Die Späten Sechziger Jahre: Akteure, Interessen, Problemlagen

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Die Späten Sechziger Jahre: Akteure, Interessen, Problemlagen Das Buch Sozialismus als soziale Frage. Sozialpolitik in der DDR und Polen 1968-1976 thematisiert Entwicklungen, deren tagespolitische Bedeutung für die frühen 1970er Jahre auf der Hand liegt. Wie eng sie in historisch weiträumigere Zusammenhänge eingebunden waren, vor allem in die der dritten industriellen Revolution, erschließt sich einem zweiten Blick. Um diesem Kontext gebührend Raum zu bieten, war ursprünglich ein Kapitel vorge- sehen, das die Akteurs- und Interessenkonstellationen sowie die wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Problemlagen der späten 1960er Jahre etwas genauer beleuchtet. Der gute Vorsatz stand freilich in Spannung zu dem Ziel, den Umfang des Bandes von ca. 500 Seiten nicht wesentlich zu überschreiten. Alles andere hätte Kürzungen im Kernbereich der Darstellung zur Folge gehabt. Zu dessen Gunsten wurde auch auf ein weiteres Kapitel ver- zichtet, das die Sozialpolitik der späten Ulbricht-Ära in der DDR behandelt. Das fiel umso leichter, als interessierte Leser sich in Band 9 der Geschichte der Sozialpolitik in Deutsch- land seit 1945 sehr viel genauer informieren können. Dem pragmatischen „Outsourcing“ folgte, nicht ohne Zögern, auch das Literaturverzeichnis. Der Böhlau-Verlag hat sich freundlicherweise bereit gefunden, diese beiden Kapitel und das Literaturverzeichnis des Bandes auf seiner Internetseite als Downloads im Volltext kostenfrei zugänglich zu machen. Dafür sei ihm an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Es bleibt zu hoffen, dass die Leser diese Hybrid-Version einer Publikation nicht als Zumutung, sondern als ein Angebot verstehen. P.H., Potsdam, 19. Mai 2008 Die späten sechziger Jahre: Akteure, Interessen, Problemlagen 1. Politische Konstellationen zwischen 1968 und 1970 2. Wirtschaftliche, soziale und demographische Probleme 3. Lang- und mittelfristige Trends 4. Soziale und politische Bruchzonen um 1970 5. Gewaltpotentiale sozialen Protests 1. Politische Konstellationen zwischen 1968 und 1970 Jeder Versuch, die Ereignisse vom Dezember 1970 im historischen Kontext zu lokalisieren, wirft die Frage auf, wie weit dieser Umkreis zu ziehen ist. So läge eine großräumigere Sicht nahe, wenn jener Dezember als erster dramatischer Höhepunkt in der finalen Krise des „Re- alsozialismus“ zu erklären wäre. In diesem Fall kämen die von 1960 bis 1967 zu datierende Periode der „kleinen Stabilisierung“ in Polen und der in der DDR von 1963 bis 1970/71 dauernde Reformversuch des „Neuen ökonomischen Systems“ in den Blick. In einer enge- ren Version, die den Dezember 1970 eher als Vorstufe zu einer sich erst noch entfaltenden Krise wahrnimmt, würde man sich auf die Jahre zwischen 1968 und 1970 zu konzentrieren haben. Für 1968 gibt es mehrere Argumente. Zum einen ist es das Jahr der Schock- Stabilisierung des sowjetischen Blocks durch die Invasion in die ČSSR. Zweitens geriet das Regime Gomułkas im März 1968 gleich von mehreren Seiten unter Druck, sowohl aus den eigenen Reihen als auch aus einer mit den Reformern in der ČSSR sympathisierenden Op- position heraus. Władysław Gomułka ähnelte zu dieser Zeit einem einst populären, inzwi- schen aber alt gewordenen Star, dem kaum jemand noch etwas zutraute. In der DDR hinge- gen war es – drittens – das Jahr, in dem Walter Ulbricht, im Unterschied zu Gomułka unpopulär, aber scheinbar auf der Höhe seiner Macht, sowohl deutschland- als auch wirt- schaftspolitische Spielräume intensiver auszuloten begann, um ein Arrangement mit der Bundesrepublik zu finden und die DDR als modernes Sozialismusmodell zu etablieren. Im Jahr 1968 bündelten sich die Entwicklungslinien der „kleinen Stabilisierung“ in der PRL wie auch die Wirtschaftsreform in der DDR zu strategischen Alternativsituationen: Obwohl in unterschiedlichen Konstellationen handelnd, standen die Führungen der PZPR und der SED zu dieser Zeit vor der Frage, wie nach einem bis zur Mitte der 1960er Jahre relativ deutlich ausgefallenen Wohlstandszuwachs die Gesellschaften und Volkswirtschaften der beiden Länder auf die Erfordernisse der dritten industriellen Revolution vorbereitet werden 2 Die späten sechziger Jahre sollten. Es ging dabei nicht um das „Ob“, sondern um das „Wie“. Diese Frage barg aller- dings erhebliches Konfliktpotential. Die beiden Hauptprotagonisten Gomułka und Ulbricht, die sich persönlich nicht sonderlich mochten, traten in bemerkenswerter Einmütigkeit für wirtschaftsstrategische Schwerpunktsetzungen ein und hofften, die hierfür erforderlichen Ressourcen im Rahmen einer Art von „Austerity“-Politik zu erschließen. Auch unter ande- ren politischen Verhältnissen hätten solche Absichten kaum ungeteilte Zustimmung gefun- den. In diesem Falle jedoch stellte sich die Frage, inwieweit die Bevölkerung im Allgemei- nen und die Mitglieder der beiden Staatsparteien im Besonderen die zu erwartenden Einschränkungen mittragen würden. Der entscheidende Punkt dabei war, wieweit man bei der Investitionskonzentration zu- gunsten der industriellen Modernisierung gehen konnte. Trotz prinzipieller Ähnlichkeit unterschied sich diese Situation gravierend von derjenigen der Sowjetunion in den dreißiger Jahren.1 Hatte man es dort mit einer brachialen Industrialisierungskampagne zu tun, bei der aufgrund der besonderen historischen Umstände eine rücksichtslose Mobilisierung des Sach- und Humankapitals möglich war, so verfügten die Machteliten der PZPR und der SED in den sechziger Jahren durchaus nicht über solche Voraussetzungen. Den Bevölke- rungen gegenüber hatten sie Wohlstandsversprechen einzulösen, die im April 1967 auf dem VII. Parteitag der SED und im November 1968 auf dem V. Parteitag der PZPR noch einmal zusammengefasst worden waren. Diese Ankündigungen zurückzunehmen, kam praktisch kaum in Betracht. Es ging dabei nicht allein darum, soziale Frustration vor allem in der Arbeiterschaft zu vermeiden. Auch die Dienstklassen der Parteiregime galt es im Blick zu behalten. Diese hatten begonnen, sich verhältnismäßig kommode einzurichten und waren schon deshalb weder auf neue Mobilisierungskampagnen noch auf Einschränkungen erpicht. Eine im strikten Sinne betriebene Austeritätspolitik musste auch deshalb ein Loyalitätsprob- lem aufwerfen. Vor diesem Hintergrund bedeutete das zeitweilige Einfrieren der Lebens- und Sozialstandards auf dem gegebenen Niveau in jedem Fall ein Risiko. Insofern lag auch die Frage nach dem Machtmonopol der Staatsparteien nahe. Wenig überraschend kam es deshalb in deren Spitzengremien schon frühzeitig zu kontroversen Auffassungen und letzt- endlich auch zu politischen Auseinandersetzungen. Trotz dieser strukturell ähnlichen Problemlagen wies die Situation in beiden Ländern aber auch markante Unterschiede auf. Exemplarisch zeigten sie sich in der Haltung, die Władysław Gomułka und Walter Ulbricht gegenüber den Prager Reformern und ihrer Kon- zeption vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ einnahmen. Bei aller Loyalität gegen- über der Sowjetunion, die beide am 3. August 1968 während des Treffens mit Leonid I. Breschnew, Alexander Dubček, János Kádár und Todor Shiwkow in Bratislava sowie in bilateralen Gesprächen mit Breschnew am 17. Februar 1969 bzw. am 4. März 1969 in Mos- kau betonten, hatten sich Ulbricht und Gomułka in den Monaten vor der Militärintervention vom 21. August 1968 in der ČSSR bemerkenswert unterschiedlich verhalten. Die beiden Protagonisten zeigten sich gewissermaßen in seitenverkehrter Spiegelung ihres öffentlichen Images: Gomułka als ein auf Soll und Haben fixierter „Konservativer“, Ulbricht als reform- freudiger „Modernisierer“. Zweifellos vereinfacht eine solche Wahrnehmung die Probleme ebenso wie die komplizierten Persönlichkeitsstrukturen. Aber cum grano salis traf diese 1 Vgl. Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 368–377; 480–502. Die späten sechziger Jahre 3 Unterscheidung im Hinblick auf die späten 1960er Jahre wohl doch zu, insbesondere bei der Abwägung zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Während Gomułka hierbei eher aus der Perspektive einer „sozialistischen Hauswirtschaft“ argumentierte, zeigte sich Ulbricht von der Möglichkeit eines massiven Produktivitätsschubs durch eine geschickte Strukturpolitik überzeugt. In dieser Hinsicht war er risikobereiter. Trotz dieses Unterschiedes trafen sich beide in einem anderen Punkt: Der seit den 1950er Jahren in beiden Ländern erreichte An- stieg des Lebensstandards bestärkte sie in der Überzeugung, einen relativ scharfen wirt- schaftlichen Modernisierungskurs durchsetzen zu können. Eine zeitweilige Stagnation des Konsumniveaus wollten sie dafür in Kauf nehmen. Władysław Gomułka konnte sich in beträchtlichen Teilen der polnischen Gesellschaft auf einen Bonus stützen, den er vor allem 1956 und in den ersten Jahren danach erworben hatte. Es wurde ihm hoch angerechnet, Polen vor einem sowjetischen Einmarsch bewahrt zu ha- ben. In einem Kompromiss mit der sowjetischen Führung hatte er sich zudem nach seinem Amtsantritt bei den im November 1956 in Moskau geführten Verhandlungen „drei Beson- derheiten des polnischen Regimes“ absegnen lassen: „eine unabhängige katholische Kirche, ein freies Bauerntum und eine merkwürdige Art von politischem Scheinpluralismus“.2 Mit dem „freien Bauerntum“ war es indes nicht allzu weit her, denn obwohl die Kollektivierung der Landwirtschaft zurückgedreht wurde, blieben die Bauern in ein System von Verträgen und Pflichtablieferungen eingebunden. Gleichwohl schienen die Reformerwartungen, die viele in den neuen Mann an der Parteispitze setzten, in Erfüllung zu gehen. Das am 20. Oktober 1956 auf dem
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