als ihre Brüder, wenn du von den kleineren mit denen sie verglichen werden nicht weißt, wie groß sie sind: falls es sich um Höhen- und Breitenangaben und auch anderes von dieser Art handelt, können Ähnlichkeiten ohne Annahme einer Hilfsgröße von außen nicht erkannt werden. So kann man also von bestimmten Fällen, weil sie von dieser Art sind, schwer behaupten, dass sie ähnlich sind, wenn man nur deren einzelne83 Lautformen betrachtet und nicht ein anderes Wort annimmt, wohin die Form beim Fallübergang gebeugt wird.

81 Sinngemäß 82 Ergänzung 83 Sinngemäß

43 30. Quod ad nominatuom similitudines animadvertendas arbitratus sum satis esse tangere, haec sunt. Relinquitur de articulis, in quibus quaedam eadem, quaedam alia. De quinque enim generibus duo prima habent eadem, quod sunt virilia et muliebria et neutra, et quod alia sunt ut significent unum, alia ut plura, et de casibus quod habent quinos; nam vocandi voce notatus non est. Proprium illud habent, quod partim sunt finita, ut hic haec, partim infinita, ut quis et quae; at quorum quod adumbrata et tenuis analogia, in hoc libro plura dicere non necesse est.

31. Secundum genus quae verba tempora habent neque casus, sed habent personas;84 eorum declinatuum species sunt sex: una quae dicitur temporalis, ut legebam gemebam, lego gemo; altera personarum, ut sero meto, seris metis; tertia rogandi, ut scribone legone, scribisne legisne; quarta respondendi, ut fingo pingo, fingis pingis; quinta optandi, ut dicerem facerem, dicam faciam; sexta imperandi, ut cape rape, capito rapito.

32. Item sunt declinatuum species quattuor quae tempora habent sine per- sonis: in rogando, ut foditurne seriturne, et fodieturne sereturne; ab respondendi specie eaedem figurae fiunt extremis syllabis demptis; optandi species, ut vivatur ametur, viveretur amaretur. Imperandi declinatus sintne85 habet dubitationem et eorum sitne haec ratio: paretur pugnetur, parari pugnari.

33. Accedunt ad has species a copulis divisionum quadrinis: ab infecti et perfecti, emo edo, emi edi; ab semel et saepius, ut scribo lego, scriptito lectito86; faciendi et patiendi, ut uro ungo, uror ungor; a singulari et multitudinis, laudo culpo, laudamus culpamus. Huius generis verborum cuius species exposui quam late quidque pateat et cuius modi efficiat figuras, in libris qui de formulis verborum erunt diligentius expedietur.

34. Tertii generis, quae declinantur cum temporibus ac casibus ac vocantur a multis ideo participalia, sunt hoc ge...

HIC DESUNT FOLIA III IN EXEMPLARI

35. … quemadmodum declinamus, quaerimus casus eius; etiam, si is qui finxit poeta aliquod vocabulum et ab eo casu ipse aliquem perperam declinavit, potius eum reprehendimmus quam sequimur. Igitur ratio quam dico utrubique, et in his verbis quae imponuntur et in his quae declinantur, neque non etiam tertia illa, quae ex utroque miscetur genere.

84 Taylor hat hier “...habent casus. Si habent personas, eorum...“, vgl. Kommentar; 85 Nach Kent, Taxlor hat “sitne“, das nicht zu “eorum“passt. 86 Siehe Kent, Taylor führt “scriptitavi“, “lectitavi“ an, übersetzt aber “scriptito“ “lectito;

44 30. Das ist, wovon ich glaubte, dass es in genügendem Maß das Augenmerk auf die Ähnlichkeiten der Kasuswörter gelenkt hat. Es bleibt die Ausführung über die Pronomina übrig, bei welchen gewisse gleich, manche anders sind. Von den fünf Klassen nämlich sind die ersten beiden identisch, weil sie männlich, weiblich und sächlich sind, weil es einige gibt, um ein Ding anzuzeigen, andere für die Mehrzahl, und weil sie je fünf Fälle haben: denn der Vokativ wird nicht eigens angeführt. Sie haben das als Eigenschaft, dass sie teils bestimmt sind, wie hic “dieser“ und haec “diese, dieses“, teils unbestimmt, wie quis “wer, welcher“ und quae “welche“, welches“ (1.F.Sg.f; 1.F.Pl.f/n; 4.F.Pl.n). Weil ihre Systematik nur angedeutet und dünn ist, ist es nicht notwendig, in diesem Buch mehr darüber zu sagen.

31. Die zweite Unterteilung schließt die Wörter ein87, welche Zeiten, keine Fälle, sondern Personen haben. Von diesen Flexionsarten88 gibt es sechs: eine, die “zeitlich“ genannt wird, wie legebam “ich las“, gemebam “ich seufzte“, lego “ich lese“ und gemo “ich seufze“; die andere mit Bezug auf Personen, wie sero “ich sähe“ und meto “ich mähe“, seris “du sähst“ und metis “du mähst“. Die dritte gehört zur Frage, wie scribone “schreibe ich?“, legone “lese ich?“, scribisne “schreibst du?“, legisne “liest du?“. Die vierte ist die des Aussagens, wie fingo “ich stelle mir vor“ pingo “male“, fingis “du stellst dir vor“ und pingis “du malst“; die fünfte steht dem Wünschen89 (und dem Unterordnen), zu, wie dicerem “würde ich doch sagen“, facerem “würde ich doch machen“, dicam “möchte ich doch sagen“, faciam “möchte ich doch machen“. Die sechste gehört den Befehlsformen90, wie cape “fass!“ und rape “raube!“, capito “du sollst fassen“, rapito “du sollst rauben“ (Futur Imperativ).

32. Ebenso gibt es vier Arten von Formen, welche Zeiten und keine Personen aufweisen: beim Fragen, wie foditurne “wird gegraben?“, seriturne “wird gesät?“ und fodieturne “wird gegraben werden?“ und sereturne “wird gesät werden?“ Bei der Aussage kommen dieselben Formen ohne die letzten Silben vor; beim Wünschen, wie vivatur “man soll leben“, ametur “es soll geliebt werden“, viveretur “würde doch gelebt weren“, amaretur “würde doch geliebt werden“. Es steht in Zweifel, ob es diese Formen91 beim Befehlen gibt und ob sie folgendes Verhältnismäßigkeit92 haben: paretur “man soll vorbereiten“ und pugnetur “man soll kämpfen“, parari “beschaftt zu werden“ und pugnari “gekämpft zu werden“.

87 Sinngemäß konkret 88 Konkret- siehe Kommentar 89 Technisch gebraucht auch für den Ausdruck der Möglichkeit 90 Übertragen 91 Sinngemäße konkret, die Verbindung zu den verba impersonalia sollte durch “diese“ andegeutet werden 92 Sinngemäß

45 33. Zu diesen Schemen kommen noch die von vier Einteilungspaaren dazu: die Einteilung nach den Prädikaten “vollendet“ und “unvollendet“, wie emo “ich kaufe“, edo “ich esse“, emi “ich kaufte“ und edi “ich aß“; nach “einmal“ und “öfter“, wie scribo “ich schreibe“, lego “ich lese“, und scriptito “schreibe und schreibe“ (Frequentativ) und lectito “ich lese und lese“; die Einteilung nach “aktiv“ und “passiv“, wie uro “ich zünde an“ ungo “ich salbe“, uror “verbrenne“ und ungor “werde gesalbt“; nach Einzahl und Mehrzahl, wie laudo “ich lobe“, culpo “ich beschuldige“, laudamus “wir loben“, culpamus “wir beschuldigen“. Wie weit sich eine jede von solchen Wortgattungen, von welchen ich die Arten dargelegt habe, erstreckt und was für Formen sie ergibt, wird in den künftigen Büchern, die von den Verbformen handeln, genauer dargelegt werden.

34. Die Wörter der dritten Art, welche mit Zeiten und Fällen gebeugt und deshalb von vielen partizipial genannt werden, sind von der ...

DREI BLÄTTER FEHLEN HIER IN DER VORLAGE

35. …wie wir beugen, fragen wir nach seinen Fällen; auch, wenn ein Dichter der irgendein Wort erdachte, sogar selbst einen Fall falsch von ihm beugte, tadeln wir ihn lieber als ihm zu folgen. Also gibt es die Verhältnismäßigkeit, von der ich spreche beiderseits – sowohl bei den Wörtern, die neu geprägt werden, als auch bei denen, die gebeugt werden. Gewiss gibt es auch die dritte Art, welche sich aus beiden mischt.

46 36. Quarum una quaeque ratio collata cum altera aut simils aut dissimilis, aut saepe verba alia, ratio eadem, et nonnumquam ratio alia, verba eadem. Quae ratio ratio in amor amori, eadem in dolor dolori, neque eadem in dolorem; et cum eadem ratio quae est in amor et amoris sit in amores et amorum, tamen ea, quod non in ea qua oportet confertur a materia, per se solum efficere non potest analogias propter disparilitatem vocis figurarum, quod verbum copulatum singulare cum multitudine. Ita cum est pro portione, ut eandem habeat rationem, tum denique ea ratio conficit id quod postulat analogia; de qua deinceps dicam.

37. Sequitur tertius locus, quae sit ratio pro portione; ea graece vocatur ἀνὰ λόγον; ab ἀνὰ λόγον dicta ἀναλογία. Ex eodem genere quae res inter se aliqua parte dissimiles rationem habent aliquam, si ad eas duas alterae duae res collatae sunt, quae rationem habeant eandem, quod ea bina habent eundem λόγον, dicitur utrumque separatim ἀνὰ λόγον, simul collata quattuor ἀναλογία.

38. Nam ut in geminis, cum similem dicimus esse Menaechmum Menaechmo, de uno dicimus; cum similitudinem esse in his, de utroque: sic cum dicimus eandem rationem habere assem ad semissem quam habet in argento libella ad simbellam, quid sit ἀνὰ λόγον ostendimus; cum utrubique dicimus et in aere et in argento esse eandem rationem, tum dicimus de ἀναλογία.

39. Ut sodalis et sodalitas, civis et civitas non est idem, sed utrumque ab eodem ac coniunctum, sic ἀνὰ λόγον et ἀναλογία idem non est, sed item est congeneratum. Quare si homines sustuleris, sodalis sustuleris; si sodalis, soda- litatem: sic item si sustuleris λόγον, sustuleris ἀνὰ λόγον; si id, ἀναλογίαν.

40. Quae cum inter se tanta sint cognatione, debebis subtilius audire quam dici expectare, id est cum dixero quid de utroque, et erit commune; ne expectes, dum ego in scribendo transferam in reliquum, sed ut potius tu persequare animo.

47 36. Wenn jedes Verhältnis von diesen Arten mit dem anderen verglichen wurde, ist es entweder ähnlich oder unähnlich - oft hat man dasselbe Verhältnis bei verschiedenen Wörtern und manchmal ein anderes bei gleichen Wörtern. Welche Beziehung im Fall von amor “die Liebe“ (1.F.Sg.m) und amori (3.F.Sg.m) vorliegt, trifft auch bei dolor “der Schmerz“ und dolori zu und nicht bei dolor und dolorem (4.F.Sg.m). Obwohl das Verhältnis, das bei amor und amoris (2.F.Sg.m) sowie bei amores (1.F.Pl.m) und amorum (2.F.Pl.m) vorliegt, dasselbe ist, kann es, weil es nicht in dem Gegenstandsbereich verglichen wird, wo es notwendig ist, nur von sich aus keine Analogien aufstellen, wegen der Ungleichheit der Formen, weil ein Einzahlwort mit einem Mehrzahlwort zusammengestellt wurde: wenn die Wörter pro portione stehen, so dass sie dieselbe Relation haben, dann vollendet dieses Verhältnis, was die Analogie fordert; über diese werde ich im Folgenden sprechen.

37. Es folgt das dritte Kapitel: “Was das gleiche Verhältnis ist“; dieses wird Griechisch “gemäß dem logos“ genannt. Von analogon “dem gleichen Verhältnis“ wurde analogia “die Verhältnisgleichung“ benannt. Wenn zwei Dingen aus derselben Klasse, die von einander in irgendeinem Bestandteil verschieden sind93 und ein Verhältnis haben, zwei andere beigefügt werden, die im selben Verhältnis stehen, nennt man, weil diese Wortpaare denselben logos haben, beide für sich genommen je “eine gleiche Relation“, und alle vier Teilnehmer gleichzeitig verglichen Analogie oder Gleichung94.

38. Wie bei Zwillingen nämlich : wenn wir behaupten, dass Menaechmus dem anderen Menaechmus ähnlich ist, sprechen wir über einen; wenn wir behaupten, an ihnen gibt es eine Ähnlichkeit , sprechen wir über beide: so zeigen wir, wenn wir sagen, dass ein As dasselbe Verhältnis zu einem halben As hat, wie in Silber eine Libella zur Simbella, was ἀνὰ λόγον bedeutet; wenn wir urteilen,95 dass beiderseits, sowohl in Kupfer als auch Silber dieselbe Relation vorliegt, dann sprechen wir von einer Analogie.

39. Wie Kamerad und Kameradschaft, Bürger und Bürgerschaft nicht dasselbe sind, sondern beide vom selben Ursprung kommen und verbunden sind so sind ἀνὰ λόγον und ἀναλογία nicht dasselbe, sondern ebenso verwandt. Falls du die Menschen wegnimmst, entfernst du die Kameraden; falls du die Kameraden wegnimmst, so die Kameradschaft; ebenso hebst du je das “gleiche Verhältnis“ auf, wenn du du das Verhältnis überhaupt abschaffst, und somit die ganze Gleichung.

93 Gemeint sind hier zwei Fälle 94 Sinngemäß 95 Hier technisch gebraucht,: das Urteil als wahrer oder falscher Satz

48 40. Da diese Dinge untereinander von so enger Verwandtschaft sind, wirst du genauer zuhören müssen als auf Erklärungen zu warten, das heißt, dass, sobald ich etwas von beiden einzelnen gesagt habe, es auch gemeinschaftlich gilt; auf dass du nicht wartest, bis ich es auf den restlichen Teil der Arbeit schiebe, sondern es lieber im Geist mitverfolgst.

49 41. Haec fiunt in dissimilibus rebus, ut in numeris si contuleris cum uno duo, sic cum decem viginti (nam quam rationem duo ad unum habent, eandem habent viginti ad decem); in nummis, in similibus, sic est ad unum victoriatum denarius, si ad alterum victoriatum alter denarius. Sic item in aliis rebus omnibus pro portione dicuntur ea, in quo est sic quadruplex natura, ut in progenie cum est filius ad patrem, sic si est filia ad matrem, et, ut est in temporibus meridies ad diem, sic media nox ad noctem.

42. Hoc poetae genere in similitudinibus utuntur multum, hoc acutissime geometrae, hoc in oratione diligentius quam alii ab Aristarcho grammatici, ut cum dicuntur pro portione similia esse amorem amori, dolorem dolori, cum ita dissimile esse videant amorem et amori, quod est alio casu, item dolorem dolori, sed dicunt quod ab similibus. A duobus similibus similiter declinantur, ut fit in his nemus olus, nemora olera; alia ab dissimilibus similiter declinantur, ut in articulis ab hic iste, hunc istunc.

43. Analogia quae dicitur, eius genera sunt duo: unum deiunctum sic est: ut unum ad duo sic decem ad viginti; alterum coniunctum sic: ut est unum ad duo, sic duo ad quattuor. In hoc quod duo bis dicuntur, et tum cum conferimus ad unum et tunc cum ad quattuor, hoc quoque natura dicitur quadruplex.

44. Sic e septem chordis citharae tamen duo dicuntur habere tetrachorda, quod quemadmodum crepat prima ad quartam chordam, sic quarta ad septumam respondet; media est alterius prima, alterius extrema. Medici in aegroto septumos dies qui observant, quarto die ideo diligentius signa morbi advertunt, quod quam rationem habuit primus dies ad quartum eandem praesagit habiturum qui est futurus ab eo quartus, qui est septumus a primo.

45. Quadruplices deiunctae in casibus sunt vocabulorum, ut rex regi, lex legi. Coniunctae sunt triplices in verborum tribus temporibus, ut legebam lego legam, quod quam rationem habet legebam ad lego hanc habet lego ad legam. In hoc fere omnes homines peccant, quod perperam in tribus temporibus haec verba dicunt cum proportione volunt pronuntiare.

50 41. Diese Beziehungen finden sich (auch) an einander unähnlichen Dingen, wie bei Zahlen, wenn du zwei mit eins vergleichst sowie zehn und zwanzig (denn zwanzig hat zu zehn dasselbe Verhältnis, wie zwei zu eins); bei ähnlichen Münzen verhält sich ein Denar zu einem Viktoriat, wie ein anderer Denar zu einem anderen Viktoriat; so wird ebenfalls bei allen anderen Dingen von den Merkmalen gesagt, sie seien im gleichen Verhältnis, in welchen auf diese Weise die vierfache Natur besteht, wie sich zum Beispiel verwandtschaftlich der Vater zum Sohn verhält, so verhält sich die Tochter zur Mutter und wie von Zeitbestimmungen der Mittag sich auf den Tag bezieht, so die Mitternacht auf die Nacht.

42. Von den Ähnlichkeiten gebrauchen die Dichter vieles dieser Art, die Geometer auf präziseste Weise und in der Rede die Grammatiker in Anlehnung an Aristarchus sorgfältiger als die anderen, wie, wenn es heißt, dass amorem, amori und dolorem, dolori im rechten Verhältnis ähnlich sind, obwohl sie sehen, dass also amorem und amori, weil es in einem anderen Fall steht, sowie dolorem und dolori einander jeweils unähnlich sind, behaupten sie trotzdem, dass jene trotzdem ähnlich sind, weil sie vom gleichen Wort flektiert sind96. Formen von zwei ähnlichen Wörtern werden ähnlich gebeugt, wie es bei nemus “Hain“, olus “Gemüse“ und nemora, olera „Plural“ passiert. Andere Wörter werden von unähnlichen Ausgangspunkten ähnlich dekliniert, wie bei den Pronomina von hic “dieser“ iste “dieser, verächtlich: der da“ die Akkusative hunc und istunc.

43. Es gibt zwei Arten von dem, was Analogie genannt wird: eine davon ist solchermaßen unverbunden: wie eins zu zwei steht, so zehn zu zwanzig; die andere ist derartig verbunden: wie sich eins zu zwei verhält, so verhält sich zwei zu vier. Weil darin zwei doppelt angeführt wird, sowohl, wenn wir es mit eins vergleichen, als auch mit vier, wird das auch vierfache Natur genannt.

44. So haben Lauten aus sieben Saiten dennoch zwei Vierbünde, weil so die vierte Saite auf die siebte antwortet, wie die erste zur vierten schallt; die mittlere Saite ist die erste des zweiten Bundes und die letzte des ersten. Ärzte, die bei einem Kranken sieben Tage lang Beobachtungen anstellen, achten am vierten daher sorgfältiger auf Symptome, weil die Relation, die der erste Tag zum vierten hatte, voraussagt, dass der Tag, welcher, vom ersten Kontrolltag gezählt (inklusive diesem), der vierte und der siebte, vom ersten Tag an gerechnet, ist, dieselbe Beziehung haben wird..

45. In den Kasus der Substantiva sind die Analogien vierteilig und unverbunden, wie rex “König“ (1.F.Sg.m), regi (3.F.Sg.m), lex “Gesetz“, legi. Verbunden und dreiteilig sind die Analogien in den drei Zeitstufen der Verben, wie legebam “ich las“, lego“ich lese“ und legam“ich werde lesen“, weil lego zu

96 Sinngemäß konkret

51 legam dasselbe Verhältnis hat wie legebam zu lego. Dabei vergehen sich beinahe alle Leute, weil sie fälschlicherweise diese Wörter in den drei Zeiten aufsagen, wenn sie jene im richtigen Verhältnis aussprechen wollen.

52 46. Nam cum sint verba alia infecta ut lego et legis, alia perfecta ut legi et legisti, et debeant sui cuiusque generis in coniungendo copulari, et cum recte sit ideo lego ad legebam, non recte est lego ad legi, quod legi significat quod perfectum, ut haec tutudi pupugi, tundo pungo, tundam pungam, item haec necatus sum verberatus sum, necor verberor, necabor verberabor, iniuria reprehendunt, quod et infecti inter se similia sunt et perfecti inter se: ut tundebam tundo tundam et tutuderam tutudi tutudero; sic amabar amor amabor et amatus eram amatus sum amatus ero. Itaque reprehendundi sunt qui contra analogias dicunt cur dispariliter in tribus temporibus dicantur quaedam verba, natura cum quadruplex sit analogia.

47. Id nonnumquam, ut dixi, pauciores videtur habere partes, sic etiam alias pluris, ut cum est: quemadmodum ad tria unum et duo, sic ad sex duo et quattuor; quae tamen quadripertita comprehenditur forma, quod bina ad singula conferuntur. Quod in oratione quoque nonunquam reperietur sic: ut Diomedes confertur Diomedi et Diomedis, sic dicitur ab Hercules Herculi et Herculis.

48. Et ut haec ab uno capite ac recto casu in duo obliquos discedunt casus, sic contra multa ab duobus capitibus recti casuis confluunt in obliqom unum: nam ut ab his rectis hi Baebiei, hae Baebiae fit his Baebieis, sic est ab his hi Caelii, hae Caeliae his Caeliis.

49. Nonnumquam rationes habet implicatas duas, ut sit una derecta, altera transversa. Quod dico, apertius sic fiet: esto sic expositos esse numeros, ut in primo versu sit unum duo quattuor, in secundo decem viginti quadraginta, in tertio centum ducenti quadringenti. In hac formula numerorum duo inerunt quos dixi λόγοι, qui diversas faciant analogias: unus duplex qui est in obliquis versibus, quod est ut unus ad duo, sic duo ad quattuor; alter decemplex in directis ordinibus, quod est ut unum ad decem, sic decem ad centum.

50. Similiter in verborum declinationibus est bivium, quod et ab recto casu in obliquos declinatur et ab recto in rectos, ita ut formulam similiter efficiant, quod sit primo versu hic albus, huic albo, huius albi; secundo haec alba, huic albae, huius albae; tertio hoc album, huic albo, huius albi. Itaque fiunt per obliquas declinationes ex his analogiae hoc genus Albius Atrius, Albio Atrio, per directas declinationes Albius Atrius, Albia Atria: quae scilicet erit particula ex illa binaria et decenaria formula analogiarum, de qua supra dixi.

53 46. Da nämlich manche Verben unabgeschlossene Handlungen andeuten, wie lego “ich lese“ und legis “du liest“, manche Abgeschlossenes, wie legi “ich habe gelesen97“ und legisti “du hast gelesen“ und beim Zusammenstellen je ihrer Art nach gepaart werden müssen und sich demnach lego zu legebam “ich las“ richtig verhält, ist das Verhältnis von lego zu legi falsch, weil legi etwas Abgeschossenes bezeichnet: wie sie zum Beispiel tutudi “ich habe gestoßen“ und pupugi “ich habe gestochen“, tundo “ich stoße“ und pungo “ich steche“, tundam “ich werde stoßen“ und pungam “ich werde stechen“, ebenso necatus sum “ich bin ermordet worden“ und verberatus sum “ich bin ausgepeitscht worden“, necor “ich werde umgebracht“ und verberor “ich werde ausgepeitscht“, necabor “ich werde umgebracht werden“ und verberabor “ich werde ausgepeitscht werden“ zu Unrecht tadeln, weil die der unabgeschlossenen Handlung und die der abgeschlossenen je untereinander ähnlich sind, wie tundebam “ich stieß“, tundo, tundam und andererseits tutuderam “ ich hatte gestoßen“ tutudi, tutudero “ ich werde gestoßen haben, ebenso amabar “ ich wurde geliebt“ amor “ich werde geliebt“ amabor “ich werde geliebt werden“ und amatus eram “ich war geliebt worden“, amatus sum “ ich bin geliebt worden“, schließlich amatus ero “ ich werde geliebt worden sein“. Also sind diejenigen zurechtzuweisen, welche an der Analogie kritisieren, warum manche Wörter ungleichmäßig in drei Zeitformen genannt werden, wo doch die Analogie in ihrem Wesen vierteilig sei.

47. Analogie scheint manchmal, wie ich gesagt habe, weniger Teile zu haben, so aber ein anderes Mal auch mehr, wie in diesem Fall: wie sich zu drei eins und zwei verhalten, so tun das in Bezug auf sechs zwei und vier, welche Relation aber als vierteilig verstanden wird, weil je ein Paare mit einer Einheit angeglichen wird. Das findet sich so manchmal auch in der Sprache: wie Diomedes“Diomedes“ (1.F.Sg.m), Diomedi und Diomedis (2.F.Sg.m) verglichen werden, so kommt von Hercules “Hercules“ (1.F.Sg.m) Herculi und Herculis (2.F.Sg).

48. Und wie diese Wörter von einem Ausgangspunkt, dem Nominativ in zwei abhängige Fälle sich aufteilen, so fließen im Gegenteil viele von zwei Ausgangspunkten des Nominativs in einem abhängigen Fall zusammen. Denn wie aus diesen Nominativen hi Baebiei “die Baebier“ und hae Baebiae “die...- innen“ his Baebiis (3/6.F.Pl.m/f) herrührt, so stammt von diesen Wörtern- hi Caelii “die Caelier“ , hae Caeliae, - his Caeliis.

49. In einigen Fällen erhält man zwei verschränkte Relationen, sodass es eine reihenweise und eine spaltenweise gibt. Was ich sage, wird sich so erhellen: Man gehe so von einer Zahlenanordnung aus, dass in der ersten Reihe eins, zwei und vier steht, in der zweiten 10, 20, 40 und in der dritten 100, 200, und 400. In

97 Zur Verdeutlichung des Perfekts

54 dieser Tabelle von Zahlen sind zwei sogenannte logoi enthalten, die verschiedene Verhältnisgleichungen ergeben: die Verdoppelung, welche in den Reihen begriffen ist: wie sich eins zu zwei verhält, so verhält sich zwei zu vier; die andere, in den Spalten, ist die Verzehnfachung: wie sich eins zu zehn verhält, verhält sich zehn zu hundert.

50. In den Wortbeugungen besteht dieser doppelte Boden auf ähnliche Weise, weil man vom Nominativ in die anderen Fälle, und vom Nominativ in die Nominative beugt, sodass die Wörter eine ähnliche Tabelle ergeben, was in der ersten Reihe so aussieht: hic albus, huic albo, huius albi; in der zweiten: haec alba, huic albae, huius albae; in der dritten: hoc album, huic albo, huius albi. Deshalb entstehen kraft der spaltenweisen Beugungen aus diesen Wörtern derartige Verhältnisgleichungen: Albius Atrius, Albio Atrio; in den spaltenweisen Beugungen haben wir: Albius Atrius, Albia Atria: das wird selbstredend Teil jener Verdopplungs- und Verzehnfachungstabelle sein, von der ich oben sprach.

55 51. Analogia fundamenta habet aut a voluntate hominum aut a natura verborum aut a re utraque. Voluntatem dico impositionem vocabulorum, naturam declinantionem vocabulorum quo decurritur sine doctrina. Qui impositionem sequetur, dicet si simile in recto casu dolus et malus, fore in obliquo dolo et malo; qui naturam sequetur, si sit simile in obliquis Marco Quinto, fore ut sit Marcus Quintus; qui utrumque sequetur, dicet si sit simile, transitus ut est in servus serve, fore ut sit item cervus cerve. Commune omnium est, ut quattuor figurae vocis habeant proportione declinatus.

52. Primum genus est ortum ab similitudine in rectis casibus, secundum ab similitudine quae est in obliquis, tertium ab similitudine quae est in transitibus de casu in casum. Primo genere ab imposito ad naturam proficiscimur, in secundo contra, in tertio ab utroque. Quocirca etiam hoc tertium potest bifariam divisum tertium et quartum dici, quod in eo vel prosus et rosus potest dici.

53. Qui initia faciet analogiae impositiones, ab his obliquas figuras declinare debebit; qui naturam, contra; qui ab utraque, reliquas declinationes ab eiusmodi transitibus. Impositio est in nostro dominatu, nos in naturae: quemadmodum enim quisque volt, imponit nomen, at declinat quemadmodum volt natura.

54. Sed quoniam duobus modis imponitur vocabulum aut re singulari aut multitudine, singulari, ut cicer, multitudinis, ut scalae, nec dubium est, quin ordo declinatuum, in quo res singulares declinabuntur solae, ab singulari aliquo casu proficiscatur, ut cicer ciceri ciceris, item contra in eo ordine, qui multitudinis erit solum, quin a multitudinis aliquo casu ordiri conveniat, ut scalae scalis scalas: aliud videndum est, cum duplex natura copulata ac declinatuum bini fiant ordines, ut est Martes, unde tum ratio analogiae debeat ordiri, utrum ab singulari re in multitudinem an contra.

55. Neque enim si natura ab uno ad duo pervenit, idcirco non potest amplius esse in docendo posterius, ut inde incipias, ut quod sit prius ostendas. Itaque et hi qui de omni natura disputant atque ideo vocantur physici, tamen ex his ab universa natura profecti retro quae essent principia mundi ostenderunt. Oratio cum ex litteris constet98, tamen ea grammatici de litteris ostendunt.

98 Taylor hat hierfür “constat“

56 51. Analogie hat ihre Grundlagen von der Willkür der Menschen oder der Natur der Wörter, oder von beidem her. Willkür nenne ich die Neuprägung der Wörter, und Natur die Beugung der Wörter, welcher Ablauf ohne theoretisches Wissen geschieht. Wer der Neuprägung folgt, wird sagen, dass, wenn dolus “List“ und malus “schlecht“ ähnlich im Nominativ sind, dolo und malo (3/6.F.Sg.m/n) sich in abhängien Fällen ergeben werden; wer der Natur folgt, wird behaupten, dass, wenn Marco und Quinto (3./6.F) in den abhängigen Fällen ähnlich sind, man die Nominative Marcus und Quintus erhält; Wer beidem folgt, wird annehmen, dass, wenn es eine Ähnlichkeit gibt, wie den Übergang von servus “Sklave“ zu serve “Sklave!“ (5.F.Sg)“, sich auch die Formen cervus “Hirsch“ und cerve ergeben. Allen ist gemeinsam, dass vier Wörter ihre Beugung im richtigen Verhältnis haben.

52. Die erste Klasse ist von der Ähnlichkeit in den Nominativen begründet, die zweite von der in den abhängigen Fällen. Die dritte leitet sich von der Ähnlichkeit ab, die sich in den Übergängen von einem Fall zu den anderen zeigt. Im ersten Schema brechen wir von der Prägung zur Natur auf, im zweiten umgekehrt, im dritten von beidem. Darum kann dieses dritte Muster, das zweigeteilt ist, drittes und viertes genannt werden, weil darin vorwärts und zurück begründet werden kann.

53. Wer die Wortprägungen zum Ausgangspunkt der Analogie macht, wird daraus die abhängigen Formen beugen müssen; wer das mit der Natur tut, wird das Gegenteil unternehmen müssen; wer von beidem ausgeht, wird die anderen Beugungvorgänge auf der Grundlage derartiger Fallübergange zeigen müssen. Die Wortprägung liegt in unserer Macht, wir in der der Natur: denn wie ein jeder will, prägt er einen Namen, aber er beugt ihn, wie die Natur es will.

54. Weil aber ein Substantiv auf zwei Arten geprägt wird, entweder in Einzahl oder Mehrzahl, wie cicer “Kircherbse“ im Singular, scalae “Stiege“ im Plural und kein Zweifel besteht, dass die Beugungsreihe, in der nur Einzahlwörter dekliniert werden, bei irgendeinem Einzahlfall anfängt, wie cicer (1.F.Sg.m), ciceri (3.F.Sg.m), ciceris (2.F.Sg.m), ist es ebenso zweifelsfrei, dass es passt, in der Reihe, die nur der Mehrzahl zusteht, bei einem Fall der Mehrzahl zu beginnen, zum Beispiel scalae (1.F.Pl.f), scalis (3./6.F.Pl.f) scalas (4.F.Pl.f): etwas anderes muss berücksichtigt werden, da die Natur, wie bei Mars “die Gottheit“ und Martes99 zweifach gefügt ist und zwei Flexionsreihen entstehen: von wo aus die Theorie der Analogie100, ob von Einzahl in Mehrzahl oder umgekehrt, ihre Richtung nehmen soll.

99plural, metonymisch, z.B. Marsstatuen 100Konkret

57 55. Denn, wenn die Natur auch von eins weg zu zwei gelangt , ist es deswegen nicht unmöglich, dass das Spätere in der Erklärung gewichtiger ist, so dass du von da beginnst, um zu zeigen, was früher kommt. Daher zeigen auch die, welche über die ganze Natur Erörterungen anstellen und deswegen Naturphilosophen genannt werden, nachdem sie nun von der ganzen Natur anhand der Wirkungen ausgegangen sind, rückwärts, welche die Ursachen der Welt sind. Obwohl die Rede aus Buchstaben besteht, zeigen mit ihr die Gram- matiker Wissen über die Buchstaben auf.

58 56. Quare in demonstrando, quoniam potius proficisci oportet ab eo quod apertius est quam ab eo quod prius est et potius quam ab corrupto ab incorrupto principio, ab natura rerum quam ab lubidine hominum, et haec tria quae sequenda magis sunt minus sunt in singularibus quam in multitudinis, a multitudine commodius potest ordiri, quod in his principiis magis est rationis verbis fingendis. Ex multitudinis verborum forma facilius singularia videri posse quam ex singularibus multitudinis haec ostendunt: trabes trabs duces dux.

57. Videmus enim ex his verbis trabes duces de extrema syllaba E litteram exclusam et ideo in singulari factum esse trabs dux. Contra ex singularibus non tam videmus quemadmodum facta sint ex B et S trabes et ex C et S duces.

58. Si multitudinis rectus casus forte figura corrupta erit, id quod accidit raro, prius id corrigemus quam inde ordiemur; ab obliquis adsumere oportet figuras eas quae non erunt ambiguae, sive singulares sive multitudinis, ex quibus id, cuius modi debent esse, perspici possit.

59. Nam nonnumquam alterum ex altero videtur, ut Chrysippus scribit, quemadmodum pater ex filio et filius ex patre, neque minus in fornicibus propter sinistram dextra stat quam propter dextram sinistra. Quapropter et ex rectis casibus obliqui et ex obliquis recti et ex singularibus multitudinis et ex multitudinis singulares nonnunquam recuperari possunt.

60. Principium id potissimum sequi debemus, ut in eo fundamentum sit in natura, quod in declinationibus ibi facilior ratio. Facile est enim animadvertere, peccatum magis cadere posse in impositiones eas quae fiunt plerumque in rectis casibus singularibus, quod homines imperiti et dispersi vocabula rebus imponunt, quocumque eos libido invitavit: natura incorrupta plerumque est suapte sponte, nisi qui eam usu inscio depravabit.

61. Quare si quis principium analogiae potius posuerit in naturalibus casibus quam in impositiciis, non multa ei in consuetudine occurrent et a natura libido humana corrigetur, non a libidine natura, quod qui impositionem sequi voluerint facient contraria.

62. Sin ab singulari quis potius proficisci volet, initium facere oportebit ab sexto casu, qui est proprius Latinus: nam eius casuis litterarum discriminibus facilius reliquorum varietatem discernere poterit, quod ei habent exitus aut in A ut hac terra, aut in E ut hac lance, aut in I ut hac levi, aut in O ut hoc coelo, aut in U ut hoc versu. Igitur ad demonstrandas declinationes biceps via haec.

59 56. Daher kann man bei einer Beweisführung, weil es nötig ist, eher mit dem zu eröffnen, das klarer als mit dem, das früher ist und lieber als mit einem entstellten Ausgangspunkt mit einem klaren, besser mit dem Wesen der Dinge beginnen als mit menschlicher Beliebigkeit und weil diese drei Prinzipien, die es in größerem Ausmaß zu befolgen gilt, sich weniger in den Einzahl - als in den Mehrzahlformen finden, passender bei der Mehrzahl beginnen, weil es in den Pluralformen als den Anfangsgründen mehr Regelmäßigkeit gibt, um die Wortformen zu rekonstruieren101. Dass die Einzahlformen leichter aus denen der Mehrzahl erkannt werden können, als die Mehrzahlformen aus denen der Einzahl, zeigen folgende Wörter: trabes “die Balken“ (1.F.Pl.) und trabs “der Balken“ (1.F.Sg.), duces “die Führer“ und dux “der Führer“.

57. Wir erkennen nämlich aus diesen Wörtern trabes und duces, dass von der letzte Silbe der Buchstabe E ausgesondert wurde und sich deswegen in der Einzahl trabs und dux gebildet haben. Dagegen ersehen wir aus den Einzahlformen nicht so sehr, wie sich aus B und S trabes sowie aus C und S duces gebildet haben.

58. Wenn gerade102 der Nominativ des Plurals in seiner Gestalt entstellt ist, was selten geschieht, werden wir dies in Ordnung bringen, bevor wir mit ihm beginnen; von den abhängigen Fällen ist es notwendig, die Formen anzunehmen, welche nicht mehrdeutig sind, ob solche der Einzahl oder der Mehrzahl. Aus diesen kann man folgern, welcher Art die Nominative sein müssen.

59. Denn manchmal wird das eine aus dem anderen ersichtlich, wie der Vater aus dem Sohn und der Sohn aus dem Vater, wie Chrysipp schreibt, und nicht weniger steht bei Bögen die rechte Säule neben der linken als die linke neben der rechten. Aufgrund dessen können einerseits gelegentlich die abhängigen Fälle aus den Nominativen und umgekehrt wiedererlangt werden, zum Beispiel auch Einzahlformen aus denen der Mehrzahl und vice versa103.

60. Am ehesten sollten wir dieser Richtlinie folgen, dass in diesem Prozess die Grundlage in der Natur besteht, weil sie bei den Beugungen der einfachere Zugang ist. Es ist nämlich leicht zu bemerken, dass Fehlerhaftigkeit mehr jene Wortprägungen befallen kann, welche meist in den Nominativen der Einzahl zustande kommen, weil unverständige und zerstreute Menschen den Dingen Worte auferlegen, wie gerade die Lust sie dazu einlädt; Meistens ist die Natur von sich aus unversehrt, wenn nicht jemand sie durch laienhaften Gebrauch

101 Sinngemäß konkret 102 Übertragen 103 Freie Übersetzung

60 verunstaltet104.

61. Daher wird, falls jemand die Grundlage der Analogie lieber in die geordneten Fälle legt als in lexikalische Neuschöpfungen, ihm nicht viel Hinderliches im Bereich des Sprachgebrauchs begegnen105, und die menschliche Willkür wird von der Natur verbessert, nicht von der Willkür die Natur, was im Gegensatz dazu diejenigen unternehmen, die der Neuprägung folgen.

62. Falls jemand lieber beim Singular beginnen möchte, wird er den Anfang beim sechsten Fall machen müssen, welcher typisch lateinisch ist: denn aufgrund der Buchstabenunterschiede dieses Falls wird er leichter die Vielfalt der übrigen auseinander halten können, weil die Ablativformen den Ausgang in A nehmen, wie bei hac terra “auf dieser Erde/an dieser Stelle“, oder in E, wie bei hac lance “in dieser Schüssel “, oder in I, wie bei hac levi „auf dieser/diesem leichten...“, oder in O, wie hoc coelo “in diesem Himmel/an dieser Stelle des Himmels“, oder in U, wie bei hoc versu „in diesem Vers/ an dieser Versstelle“. Also ist dieser Weg, die Beugungen zu zeigen, doppelt beschaffen.

104 Gnomisches Perfekt 105Sinngemäß

61 63. Sed quoniam ubi analogia, tria, unum quod in rebus, alterum quod in vocibus, tertium quod in utroque, duo priora simplicia, tertium duplex, animadvertendum haec quam inter se habeant rationem.

64. Primum ea quae sunt discrimina in rebus, partim sunt quae ad orationem non attineant, partim quae pertineant. Non pertinent ut ea quae observant in aedificiis et signis faciendis ceterisque rebus artifices, e quis vocantur aliae harmonicae, sic item aliae nominibus aliis; sed nulla harum fit loquendo pars ad orationem quae attineat.

65. Quae pertinent res eae sunt quae verbis dicuntur pro portione neque a similitudine quoque vocum declinatus habent, Iupiter Marspiter, Iovi Marti. Haec enim genere nominum et numero et casibus similia sunt inter se, quod utraque et nomina sunt et virilia sunt et singularia et casu nominandi et dandi.

66. Alterum genus vocale est, in quo voces modo sunt pro portione similes, non res, ut biga bigae, nuptia nuptiae: neque enim in his res singularis subest una, cum dicitur biga quadriga, neque ab his vocibus quae declinata sunt multitudinis significant quicquam; ideo quod omnia multitudinis quae declinantur ab uno, ut a merula merulae, sunt eius modi ut singulari subiungatur, sic merulae duae, catulae tres, faculae quattuor.

67. Quare cum idem non possit subiungi, cum non dicimus biga una, quadrigae duae, nuptiae tres, sed pro eo unae bigae, binae quadrigae, trinae nuptiae, apparet non esse a biga et quadriga bigae et quadrigae; sed ut est huius ordinis una duae tres principium una, sic in hoc ordine altero unae binae trinae principium est unae.

68. Tertium genus est illud duplex quod dixi, in quo et res et voces similiter pro portione dicuntur ut bonus malus, boni mali, de quorum analogia et Aristophanes et alii scripserunt. Etenim haec denique perfeca ut in oratione, illae duae simplices incochatae analogiae; de quibus tamen seperatim dicam, quod his quoque utimur in loquendo.

69. Sed prius de perfecta, in qua et res et voces quadam similitudine continentur, cuius genera sunt tria: unum vernaculum ac domi natum, alterum adventicium, tertium nothum ex peregrino hic natum. Vernaculum est ut sutor et pistor, sutori pistori; adventicium est ut Hectores Nestores, Hectoras Nestoras; tertium illud nothum ut Achilles et Peles.

62

63. Weil es aber, wo es Analogie gibt, drei Gattungen existieren, eine mit Bezug auf sachliche Merkmale, die zweite auf die lautliche Ebene, die dritte auf beides und weil die zwei vorher genannten einfach sind, die dritte zweiartig ist, muss man darauf achten, welches Verhältnis diese untereinander haben.

64. Zuerst diese Unterscheidungsmerkmale, die in den Dingen liegen: teils gibt es solche, die die Sprache nicht betreffen, teils solche, die sie betreffen. Nicht betreffen die Sprache solche, wie sie Künstler beim Herstellen von Gebäuden, Statuen und anderen Dingen beobachten, von welchen Verhältnissen106 einige harmonisch genannt werden, und genauso107 andere mit anderen Namen bezeichnet werden; aber keines von ihnen wird Teil des Sprechens, der sich auf die Sprache bezieht.

65. Welche Merkmale Bezug auf die Sprache haben, sind solche, die durch Wörter im gleichen Verhältnis ausgedrückt werden und ihre Beugungs- eigenschaften108 nicht auch von einer Ähnlichkeit der Laute haben, wie Iupiter Marspiter “Mars“ und Iovi (3.F.Sg.m), Marti (3.FSg.m). Diese Wörter sind nämlich hinsichtlich Wortart, Zahl, Fall einander ähnlich, weil beide Eigennamen, männlich, in der Einzahl sind, als auch im ersten und dritten Fall stehen.

66. Die andere Gattung ist die der Lautanalogien, in der nur die Laute im Verhältnis ähnlich sind, nicht die grammatischen Eigenschaften, wie biga, bigae “das Zweigespann“, nuptia, nuptiae “die Hochzeit“: denn eine Substanz der Einzahl liegt ihnen, wenn biga, quadriga gesagt wird, nicht zugrunde, und nicht zeigen die Formen, die von diesen Lauten gebildet wurden, irgendetwas von Mehrzahl an; daher ergibt sich, weil alle Pluralwörter109, die von der Einzahl her gebildet werden, wie von merula “Amsel“ merulae “Nominativ Plural“, derartig sind, dass man sie der Einzahl unterordnet, so merulae duae “zwei Amseln“, catulae tres “drei Hundewelpen“, faculae quattuor “vier Fackeln“.

67. Daher wird klar, weil das nicht als derselbe Tatbestand untergeordnet werden kann110, wenn wir nicht biga una “Kardinalzahl“, quadrigae duae, nuptiae tres sagen, sondern stattdessen unae (Distributivzahlwort) bigae “ein Zweigespann“, binae quadrigae “zwei Zweigespanne“, trinae nuptiae “drei Hochzeiten“, dass bigae und quadrigae nicht von biga und quadriga abstammen; sondern wie una der Ausgangspunkt der Kardinalzahlen una, duae, tres ist, so ist in dieser anderen Anordnung der Distributivzahlen unae, binae, trinae der 106 Konkret 107 Sinngemäß 108 Konkret für “declinatus“ 109 Die keine reinen Pluralwörter sind, sondern regelmäßig aus der Einzahl folgen 110 Nämlich, dass ein plurale tantum nicht von der Einzahl regelmäßig gebildet wird

63 Anfangspunkt unae.

68. Die dritte Analogieklasse ist jene erwähnte zweiartige, in welcher sowohl Laute als auch grammatische Substanz im richtigen Verhältnis geäußert werden, wie bonus “gut,“ malus “schlecht“, boni mali (2.F.Sg.m/n), über deren Analogie Aristophanes und andere schrieben. Denn diese ist schließlich, eine wie in der Sprache nur mögliche, vollendete Analogie, jene zwei einfachen sind unvollendete Analogien; über diese werde trotzdem111 ich gesondert sprechen, weil wir sie beim Sprechen ebenfalls gebrauchen.

69. Doch zuerst geht es um die vollendete Art, in welcher grammatische Merkmale und Laute von einer speziellen Ähnlichkeit umfasst werden, von der es drei Unterarten gibt: eine heimische und zu Hause entstandene, die zweite als die der Fremdwörter, die dritte als in der Ferne gezeugte und hier geborene. Heimisch sind beispielsweise sutor “Schuster“ und pistor “Bäcker“, sutori, pistori (3.F.Sg.m); Fremdwörter112 sind beispielsweise Hectores, Nestores “Männer wie Hektor und Nestor, Nominativ Plural“, Hectoras, Nestoras “Akkusativ Plural“; Die dritte Klasse ist jene der Hybriden, wie Achilles und Peles “Achill und Peleus“.

111 Sinngemäß 112 Adventicium bedeutet alle aus der Fremde kommenden Wörter - unverändert übernommen oder nicht

64 70. De genere primo...secundo genere multi utuntur, non modo poetae sed etiam plerique omnes qui soluta oratione loquuntur haec. Primo dicebant ut quaestorem praetorem, sic Hectōrem Nestōrem; itaque Ennius ait: “Hectoris natum de muro iactarier“. Accius haec in tragoediis largius a prisca consuetudine movere coepit et ad formas Graecas verborum magis revocare; itaque Valerius ait: “Accius Hectorem nollet facere, Hectora mallet“. Quod adventicia pleraque habemus Graeca, secutum ut de nothis Graecanicos quoque nominatus plurimos haberemus; itaque ut hic alia Graeca alia Graecanica, sic analogiae.

71. E quis quae hic nothae fiunt declinationes, de his aliae sunt priscae ut Bacchidēs et Chrysidēs, aliae iuniores ut Chrysiděs et Bacchiděs, aliae recentes ut Chrysidas et Bacchidas; cum his omnibus tribus utantur nostri, maxime qui sequontur media in loquendo offendunt minimum, quod prima parum similia videntur esse Graecis, unde sint tralata, tertia parum similia nostris.

72. Omnis analogiae fundamentum similitudo quaedam, ea, ut dixi, quae solet esse in rebus et in vocibus et in utroque; in qua harum parte cumque sit conferendo et cuius modi videndum. Nam, ut dixi, neque rerum neque vocis similitudo separatim satis est, quod utraque parte opus est simili ad has duplicis quas in loquendo quaerimus analogias verborum exprimendas. Quas ad loquendum ut perducas accedere debet usus: alia enim ratio qua facias vestimentum, alia quemadmodum utare vestimento.

73. Usuis species videntur esse tres: una consuetudinis veteris, altera consuetudinis huius, tertia neutra. Vetera ut cascus casci, surus suri; huius consuetudinis ut albus caldus, albo caldo; neutrae ut scala scalam, phalera phaleram. Ad quas accedere potest quarta mixta ut amicitia inimicitia, amicitiam inimicitiam. Prima est qua usi antiqui et nos reliquimus, secunda qua nunc utimur, tertia qua utuntur poetae.

74. Analogiae non item ea definienda quae derigitur ad naturam verborum atque illa quae ad usum loquendi. Nam prior definienda sic: analogia est verborum similium declinatio similis; posterior sic: analogia est verborum similium declinatio similis non repugnante consuetudine communi. Ad quam harum duarum ad extremum additum erit hoc 'ex quadam parte', poetica analogia erit definita. Harum primam sequi debet populus, secundam omnes singuli e populo, tertiam poetae.

65 70. Hinsichtlich der ersten Art...viele bedienen sich der zweiten Kategorie, nicht nur die Dichter, sondern auch meist alle, die in ungebundener Rede diese Wörter ausdrücken. Anfänglich sagten sie so Hectorem und Nestorem (4.F.Sg.m), , wie quaestorem “Quästor,“ und praetorem “Prätor, Akkusativ“; daher schreibt Ennius: „Hektors Sohn wurde von der Mauer gestoßen. Accius begann, solche Wörter in den Tragödien von der tradierten Gewohnheit abzuwenden und sie vermehrt auf die griechischen Wortformen zurückzuberufen; folglich sagt Valerius: “Accius wollte die Form Hectorem nicht verwenden113, Hectora (griechischer Akkusativ) lieber.“ Weil wir am meisten griechische Fremdwörter haben, ergibt sich als Folge, dass wir auch sehr viele griechische Bezeichnungen aus dem Bereich der Hybride besitzen. Daher sind, wie es im einen Bereich manches Griechische gibt, im anderen manches dem Griechischen Ähnliche, entsprechend114 auch die Analogien beschaffen.

71. Welche Lehndeklinationen hier aus diesen entstehen: von ihnen sind einige alteingesessen, wie Bacchidēs und Chrysidēs, andere jünger, wie Chrysidĕs und Bacchidĕs, andere ganz neu, wie Chrysidas und Bachidas; mögen auch unsere Landsleute alle drei Arten gebrauchen, so 115wirken diejenigen beim Sprechen am wenigsten anstößig, die sich besonders an die mittleren Formen halten, weil die erstgenannten den Griechischen als zu unähnlich erscheinen, woher sie übertragen wurden, die dritten als den unseren zu unähnlich.

72. Die Grundlage aller Analogie ist eine Ähnlichkeit, und zwar eine, die, wie ich sagte, üblicherweise in den grammatischen Merkmalen, den Lauten und in beidem ist; Man muss durch Vergleichen darauf achten, in welchem Teil von diesen die Analogie besteht und auf welche Weise. Denn, wie ich behauptete, ist eine Ähnlichkeit der Dinge oder des Lautes für sich genommen nicht ausreichend, weil es einer beidteiligen Ähnlichkeit bedarf, um diese doppelte Gleichungen der Worte auszudrücken, nach denen wir beim Sprechen trachten. Um diese zum Sprechakt überzuleiten, muss der Sprachgebrauch hinzutreten: denn es ist eine Art von Wissen, wie man Kleidung herstellt, und eine andere, wie man sie anziehen soll.

73. Es scheint drei Arten des Sprachgebrauchs zu geben: den des altertümlichen Sprachumgangs, den des gegenwärtigen und einen der keines von beidem ist. Es finden sich alte Wörter wie cascus, casci (1.u.2..F.Sg.m/n) “alt“ und surus, suri “Zweig“ (m), solche des kontemporären Umgangs, albus “weiß“, caldus “warm“ und albo, caldo (3./6.F.Sg.m/n) ; die, welche keines der beiden

113Sinngemäß 114Konkret 115Sinngemäße Ergänzung

66 sind, scala “Stiege“, scalam (4.F.Sg.f) und phalera “Brustschmuck“, phaleram. Zu diesen kann eine vierte hinzustoßen, mit Wörtern wie zum Beispiel amicitia “die Freundschaft“, inimicitia “die Feindschaft“ und amicitiam, inimicitiam (4.F.Sg.f). Die erste Gattung ist, welche die Alten gebraucht haben, die zweite, welche wir nun benutzen, die dritte, auf welche die Dichter zugreifen.

74. Die Analogie, welche sich auf die Natur der Wörter bezieht und diejenige, die mit dem Sprachgebrauch zu tun hat, dürfen nicht gleichartig bestimmt werden. Die erstere ist so festzusetzen: Analogie ist die ähnliche Beugung ähnlicher Wörter; die letztere folgendermaßen: Analogie ist die ähnliche Beugung ähnlicher Wörter ohne im Widerspruch zum gemeinschaftlichen Sprachgebrauch116 zu stehen. Bei diesem der beiden Teilbereiche wird am Ende die Beifügung “bis zu einem gewissen Maß“ gemacht, und die poetische Analogie ist festgelegt. Der ersten von diesen Kategorien muss das Volk folgen, der zweiten jeder einzelne aus dem Volk, der dritten die Dichter.

116 = ohne Einspruch des gemeinschaftlichen Sprachgebrauchs

67 75. Haec diligentius quam apertius dicta esse arbitror, sed non obscurius quam de re simili definitiones grammaticorum sunt, ut Aristeae, Aristodemi, Aristocli, item aliorum, quorum obscuritates eo minus reprehendae, quod pleraeque definitiones re incognita propter summam brevitatem non facile perspiciuntur, nisi articulatim sunt explicatae.

76. Quare magis apparebit, si erit aperte de singulis partibus: quid dicatur verbum, quid similitudo verbi, quid declinatio, quid similitudo declinationis, quid non repugnante consuetudine communi, quid ex quadam parte.

77. Verbum dico orationis vocalis partem quae sit indivisa et minima. Si declinationem naturalem habeat, simile est verbum verbo tum quom et res quam significat et vox qua significat sunt in figura e transitu declinationis pariles. Declinatio est cum ex verbo in verbum aut ex verbi discrimine, ut transeat mens, vocis commutatio fit aliqua. Similitudo declinationis, cum item ex aliqua figura in figuram transit, ut id transit cum quo confertur.

78. Adiectum est 'non repugnante consuetudine communi' quod quaedam verba contra usum veterem inclinata patietur, ut passa Hortensium dicere cervices cervix, quaedam non, ut si dicas pro fauces faux. Ubi additur 'ex quadam parte', significat non esse in consuetudine in his verbis omnis partis, ut declinatum ab amo vivo, amor vivor.

79. Quid videretur analogia in oratione et quas haberet species et quae de his sequenda videretur, ut brevi potui informavi; nunc, in quibus non debeat esse ac proinde ac debeat soleat quaeri, dicam. Ea fere sunt quattuor genera: primum in id genus verbis quae non declinantur analogia non debet quaeri, ut in his nequam mox vix.

80. De his magis in alio quam in alio erratur verbo. Dant enim non habere casus mox et vix, nequam habere, quod dicamus hic nequam et huius nequam et huic nequam. Cum enim dicimus hic nequam et huius nequam, tum hominis eius, quem volumus ostendere esse nequam, dicimus casus et ei proponimus tum hoc nomen, cuius putamus nequitiam.

81. Quod vocabulum factum, ut ex non et volo nolo, sic ex ne et quicquam, item media extrita syllaba coactum est nequam. Itaque ut eum quem putamus esse non hili dicimus nihili, sic in quo putamus esse ne quicquam dicimus nequam.

68

75. Das, so glaube ich, ist sorgfältiger als klar gesagt worden, aber nicht verdunkelter als es die Bestimmungen der Grammtiker über denselben Gegenstand sind, beispielsweise die des Aristeas, Aristodemus, Aristocles und ebenso von anderen, deren dunkle Stellen umso weniger zu tadeln sind, weil die meisten Klassifikationen, da man die Sache wegen der außerordentlichen Kürze der Werke nicht verstand, nur schwer erkannt werden, wenn sie nicht ausdrücklich erklärt sind.

76. Daher wird es mehr Klarheit geben, wenn lückenlos über die einzelnen Teile gesprochen wurde: was “Wort“ genannt werden soll, was “Wort- ähnlichkeit“, was “Beugung“, was “Beugungsähnlichkeit“, was “nicht im Widerspruch zum gemeinschaftlichen Sprachgebrauch“ bedeutet und was “bis zu einem gewissen Maß“.

77. “Wort“ nenne ich einen Teil der gesprochenen Sprache, der die kleinste unteilbare Einheit darstellt. Falls es einen natürlichen Flexionsverlauf hat, ist dann ein Wort einem anderen ähnlich, sobald die Substanz, die es bedeutet und die Lautkombination, durch die es bedeutet, in der Flexionsform korrespondieren117. Um Beugung handelt es sich, wenn eine Lautveränderung von einem Wort ins andere stattfindet oder von einem Falle ausgehend , so dass der Verstand ihn weiterbeugt . Beugungsähnlichkeit besteht, wenn ein Wort von einer Form in die andere auf dieselbe Weise118 übergeht, wie das, womit es verglichen wird.

78. Der Ausdruck „ohne Einspruch des gemeinschaftlichen Sprachgebrauchs“ wurde hinzugefügt, weil dieser es duldet, dass gewisse Wörter gegen die Tradition gebeugt werden, wie er es beispielsweise zugelassen hat, dass Hortensius cervix “Nacken“ statt cervices (nur im Plural) sagt, und bestimmte Wörter wiederum nicht duldet, wie wenn man vielleicht faux statt fauces “Schlund, Pluralwort“ äußert. Wo die Beifügung “bis zu einem gewissen Maß“ steht, zeigt dies an, dass von den betroffenen Wörtern nicht alle Teile in üblicher Verwendung sind, wie von amo “ich liebe“ und vivo “ich lebe“ zu die Formen amor “ich werde geliebt“ und vivor (passiv!).

79. Wie die Analogie in der Rede erscheint, welche Unterarten sie hat und welchen von ihnen man ersichtlich zu folgen hat, führte ich, so kurz ich konnte, aus; nun werde ich diese Bereiche darstellen, wo sie nicht bestehen darf und wo, gleichsam als ob sie es müsste , sie oft gesucht wird. Es gibt im Wesentlichen 119 vier Klassen: Erstens darf bei solchen Wörtern, die nicht gebeugt werden, nach

117Sinngemäß 118Sinngemäß für item 119 Sinngemäß

69 Analogie nicht gesucht werden, wie bei nequam “nichtsnutzig“, mox “bald“, vix “kaum“.

80. Man irrt beim einen von diesen Wörtern mehr als beim anderen. Die Leute behaupten nämlich, dass mox und vix keine Fälle haben, nequam schon, weil wir hic nequam “dieser nichtsnutzige“, huius nequam (2.F.Sg.m/n), huic nequam (3.F.Sg.) sagen. Denn immer wenn wir hic nequam, huius nequam äußern, führen wir den Fall des120 Menschen, den wir als nichtsnutzig hinstellen wollen, an und stellen dem dann die Bezeichnung voran, an dessen Untauglichkeit wir denken.

81. Dieses Begriffswort entstand so aus ne “nicht“ und quicquam “irgendetwas“, wie aus non “nicht“ und volo “ich will“ nolo “ich will nicht“. Ebenso wurde nequam durch Ausfall der mittleren Silbe verkürzt. Daher nennen wir solchermaßen den nichtsnutzig, von welchem wir meinen, nichts Taugliches sei an ihm, wie wir den nichts wert nennen, von dem wir nichts halten.

120 des Namens des Menschen

70 82. Secundo, si unum solum habent casum in voce, quod non declinetur, ut litterae omnes. Tertio, si singularis est vocabuli series neque habet cum qua comparari possit, ut esse putant caput capiti capitis capite. Quartum, si ea vocabula quattuor quae conferuntur inter se rationem non habent quam oportet, ut socer socrus, soceros socruum.

83. Contra in quibus debeat quaeri analogia, fere totidem gradus debent esse coniuncti: primum ut sint res, secundum ut earum sit usus, tertium uti hae res vocabula habeant, quartum ut habeant declinatus naturalis. De primo gradu, quod natura subest et multitudinis et singularis, dicimus hi asses hosce asses, hic as hunc assem; contra quod in numeris finitis multitudinis natura singularis non est, dicitur hi duo et hi tres, his duobus et his tribus.

84. Secundo gradu si est natura neque est usus, id genus ut sit discrimi- nandum, ut fit in faba et id genus, quae item et ex parte et universa nominamus, non enim opus fuit ut in servis....

71 82. Zweitens darf nach Analogie nicht Ausschau gehalten werden121, wenn die Wörter nur einen Fall in Verwendung haben, wie alle Buchstaben, weil hier keine Beugung vollzogen wird. Drittens, wenn eine Wortreihe einzigartig ist und nichts hat womit sie etwa verglichen werden kann, wie sie glauben, dass es bei caput “Kopf“, capiti (3.F.Sg.n), capitis (2.F.Sg.n) und capite (6.F.Sg.n) der Fall ist. Viertens, falls die Wörter, die verglichen werden nicht die erforderliche Relation aufweisen, wie socer “Stiefvater“, socrus “Stiefmutter“, soceros (4.F.Pl.m.) und socruum (2.F.Pl.f.)

83. Bei welchen Wörtern dagegen nach Analogie geforscht werden muss, haben beinahe immer gleich viele Vorbedingungen verknüpft zu sein: erstens, dass es grammatisches Eigenheiten gibt, zweitens, dass sie in Verwendung sind, drittens, dass diese Realisierung durch Zeichen finden, viertens, dass sie natürliche Beugungsmuster haben. Bezüglich der ersten Voraussetzung: weil eine Natur der Ein- und Mehrzahl zugrunde liegt, sagen wir hi asses, hosce asses “diese As-Stücke“ (4.F.Pl.m) , hic as, hunc assem (4.F.Sg.m); im Gegensatz dazu heißt es hi duo “diese zwei“ und hi tres “ diese drei“, his duobus und his tribus (3./6.F.Pl), weil es bei den bestimmten Zahlen größer als eins keine Einzahlsubstanz gibt.

84. Über die zweite Bedingung: wenn eine Natur vorhanden ist, es aber keine Verwendung gibt, dergestalt, dass hier eine Differenzierung gemacht werden muss - wie es bei faba “Bohne“ (reines Einzahlwort) und solchen Gegenständen der Fall ist, die wir gleichermaßen einzeln und in ihrer Gesamtheit bezeichnen, denn es gab keinen Bedarf dazu, wie bei Sklaven...

121 Sinngemäße Ergänzung, vgl §79 “debeat quaeri“

72 Kurzkommentar

§1: “multi“ ist hier wahrscheinlich als anonymes Zitat zu verstehen und muss nicht als Indikator für vertretene Meinungen im Sinne von “Schule im Analogiestreit“ fungieren; “disciplina (loquendi)“ meint metasprachliche Beschäftigung im Sinne von Sprachlehre, Grammatik und wohl auch Exegese (inklusive Etymologie), wobei, wenn die in der Einleitung erwähnten historischen Untersuchungen Recht haben, die Kategorisierungen des Griechischen als Vorbild für Varros Ausführungen zu sehen sind (vgl. Einleitung VIIa). Weiters hat man sich unter einer disciplina ein stofflich begrenztes Wissensgebiet vorzustellen, dass in der Regel tradiert wurde122. Der durch “loquendi“ näher bestimmte Begriff “disciplina“ könne a priori von Analogie oder Anomalie bestimmt werden. Varro charakterisiert einen der beiden (noch nicht definierten) Bereiche positiv über Ähnlichkeit und ordnet ihm sogleich die Konzepte ratio, das einfache Verhältnis, und “analogia“ zu, welche auf die Flexion hinweisen. Der Begriff der Anomalie wird über die Negation der Analogie erhalten. Im Anschluss wird die Unzulänglichkeit der Varro bereits “bekannten“ Untersuchungen auf diesem Feld betont und der eigene schöpferische Ansatz angekündigt. Später wird die Möglichkeit, dass Anomalie als Grundlage für die disciplina loquendi diene, als “Kanonenfutter“ entlarvt, das Varro lediglich für eine reductio braucht, denn er vertritt ja die Analogie als fundamentale Kraft der Sprachwissenschaft.

§2: Varro gibt seine Leitthemen preis: die Unterscheidung “simile-dissimile“, der Begriff “λό γος“, der ein zweistelliges Verhältnis erster oder höherer Ordnung (z.B zwei Wörter sind in derselben Deklination) meint, das Konzept “ἀνὰ λό γον“, das zwei gleiche Verhältnisse bedeutet, und “consuetudo“, der Sprachgebrauch, der die Entscheidungskraft und die damit verbundene Willkür der Menschen ins Spiel bringt. Diese Termini sollen Klarheit über Analogie und Anomalie bringen. Analogie, das allgemeine Verhältnis der gleichen zweistelligen Verhältnisse ist immer einen Rang höher als der höchstrangige in ihr formulierte logos, wie weiter unten genau besprochen wird. Diese und die Anomalie setzen jene Begriffe voraus.

§3: “res“ wird als “Unterschied“ verwendet.

Hier geht er näher auf die Anordnung seiner Darstellungen ein: Ähnlichkeit sowie Unähnlichkeit werden als Grundlagen seines wissenschaftlichen “Gebäudes“

122Vgl. Quint. I, 10, 1-2

73 verankert, da so die Verhältnisse der Wörter untereinander geklärt wären. Die Definition für Ähnlichkeit enthält im definiens das Wort simile und ist zirkulär, außer man liest “quod...res habere videtur easdem quas illud cuiusque simile“ als “scheint dieselben Merkmale zu haben, wie jenes, das dann dazu ähnlich ist“, sodass das zweite “simile“ als bloße Zusatzinformation gilt. Mit “minimum ex duobus constat“ erklärt Varro die Notwendigkeit, dass Ähnlichkeit mindestens zwei Gegenstände betreffen muss. Er bestimmt Ähnlichkeit als teilweise Übereinstimmung zweier Gegenstände.

§4: “eodem filo esse“ entspricht im Deutschen in etwa der Phrase “aus demselben Holz geschnitzt sein“.

Dass dieses mathematische Modell auf empirische Erscheinungen wie von Menschen denkbar schlecht passt, da Teile wie Kopf, Hals, Nase, bei jedem anders zu sehen und prinzipiell willkürlich abzutrennen sind, leuchtet schnell ein. Außerdem bräuchte Varro hierfür, immer noch zu grob, geometrische Ähnlichkeit. Sein vager Umgang mit diesem Begriff wird nichtsdestotrotz verstanden und gelangt am Ende des Paragraphen zu Graden der Ähnlichkeiten.

§5: Varro leitet eine reductio ad absurdum ein, indem er das zu Widerlegende zuerst in den Raum stellt: “...tris naturas rerum putent esse“. Außer den Prädikaten Ähnlichkeit und Unähnlichkeit soll es, wenn man die prinzipielle Vergleichbarkeit der Gegenstände einräumt, noch ein drittes Prädikat geben, das auszusprechen Varro Probleme bereitet. Kurzerhand nennt er es “neutrum“. Wenn bei einem Gegenstand ebenso viele Teile ähnlich wie unähnlich seien, dann käme auf das Ganze bezogen das Prädikat “weder - noch“ zum Tragen, was aber in Anbetracht dessen, dass Varro “seine“ Ähnlichkeit auf Teile als Vertreter des Ganzen beschränkt, als rein sprachliches Problem (§6) gebranntmarkt wird.

§6: “...quod potest fieri ut homo homini similis sit et non sit, at multas partes habeat similis et ideo dici possit similis habere oculos...“: hier sagt Varro nicht, dass Ähnlichkeiten formal letztendliche aus gleichen Teilen besteht, deshalb wäre sinngemäß das zweite obengenannte “similis“ mit “gleiche“

Die oben angedeutete Theorie von Ähnlichkeit in den Teilen wird als wahre Negation der These von den drei Prädikaten präsentiert und somit das Argument abgeschlossen. Die Debatte sei eher eine “de vocabulo“ gewesen.

§7: In diesem Abschnitt wird die Ähnlichkeit zu den Wörtern und deren konkretem Vergleich hingeführt. Dabei komme es darauf an, wie sich die Wörter in welchem Teil gleichen. Die Wörter “suis“ und “suis“, nur funktional unterschieden, erfüllen verschiedene Ähnlichkeitsbedingungen, weil das eine ein Substantiv, das andere ein

74 Verb ist. Entgegen der Ansicht Taylors geht Varros Begriff der partes orationis über bloße morphophonemische Unterschiede hinaus123, da bei den Verben die Zeiten, ein semantisches Kriterium, zu berücksichtigen sind. Dies wird bei Varros Erklärung der Differenz zwischen dem Substantiv und dem Verb mit Hilfe der pars orationis- Kategorie klar, denn von der Form her sind suis und suis ja nicht zu unterscheiden und Verbalendungen bedürfen ihrer Zuordnung auf eine Zeitform, um als solche überhaupt wahrgenommen zu werden.

§8: Auch scheinbar verwandte Wörter “lepus leporis m.“ und “nemus nemoris n.“ werden verwechselt, da sie trotz gleicher Endungen nicht dasselbe Geschlecht haben, ein weiterer nicht morphophonemischer Unterschied, diesmal willkürlich nominaler Art. Um das Geschlecht sichtbar zu machen, werden in der Grammatik Pronomen verwendet.

§9: Wer sich in Anbetracht der Worteinteilung nach Verhältnismäßigkeit umsieht, muss sich mit den Arten der Ähnlichkeiten auseinandersetzen. Diese sind möglicherweise die in der Einleitung beschriebenen Bedingungen der Analogie (vgl. Einleitung). Varro bezeichnet diesen Topos als schwer zu durchschauen.

§10: Der Nebensatz “cuius eidem hic cum dicat...“ mutet anfänglich agrammatisch an. “Cuius“ bezieht sich auf “eius partis quae habet casus“, “eidem“ sollte als Nominativ “idem“ gesehen werden, das Einleitewort cum muss in dieser possessiven relativen Verschränkung, etwas ungewöhnlich, an die dritte Stelle ausweichen, “hic“ dürfte sich, ebenfalls unüblich, verstärkend auf “eidem“ beziehen. Die Divergenzen unterschiedlicher Wortverwendung (idem-eidem) könnten auf den möglichen Diktatcharakter dieser Schrift zurückzuführen sein124.

Weil dieses Gebiet undurchsichtig sei, gäbe es darin einige Unstimmigkeiten. Die Phrase “omnibus universis discriminus“ ist unklar. Es wäre interessant zu wissen, welche nun “alle“ Unterschiede sind. Die discrimina casus nehmen sich zwar ebenfalls als Unterscheidungskriterien aus, aber ob Bedingungen der Analogie oder Flexionsregeln damit gemeint sind, ist nicht sicher. Die so unterschiedlich großen Zahlen machen im Zusammenhang mit diesen Begriffen wenig Sinn und lassen ein Vermischen von Regeln und Bedingungen annehmen, außer die erwähnten Grammatiker hatten mit anderem, von der heutigen Wissenschaft noch nicht erschlossenem Lehrgut zu tun125.

§11: Abermals weist Varro auf ungenaues Arbeiten seiner Vorgänger auf dem Feld der

123Vgl. Taylor 1996, 25, 108 124Vgl. Taylor 1996, 3-4 125Vgl. Fehling 1955, 46

75 Ähnlichkeitsmerkmale hin. Dann nennt er die zwei für ihn relevanten Bedingungen der Ähnlichkeit: grammatische Substanz und äußerliche Merkmale (der flektierten Form). Dass “materia“, wie Taylor meint, hier als Form zu betrachten ist, wird aufgrund des allgemeinen Begriffs “figura declinationis“ (Flexionsform), der die lautliche und folglich optische Form eines Wortes einzuschließen scheint, eher unwahrscheinlich. Varro hätte sonst figura vocis statt bloß figura verwenden können, wenn er nur die lautliche Dimension meinte. Jedenfalls ist der Begriff materia im Sinne von Form redundant. Wichtig ist außerdem, dass alle anderen Arten der Ähnlichkeit den zwei hier genannten zu subsumieren sind - “ad quae... exigi oporteat“.

§12: Varro geht an dieser Stelle näher auf seine Einteilung ein. Die erste Kategorie sei da, um die grammatische Substanz, funktionale Data, für beide verglichenen Wörter zu attestieren. Die zweite, also die spezielle Beugungsform, sei beispielsweise da, um für beide verglichenen Wörter denselben Fall kraft der gezeigten Wortform zu verwenden. Die Form des bestimmten Falles und die Bestimmung des Falles sind also von Nöten. Dabei zeigt sich, dass die Bestimmung einer Form nur Kristallisationspunkt des in regelmäßige Bahnen gelenkten Sprachgebrauchs ist. Jene beiden Aspekte führen Varro zur vollendeten, doppelten Ähnlichkeit, also zur Analogie.

§13: Hier deutet Varro zahlreiche Unterarten der Ähnlichkeit an.

§14: Dann gelangt er zur von Taylor klar herausgearbeiteten Unterteilung in fruchtbare (genus fecundum) und unfruchtbare Wörter (genus sterile-starre Adverben)126. Somit wird eine bloß funktionale Analogie ohne Rekurs auf die Form ausgeschlossen, obwohl, gerade weil unfruchtbare Wörter zu einer Gruppe zusammengefasst werden, Analogie auch bei ihnen möglich ist, wie die spätere Wortartenlehre beweist.

§15: Nun teilt Varro innerhalb der “fruchtbaren“ Kategorie in Wörter, die “natura“ und solche die “a voluntate“ gebildet werden. Wie in der Einleitung besprochen, ist in der voluntas das Moment der Neuprägung eines Wortes inbegriffen, während mit dem Ausdruck natura an das fixe, gleichmäßige Beugungsmuster für ein Wort gedacht ist. Es wirkt befremdlich, dass Varro dabei an die scharfe Trennung dieser beiden Aspekte denkt (“solche...-solche...“), da doch ein jedes flektierende Wort beides hat. Beim Neuentstehen muss ihm die Möglichkeit zur sinnvollen Eingliederung in die Sprache, wie eben im Lateinischen die Flexion, mit auf den Weg gegeben werden. Dies weist auf mangelhafte Dialektik Varros hin. Die Definition von voluntas deutet auf Ableitung, Wörtschöpfung in Anlehnung an bereits gegebene Wörter (“Romulus“=>“Rom“) hin. Das Konzept natura soll den Beugungsverlauf eines Wortes abdecken, was wiederum erst durch die Konstanz der Sprechergemeinschaft

126Vgl. Einleitung VII,4

76 garantiert werden kann, denn sonst könnten sich neue Flexionsmuster einbürgern. Man sieht also, dass das angeblich Invariante hier von einer durchaus dynamischen Größe, den einzelnen Sprechern als “Trägern“ unberechenbarer Natur, abhängt.

§16: Man dürfe nicht voraussetzen, dass sich “Capuanus“ von “Capua“ ergebe, nur weil die Form “Romanus“ von “Roma“ stammt, da dazwischen Willkür und Unwissenheit der Leute herrschen. Solche Vorhersagbarkeit in der Derivation ist vorsichtig anzuzweifeln. Sie zu zeigen, sei auch von den Aristarchäern und anderen nicht unternommen worden, denn es herrscht Anomalie auf diesem Gebiet.

§17: In diesem Paragraphen führt Varro die tertia diviso innerhalb der natürlich gebeugten Wörter durch und gelangt zu den vier Wortarten (vgl. Einleitung VII, 4) nach casus und tempus.

§18: Jede der Wortarten hat eigene Unterbegriffe. Die Kasuswörter ohne Zeiten zerfallen in “nominatus“ (Substantiva und Adjektiva) und “articuli“ (definite und indefinite Pronomina). Diese beiden Kategorien sind untereinander nicht analogiefähig.

§19: Bei den “articuli“ sei die Analogie mehr auf die grammatischen Merkmale “res“, solche der Verwendungsweise, bezogen, als auf das Lautbild. Taylor geht davon aus, dass “res“ hier mit “Form“ zu übersetzen ist, doch warum sollte es bei Pronomen in der Form weniger Analogie geben als den Lauten, wo doch die passend ausgesprochene Form deren Schriftbild ergibt? Bei den Substantiven verhalte es sich umgekehrt, wo Analogie eher durch die Laute (also auch die Formen) ausgedrückt wird. Von den Pronomina gibt es laut Varro nur einzelne, während die Fallwörter der Zahl nach stärker vertreten seien. Man müsse den Vergleich der beiden Bereiche scheuen.

§20: Wie die “articuli“ in zwei Gruppen aufgeteilt werden, so auch die “nominatus“ in Eigennamen und Begriffswörter. Dieser Unterschied wird an den Beispielen “Rom“ und “Stadt“ verdeutlicht. Er geht auf die Stoiker zurück und ist abermals nicht morphologischer, sondern semantischer Art.

§21: An dieser Stelle hält Varro fest, dass bei Substantiven die Akzidentien übereinstimmen müssen, damit für sie Analogie gelten kann. Er nennt folglich vier relevante Bestimmungshilfen: genus, species (Wortart+Unterarten), casus, und exitus (Endung).

§22: “latrunculi“ meint hier Spielfiguren.

Nun expliziert er, wie sich flektierte Wörter unter Berücksichtigung von genus und casus tabellarisch abbilden lassen.

77 Nominativ Genitiv Dativ/Ablativ Maskulinum albus albi albo Femininum alba albae albae Neutrum album albi albo

§23: Nach der Etymologie des Wortes “Nominativ“ folgt eine sich über drei Blätter erstreckende lacuna. Varro beschäftigt sich immer noch mit den Bedingungen der Analogie.

§24: Der erhaltene Text fährt mit der Erörterung der pluralia tantum (Mehrzahlwörter) fort, einer Besonderheit des genus. Varro stellt den Sachverhalt so dar, als ob ein Pluralwort auf verbundene Gegenstände Bezug nähme, was es für die verbundenen Gegenstände insgesamt nicht zur Regel schafft. “Verbindung“ ist in Varros Hand ein vager Begriff. Das Wort “res“ dürfte uns Interpreten, die eine arbeitsteilige Sprache gewohnt sind, mehr Kopfzerbrechen bereiten, als den im Kontext wohl beschränkteren und deshalb flexibleren römischen Gelehrten. Hier ist der bezeichnete Gegenstand gemeint. Allen bisherigen Verwendungen von “res“ liegt die Vorstellung des objektiv Bestimmbaren zugrunde. Zwischen Sprache und Metasprache unterschied Varro terminologisch nicht.

§25: Besonderes Augenmerk des Sprachbetrachters solle auf der figura eines Wortes liegen, besonders der phonetischen, denn Quantität des Vokals ist unter anderem ein entscheidender Bestimmungsgrund. Ein weiteres Beispiel “curso“-“cursito“ rückt den Silbenwandel (hier ein Frequentativ) eines Wortes ins Licht. Damit dürfte klar sein, dass “figura“ Form und Laut bedeuten soll, was die Spezifikation durch das einschränkende “vocis“ belegt. “Figura vocis“ kann gleichbedeutend mit Form übersetzt werden, da es ja nur um diejenigen Lautkonstellationen geht, die es zur Form bringen. Am Ende des Abschnittes hebt Varro die Wichtigkeit der Endungen hervor, da in ihnen besonders viel Information steckt.

§26: Nach einem Verweis auf schwankende Qualität der Fremdleistungen im stimmigen Wörter Vergleichen, räumt er lapidar seinen Vorsatz der Korrektur ein. Wenn Buchstaben in einem Wort mutieren, dann müsse man sein Interesse auch den umliegenden unveränderten Buchstaben zukommen lassen.

§27: “ex instituto“ bedeutet “nach Konvention“.

Laut-/Formkonfigurationen, die ähnliche funktionale Merkmale andeuten (bzw.

78 besitzen), werden deswegen dennoch nicht selbst als ähnlich bezeichnet. Im zweiten Satzteil ist die Bestimmung “ea forma“ wörtlich genommen problematisch, denn der Zusammenhang zwischen Form eines Wortes und deren Bezeichnetem ist ja nicht klar gegeben. Das bloße “von der Form sein, dass“ ist als Bedingung für den Konsekutivsatz verwendet schlecht, zumal diese oder jene Wortform ja nicht Bedingung für die Ähnlichkeit des Bezeichneten ist. Das Bezeichnete dürfte hier die “res“ eines Wortes sein und nicht der vom Wort bezeichnete reale Gegenstand. Ich bin der Ansicht, dass “res“ hier als funktionales, willkürlich-nominalistisches Moment, die Notation der Verwendung eines Wortes in einem bestimmten Geschlecht, in der grammatischen Einordnung eines Wortes verstanden werden sollte, was anhand des Perpenna-Beispiels, wo Form und Geschlecht auseinander gehen, verdeutlicht wird. Taylor interpretiert hier127 bezeichnete Dinge statt Merkmale, wo mit “ex instituto significare“ das willkürlich einer weiblichen Form auferlegte männliche Geschlecht gemeint ist und nicht nur das unten folgende Exempel der Tunika, das lediglich durch Veranschaulichung die metasprachlichen res näher bringen soll. Der Gedanke, dass ein Mann sich immer nur in vorgegebener Kleidung bewege, ist absurd und nur dazu da, um das Sprachbeispiel näher zu bringen, was wiederum die Bedeutung von “res“ als nicht auf die Form gerichtetes Merkmal untermauert.

§28: Zu Beginn erklärt Varro, dass der vollständige Beugungsweg zweier verwandter regelmäßiger Formen aus diesen allein erkannt werden kann, wenn alle Formen regelmäßig gebildet werden. Dabei handelt es sich um einen Zirkelschluss, weil die Regelmäßigkeit der Formen bekannt sein muss, um sicher zu den gesuchten Formen zu führen. Das folgende Beispiel von “socer-macer“ und “socerum-macrum“ zeigt, dass man von den Nominativen allein “sine assumpta re aliqua extrinsecus“ nicht zu den obliquen Kasus gelangt. Die Ergänzung, dass “eques et equiso“ nach “equus“ benannt sind, hat mit dem Vorangehenden nichts zu tun: “Varro's logical sequence is here at fault, for he brings in derivative stems after speaking only of noun declensions128“.

§29: “Vox“ wird im Sinne von “Wort/Form“ gebraucht. “Transire“ soll hier den Wechsel in einen anderen Fall benennen.

Das Problem, dass manche Fälle keinen eindeutigen Flexionsweg voraussagen, wird mit einem Größenvergleich von verschieden großen Brüdern verdeutlicht. Zwei Formen eines Paradigmas reichen in der Regel immer, um einen Beugungsweg nachzuzeichnen.

§30: Nun scheint er die Behandlung der Substantive und Adjektive beenden zu wollen und geht zu den Pronomina über. Der Paragraph hat unter drei Übersetzern zu

127Taylor, 1996, 69 128Kent, 1958(=1938) , 555 c

79 drei verschiedenen Auslegungen geführt. Aufgrund der Lücke ab §23 wissen wir nicht, wie viele Bedingungen der Analogie Varro verwendet. Deshalb bereitet hier die Aufzählung von fünf Merkmalen, die Pronomina und angeblich Substantive (als Voraussetzung) aufweisen, Kopfzerbrechen, weil in §21 nur vier aufgelistet werden und drei gegebenenfalls aus den folgenden Abschnitten bis §26 zu ergänzen sind. Man darf glauben, dass Varro sie ebenfalls als Bedingungen sah, das geht eben aus §26 hervor. Fehling glaubt, Varro habe die Achtzahl der Bedingungen zugrunde gelegt, denn figura nennt er eben in §25, die paenultima wird in §26 erwähnt, der zerrissene §24 enthält die Diskussion über pluralia tantum, somit könnte die Besprechung der Zahl als eine Bedingung dort stattgefunden haben. Das letzte Kriterium sei verloren gegangen. Wir wissen jedoch nicht, ob Varro für sein Traktat eine Umgruppierung der Kategorien vorgenommen hat. Die Tatsache, dass Varro alle Bedingungen unter zwei Hauptkategorien subsumiert, legt dies nahe. Damit muss die Achtzahl der Bedingungen ebenfalls nicht gelten. Traglia wundert sich, warum im Paragraphen 21 von vier Bedingungen die Rede ist und hier von fünf129. Taylor geht auf dessen Fragestellung ein, erliegt jedoch einem Irrtum. Taylor setzt voraus, dass numerus in genus enthalten ist und dass Pronomen und Substantive (und Adjektive) gemeinsam fünf Merkmale aufweisen. Doch bei seiner Aufzählung führt er Geschlecht, Zahl, Fall, species (nur nominal-adverbial), sowie die Einschränkung “definit“-“indefinit“ (nur bei Pronomina) an, was bedeutet, dass wenn numerus und genus eines sind, er nur vier Bedingungen gibt und eine schuldig bleibt, da exitus von ihm ausgeschlossen wurde. Aus welchen Gründen hier exitus vernachlässigt wurde, ist unklar, denn analog verglichen werden articuli und nominatus ohnehin nicht, weshalb sollte man dann von den relevanten Merkmalen nicht alle anführen? Außerdem dürfte der species Unterschied auch, entgegen Taylor130, für die nähere Bestimmung der Unterarten der Pronomina gedient haben. Varro sagt nirgends, dass er nur für Substantiva gelte. Er fordert lediglich “ut si nomen est, quod conferas cum quo conferas sit nomen“. Es fehlt ein weiteres gemeinsames Mal, denn casus wird nicht als identisch in beiden gesehen, da Pronomina nur fünf Fälle notieren. Das Problem ist, dass es sich, wenn numerus und genus nicht getrennt zu sehen sind, casus nicht für Substantive und Pronomina identisch ist, die Fälle aber ein gemeinsames Merkmal sein sollen (wie der Text nahe legt), nur um einen Vergleich von Pronomina untereinander handeln kann. “Quinque genera“ würde sich auf fünf Pronominalklassen beziehen. Diese Auslegung ist scheinbar gut möglich, da über den Vergleich zwischen Substantiv und Pronomen explizit nichts gesagt wird.

§31: Die von Taylor abweichende Lesart “...habent neque casus sed habent personas. Eorum...“ hat Hartung gut begründet131. Taylor hat an dieser Stelle “...habent neque casus. Si habent personas, eorum...“ Das “si“ kann zur Definition der Verben hier nicht dienen, denn es muss ja erst gesagt

129Vgl. Traglia, 1956 , 183 130Vgl. Taylor, 1996, 128 131Vgl. Hartung, 1973, 293

80 werden, dass Verben Personen haben, was durch “sed habent personas“ geleistet wird.

Nun ein weiteres Kapitel,über das viel debattiert wurde. Den Kasusteil schließt Varro mit § 30 ab, um hier auf die Eigenheiten der Verben zu sprechen zu kommen. Ein aufschlussreiches Stück Arbeit liefert Hartung mit seinem Aufsatz, der im Folgenden (-§33) als Informationsquelle für Historisches verwendet wird132. Über das Kriterium des tempus führt Varro zu den Verben hin. Zusätzlich führt er das Distinktiv der persona, griechisch πρόσωπον, an, um das Partizip von den Verben zu trennen. Was diese Begriffe anbelangt, so scheint Varro von Aristoteles, dessen Schule und dem Akademiker Dion inspiriert worden zu sein. Die sechs genannten Bestimmungen sind logisch nicht auf derselben Stufe. Tempus hat als untergeordneten Teilhaber persona, dann folgen die species rogandi, respondendi, optandi und imperandi. Zeit ist formale Voraussetzung für Semantik, die Personen sind ein inhaltlich semantisches Kriterium, das sich zur Form sedimentiert hat. Die vier anderen species gehen über die Formenlehre hinaus und leiten eigentlich schon zur Syntax über, da ihre Bezeichnungen schon die Verwendungsweise im Satz andeuten. Man hat hinter diesen vier Begriffen die für die Stoa gesetzten Ausdrücke ἐγκλίσεις - πυσματική, ἀποφαντική, ἀρατική, προστακτική gesehen. Hartung meint eher den Einfluss von Protagoras und dessen gedanklichen Teilerben Aristoteles wahrzunehmen. Ersterer hatte Aussageformen, πυθμένες λόγου, mit folgenden Bezeichnungen konzipiert: εὐχωλή (precandi), ἐρώτησις (interrogandi), ἀπόκρισις (respondendi) und ἐντολή (mandandi). Von Aristoteles scheint ein Kanon der Aussageformen auch auf Varro gewirkt zu haben (die vier relevanten sind identisch mit denen des Protagoras). Stoischer Einfluss wird hierbei mitunter bezweifelt, da Varro deren Unterteilung in Wort- und Satzfrage nicht teilt.

§32: Hartung hebt den Unterschied zwischen declinatio und declinatus hervor: Beugungsvorgang im Gegensatz zu Beugungsergebnis, eine Nuance, die beim Übersetzen kaum angebracht wird. Er kann außerdem plausibel begründen, warum Varro die formal an sich schon im §31 behandelten verba impersonalia hier anführt: es handle sich hier um eine bloße Auflistung denkwürdiger Beispiele, deshalb würden die vier species auch auf sie angewandt werden. Allerdings wäre eine eigens für diese Formen arrangierte Untergruppe im Sinne Varros eigenständiger Leistung auch nicht im Bereich des Unmöglichen.

§33: “...a copulis divisionum quadrinis“ meint: zu jeder species je vier Begriffspaare

Nun etabliert Varro vier paarweise Einteilungen, die sich auf die in §31 eingeführten Aussageformen beziehen. Erstens identifiziert er das Präsens- und Perfektsytem der lateinischen Verben. Stoisches Gedankengut schien ihm dabei Hilfe geleistet zu

132Vgl. ebenda, 293-311

81 haben133. Die zweite Differenzierung nimmt er nach den Bestimmungen “einmal“ und “öfter“ (Frequentativ) vor, die auf die Art der Handlung Rücksicht nehmen. An dritter Stelle formuliert er die Diathese als dichotomen Begriff. Bei Aristoteles (κατ.1b 27) entsprechen “ποιεῖν“ und “πάσχειν“ den varronischen “facere“ und “pati“.

§34: Dieser Abschnitt enthielt ursprünglich die Behandlung der Partizipia und Adverben, die sowohl an tempus als auch casus teilhaben bzw. an keinem der beiden (außer regelmäßig gebildeten Adverben, wie “docte“etc.).

§35: Der anfangs abrupte Paragraph scheint die Bearbeitung der ratio zu beinhalten, wie aus dem Schlusssatz hervorgeht. Dieser ist ein Rekurs auf das tabellarische Schema aus §22, wo die Verschränkung von obliquen Fällen mit den Nominativen der verschiedenen Geschlechter abgebildet wird.

§36: Hier wird die Verhältnismäßigkeit der Fälle diskutiert. Das Vergleichen von Genitiv Singular und Genitiv Plural sei wegen des Formunterschiedes “disparilitatem vocis figurarum“ und des korrespondierenden funktional-nominalen Unterschiedes (Bezeichnung der Ein-/Mehrzahl) “non eadem ...materia“ nicht zulässig.“Materia“ entspricht “res“ in dieser Verwendung. Als einfache ratio ist das geschilderte Verhältnis “amor-amoris“ exemplarisch.

§37: Das zweite Kapitel ist abgeschlossen, nun kann die essentielle Schilderung der Analogie beginnen. Der Unterschied zwischen Analogon und Analogie ist ein formal- logischer. Wenn zwei Wortpaare nach Feststellung der Gemeinsamkeiten dieselbe Relation haben, nämlich ein identisches zweistelliges Verhältnis haben, dann ist die Ähnlichkeit einer Formulierung würdig, die Varro Analogie nennt. Diese ist eine zweistellige Relation zweiter Ordnung (mindestens vier logische Subjekte, drei Prädikate), welche die Gleichheit des Analogons formuliert und präsentiert. Man beachte den schrittweisen Progress, den Varro hier ausarbeitet: vom Aussuchen der Ähnlichkeiten, über die gleichen Relationen bis hin zur sauberen Formulierung, eben der Analogie. Varro gebraucht die Verhältnisbegriffe im Allgemeinen so wie im speziellen Sinn, was den Gedanken, er sei formal-logisch präziser Leistung fähig, bestärkt. Solches Denken, dürfte wie eingangs erwähnt, einem römischen Rechtskundler auch nicht befremdlich vorgekommen sein.

§38: “semissem“ bedeutet einen halben Kupferas, “simbellam“ eine halbe Silberlibella.

Das Menaechmus-Beispiel, egal ob Varro damit auf Plautus anspielt oder nicht, ist ein Irrtum. Wenn er exakt denselben Menaechmus meint (was durch “gemini“ auszuschließen ist), dann ist der zweite Satz, der besagt, Ähnlichkeit ist in beiden,

133Vgl. Fehling, 1955,80

82 falsch. Wenn er verschiedene Menaechmi meint, dann ist der erste Satz falsch, denn Ähnlichkeit ist eine symmetrische Relation, die sich auf beide Teilnehmer bezieht, unabhängig davon, wer zuerst genannt wird. Das Münzexempel veranschaulicht das Verhältnis von Analogon zur Analogie, gibt jedoch auch Anlass zum Nachdenken. Einerseits lässt er bei den Münzen zwei verschiedene Gegenstandsbereiche zu, indem er über diese hinaus ein abstraktes gemeinsames Merkmal festhält. Bei den Wörtern jedoch beschränkt er Analogie strikt auf den jeweiligen Gegenstandsbereich, sodass “amor - amoris = amores - amorum“ keine Analogie ist, weil er zulässige Wortvergleiche an die Bedingung morphologischer Ähnlichkeit koppelt.

§39: Dieser Absatz dient zur weiteren Unterstützung des Analogie-Gedankens. Er nimmt den aus der modernen Logik geläufigen Gedanken der Extension vorweg, indem er die Qualität des nächsthöheren Zusammengesetzten abhängig von dessen Teilen usw. macht.

§40: Dieser Paragraph erklärt die Verwandtschaft von Analogon und Analogie ein weiteres Mal.

§41: “in dissimilibus rebus“: (auch) bei einander unähnlichen Dingen, wie Bronze- und Silbermünzen oder auch Zahlen; “victoriatus“: Silbermünze mit dem Bild der Göttin Victoria als Prägung

Hier stellt Varro seine formale Meisterschaft unter Beweis, indem der den Begriff der Analogie auch auf Zahlen ausdehnt. Ansonsten findet sich hier wenig Neues.

§42: Varro erklärt die Verwendung der Analogie in verschiedenen Berufssparten. Interessant ist dabei der Vermerk auf die “Aristarchäer“, denen er die Beherrschung der analogistischen Arbeit zugestand. Von ähnlichen Wörtern wird ähnlich gebeugt, von unähnlichen prinzipiell beides (unähnlich und ähnlich). Diese Sätze ähneln den formal-logischen Dogmen: “aus Wahrem kann nur Wahres folgen“ und “aus Falschem folgt Beliebiges“.

§43: Nun leitet Varro, der bis jetzt mit ziemlicher Genauigkeit an seinem Argumentationsgebäude feilt, zu einer bemerkenswerten Anpassung des Analogiebegriffs an die Realität über: er trennt zwischen dreiteiliger und vierteiliger Analogie im Sinne des logischen Subjekts. Analogie hat dann als coniuncta nur drei Bestandteile, wenn einer doppelt gebraucht wird und im bildlichen Sinn der mittlere ist: (1:2) <=> (2:4) oder eben kurz (1:2:4) . Als deiuncta beinhaltet sie zwei nur durch die Relation verbundene Paare, wie es bisher in den Darstellungen der Fall war.

§44: Folgende Umstellung neben der Auflösung der attractio relativa erleichtert den dritten Satz: “Medici, qui in aegroto septimos dies observant, quarto die ideo diligentius signa

83 morbi advertunt, quod ea ratio, quam habuit primus dies ad quartum, eandem praesagit habiturum eum, qui est futurus ab eo quartus, qui est septimus a primo“

Als Beispiel für das genus coniunctum werden die Saiten der Leier angeführt. Wichtig könnte das Beispiel des Zeitintervalls sein, das Ärzten als Bestimmungshilfe für den Verlauf einer Krankheit dient. Es wird inclusive des ersten Tages gezählt, wobei der vierte je zur Hälfte mitgenommen wird. Varro argumentiert hier genau genommen ein wenig unsauber, denn nicht das genannte Verhältnis sagt ein weiteres voraus, sondern die Arithmetik dahinter, welche die Verhältnisse erst begründet. Interessanterweise erwähnt Fehling in Zusammenhang mit der griechischen Medizin, dass gerade aus diesem Gebiet der Begriff der Analogie entnommen sein könnte134.

§45: Nun kann man erkennen, dass Varro seinen deiunctum Begriff eingeführt hat, weil sich die verbalen Zeitenverhältnisse darin ausdrücken lassen. In diesem Abschnitt behandelt er das so genannte Präsenssystem. Der letzte Satz erscheint widersprüchlich, denn man muss ja alle Zeiten dieses Systems aufsagen, wenn man das Verhältnis zur Geltung bringen will, außer Varro meint, dass es notwendig sei, dies in eine Formulierung des Verhältnisses einzubetten.

§46: Hier legt Varro die Gemeinsamkeit des Tempussystems als Kriterium für sinnvollen Vergleich von Verben fest. Er kommt dabei auf das Plusquamperfekt und, angeblich als erster unter den Römern, auf das Futur II zu sprechen135. Am Ende entkräftet er die kritische Frage, warum die Zeitenanalogie nur drei Glieder habe, dadurch, dass er die Doppelverwendung des mittleren ins Feld führt.

§47: Wie es sich bisher um implizite Verhältnisäquivalenzen gehandelt hat (das konkrete Verhältnis musste aus den Paaren erst herausgelesen werden: z.B (das Doppelte etc. aus 1~2) geht Varro nun weiter und präsentiert die Äquivalenz als explizite Relation (das Zeichen “+“ ist ausdrücklich) dritter Ordnung (die Unterstriche zeigen die Relationen in ansteigender Ordnung an): [(1+2= 3) <=> (2+4= 6)]. Ob er dies beabsichtigte oder nicht, sei dahingestellt. Als vierfach wird diese Relation deshalb aufgefasst, weil 2 und 1 in Summe zu betrachten sind. Der folgende sprachliche Gebrauch besagt, dass zwei Genitive zu einem Nominativ existieren können, eine empirische Möglichkeit, im Gegensatz zur oben formulierten mathematischen Notwendigkeit.

§48: “caput“ bezeichnet den Ausgangspunkt der Deklination, den Nominativ bei Fallwörtern und die erste Person bei Verben. Der außergewöhnliche Genitiv Sg. “casuis“ ist belegt bei Gellius IV, 16, 1136.

134Vgl. Fehling, 1955, 61 135Vgl. Taylor, 1996, 27 136Vgl. Leumann-Hofmann-Szantyr, 1963, 268 (187b)

84 Das umgekehrte Beispiel zum obigen gibt es ebenfalls, wenn zwei oblique Fälle in einem Nominativ münden137.

§49: Nun spannt Varro eine Verhältnistabelle von folgender Form auf:

x2

1 2 4 x10 10 20 40 100 200 400

Hier werden zwei Relationen in ihrer Verschränkung als coniunctae angedeutet,

(1:10=10:100 )<=>(2:20 =20:200)<=>usw(...)

(1:2=2:4)<=> usw...

Jede Zahl ist sowohl horizontal als auch vertikal darstellbar. Zugegebenermaßen braucht Varro diese Ausführungen für seine Sprachlehre nicht, jedoch beweist er sicheren Umgang mit dem Verhältnisbegriff.

§50: Dieser Absatz ist eine weitgehende Wiederholung von §22, mit dem Unterschied, dass die Tabelle unten in Verbindung zur eben erklärten Zahlentabelle nach Analogie in beiden Richtungen (Nominativ und oblique Fälle) strebt, wie Varro sagt.

Nominativ Genitiv Dativ Maskulinum albus albi albo Femininum alba albae albae Neutrum album albi albo

137Sinngemäß

85 Hier drückt er sich ungeschickt aus. Er behauptet, dass die Wörter nach Reihen und Spalten durch Analogie ausgedrückt werden können, das heißt, die Nominative und je einer der obliquen Fälle miteinander verglichen sind, was aber auf obiges Beispiel bezogen nicht stimmt, denn es dürfen ja nur Wörter mit demselben Geschlecht beurteilt werden.

51§: “quo“: meint hier wodurch; “decurritur sine doctrina“: ...es Beugungsabläufe ohne zusätzliches Wissen gibt; “figurae vocis“ gebraucht er hier abermals als die Form mit einschließend.

Das Konzept der voluntas birgt bei Varro einerseits die Willkür hinter dem “qualis“ eines neu entstandenen Wortes, andererseits auch dessen Eingliederung in ein Flexionsmuster. Für ihn ist der Fall der Neuprägung der Nominativ, dessen Position als Primat vor den anderen Fällen hier zwar plausibel, aber nicht als notwendig erscheint. Varro verwendet die voluntas an dieser Stelle im eben erklärten letzten Sinn, weil er sie als der Analogie fähig bezeichnet. Man könne also der voluntas als der impositio beim analogen Schließen folgen und aus dem Verhältnis von “malus“ zu “dolus“ von “malo“ auf “dolo“ schließen. Der umgekehrte Weg ist, nach der natura, also den obliquen Fällen, in Richtung Nominativ zu schließen. Als eine Kombination von beidem wird das Verhältnis vom Nominativ zum obliquen Fall, genannt transitus, vorausgesetzt, sodass man dann von jeder der beiden Formen die übrigen erreicht. Diese Methode hat nur stark beschränkte Aussagekraft, denn im Grunde begeht Varro einen Zirkelschluss, denn Analogie kann nur sicher funktionieren, wenn man weiß, ob zwei Wortpaare einander ähneln, sonst würde man aus “genus – magnus“ solche Absurditäten wie “magneris“ produzieren, weil keine Information außer einer bestimmten Form vorliegt. Man könnte auch, wenn man “genus“ als Akkusativ liest, nicht Gleichzusetzendes gleichsetzen. Wenn aber vorausgesetzt wird, dass sich zwei Wörter ähneln, ist der Schluss auf ein schon bekanntes Drittes/Viertes Selbstbetrug.

§52: Die Formen rosus138 und prosus139 sind selten, aber dennoch verwendet worden.

In diesem Abschnitt wiederholt er allgemein das einen Paragraphen zuvor Gesagte. Die letzte Anmerkung nimmt sich wenig sinnvoll aus, denn das aus “1“ und “2“ Zusammengesetzte wieder aufzutrennen, die Teile dann “3“ und “4“ zu benennen und “1“-“4“ schließlich gegenüber zu stellen, ist wirr. Was er sagen wollte, dürfte sein, dass man innerhalb jenes zusammengesetzten Ganzen zwei mögliche Vorgehensweisen hat.

§53: “Impositio... in nostro dominatu ...nos in naturae“: Hier werden die Begriffe einander gegenübergestellt. Impositio, die Erstprägung eines Wortes, obliegt nach

138Vgl. Forcellini, 1871, 942 139Vgl. Forcellini, 1868, 274

86 Varro dem freien Willen, wohingegen natura, quasi als objektiv vorgegebene Sprachstruktur erscheint. Erstgenannter Ausdruck stellt quasi den Mensch als geistigen Beherrscher dar, wobei das Moment des selbst Beherrschtseins vernachlässigt wird, welches den Begriff fließend in den der natura überführen würde.

§54: “ordo“: vorgegebener Ablauf - Schema

Der Sinn bis “aliud videndum“ ist selbsterklärend. Danach will Varro feststellen, ob man bei zwei Wörtern, einem Singularwort und einem formverwandten Pluralwort wie “Mars“ und “Martes“, die Mehrzahl oder Einzahl an den Anfang der Flexion stellen soll.

§55: “Oratio...ostendunt“: Obwohl die Sprache aus Buchstaben besteht, zeigen Grammatiker dennoch mit ihr als Mittel etwas über die Buchstaben auf

Der Vorstellung, dass die Natur sich von eins nach zwei bewege, liegt die Zeitvorstellung und die der Zahlenreihen zugrunde. Man müsse aber nicht das Frühere zum Ausgangspunkt einer Untersuchung machen. Auch die Naturphilosophen beginnen ihre Erörterungen mit dem Gegebenen, den Phänomenen, und fragen nach dem Dahinterliegenden, den Ursachen.

§56: Er führt den Gedanken des Späteren als des Gegebenen und erkenntnistheoretisch Primären fort, bekräftigt ihn für die Wissenschaft als Ausgangspunkt und führt noch andere Präferenzen hinzu: Die Phrase ab incorrupto principio will sagen, dass der Ausgangsfall (für den Vergleich) eines Wortes in integrer Form vorliegen soll, damit man diese Form reinen Gewissens für einen Vergleich heranziehen kann, vorzugsweise im Plural. Der folgende Gegensatz natura-lubidine ist die Wiederaufnahme des natura-voluntas Verhältnisses. Fälle des Plural sollten zur Illustration der Regelmäßigkeit einer Flexionsart dienen, weil der Nominativ Sg. verglichen mit den anderen Formen sich anomal verhält, was Varro mit den Beispielen “trabes“-“trabs“ und “duces“-“dux“ belegen will. An dieser Stelle seiner Ausführungen kommt Varro in die “Nähe“ der Flexionsregeln. Ein kurzes Beispiel hierfür soll erwähnt sein: die Formen “vox-vocis“ “nox-noctis“ “grex- gregis“ dürfen trotz gleicher Nominativendung nicht gleich flektieren. Die Unterscheidungsmerkmale “-cs“ “-cts“ “-gs“ sind im Nominativ zu einem “x“ vereint und dadurch verborgen, weshalb man sich eines anderen Falles als Hilfe bedienen muss, um die passende Deklination darzustellen.

§57: er erklärt hier die Formen “trabs“ und “dux“ durch Elision des “e“ in den Formen “trabes“ und “duces“

§58: Wenn der Nominativ Plural eines Wortes entstellt ist, solle man ihn zuerst

87 wiederherstellen, bevor es angeraten ist, weiterzumachen.Von den anderen obliquen Fällen solle man die eindeutigen heranziehen, um über die Flexionsweise des Nominativs Klarheit zu erlangen.

§59: Der obige Gedanke wird hier allgemein formuliert und soll mit einem Beispiel von menschlicher Verwandtschaft diesen verstärken. Auch bei Torbögen sei das Verhältnis von linker Säule zu rechter Säule immer dasselbe.

§60: “ut in eo fundamentum sit in natura“: umständlicher aber verständlicher Ausdruck: das principium solle selbst naturbegründet sein.

Die größere Zahl von Verwechslungen geschieht bei den Nominativen des Singular, da die Leute unkundig mit den Formen umgehen und sie neu bearbeiten. Die Natur sei von sich aus unversehrt, wenn nicht ein unkundiger Sprecher dies verhindert. Varro äußert das Moment voluntas hier als Willkür und stuft es als zu vermeidende Vergleichsgrundlage ein. Die objektive Sprachstruktur, Flexion, sei aber objektiv von der Natur vorgegeben. Sich der natura zu bedienen dürfte wohl “den Strukturen folgen meinen“, wobei “voluntas“ hier die Wortprägung als chaotischen Akt andeutet. Wenn Varro diese frei gesetzte Grenze zwischen Beherrschen und Beherrschtwerden (lubido) zurücknähme, würden die Begriffe als natura ineinander-fließen.

§61: Varro schildert einen weiteren Vorteil der Setzung eines obliquen Falles als erste Vergleichsstation. Dadurch würde man die consuetudo, welcher die Nominativschwankungen unterliegen, leichter außer Kraft setzten können. Andererseits erfolgt die Tradition ebenfalls entlang der consuetudo. Er betont hier die natura als vorgegebenes Korrektiv gegenüber dem menschlichen Treiben. Insofern der Mensch mit etwas Fremdem konfrontiert wird, ist die Perspektive der natura für das Subjekt klar. Objektiv jedoch ist wohl auch der Mensch ein Stück natura und seinerseits ausgeliefert.

§62: Wenn jemand den Singular als Vergleichsgrundlage heranziehen will, was, den Nominativ ausgeschlossen, gleich billig ist, wie die Fälle zu verwenden, dann solle er mit dem Ablativ, der eigens lateinisch ist, beginnen. Danach führt er fünf Deklinationen an, unterschiedet, obwohl die Lautform auch Vokallänge des Ablativs einschließe , nicht zwischen “lanx“-“lance“ und “dies“-“die“ .

§63: Er betont die zwei Grundbedingungen der Analogie “in rebus“ “in “vocibus“ und “in utroque“ und schließt an §11 an, wonach er zu den Unterbegriffen überleitet. Die beiden Kriterien sind in der Regel Korrelate, das eine nomineller Art, das andere formaler Art. Ihnen sind die restlichen Bedingungen, wie gerade erwähnt, zu subsumieren. Es ist dabei so, dass ein nomineller Bezeichnungsakt die regelmäßige Form verändert, wie bei “poeta m.“. Deshalb ist auch die Übereinstimmung nicht selbstverständlich.

88 §64: Hier geht er auf den Begriff der “res“ näher ein und schließt eine Bedeutung aus, die sich auf geometrische Verhältnisse an den Gegenständen beruft, welche Disziplinen er mit harmonicae näher bezeichnet und weitere unbestimmt andeutet. Er geht hier wohl auf eine Art der Bildung und Erziehung ein, die Geometrie und wohl auch Musik vermittelte140. Diese würden aber nicht Teil der Untersuchungen über die Sprache.

§65: Res ist hier als diejenigen Merkmale zu verstehen, die nicht schon durch die Form, wie “-Marspiter“ und “Iovi-Marti“, wo die morphologische Ähnlichkeit im Ganzen fehlt, ausgedrückt wurden. Die Wörter sind jedoch “in rebus“, nämlich wie hier numerus, casus, species ähnlich. Die Ähnlichkeit soll innerhalb des ganzen Paradigmas gelten. Er bestimmt res als eben nicht formal, weil sie sonst ja in vox beinhaltet wären.

§66: In diesem Abschnitt sind sich die Wörter nur der Form nach ähnlich, aber ihrer funktionellen Substanz nach zu unterscheiden. Als Beispiele für irreguläre Analogie gibt er “biga-bigae“ “nuptia-nuptiae“. Da die Einzahlformen bei Pluralwörtern nicht verwendet werden, befinden sie sich außerhalb des für Analogie zugelassenen Sprachfeldes.

§67: Bei pluralia tantum verwendet man Distributivpronomen zur Bezeichnung der Zahl. Jene kontrastiert er mit den Kardinahlzahlen.

§68: Die dritte Art von Analogie ist, wie in §11 und §63 angeführt, die doppelte nach Form und Funktion, wie bei “bonus- malus“ und “boni-mali“, welches Beschäftigungsgebiet er Aristophanes von Byzanz zuschreibt. Er will nun auf diese doppelte und vollkommene Art der Analogie eingehen und im Anschluss deren Einzelteile als unvollständige Analogien näher beleuchten.

§69: Dieser Abschnitt beinhaltet eine perspektivische Veränderung der Materie; Analogie wird nun aus sprachvergleichendem Blickwinkel gesehen und in dieser Hinsicht bestimmt Varro drei genera verborum: genuin lateinische Wörter, Fremdwörter und Lehnwörter. Fremdwörter, sogenannte adventicia, stellen alle aus dem Griechischen kommenden Wörter dar, die, wenn sie der Form nach verändert werden, in die Klasse der Lehnwörter fallen oder unverändert eben Fremdwörter bleiben.

§70: Eine kleine Lücke enthält uns genaue Schilderungen der ersten Klasse vor, welche aber ohnehin vorstellbar ist. Es wird das Verhältnis von Lehnwort zu Fremdwort angereiht und kurz angedeutet. Accius habe eine Rückbesinnung auf die griechischen Urformen vollzogen. “Lehnwort“ wird als “Graecanicus“ näher

140Vgl. Dahlmann, 1935, 1255-1260

89 bestimmt, während mit “Graecus“ das griechische Fremdwort gemeint ist. Diese Merkmale übertragen sich auch auf die Analogie.

§71: Von den eingebürgerten Wörtern stehen manche der Ursprungssprache mehr oder weniger nahe. Varro wählt diejenigen Beispielformen aus dem lateinischen Sprachgebrauch angemessen aus, die zwischen Entfremdung der Ursprungswörter und deren Anpassung ans lateinische Idiom den Mittelweg beschreiten.

§72: “in qua...videndum“: das instrumental verwendete “conferendo“ bestimmt “videndum“ näher;

Hier greift Varro seine zwei fundamentalen Bedingungen der Analogie wie zuvor in §68 wieder auf. Zusätzlich führt er den Sprachgebrauch als die fürs Sprechen benötigte dynamische Größe ein.

§73: Varro teilt den Sprachgebrauch willkürlich in drei Kategorien ein, wo doch eine gewaltige Dialektik diese untereinander durch die Lebensumstände der Menschen verbindet. Die dritte Klasse von Wörtern sei der dichterischen Erfindungsgabe zu verdanken, indem beispielsweise pluralia tantum singulär gebraucht werden. Die Annahme einer vierten “gemischten“ Gattung scheint auf das in klassischer Sprechweise nur in der Mehrzahl verwendete “inimicitia“ neben der regulären Einzahlform “amicitia“ anzuspielen und ergibt wenig Sinn, da sie nichts Neues zu den anderen dreien hinzufügt.

§74: “ex quadam parte“: bis zu einem gewissen Grad;

Die Formulierung zu Beginn dieses Absatzes ist abermals ein wenig unglücklich. Varro bezieht “Analogie“ auf den Sprachgebrauch, was er in Anbetracht des bereits Erwähnten, nur so begreifen kann, dass er den gleichmäßigen Sprachgebrauch als “Träger der Analogie“ meint. Den Dichtern wird auch die Lizenz des Austretens aus der folgsamen Sprechergemeinschaft gewährt. Interessant ist, dass die Ausnahme der Dichter auf beide Bereiche, natura und consuetudo, bezogen ist, obwohl der Sprachgebrauch in Realität die Formen beinhaltet. Varro scheint im Gegensatz zum dichterischen Sprachgebrauch den streng an vorgeschriebene Normen gebundenen alltäglichen Gebrauch zu mathematisch zu sehen. Ungebildete Sprecher, Dialekte, verschiedene konkurrierende Sprachnormen scheinen eine so scharfe begriffliche Trennung zu verwässern. Was Varro genau mit poetica analogia meint, ist nicht klar. Jedenfalls gehört die Einschränkung “ex quadam parte“ sowohl zum regelmäßigen Formenkatalog wie auch zur üblichen Wortverwendung. Vielleicht stellt er sich dabei vor, dass die poetischen Unregelmäßigkeiten in der Wortform irgendwoher analog übertragen werden, wie beispielsweise latinisierte griechiche Endungen. Vielleicht meint er einfach allgemein, dass unübliche, aber dennoch im weiteren Sinn regelmäßige und verständliche Wörter gebraucht werden. Die Direktiven, die er am

90 Ende des Paragraphs ausgibt, sind willkürlich gesetzt, er scheidet dabei die öffentliche Sprache unsauber von der Sprache der einzelnen, obwohl beides doch so klar zusammenhängt. Die letzte Behauptung, dass der Dichter seiner Freiheit folgen müsse, ist ebenfalls überflüssig.

§75: Möglicherweise ist der erste Satz die Erklärung für die obskuren Einteilungen, die Varro zuvor getroffen hat. De facto liegt das Problem seiner die consuetudo betreffenden Terminologie in ungenauem “Hinsehen“ auf die Sprachrealität. Seinen Entschuldigungsgrund für etwaige Unklarheiten in §74 bezieht er aus den Arbeiten der zitierten Grammatiker.

§76: Hier sagt Varro, dass es keine Komplikationen des Verständnisses mehr geben werde, wenn erst einmal die Termini ausreichend erläutert seien.

§77: “ut transeat mens“: sodass/damit der Verstand es weiterbeugt- hier ist der ut-Satz nur auf “ex verbi discrimine“ zu beziehen. “ex verbi discrimine“: Fall/Person; Taylor irrt sich hier meiner Meinung nach bei seiner Übersetzung, indem er das “ut“ auf den ganzen Hauptsatz bezieht sowie “discrimen verbi“ und “transeat mens“ missversteht. Die Phrase “ex verbo in verbum...commutatio vocis“ impliziert den “transitus“, den die mens bereits vollzieht, wohingegen “discrimen“, was nur einen Fall bedeutet, die nähere Bestimmung des “ut transeat mens“ nötig hat, um mit “ex verbo in verbum... commutatio vocis“ synonym zu sein, was Varro ja durch den Begriff declinatio, der für beide obigen Ausdrücke gilt, andeutet. “transire“ wird sowohl transitiv als intransitiv gebraucht.

Die Definition für verbum wäre Varro schon zu Beginn des Buches schuldig gewesen, die übrigen Begriffe hat er bereits explizit oder implizit erörtert.Die ausdrückliche Festlegung von declinatio naturalis gibt er jedoch passend durch die schon bestimmten res und figura.

§78: Subjekt des Nebensatzes ist unausgesprochen consuetudo;

Die Einschränkung “ohne im Widerspruch zum gemeinschaftlichen Sprachgebrauch zu stehen“ wurde in §74 bereits analysiert Die weitere Bestimmung “bis zu einem gewissen Maß“ rührt an die schon erwähnte Dichterlizenz, die, um diese zu erweitern, über die Grenzen des Sprachgebrauchs gehen kann. Die Form “vivor“ wird zwar als analog flektiert ausgewiesen, aber dem Sprachgebrauch widersprechend eingeführt, da dieser das Passiv von intransitiven Verben ächtet.

§79: “ac proinde ac debeat: als ob sie es müsste; soleat quaeri: Konjunktiv der Unterordnung

Nun kommt Varro mit der sprachlich verwendeten Analogie zum Abschluss. Er reiht

91 vier genera verborum an, denen Analogie versagt bleibt. Das erste fällt den sogenannten verba indeclinabilia zu.

§80: “Dant habere casus“: Sie sagen, dass … haben; “nequam“ : indeklinables Adjektiv, das jedoch mit Pronomen verwendet wird, um kasual zu fungieren.

Der Unterschied zwischen “mox“ und “nequam“ liegt in rebus verborum, das heißt, dass sie in einem grammatischen System einen anderen Platz haben. Der Unterschied re liegt immer im Sprachgebrauch verborgen, aus welchem sich grammatische Zuordnungen erst erheben: das eine hat als zeitlicher Indikator eine andere Funktion als das erstarrte auf Personen bezogene “nequam“. Nicht liegt der Unterschied, und darauf will Varro auch hinaus, in figura, also der bloßen Form.

§81: “quod vocabulum“: “nequam“

Diese Passage geht auf die Genese synthetischer Wörter wie “nequam“ und “nolo“ ein.

§82: Das zweite genus bildet die Klasse der Buchstaben, obwohl diese untereinander mit Pronomen analog verwendet werden könnten. Das dritte nehmen sogenannte singuläre Flexionsreihen ein, wobei eigentlich nur der Nominativ unregelmäßig ist, was Varro eigentlich aufgrund seiner Theorie der Teilähnlichkeit sehen müsste. Hier gelingt ihm die Anbindung an §§61 und 62 nicht, wo von der Irregularität des Nominativ Singular die Rede ist. Die vierte Klasse folgt ebenfalls aus dem schon vorher Gesagten: die Fälle müssen figura und re übereinstimmen. Vielleicht meint Varro diese vier Klassen lediglich, wie schon in §32 als rein informative Ergänzungen.

§83: Hier spricht Varro von vier Grundbedingungen der Analogie im Gegensatz zu den bisher zwei genannten res/materia/natura und figura. Res bezieht sich einmal mehr auf die Substanz hinter den Formen. Dass diese res in Verwendung sein sollen, hatte er schon im Absatz über die pluralia tantum impliziert, doch da es dort noch nicht um den Sprachgebrauch ging, formuliert er dieses Merkmal noch einmal separat. Dass usus und analogia in Realität untrennbar sind, rückte er erst seit § 74 in helleres Licht. Usus stellt als allgemeinster die Sprache betreffender Begriff sowohl regelmäßige, als auch anomale Formen vor. Dass den res auch vocabula, also Formen zur Seite stehen sollen, ist synonymer zur komplimentären Unterscheidung res-figura und gibt keine neue Information. Die declinatio naturalis wird durch duplici similitudine et re et figura impliziert. Somit widerspricht er sich nicht.

§84: “id genus ut sit discriminadum“: man kann hier mit Taylor “whereby the category is differentiated“ übersetzen, oder dem Verfasser folgen. Sinngemäß sind beide Übersetzungen ähnlich: Dadurch, dass eine natura ohne usus ist, wird

92 metasprachlich ein besonderes Merkmal für ein neues genus erklärt.

Dieser Abschnitt bezieht sich, wie erwähnt, unter dem neu hinzugekommenen Aspekt des usus auf die Differenz zwischen res/natura und usus. In §24 handelte er (siehe §83) die reinen Pluralwörter nur unter dem formalen Gesichtspunkt ab und hatte den Gebrauch impliziert. Hier expliziert er ihn. “Faba“ wird eben nur in der Einzahl verwendet.

93 XIII)Conclusio

Außer der Übersetzung von LL X ins Deutsche gehört zu den Ergebnissen dieser Arbeit, dass Varros Ausführungen insofern systematisch sind, als die Begriffe von Ähnlichkeit, Unähnlichkeit, Analogon und Analogie zusammenhängen. Diese passen jedoch nicht in ein systematisches Ganzes, das nur auf die Wortform zurückgreift, wie ein solches von Taylor141 promoviert wurde. Dies konnte an mehreren Stellen der Arbeit gezeigt werden. Außerdem wurden einige Passagen, die bisher, wie ich denke, Missverständnisse verursachten, im Kommentar in ein neues Licht gerückt. Varro hatte anscheinend ein systematisches Ganzes als Leitmotiv in seinen Vorstellungen, das aber, wie in der Sprache gar nicht anders möglich, auf sprachliche Aspekte verschiedener Ontologie zurückgreifen muss, was in der “res/materia“ - “figura“ Terminologie “augenscheinlich“ wird. Diesen beiden für das zehnte Buch zentralen Begriffen konnte hier eine präzise Bedeutung abgewonnen werden, die bei Taylor noch nicht gegeben war. Varro irrt sich zwar in einigen Passagen, jedoch ist der Großteil seiner Ausführungen im zehnten Buch ganz klar zusammenhängend. Er war auch sicher bis zu einem hohen Maße mit formaler Logik vertraut und er hätte kaum ein solches Ausmaß an Energie für die Formulierung so diffiziler Unterschiede in der Klassifikation aufgebracht, wenn ihm nicht an einem System gelegen wäre, das er, zugegebenermaßen, an einigen Stellen mit der Brechstange biegen muss. Hartung142, der sich gegen ein Systems ausspricht, kann aus dessen etwaiger Unstimmigkeit nicht das Fehlen der Intention dahinter beweisen. Weitere, vor allem diachrone Betrachtungen auf diesem Forschungsgebiet wären interessant und nötig, um die intratextuellen zu stützen. Die bisherigen intertextuellen Daten hingegen können an der wohl anzunehmenden Intention des Systems wenig ändern, zeigen aber, wie Fehling für §10, wo Bedingungen und Flexionsregeln vermischt werden, dass Varro, wenn die historischen Untersuchungen in den relevanten Punkten Recht haben, den Stoff aus den Vorlagen nicht vollends beherrscht hat. Dennoch hat er wohl die lateinische Grammatik in innovativer Weise formuliert und theoretisch versiert untermauert, so dass sich sein in §1 geäußerter Vorsatz im Wesentlichen bewahrheitet, solange keine weiteren historischen Ergebnisse dagegen vorliegen.

141 z.B. Taylor 1996, 25 142 Hartung, 1973

94 IX) Literaturverzeichnis

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