Stefan Krings Hitlers Pressechef

Stefan Krings Hitlers Pressechef Otto Dietrich (1897–1952) Eine Biografie

WALLSTEIN VERLAG

Inhalt

Vorwort ...... 9

1 Einleitung 1.1 Otto Dietrich: »Hauptdarsteller« der NS-? . . . 13 1.2 Forschungsstand ...... 19 1.3 Methodik und Aufbau der Arbeit ...... 25 1.4 Quellen ...... 33

2 »Ich kam 1914 zu früh ins Leben und in den Krieg« − Nationalistische Prägung zwischen Kaiserreich und Republik 2.1 Familie – Kindheit – Jugend ...... 39 2.2 Freiwillig zum Dienst an die Front...... 49 2.3 Studium und Burschenschaft ...... 60 2.4 Erste berufliche Stationen ...... 74 2.5 Journalist der Generalanzeiger-Presse und im Hugenberg-Konzern ...... 79

3 »Mit Hitler in die Macht« − Medien- und Wahlkampfmanager im Dienst der NSDAP 3.1 Aufbau einer Gauzeitung ...... 99 3.2 Gründung von Parteipressestelle und NSK ...... 106 3.3 »Lügenabwehr« und Deutschlandflüge...... 116 3.4 »Eroberung der bürgerlichen Presse« − Dietrichs zweigleisige Strategie ...... 123 3.5 Dietrich und die Industrie ...... 138

4 »Öffentliche Sauberkeit« − Deutsche Presse zwischen Republik und NS-Staat 4.1 »Die Wahrheit mit Posaunen blasen« ...... 151 4.2 »Säuberung« des Reichsverbandes der deutschen Presse . . . 161 INHALT

4.3 Exkurs: »Ich rechne damit, dass auch Feigheit im Spiel gewesen ist« – Bürgerliche Journalisten zwischen Kooperation und Konformität ...... 186

5 »Die öffentliche Meinung, das ist bei uns die Partei!« – Dietrich und die Presselenkung in den ersten Jahren der NS-Herrschaft 5.1 »Der Journalist im neuen Staat« – Auseinandersetzungen um ein Pressegesetz...... 211 5.2 »Donquichotterie« zwischen Reichsleitern ...... 222 5.3 Ausbau der Reichspressestelle als Zentrale parteiamtlicher Presselenkung ...... 230 5.4 »Sind wir langweilig?« − Eintönigkeit der Berichterstattung . 242 5.5 Nachwuchssorgen ...... 249

6 »Befreiung der Gehirne« − Erfolge und Rückschläge als Schriftsteller und Redner 6.1 Religion und Nationalsozialismus ...... 267 6.2 »Philosophischer Edelquatsch« ...... 278 6.3 Kampf gegen das »Untermenschentum« − Dietrich und der Antisemitismus ...... 291 6.4 »Rechnen wir nicht, wo wir glauben müssen« – NS-Wirtschaftspolitik ...... 303 6.5 »Die Nachfahren«: Das Dritte Reich im Jahr 2008...... 307 6.6 Die Lebensweise eines Parteifunktionärs ...... 315

7 »Generalstab der deutschen Pressepolitik« – Als Staatssekretär im Propagandaministerium (1938-1945) 7.1 »Dietrich muß bei uns eingeschmolzen werden.« – Neue Strukturen im RMVP ...... 325 7.2 »Divisionen und Armeen der deutschen Presse« ...... 351 7.3 Tagesparolen des Reichspressechefs ...... 362 7.4 »Zuckerbrot und Peitsche« – Streit um die Kontrolle der Auslandspresse...... 377 7.5 Internationale Pressepolitik und Beziehungen zur Zeitungswissenschaft...... 388

6 INHALT

8 »Auf den Straßen des Sieges« – Pressemann im Führerhauptquartier 8.1 Das »Führermaterial« ...... 401 8.2 »Der Sieg im Osten ist entschieden« ...... 413 8.3 Briefe an Roosevelt und Churchill ...... 421 8.4 »Niemals eine Spur von diesen Dingen gewusst« ...... 426 8.5 »Es ist besser so …« – Dietrichs Entlassung ...... 433

9 »Praktisch hatte ich mit der Organisation der Presse nichts zu tun« − Inhaftierung – Prozess – Beruflicher Neuanfang 9.1 »Der Kerl muss völlig verrückt sein« – Langwierige Verhöre ...... 443 9.2 Anklage und Schuldspruch...... 451 9.3 Mitarbeiter für Verkehrsfragen: »Unverantwortlich« . . . . . 468 9.4 Streit um die Memoiren ...... 473

10 Schlussbetrachtung ...... 479

Dank ...... 491

Anhang Abkürzungsverzeichnis ...... 495 Quellen- und Literaturverzeichnis ...... 498 Ungedruckte Quellen ...... 498 Tages-, Wochenzeitungen, Pressedienste und sonstige Periodika...... 504 Veröffentlichungen von Otto Dietrich (Auswahl) ...... 506 Sonstige veröffentlichte Quellen und Sekundärliteratur . . . . . 510 Auskünfte ...... 535 Bildnachweis ...... 536 Personenregister ...... 537

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Vorwort

Otto Dietrich (1897-1952) war Reichspressechef, SS-Obergruppenführer, Reichstagsabgeordneter und Staatssekretär. Neben einigen anderen zumin- dest zwischen 1933 und 1945 wohlklingenden Ämtern wurde der promo- vierte Nationalökonom und überzeugte NS-Propagandist mit der mehr oder weniger freiwilligen »Gleichschaltung« im April 1933 auch zum Vorsit- zenden des Reichsverbandes der Deutschen Presse (RDP) gewählt. Diese Wahl gehört zu den außerordentlich trüben Momenten in der Geschichte des deutschen Journalismus, und Stefan Krings schildert in dieser Dietrich- Biografie ausführlich die Umstände und die opportunistischen Motive der bürgerlichen Journalisten, die ihn wählten. Doch bei aller Ämterfülle und »Führernähe« quälte sich Dietrich nach 1933 damit ab, dass der Star aller Propaganda im »Dritten Reich« eindeutig war. Das sahen alle so, nicht nur die Mitarbeiter des neuen Reichsministeriums für Volks- aufklärung und Propaganda, sondern auch die Auslandskorrespondenten in , die an den ewigen Reibereien zwischen dem Reichspressechef und Minister Goebbels ihre Freude hatten. Goebbels selbst hatte den »Ein- bau« Dietrichs 1937 als Staatssekretär in das Propagandaministerium noch gönnerhaft kommentiert und sogar einen Vorteil darin gesehen, wenn er den Apparat des NS-Pressechefs nun unmittelbar unter Kontrolle be käme. Doch den Tagebuch-Einträgen von Goebbels ist zu entnehmen, wie sehr der Minister bald seinen Konkurrenten verachtete, weil er ihn für ungeschickt und nicht satisfaktionsfähig hielt. Dies kulminierte am 14. De- zember 1944 in der Betrachtung: »Dr. Dietrich hat auf der Union Euro- päischer Journalisten in Wien gesprochen. Auch diese Rede bewegt sich im hergebrachten Genre und erweckt in der Öffentlichkeit nicht einmal wohlwollendes Interesse. Dr. Dietrich hat sich durch seine seinerzeitige Erklärung, dass der Feldzug im Osten entschieden sei, in der Meinung des deutschen Volkes so kompromittiert, dass er keinerlei Kredit mehr besitzt.« Goebbels spielte damit auf den legendären Auftritt Dietrichs im Oktober 1941 an, als Hitlers persönlicher Pressewart, sicherlich im Einver-

9 VORWORT nehmen mit seinem obersten Feldherrn, das Ende der Sowjetunion dekla- riert hatte. Otto Dietrich wurde nicht im Nürnberger Prozess gegen die »Haupt- kriegsverbrecher« angeklagt (die Stellvertreter-Rolle für den durch Suizid geendeten Goebbels übernahm hier der Hörfunk-Propagandist Hans Fritzsche), sondern dann im Wilhelmstraßen-Prozess 1949 zu sieben Jah- ren Haft verurteilt. Davon saß er nur einige Monate in Landsberg ab, be- vor er im August 1950 von US-Hochkommissar McCloy begnadigt wur de. Ein langes Leben war ihm nicht mehr beschieden, Dietrich starb im No- vember 1952 in Düsseldorf, wo er noch eine gewisse Zeit für die »Deutsche Kraftverkehrsgesellschaft« als Werbefachmann gearbeitet hatte. Dietrich gehört damit zu den Administratoren der NS-Medienlenkung, die in Westdeutschland nach 1945 keine größere Karriere mehr machen konnten. Dies gilt auch für Hitlers alten Kumpan und obersten NS-Ver- leger , der 1957 starb, für Hans Fritzsche (gestorben 1953) oder für Dietrichs mittelbaren Amtsvorgänger und späteren Reichswirt- schaftsminister Walther Funk, der erst 1957 aus dem Spandauer Gefängnis entlassen wurde (gestorben 1960). Dagegen konnte Max Amanns offenbar sehr effizienter Stabschef Rolf Rienhardt (1903-1975) seine Qualifikation in der Bundesrepublik noch bei Burda, der FAZ oder der Westfälischen Zeitung unter Beweis stellen, und etliche Kader des Propagandaministe- riums, wie Stefan Krings detailliert beschreibt, siedelten erfolgreich wie- der im politisch-publizistischen Raum der Adenauer-Zeit. Einen Sonder- fall bildet Helmut Sündermann, Dietrichs rechte Hand und allgemein unbeliebter Stellvertreter. Er baute nach 1945 am Starnberger See mit dem Druffel-Verlag ein für das rechtsradikale Milieu durchaus identitätsstif- tendes Publikationshaus auf. Dietrichs Abteilungschef »Deutsche Pres- se«, Erich Fischer, warb später für den Spiegel Anzeigen in der nordrhein- westfälischen Industrie ein. Stefan Krings’ Arbeit reicht weit über den Rahmen einer Lebensdar- stellung des »Reichspressechefs« hinaus. Er orientiert sich an den »neuen Biografien«, die in der Geschichtswissenschaft verstärkt seit den 1990er Jahren Struktur- und Organisationsgeschichte, die Analyse politischer Generationen und konkrete Kommunikationsforschung verbinden. Neben den bekannten Studien von Ulrich Herbert über Werner Best oder von Michael Wildt über das Führungskorps des Reichssicherheits- hauptamtes sei hier etwa auf Barbara Lambauers Arbeit zu Otto Abetz (dem Botschafter des »Dritten Reiches« in Paris) oder auf Carmen Callils publizistisch-wissenschaftliche und sozialpsychologische Recherchen zu Louis Darquier de Pellepoix (dem »Judenbeauftragten« der Vichy-Regie-

10 VORWORT rung) verwiesen. Ähnlich ist zuletzt Frank-Rutger Hausmann in seiner Biografie über den Chef der Auslandsorganisation der NSDAP, Ernst- Wilhelm Bohle, verfahren. Es fällt auf, dass es dieser Forschungsrichtung nicht mehr darum geht, neue Re-Interpretationen zu Hitler, Friedrich dem Großen, Bismarck oder Stalin vorzulegen, sondern feiner und prä- ziser einen Typus kenntlich zu machen, der sich als Zuarbeiter, Orga- nisator oder auch halbintellektueller Propagandist des charismatischen Führers begreift und zugleich Fühlung mit der Bürokratie hat. Max Weber mag als der soziologische und kommunikationswissenschaftliche Ahnherr solcher modernisierter (Kollektiv-)Biografik genannt werden. So erfahren wir auch in Stefan Krings’ Studie nicht nur einiges Neue über Otto Dietrichs journalistische Karriere oder die gespannte Bezie- hung zu seinem einflussreichen Schwiegervater, dem Essener Verleger Theodor Reismann-Grone, sondern darüber hinaus wesentlich mehr über den personalpolitischen Einfluss der SS auf die Publizistik des NS- Staates und Dietrichs Bemühungen, den angeblichen »europäischen Jour- nalismus« der Achsenmächte und Kollaborateure verbandspolitisch in den Griff zu bekommen. Ein interessantes Kapitel beschäftigt sich mit den Ambitionen Dietrichs, im Zuge seiner Planungen für ein eigenes »Presseministerium« auch eine Zeitungswissenschaft im engeren Sinne zu fördern, gegen die Aspirationen einiger Fachvertreter, die eine Auswei- tung des jungen Faches zur »publizistischen Wissenschaft« favorisierten. Goebbels wiederum interessierte sich für diese wissenschaftspolitischen Fragen überhaupt nicht, so wie er auch die pseudophilosophischen oder ökonomischen Elaborate Dietrichs (»Die philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus«, »Das Wirtschaftsdenken im Dritten Reich«) nicht ernst nahm. Erfolgreicher war der Reichspressechef als steter Chronist der Handlungen seines Führers (»Mit Hitler an die Macht«, »Auf den Straßen des Sieges. Mit dem Führer in Polen«). Prosaischer hieß es dann posthum 1955 »12 Jahre mit Hitler« – Dietrichs mehr oder weniger ge- schönte Erinnerungen, aus denen allerdings auch große Desillusionie- rung sprach, erregten damals noch einiges journalistisches Aufsehen. Am 31. März 1945 hatte es Goebbels dann endlich geschafft: Weil er dem Führer klarmachen konnte, dass »Dr. Dietrich ein ausgesprochener Schwächling (ist), der der augenblicklichen Krise nicht gewachsen« sei, habe sich der darüber sehr zornige Hitler »stehenden Fußes« entschlos- sen, »Dr. Dietrich sofort von seinem Amt zu beurlauben«, wie Goebbels seinem Tagebuch anvertraute. Er habe sich an Dietrich genauso aufgerie- ben, »wie der Führer sich an seiner Generalität zerreibt«. Damit hatte Goebbels dem zähen Behauptungswillen Dietrichs allerdings ein unfrei-

11 VORWORT williges Kompliment gemacht, der ja auch nicht entlassen war, sondern erst einmal nur für ein paar Wochen Urlaub machen sollte. Dann aller- dings ging das »Dritte Reich« schnell unter, und auch Goebbels kam nicht mehr dazu, »die deutsche Pressepolitik nun in die richtige Fahr- bahn hineinzubringen«. Als facettenreiche Dietrich-Biografie hat diese Arbeit sicherlich alle Chancen, als Standardwerk über längere Zeit wahrgenommen zu werden. Nachdem seit geraumer Zeit über das Feld der NS-Pressepolitik nur noch sporadisch geforscht worden ist, hat Stefan Krings’ Buch aber auch Qua- litäten eines aktualisierten Gesamtüberblicks. Es macht vor allem deut- lich, wie gründlich sich deutsche Journalisten von einer Clique unterein- ander zerstrittener Satrapen und Staatsterroristen domestizieren ließen.

Lutz Hachmeister

12 1 Einleitung

1.1 Otto Dietrich: »Hauptdarsteller« der NS-Propaganda?

Am frühen Morgen des 9. Oktober 1941 wurde der amerikanische Jour- nalist Howard K. Smith vom Klingeln seines Telefons aus dem Schlaf ge- rüttelt. Eine Sekretärin aus dem Propagandaministerium war am Apparat. Mit aufgeregter Stimme teilte sie ihm mit, dass es um zwölf Uhr mittags eine Sonderpressekonferenz geben werde, die außerordentlich wichtig sei. Nein, sie wisse nichts Näheres, aber man bitte unbedingt um pünktliches Erscheinen, da die Saaltüren kurz nach zwölf abgeriegelt würden. Obwohl Smith von Grippe und Kopfschmerzen geplagt wurde, machte er sich später per U-Bahn auf den Weg in Richtung Regierungsviertel Wilhelmstraße. In seinen Memoiren beschreibt der New York Times-Korrespondent, was ihn dort erwartete:

»Der in rotem Plüsch gehaltene Theatersaal des Propagandaministe- riums wimmelte von Reportern aus aller Herren Länder, die in einem Dutzend Sprachen darüber spekulierten, worum das Ganze wohl gehe. Mein Kopf pochte vor sich hin. Vorne war ein langgestreckter Kon- ferenztisch aufgebaut, und um diesen Tisch herum war eine stattliche Schar prachtvoller Uniformen gruppiert – grüne, braune, graue und zwei Schattierungen blaue – vollgestopft mit preußischen Offizieren, Parteifunktionären und schlichten Ministerialbeamten. Sie strahlten vor Freude darüber, daß sie hier vor ihrem alltäglichen Publikum in Kostü- men auftreten durften, die ihren für zivile Kluft gebauten Figuren einen seltenen Glanz verliehen. Wie bei allen ›historischen‹ Nazi-Ereignissen […] traf der Hauptdarsteller mit eindrucksvoller und exakter Verspätung ein. Schlag 12 Uhr 30 hasteten ein paar Offiziere in den Raum und kün- digten damit das Eintreffen des Führer-Sendboten an. Die Grüppchen formierten sich zu einer anständigen Phalanx, und herein kam der kleine

13 EINLEITUNG

Dr. Dietrich. Die Grußtechnik seines Führers imitierend, klappte er seine rechte Hand an die Schulter hoch und strahlte, als müsse er vor lauter mitgebrachten Neuigkeiten platzen. Es folgte ausgedehntes Hän- deschütteln, davor und danach jeweils ein steifarmiger Hitlergruß, Ka- meras blitzten und Blitzlichter zuckten. Über der großen Bühne hinter dem Hauptdarsteller Dietrich glitt der rote Samtvorhang auseinander und enthüllte eine riesige Karte des europäischen Teils von Russland. Sie war dreimal so groß wie der Sprecher. Die Wirkung war bestechend.«1 Die anwesenden Journalisten erfuhren wenig später, dass die russische Ar- mee angeblich »militärisch erledigt« sei und ein Sieg des Deutschen Reiches über die Sowjetunion kurz bevorstehe. Viele Pressevertreter machten sich lustig über diese sensationelle »Nachricht« des Dr. Dietrich, denn sie hör- ten nicht zum ersten Mal eine solch waghalsige Prognose aus seinem Mund. Wer war dieser »Hauptdarsteller« jener NS-typischen Inszenierung? Sein offizieller Titel lautete Reichspressechef der NSDAP. Als Staatssekretär und Pressechef der Reichsregierung war er zugleich einer der ranghöchsten Vertre- ter des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP). Dr. Dietrich gehörte zum erlesenen Kreis der Reichsleiter seiner Partei und innerhalb der Schutzstaffel rangierte er als SS-Obergruppenführer auf einer Ebene mit Männern wie Martin Bormann, Reinhard Heydrich und Rudolf Heß. Diese Titel und sein Auftreten bei dieser Presseveranstaltung lassen vermuten, dass Otto Dietrich eine zentrale Rolle im nationalsozialis- tischen Propagandaapparat gespielt haben muss. Zeitgenössische Jour- nalisten kamen zu unterschiedlichen Einschätzungen über die Bedeutung und die Fähigkeiten des »Pressediktators« – so wurde er 1948 in einem Zeitungsartikel genannt.2 Viele nahmen Dietrich als einen »Möchtegern« wahr, der von einem »unbestimmten Machtantrieb verzehrt« wurde und unter allen Umständen eine öffentliche Rolle spielen wollte, wie es ein Boulevardblatt formulierte. Sie waren überzeugt, dass der NS -Pressechef

1 Howard K. Smith: Feind schreibt mit. Ein amerikanischer Korrespondent erlebt Nazi- Deutschland, Frankfurt a. M. 1986, zuerst London 1942 (»Last Train from Berlin«), S. 74 f. (im Folgenden: Smith, Feind schreibt mit). Unter dem Titel »Dr. Dietrich geht aufs Ganze« veröffentlichte Smith bereits 1947 einen größtenteils wortgleichen Bericht in einer deutschen Zeitschrift: Ost und West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit, Nr. 4/1947, S. 6-23 (übersetzt von Helga Rothe). Auch im Folgenden werden Zitate und bibliografische Angaben nicht in die neue Rechtschreibung übertra- gen, offensichtliche Tippfehler allerdings – sofern nicht anders vermerkt – berichtigt. Ergänzungen, die der Verfasser in die Zitate eingefügt hat, sind ebenso wie Kürzungen in eckige Klammern gesetzt bzw. durch sie gekennzeichnet. 2 Der Abend (Berlin), Jg. 3, Nr. 31 v. 6.2.1948, S. 1 (»Der Pressediktator«).

14 EINLEITUNG alles tat, »um ein gehorsamer Diener seines Auftraggebers zu sein«.3 Des- halb hielten die Konferenzteilnehmer an jenem Oktobertag des Jahres 1941 den »Führer« für den Urheber der Propagandameldung über den kurz bevorstehenden Sieg im Osten. Manche bewerteten Dietrich als »Mann ohne Gewicht«, nannten ihn aber gleichzeitig eine »Nazigröße«. 4 Andere bescheinigten ihm zwar rückblickend »Geschicklichkeit und Ell- bogentaktik« auf der Karriereleiter. Doch aufgrund seiner »weichen, ver- schwommenen Züge« sei der Reichspressechef »keine Führer-, allenfalls eine Vorzimmernatur« gewesen: »Es fehlte ihm an geistigem Format, um sich als Persönlichkeit durchzusetzen. So schwamm er ausdruckslos im Kielwasser seines Führers.« Die Macht habe in Wirklichkeit ein anderer besessen: »sein schärfster Konkurrent: Goebbels!« Allerdings war man überzeugt, dass Dietrich »Einflüsterungsmöglichkeiten auf das Ohr des Allerhöchsten« hatte. Damit war gemeint.5 Was die fachliche Kompetenz ihres einstigen Berufskollegen Dietrich angeht, hielten die einen ihn von Anfang an für eine »Null« (Karl Silex).6 Aus Sicht anderer hingegen gehörte er »unzweifelhaft zu den fähigsten und bedeutendsten Köpfen unter den deutschen Journalisten«. So erklär- te es ein Redakteur des Völkischen Beobachters (VB) im Juli 1933 in einem Vortrag über den Reichspressechef und seine »Persönlichkeit«. Jeder »neudeutsche« Schriftleiter müsse nach Dietrichs Vorbild »herangebildet« werden. Über die konkreten Eigenschaften dieses Prototyps erfuhren die Zuhörer allerdings wenig – betont wurde lediglich, dass Dietrich »mit Herz und Seele« für die »Idee Adolf Hitlers« kämpfe.7 Auch der in Buda- pest erscheinende deutschsprachige Pester Lloyd sah in Dietrich 1941 einen »Presse- und Kulturpolitiker von Format«, der in der Lage sei, die »bewe- genden Kräfte der Geschichte unserer Tage mit größter Eindruckskraft festzuhalten«.8

3 Nacht-Express. Die illustrierte Berliner Abendzeitung, Jg. 3, Nr. 299 v. 23.12.1947, S. 2 (»›Möch tegern‹ macht Karriere«). 4 So Max Schnetzer, Korrespondent der Schweizerischen Depeschenagentur, in: Die Tat (Zürich), Jg. 10, Nr. 241, Abendausgabe v. 1.9.1945, S. 1 (»Das war eine Nazigröße«). Diese Einschätzung habe er mit seinem Kollegen Reto Caratsch geteilt. 5 Telegraf, Jg. 2, Nr. 299, Berliner Ausgabe v. 23.12.1947, S. 3 (»Hitlers ›Reichspressechef‹«). 6 Der Tagesspiegel, Jg. 11, Nr. 2872 v. 19.2.1955, S. 5 (»Die Memoiren des ›Reichspressechefs‹«). 7 Zit. n. Berliner Tageblatt, Jg. 62, Nr. 336, Abendausgabe v. 20.7.1933, S. 3 (»Dr. Otto Diet rich«). Den Vortrag hielt Herbert Seehofer – Redakteur des Völkischen Beobachters und Mitarbeiter von Dietrich während der Wahlkämpfe im Jahr 1932. 8 Zit. n. einem Pressespiegel der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) v. 2.8.1941 (»Zum Jubiläum Dr. Dietrichs«). Der Artikel wurde aus Anlass von Dietrichs zehnjährigem Dienstjubiläum als Reichspressechef verfasst.

15 EINLEITUNG

Vergleicht man Dietrichs spätere Eigendarstellung mit den Aussagen mancher seiner einstigen Parteigenossen, so ergibt sich ebenfalls ein wi- dersprüchliches Bild. 1947 präsentierte sich der ehemalige Reichspresse- chef als eine Art »Briefträger« Hitlers – eine Zeitung bezeichnete ihn damals als »eine der groteskesten Figuren« unter den Angeklagten des Wilhelmstraßen-Prozesses.9 Helmut Sündermann stellte seinen langjäh- rigen Chef als nahezu bedeutungslosen Idealisten dar. Hitlers Adjutant Julius Schaub, der mit Dietrich viele Jahre im Führerhauptquartier ver- bracht hatte, beteuerte, der NS-Pressechef habe »politisch überhaupt kei- nen Einfluss« gehabt.10 Andere Zeugen hingegen wiesen Dietrich eine Schlüsselfunktion in der nationalsozialistischen Medienlenkung zu, allen voran Paul Karl Schmidt. Ging es dem einstigen Leiter der Presseabtei- lung im Auswärtigen Amt dabei neben der eigenen Verteidigung vor allem darum, sich für eine langjährige Feindseligkeit zwischen seiner Behörde und dem Propagandaministerium zu rächen, indem er den Erz- feind Dietrich nun vor Gericht belastete? In welcher Weise beeinflusste der Reichspressechef vor 1945 tatsächlich die sogenannte »öffentliche Meinung«, von der er damals annahm, dass sie mit dem Nationalsozialis- mus gleichzusetzen sei? Die Forschung schenkte Otto Dietrich, insbesondere seinem Wer- degang und seiner Persönlichkeit, bislang vergleichsweise wenig Auf- merksamkeit. Ein großer Teil der Arbeiten zur Geschichte der NS-Presse beschäftigt sich mit strukturellen oder ökonomischen Aspekten der Me- dienlenkung bzw. mit Propagandainhalten.11 Biografische Darstellungen

9 Nacht-Express. Die illustrierte Berliner Abendzeitung, Jg. 3, Nr. 299 v. 23.12.1947, S. 2 (»›Möchtegern‹ macht Karriere«). 10 BArch Koblenz, AllProz 1, Rep. 501, LVI G/15, Bl. 31, Eidesstattliche Erklärung v. Julius Schaub v. 8.6.1948. 11 Die Literatur zur Geschichte der NS-Presse ist sehr umfangreich. Die folgende Darstel- lung zum Forschungsstand konzentriert sich auf solche Arbeiten, die hinsichtlich der Person Otto Dietrich von Bedeutung sind. Für eine allgemeine Übersicht und kritische Einordnung der einschlägigen Fachliteratur, die bis Mitte der achtziger Jahre publiziert wurde, sei auf die Einleitung von Gabriele Toepser-Ziegert in folgender Edition ver- wiesen: NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation, heraus- gegeben von Hans Bohrmann und Gabriele Toepser-Ziegert, München 1984-2001, hier Bd. 1/1933, S. 44* ff. (im Folgenden: Bohrmann/Toepser-Ziegert, NS-Presseanweisun- gen). Seit Veröffentlichung dieser Übersicht ist eine Vielzahl weiterer Arbeiten mit unterschiedlichen Schwerpunkten hinzugekommen, etwa zur ökonomischen Ebene der Presselenkung (z. B. Thomas Tavernaro: Der Verlag Hitlers und der NSDAP. Die Franz Eher Nachfolger GmbH, Wien 2004; im Folgenden: Tavernaro, Der Verlag Hitlers), zur Agenturlandschaft (z. B. André Uzulis: Nachrichtenagenturen im Natio- nalsozialismus. Propagandainstrumente und Mittel der Presselenkung, Frankfurt a. M. u. a. 1995; im Folgenden: Uzulis, Nachrichtenagenturen), zu einzelnen Medienproduk- ten (z. B. Mario Zeck: . Geschichte und Gestalt des Organs der

16 EINLEITUNG

über Mitarbeiter des RMVP konzentrierten sich lange Zeit vor allem auf die Figur des Ministers. Dietrich blieb dabei im wissenschaftlichen Schat- ten seines innerparteilichen Rivalen. Dies führte zu Aussagen, wie sie in einem Buch mit dem Titel »Die 101 wichtigsten Fragen. Das Dritte Reich« zu lesen sind, das 2006 im Verlag C. H. Beck erschien. Der Ver- fasser erwähnt zwar auch Otto Dietrich als Pressechef der Reichsregie- rung, bescheinigt aber Goebbels für den Inhalt der deutschen Presse »die ausschließliche Kompetenz«.12 Michael Ruck weist in seiner Mitte der neunziger Jahre erstellten »Bib- liographie zum Nationalsozialismus« in der Rubrik »Biographien führen- der Repräsentanten des NS-Regimes« mehr als 50 Arbeiten über Hitlers Propagandaexperten aus.13 Seitdem kamen zahlreiche weitere einschlä- gige Publikationen hinzu, die größtenteils neue Einblicke in dessen Le- ben und Wirken ermöglichten. Hierzu zählt auch die filmische Dokumen- tation »Das Goebbels-Experiment«.14 Bei dieser Fixierung auf den Chef- propagandisten kommt bis heute eine Betrachtung anderer NS-Medien- politiker einschließlich ihrer Sozialisation und ihrer Dispositionen zu kurz – ähnlich wie es lange Zeit auch in anderen Forschungsbereichen zur Geschichte des »Dritten Reiches«15 der Fall war – und teilweise sogar heute noch der Fall ist. Diese Defizite sind zu bemängeln, weil die Re- pressalien und Verbrechen ohne die bereitwillige Mitarbeit der Funk-

Reichsführung SS, Tübingen 2002; im Folgenden: Zeck, Das schwarze Korps) sowie einige aufschlussreiche regionalhistorische Studien wie die von Marcus Oddey: Unter Druck gesetzt. Presse und Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein. Struktur – Wahr- nehmung – Herrschaftsakzeptanz, Eutin 2006. 12 Wolfgang Benz: Die 101 wichtigsten Fragen. Das Dritte Reich, München 2006, S. 48. 13 Michael Ruck: Bibliographie zum Nationalsozialismus, Bd. 1, Darmstadt 1995, S. 101 f. Exemplarisch sei hier die 1962 von Helmut Heiber publizierte Biografie genannt (Helmut Heiber: Joseph Goebbels, Berlin 1962; im Folgenden: Heiber, Goebbels). Sie war weg- weisend für die Goebbels-Forschung und wird bis heute vielfach zitiert. Magnus Brecht- ken weist allerdings zu Recht darauf hin, dass eine umfassende Goebbels-Biografie, die den aktuellen Forschungsstand und die gegenwärtige Quellenlage angemessen berück- sichtigt, trotz der Vielzahl einschlägiger Arbeiten fehlt. Magnus Brechtken: Ein überflüs- siges Experiment? Joseph Goebbels und die Propaganda im Gefüge des Nationalsozialis- mus, in: Christoph Studt (Hg.): »Diener des Staates« oder »Widerstand zwischen den Zeilen«. Die Rolle der Presse im »Dritten Reich«, Berlin 2007, S. 49-74, hier S. 52. 14 Der Film von Lutz Hachmeister (Drehbuch: Lutz Hachmeister u. Michael Kloft) wurde 2005 auf der Berlinale vorgestellt (»Das Goebbels-Experiment«). Kurz danach erschien in Buchform: Lutz Hachmeister/Michael Kloft (Hg.): Das Goebbels-Expe- riment. Propaganda und Politik, München 2005 (im Folgenden: Hachmeister/Kloft, Goebbels-Experiment). 15 Mit dem Begriff des »Dritten Reiches« wollten die Nationalsozialisten ihre Herrschaft als logische Folge der historischen Entwicklung legitimieren. Im Folgenden wird aus Gründen der Lesbarkeit auf eine gesonderte Kennzeichnung dieser ideologisch besetz- ten Metapher verzichtet.

17 EINLEITUNG tionsträger nicht in dem bekannten Ausmaß hätten geplant und durch- geführt werden können. Bis neben dem Minister erstmals auch andere Funktionäre des NS-Propagandasystems ins nähere Blickfeld der Wissen- schaft gerieten, sollte nach dem Ende der deutschen Diktatur mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen. In den vergangenen Jahren sind einzel- ne Werke über Vertreter der mittleren Führungsebenen im RMVP ent- standen. So befasste sich Christian Härtel mit Dietrichs Protegé Wilfrid Bade.16 Dieser war als Abteilungsleiter für die Lenkung der Zeitschriften zuständig, unterstützte seinen Vorgesetzten bei der Vorbereitung von Reden und Publikationen und ging außerdem selbst einer umfangreichen schriftstellerischen Tätigkeit nach. 2007 erschien auch eine Biografie des prominenten Rundfunkkommentators Hans Fritzsche.17 Bevor er »Goeb- bels’ Mann beim Radio« wurde, leitete er im Propagandaministerium die Abteilung Deutsche Presse. Obwohl Fritzsche in dieser Funktion Otto Dietrich unterstellt war, wurde im Herbst 1945 im Prozess gegen die »Hauptkriegsverbrecher« erstaunlicherweise nicht der (mittlerweile längst verhaftete) Reichspressechef, sondern Hans Fritzsche angeklagt – auf Betreiben der Sowjets und stellvertretend für den Minister, der sich und seiner Familie das Leben genommen hatte. Der Internationale Militär- gerichtshof sprach Fritzsche 1946 jedoch frei. Betrachtet man das gesamte Spektrum der nationalsozialistischen Poli- tik und Propaganda, so spielte Goebbels zweifellos eine weitaus bedeu- tendere Rolle als Dietrich und andere NS-Propagandisten. Dies soll hier nicht infrage gestellt werden. Genauer zu untersuchen ist jedoch, in wel- chem Maße diese Bewertung auch für den Pressesektor zutrifft. Zunächst verwundert das extreme Ungleichgewicht in der wissenschaft lichen Be- handlung der beiden NS-Funktionäre, zumal der Reichspressechef mehr als zwölf Jahre lang zu Hitlers engstem Begleiterkreis gehörte und somit leichteren Zugang zu ihm hatte als der Propagandaminister. Symptoma- tisch für das Desiderat ist die Tatsache, dass der Name Otto Dietrich im Personenverzeichnis der Deutschen Pressegeschichte von Rudolf Stöber

16 Christian Härtel: Stromlinien. Wilfrid Bade – Eine Karriere im Dritten Reich, Berlin 2004 (im Folgenden: Härtel, Bade). 17 Max Bonacker: Goebbels’ Mann beim Radio. Der NS-Propagandist Hans Fritzsche (1900-1953), München 2007. Zu erwähnen ist auch eine zwar knappe, aber dennoch in Teilen aussagekräftige Studie von Norbert Fasse über einen weiteren Funktionär aus dem NS-Rundfunkbereich: Vom Adelsarchiv zur NS-Propaganda. Der sympto- matische Lebenslauf des Reichsrundfunkintendanten Heinrich Glasmeier (1892-1945), Bielefeld/Gütersloh 2001.

18 EINLEITUNG selbst in der überarbeiteten Ausgabe aus dem Jahr 2005 nicht auftaucht.18 Goebbels hingegen findet zehnfach Erwähnung. Dabei waren die Auf- gabenbereiche des Reichspressechefs und auch die jahrelangen Kompe- tenzrangeleien mit seinem ärgsten Rivalen bereits verschiedentlich Ge- genstand der Diskussion – wenn auch nicht im Kontext einer biografisch angelegten Analyse und lediglich auf einer (aus heutiger Sicht) unzurei- chenden Quellenbasis.

1.2 Forschungsstand

Noch bevor sich Dietrich vor dem Gerichtshof der Amerikaner verantwor- ten musste, hatte ein anonymer Autor dessen Bedeutung im »NS-Presse- trust« Anfang 1947 in einer Buchpublikation thematisiert (»Presse in Fes- seln«).19 Es handelt sich bei diesem Werk – wie der Titelseite zu entnehmen ist – um eine »Gemeinschaftsarbeit des Verlages auf Grund authentischen Materials«. Die britischen Besatzungsbehörden fanden bald heraus, dass der Verfasser Fritz Schmidt hieß. Er war einst Verleger der Saarbrücker Zeitung und von 1937 bis 1939 Mitarbeiter in einer Dienststelle, die dem Reichsleiter für die Presse, Max Amann, unterstand. Schmidt war für die Papierzuteilung an die deutschen Zeitungen zuständig, somit also in die NS-Verlagspolitik involviert. In seinem Buch stellte er Journalisten und Verleger nun pauschal als Opfer des NS-Regimes dar. Obwohl seine Schrift insgesamt äußerst fragwürdig ist, so lieferte sie 1947 dennoch einige zumin- dest teilweise zutreffende, bis dahin weitgehend unbekannte Hintergründe über die Verlagsenteignungen. Schmidt bot Einblick in Machtkämpfe, an denen auch Otto Dietrich beteiligt war. Es gab zudem erste Hinweise auf Aspekte seiner Persönlichkeit: Schmidt schilderte, wie der Reichspressechef Mitte der dreißiger Jahre seine Geliebte zu einem Staatsbesuch mit nach Italien genommen und sie dem »Duce« als seine Frau vorgestellt hatte. Eine Karikatur über »Dietrich und sein ›Verhältnis‹ zu Mussolini« verbildlichte dieses Ereignis.20 Almut Dietrich wusste damals noch nichts von der schon seit längerer Zeit bestehenden Liebschaft ihres Mannes.

18 Rudolf Stöber: Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2., überarbeitete Auflage, Konstanz 2005, S. 391 (im Folgenden: Stöber, Pressegeschich- te). Lediglich in einer schematischen Darstellung, die aus einem anderen Werk über- nommen wurde, findet sich sein Name, S. 152. 19 [Fritz Schmidt:] Presse in Fesseln. Eine Schilderung des NS-Pressetrusts, Berlin 1947. 20 Ebd., S. 35.

19 EINLEITUNG

Nachdem ehemalige Dietrich-Mitarbeiter in streckenweise ebenfalls apologetischen Büchern am Rande auch auf ihren früheren Vorgesetzten eingegangen waren,21 wurde dessen Rolle in verschiedenen Publikationen aus den sechziger Jahren aufgegriffen. Oron J. Hale, der als amerikani- scher Offizier in Nürnberg zahlreiche NS-Propagandisten vernommen hatte, beschrieb 1965 unter anderem die innerparteilichen Auseinander- setzungen um das NS-Schriftleitergesetz, an dessen Entstehung Dietrich 1933 maßgeblich beteiligt war.22 Ein Jahr später thematisierte der US-Historiker Ernest K. Bramsted in seiner Studie über »Goebbels und die nationalsozialistische Propaganda« die komplexen Kontrollsysteme der »organisierten Indoktrinierung« und die »komplizierte Beziehung und Rivalität« zwischen Dietrich und dem Minister.23 Bramsted bewertete die Position des Reichspressechefs für das Jahr 1938 einerseits als »ziemlich stark«, kam allerdings zu dem Schluss, dass dessen Stellung im Vergleich zu Goebbels »immer die schwächere« gewesen sei, wenngleich »man« ihn, so die Einschätzung von Bramsted, »niemals ganz übergehen« konnte. Kurz darauf publizierte Willi A. Boelcke ein umfangreiches Werk über die »geheimen« Ministerkonferenzen im RMVP und lieferte darin auch Kurzbiografien der Teilnehmer. Der Ver- fasser ging zwar nicht näher auf die Person des Reichspressechefs ein, da dieser bei besagten Veranstaltungen nie anwesend war. Boelcke beton- te aber mit Blick auf das Jahr 1939, dass sich auf dem Gebiet der Presse- lenkung »inzwischen Dietrich stärker in den Vordergrund geschoben« habe.24 1967 erschien dann in New York ein Buch über »Hitler’s Secret Weap- on. The ›Managed‹ Press and Propaganda Machine of Nazi «. Der Verfasser Alexander G. Hardy gehörte Ende der vierziger Jahre zu Dietrichs Anklägern im Wilhelmstraßen-Prozess und fungierte damals

21 Werner Stephan: Joseph Goebbels. Dämon einer Diktatur, Stuttgart 1949 (im Folgen- den: Stephan, Goebbels) sowie zehn Jahre später: Helmut Sündermann: Das Dritte Reich. Eine Richtigstellung in Umrissen, Leoni 1959, zu Dietrich u. a. S. 164 (im Fol- genden: Sündermann, Das Dritte Reich). 22 Oron J. Hale: The captive Press in the Third Reich, Princeton 1964. Die deutsche Übersetzung erschien ein Jahr später: Oron J. Hale: Presse in der Zwangsjacke 1933- 1945, Düsseldorf 1965 (im Folgenden: Hale, Presse), hier S. 90 ff. 23 Ernest K. Bramsted: Goebbels and national socialist propaganda 1925-1945, East Lansing/ Michigan 1965. Die deutsche Übersetzung erschien 1971 in Frankfurt a. M. unter dem Titel: Goebbels und die nationalsozialistische Propaganda 1925-1945 (im Folgenden: Bramsted, Propaganda). Die Zitate sind den Seiten 101, 104 u. 167 ff. entnommen. 24 Willi A. Boelcke (Hg.): Kriegspropaganda 1939-1941. Geheime Ministerkonferenzen im Reichspropagandaministerium, Stuttgart 1966, hier S. 32.

20 EINLEITUNG als »Spezialberater« für das Prozessverfahren.25 Das Werk fällt aus dem Rahmen, weil Hardy die Bedeutung des NS-Pressechefs für außerordent- lich hielt und ihm in seiner Darstellung wesentlich mehr Platz einräum- te, als es sämtliche Medienhistoriker seither tun. Aus seiner Sicht war Dietrich nicht nur Hitlers »Poisened Pen« und »the great mouthpiece of the Nazi Party«: »At the end, Dietrich would have liked the world to think he was just a desk man through it all. But history tells us he was one of the blood- thirsty Nazis in Hitler’s entourage.«26

Hardy ging sogar davon aus, dass die Verantwortung des NS-Pressechefs für die Vertreibung und Vernichtung der Juden größer war als die von Goebbels oder Julius Streicher. Hinsichtlich des Werdegangs von Otto Dietrich erfuhr man allerdings kaum mehr als in den früheren Publika- tionen, von Details zu seiner SS-Zugehörigkeit wie Rang und Mitglieds- nummer einmal abgesehen. Zum Beleg für seine gewagten Thesen führte Hardy unter anderem kurze Passagen aus Zeugenvernehmungen an, die im Rahmen der Nürn- berger Prozesse durchgeführt worden waren. Auf entsprechende Proto- kolle und Eidesstattliche Erklärungen von ehemaligen Dietrich-Mitarbei- tern sowie anderen Protagonisten der NS-Bürokratie griff wenig später auch Karl-Dietrich Abel zurück – wenngleich er das Buch von Hardy offensichtlich nicht kannte. In seiner 1968 publizierten Dissertation teilte er die »Presselenkung im NS-Staat« – so der Titel der Arbeit – in drei verschiedene Bereiche ein. Er beschrieb die Machtkämpfe und Kom- petenzüberschneidungen zwischen dem »Goebbels-Bereich« und den Bereichen von Otto Dietrich bzw. Max Amann.27 Abel kommt in seiner recht quellenarmen Studie zu dem Ergebnis, dass die Presselenkung im nationalsozialistischen Staat aus einem »kal- kulierten Chaos« bestand. Dies habe der Prozess gegen Otto Dietrich bewiesen.28 Damit tendierte Abel zur Sichtweise der sogenannten Funk-

25 Alexander G. Hardy: Hitler’s Secret Weapon. The »Managed« Press and Propaganda Machine of , New York 1967 (im Folgenden: Hardy, Hitler’s Secret Weapon). Zu seiner Rolle in Nürnberg siehe Robert Kempner/Carl Haensel (Hg.): Das Urteil im Wilhelmstrassen-Prozess. Der amtliche Wortlaut der Entscheidung im Fall Nr. 11 des Nürnberger Militärtribunals gegen von Weizsäcker und andere, Schwäbisch- Gmünd 1950, S. XVIII (im Folgenden: Kempner, Wilhelmstrassen-Prozess). 26 Hardy, Hitler’s Secret Weapon, S. 50, 52 u. 60. 27 Dietrich Abel: Presselenkung im NS-Staat. Eine Studie zur Geschichte der Publizistik in der nationalsozialistischen Zeit, Berlin 1968. 28 Ebd., S. 68.

21 EINLEITUNG tionalisten, wobei er annahm, dass die Kompetenzüberschneidungen von Hitler bewusst geschaffen und aufrechterhalten wurden. Im Gegensatz zur intentionalistischen Sichtweise von Historikern wie Karl Dietrich Bracher, die der Persönlichkeit des »Führers« die maßgebliche Rolle für die Politik des »Dritten Reiches« zuschreiben, betrachten »Funktionalis- ten« bzw. »Strukturalisten« wie Hans Mommsen und Martin Broszat das NS-Regime als ein polykratisches Herrschaftsgefüge. Sie gehen von einem eher schwachen Diktator aus und nehmen an, dass viele politische Entscheidungen weniger das Ergebnis längerfristiger, konkreter Planun- gen waren, sondern sich oftmals eigendynamisch als Folge eines Gegen- und Miteinanders von rivalisierenden Personen und Gruppierungen ent- wickelten.29 Mit Fokus auf die Figur Dietrich und unter Berücksichtigung von Quellen, die Abel nicht einbezogen hat (bzw. die ihm vor 40 Jahren noch nicht zugänglich waren), ist sein Befund eines »Lenkungswirrwarrs« als zentrales Merkmal der NS-Medienpolitik zu überprüfen und zu differen- zieren. Nicht zuletzt geht es dabei auch um die Frage nach den Auswir- kungen, die Dietrichs Kompetenzkonflikte mit Goebbels und Amann auf die Arbeit der Journalisten hatten: Inwieweit beeinflusste Otto Diet- rich als Teil eines polykratisch strukturierten Presselenkungsapparates den Gestaltungsspielraum der Zeitungsvertreter? Hinsichtlich der Be- ziehung zwischen dem Reichspressechef und »seinem« Minister wird auch zu analysieren sein, ob den jahrelangen Streitigkeiten unterschied- liche Propagandakonzeptionen zugrunde lagen, wie Dietrich es später behauptet hat, oder ob die Rangeleien durch andere Motive verursacht wurden. Was machte Otto Dietrich zu einem lange Zeit funktionieren- den Rad in diesem polykratischen Herrschaftsgefüge? Welche persön- lichen Eigenschaften und Kompetenzen spielten hier eine Rolle? Verschiedene Forscher knüpften später an die Arbeit von Abel an – etwa Engelbert Schwarzenbeck, der Ende der siebziger Jahre die national-

29 In welchem Ausmaß der »organisatorische Dschungel« (Martin Broszat) Resultat einer bewusst gewählten Divide-et-impera-Taktik war, oder ob er sich mehr oder weniger zufällig entwickelte, ist unter »Funktionalisten« umstritten. Die jahrzehntelange Lager- bildung innerhalb der Zeitgeschichtsforschung zwischen Funktionalismus und Inten- tionalismus ist allerdings inzwischen obsolet, da jüngere Arbeiten plausibel aufgezeigt haben, dass beide Interpretationsvarianten aufeinander angewiesen sind. Eine über- sichtliche Zusammenfassung der Debatte über das Verhältnis von Monokratie und Polykratie im NS-Staat liefert Michael Ruck: Führerabsolutismus und polykratisches Herrschaftsgefüge − Verfassungsstrukturen des NS-Staates, in: Karl Dietrich Bracher/ Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen: Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur natio- nalsozialistischen Herrschaft, Düsseldorf 1992, S. 32-56 (im Folgenden: Ruck, Führer- absolutismus).

22 EINLEITUNG sozialistische Pressepolitik im Kontext der Sudetenkrise von 1938 unter- suchte. In einem separaten Abschnitt beschrieb er auch die Aufgaben der Reichspressestelle der NSDAP, deren Leiter Dietrich von 1931 bis 1945 war.30 Zu erwähnen ist außerdem die Studie von Michael Balfour aus dem Jahr 1979. Der britische Historiker hat die Strukturen des deutschen »Volks- aufklärungs-«Apparates und die von diesem verbreiteten Botschaften mit der britischen Regierungspropaganda verglichen. Er legte den Schwer- punkt auf die Kriegszeit und erwähnte Dietrich im Kontext zahlreicher deutscher Propagandaaktionen. Balfour zeigte die Grenzen auf, denen der Reichspressechef in seinem Wirken ausgesetzt war, attestierte ihm aber vor allem für die ersten Jahre des NS-Regimes eine herausgehobene Bedeutung: »His star had been ascendent for some time.« Balfour bezog sich dabei unter anderem auf die Gründung der Reichspressekammer im Jahr 1933, deren Vizepräsident Dietrich wurde.31 Heute ist allerdings be- kannt, dass er als solcher kaum in Erscheinung trat. Stattdessen waren es andere Posten und Funktionen, in denen sein Einfluss während jener Aufbauphase der NS-Herrschaft begründet lag. Peter Longerich befasste sich in den 1980er Jahren mit der Presseabtei- lung des Auswärtigen Amtes unter Joachim von Ribbentrop (»Propagan- disten im Krieg«) und analysierte dessen Machtgerangel mit dem RMVP, sprich mit Goebbels und Dietrich. Neben einigen anderen haben Lon- gerich, Schwarzenbeck und Balfour die Quellenbasis verbreitert, indem sie unter anderem auch im Bundesarchiv forschten und dort auf Doku- mente aus dem Propagandaministerium zurückgriffen – soweit sie damals zugänglich waren. Wenig später nutzte Doris Kohlmann-Viand einen weiteren Bestand des Bundesarchivs, der zuvor kaum Beachtung gefunden hatte. Auf Basis von amtlichen Presseanweisungen des RMVP, den sogenannten Vertrau- lichen Informationen (V.I.), die der Journalist Theo Oberheitmann wäh- rend der NS-Zeit entgegen der staatlichen Vorschriften aufbewahrt hat- te, erweiterte sie vor allem den Kenntnisstand über die inhaltliche Ebene der Zeitungslenkung und die medienpolitischen Rahmenbedingungen – insbesondere auch in der Provinz. Ausführlicher als es zuvor der Fall war, ging sie in diesem Zusammenhang auch auf die Tagesparolen des Reichspressechefs ein. Die Einführung dieses Kontrollinstruments mar-

30 Engelbert Schwarzenbeck: Nationalsozialistische Pressepolitik und die Sudetenkrise 1938, München 1979. 31 Michael Balfour: Propaganda in War 1939-1945. Organisations, Policies and Publics in Britain and Germany, London u. a. 1979 (im Folgenden: Balfour, Propaganda).

23 EINLEITUNG kierte im November 1940 einen zentralen Punkt im Konflikt zwischen Dietrich und Goebbels.32 Lag der Fokus bei Kohlmann-Viand auf den Kriegsjahren, so kon- zentrierte sich Peter Stein in seiner Studie über die NS-Gaupresse auf die Zeit vor 1933. Otto Dietrich war spätestens ab Sommer 1931 für die NSDAP von Bedeutung, als Hitler ihn in München mit dem Aufbau einer Pressestelle seiner Partei beauftragte und ihn so in den komplizier- ten Machtapparat der »Bewegung« integrierte.33 Stein schildert die inner- parteilichen Differenzen über unterschiedliche Propagandakonzeptionen sowie die Zusammenarbeit zwischen Dietrich und Gregor Strasser – Ver- treter des linken Parteiflügels und damals Reichsorganisationsleiter der NSDAP. Auch die von Dietrich mitorganisierten »Deutschlandflüge« im Wahljahr 1932 sprach er an. Später wurden sie von Gerhard Paul aufge- griffen.34 Obwohl Dietrichs Funktionen und Aufgaben in Partei und Staat in den vergangenen Jahrzehnten bereits aus verschiedenen Blickwinkeln (wenn auch teilweise nur sehr oberflächlich) thematisiert wurden, existiert bis- her keine biografische Darstellung über den Reichspressechef, die seine Rolle im Gesamtgefüge nationalsozialistischer Medienlenkung aufzeigt und dabei heutigen wissenschaftlichen Anforderungen gerecht wird. Zu erwähnen bleibt eine Diplomarbeit aus dem Jahr 1989, in der sich Tho- mas Steinmaurer an der Universität Salzburg mit Otto Dietrich befasste. Das Resultat ist mit weit mehr als 200 Seiten für eine Studienabschluss- arbeit zwar quantitativ sehr umfangreich, für die Forschung allerdings aus heutiger Sicht wenig ergiebig. Der Verfasser griff ausschließlich auf publizierte Quellen zurück und übernahm deren Inhalte oftmals unkri- tisch. Zudem erfährt der Leser kaum etwas über die Persönlichkeit des Protagonisten.35 Das aufgezeigte Desiderat soll mit der vorliegenden, bio- grafisch angelegten Studie geschlossen werden.

32 Doris Kohlmann-Viand: NS-Pressepolitik im Zweiten Weltkrieg, München u. a. 1991 (Dissertation von 1989). Theo Oberheitmann (Jg. 1901) war von 1940 bis 1945 Allein redakteur des Weilburger Tageblatts. Siehe ebd., S. 15 ff. 33 Peter Stein: Die NS-Gaupresse 1925-1933. Forschungsbericht – Quellenkritik – neue Bestandsaufnahme, München u. a. 1987. 34 Gerhard Paul: Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 1992, zu den Deutschlandflügen S. 95 ff. (im Folgenden: Paul, Aufstand). 35 Thomas Steinmaurer: Otto Dietrich, der Reichspressechef des Dritten Reiches, Dip- lomarbeit an der Paris-Lodron-Universität Salzburg, 1989. Ein Exemplar dieser Arbeit befindet sich in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien.

24 EINLEITUNG

1.3 Methodik und Aufbau der Arbeit

Anders als in der angloamerikanischen Tradition genossen biografische Arbeiten in Wissenschaftskreisen des deutschsprachigen Raums lange Zeit einen schlechten Ruf. Man betrachtete die historische Biografik als »unrei- nes« Genre und als »Bastard der Geisteswissenschaften«.36 Bisweilen wurden Autoren sogar vor »akademischem Selbstmord« gewarnt.37 Die Rezipienten kritisierte man aufgrund ihres »merkwürdigen Interesses« an Biografien. Dem Vorwurf, Biografen seien »Besserwisser«, begegnete der Publizist Klaus Harpprecht 1998 in der FAZ mit der Frage, ob es das Leben selbst sei – »das immer unordentliche, dem die Professorenschaft nicht über den Weg traut, das sie erschreckt und vor dem sie sich fürchtet? Handelt es sich um Notwehr gegen die Unberechenbarkeit der menschlichen Existenz, die sich ums Verrecken nicht in Kästchen und Kategorien sperren, kaum je auf einen Nenner, niemals auf die Summe der Theorie bringen lässt?«38 Inzwischen haben zahlreiche geschichtswissenschaftliche Arbeiten das Image der biografischen Herangehensweise deutlich verbessern können. Es hat sich erwiesen, dass sozialwissenschaftlich-biografisch angelegte Studien über Einzelpersonen hinaus wertvolle Einsichten in gesellschaft- liche Prozesse und Strukturen ermöglichen können und auf diese Weise sogar tiefer gehende Erkenntnisse über individuelle Handlungsspiel- räume zu gewinnen sind als durch andere historiografische Zugänge. Exemplarisch genannt seien etwa die verschiedenen Untersuchungen über Funktionäre des Reichssicherheitshauptamts (zum Teil kollektiv- biografischer Art), die ein neues Verständnis individueller wie kollektiver Kooperationsbeziehungen zum nationalsozialistischen Regime ermög-

36 Zit. n. Christian Klein: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Be- standsaufnahme, in: Ders. (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart/Weimar 2002, S. 1-22. Der Diskurs über die Ent- wicklung biografischer Methodik wurde vielfach thematisiert. Siehe hierzu u. a. auch: Thomas Etzemüller: Die Form »Biographie« als Modus der Geschichtsschreibung. Überlegungen zum Thema Biographie und Nationalsozialismus, in: Michael Ruck/Karl Heinrich Pohl: Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 71-90; Hans Erich Bödeker (Hg.): Biographie schreiben, Göttingen 2003, darin u. a. Ders.: Biographie. Annäherungen an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand, S. 11-63. 37 Diesen Vorwurf hörte die Literaturwissenschaftlerin Deirdre Bair von ihrem Doktor- vater, als sie ihm anvertraute, nach ihrer Promotion eine Biografie Samuel Becketts schreiben zu wollen. Siehe Deirdre Bair: »Die Biografie ist akademischer Selbstmord«, in: Literaturen, Heft 7/8 2001, S. 38 f. 38 Klaus Harpprecht: Champagner literweise. Langeweile ist schlimmer als der Tod. Es lebe die Biographie, in: FAZ, Nr. 11 v. 14.1.1998, S. 33.

25 EINLEITUNG licht haben.39 Methodisch wegweisend war etwa der preisgekrönte wis- senschaftshistorische Beitrag von Margit Szöllösi-Janze über den Chemi- ker Fritz Haber.40 Ähnlich verlief der Methodendiskurs in der historischen Kommuni- kationswissenschaft. Wolfgang Langenbucher konstatierte 1991, biografi- sche Arbeiten aus den vorangegangenen Jahrzehnten seien »nicht immer eine Zierde der mediengeschichtlichen Forschung« gewesen, wobei der Wiener Publizistikwissenschaftler allerdings die Idee zurückwies, die bis dato entstandenen Arbeiten »in den Papierkorb zu werfen und keine sol- che mehr [zu] beginnen«.41 Tatsächlich lieferten einschlägige Publikatio- nen über Jahrzehnte hinweg oftmals nur begrenzten Erkenntnisgewinn, da sie – wie weite Teile der damaligen Journalismusforschung insgesamt – stark einer historisch-monografischen Herangehensweise verhaftet waren. An einer interdisziplinär ausgerichteten Untersuchung von Publizistik, die individuelles Handeln in Wechselwirkung mit kollektiven Interessen und in Verbindung zu allen am Kommunikationsprozess beteiligten Per- sonen und Gruppen betrachtet, waren die meisten Fachvertreter wenig interessiert. Die Begründer der westdeutschen Publizistikwissenschaft hin- gen den Ansätzen einer empirisch und soziologisch ausgerichteten For- schung, wie sie bereits Jahrzehnte zuvor etwa von Max Weber entwickelt worden war, weit hinterher.42 Im ethisch-normativen, subjektivistischen Verständnis von Journalis- mus, wie es etwa Emil Dovifat besaß,43 zeigen sich zahlreiche Parallelen

39 Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996 (im Folgenden: Herbert, Best), zu den Vorteilen bio- grafischer Darstellungen ebd., S. 19 f.; Lutz Hachmeister: Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998 (im Folgenden: Hachmeister, Gegnerforscher) sowie Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungs- korps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002 (im Folgenden: Wildt, Gene- ration des Unbedingten). 40 Margit Szöllösi-Janze: Fritz Haber 1868-1934. Eine Biographie, München 1998. Szöllösi- Janze erhielt 1998 den »Preis für hervorragende Leistungen des wissenschaftlichen Nachwuchses« des Verbandes der Historiker Deutschlands. 41 Geleitwort von Wolfgang R. Langenbucher in einer Festschrift für Marianne Lunzer- Lindhausen: Wolfgang Duchkowitsch u. a.: Kreativität aus der Krise. Konzepte zur gesellschaftlichen Kommunikation in der Ersten Republik, Wien 1991, S. 6. 42 Siehe hierzu Achim Baum: Journalistisches Handeln. Eine kommunikationstheore- tisch begründete Kritik der Journalismusforschung, Opladen 1994, S. 119 ff. sowie Mar- tin Löffelholz: Theorien des Journalismus. Eine historische, metatheoretische und synoptische Einführung, in: Ders. (Hg.): Theorien des Journalismus. Ein diskursives Handbuch, 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2004, S. 17-63, hier v. a. S. 37 ff. 43 Symptomatisch dafür etwa Emil Dovifat: Die publizistische Persönlichkeit, anlässlich seines 100. Geburtstags »in memoriam« herausgegeben von Dorothee von Dadelsen,

26 EINLEITUNG zu Otto Dietrichs Vorstellungen über journalistische Begabung und Sen- dungsbewusstsein: Der Reichspressechef, der vor seinen Tätigkeiten in NSDAP und Reichsregierung Redakteur verschiedener Zeitungen war, ging von einem hohen journalistischen Berufsethos aus und warb jahrelang um »journalistische Persönlichkeiten von hervorragendem Ausmaß«.44 Schriftleiter mussten aus seiner Sicht für ihre Aufgabe »berufen« sein und sollten vor allem »Begabung« mitbringen: »Zum Journalisten muss man geboren sein!«45 Dietrichs berufliches Selbstverständnis wird in dieser Arbeit näher zu untersuchen sein. Auf welche Weise hat er mit seinen Überzeugungen über Journalismus, Öffentlichkeit und Pressefreiheit die Entwicklung des Zeitungswesens in den Jahren vor und während der nationalsozialistischen Herrschaft (und möglicherweise darüber hinaus) beeinflusst, vielleicht sogar geprägt? Obwohl inzwischen eine Reihe biografisch konzipierter Arbeiten ent- standen sind, die dem Fachgebiet durch ihre interdisziplinäre, ganzheit- liche Herangehensweise neue Perspektiven eröffnet haben,46 stellt die »neue« sozialwissenschaftliche Biografik des ausgehenden 20. Jahrhun- derts nach wie vor gerade auch für die kommunikationsgeschichtliche Forschung eine Herausforderung dar.47 Methodische Grundlage der vorliegenden Studie ist ein individualbio- grafischer Forschungsansatz, der sich am Konzept einer wissenschaftlich- kritischen Biografie orientiert. Neben der Person Otto Dietrich, seinem äußeren Wirken und seiner Charakteristik müssen vor allem auch soziale Faktoren einbezogen werden, um sich ihm in seiner Zeitgebundenheit

Berlin 1990. Zuerst 1956 als Aufsatz in London in der Zeitschrift Gazette erschienen unter dem Titel: Die publizistische Persönlichkeit. Charakter. Begabung. Schicksal (Bd. 2/1956, S. 157-172). 44 Etwa bei einem Schulungslehrgang der NS-Presse, siehe dazu Westdeutscher Beobachter, Jg. 10, Nr. 432, Abendausgabe (Köln) v. 24.9.1934, S. 2 (»Der Staat braucht journalisti- sche Persönlichkeiten«). 45 So äußerte sich Dietrich bei einem Empfang von Hauptschriftleitern der Deutschen Presse am 24.6.1938 im Propagandaministerium. Ein Manuskript seiner Rede befindet sich im Russischen Staatlichen Militärarchiv Moskau (im Folgenden: Militärarchiv Moskau), 1363/5/39. 46 Zum Beispiel Hachmeister, Gegnerforscher sowie Heike B. Görtemaker: Ein deutsches Leben. Die Geschichte der Margret Boveri 1900-1975, München 2005 (im Folgenden: Görtemaker, Boveri). Zu aktuellen einschlägigen Forschungsprojekten zählt etwa das Dissertationsvorhaben von Erik Koenen, der sich an der Universität zurzeit mit Person und Werk des Zeitungswissenschaftlers Erich Everth (1878-1934) befasst. 47 Vgl. Medien & Zeit, Nr. 4/1993, S. 34-38 (»Biographie als kommunikationshistorische Herausforderung«, Gemeinschaftstext der »Arbeitsgruppe ›Biographie‹« in einer von Wolfgang Duchkowitsch geleiteten AG für Diplomanden und Dissertanten am Wie- ner Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaften).

27 EINLEITUNG annähern zu können. Biografie-Theoretiker sprechen in diesem Zusam- menhang von »biografischer Totalität«. Eine solche umfasst biotische, d. h. die individuellen Merkmale eines Menschen betreffende Aspekte ebenso wie psychische und soziale Einflüsse. Eine entsprechende Darstel- lung reicht demnach vom »Allgemeinen« über das »Ökonomisch-Soziale« bis hin zum »Allerpersönlichsten«.48 Soweit es die Quellenlage zulässt, werden in der vorliegenden Studie die Lebensumstände von Otto Dietrich untersucht, die sein Menschen- und Gesellschaftsbild geprägt haben und so auch seinen beruflichen wie politischen Werdegang beeinflussten. Dabei geht es auch um ideo- logische Kontinuitäten. Walter Hagemann hat in diesem Zusammen- hang bereits 1948 in seinem »Beitrag zur Methodik der Massenführung« zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass »vieles, was heute gern als typisch nazistische Denkweise verurteilt wird, […] entlehntes früheres Gedankengut andersgesinnter, keineswegs nur nationalistischer Kreise« war.49 Einiges deutet darauf hin, dass Otto Dietrich in zwei Lebensphasen in besonderer Weise geformt wurde: In der Zeit als junger Frontsoldat im Ersten Weltkrieg und während der späten zwanziger Jahre, als er jour- nalistisch tätig war. Dietrich klagte in (medien)politischen Reden später regelmäßig über seine einstige Abhängigkeit von verlegerischen Interes- sen; rückblickend machte er dafür vor allem einen angeblich zu großen »jüdischen Einfluss« in der Weimarer Presselandschaft verantwortlich. Sei- ne allgemeinen politischen Überzeugungen und sein Sendungsbewusst- sein führte er selbst vor allem auf einschneidende Kindheits- und Jugend- erlebnisse zurück. Im April 1933 erklärte er im Preußischen Landtag: »Wir verlebten unsere Kindheit im kaiserlichen Deutschland. Das Wis- sen und die Erinnerung an die äußere Kraft und Stärke des Bismarckrei- ches sind in uns lebendig. Die schönsten Jahre unserer Jugend opferten wir in den Schützengräben des Weltkrieges gern und voll Hingabe dem Vaterlande. Wir wurden Zeugen der tiefsten Schmach unseres Volkes. Wir ertrugen die Novemberrevolte mit innerstem Abscheu und fanden uns im Haß gegen die Verderber der Nation wieder zusammen in der herrlichen Bewegung Adolf Hitlers, die die nationale und soziale Befrei- ung auf ihre Fahne schrieb, um das ungeschriebene in unseren Herzen

48 Ernst Engelberg/Hans Schleier: Zu Geschichte und Theorie der historischen Biogra- phie, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Nr. 38/1990, S. 195-217, hier S. 206 ff. 49 Walter Hagemann: Publizistik im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Methodik der Mas- senführung, Hamburg 1948, S. 10 (im Folgenden: Hagemann, Publizistik).

28 EINLEITUNG

lebende Vermächtnis unserer gefallenen Kameraden zu erfüllen. In zehn- jährigem unendlich hartem und mühsamen Ringen erkämpften wird den Sieg der nationalen Revolution und sind nun als Männer berufen, das neue Deutschland der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit, das dritte Reich zu bauen und zu verwirklichen. Wir wollen dem Schicksal dank- bar sein, dass es uns in eine so große und gewaltige Zeit gestellt hat. Und wir wollen uns ihrer würdig zeigen, auf welchem Posten wir auch immer stehen.«50 Die Ursachen für Dietrichs Entwicklung zum Nationalsozialisten pauschal auf Generationszusammenhänge zu reduzieren, würde allerdings zu kurz greifen, wie sich am Beispiel von Carlo Mierendorff verdeutlichen lässt: Der »militante Sozialdemokrat«51 gehörte wie Dietrich zum Jahrgang 1897 und hatte sich ebenfalls als 17-Jähriger aus freien Stücken zum Fronteinsatz zur Verfügung gestellt. Sie kämpften beide in einem Feldartillerie-Regi- ment, beide verloren an der Westfront jeweils ihren ältesten Bruder und kehrten 1918 desillusioniert und mit Hörschäden in ihre Heimat zurück, wobei Mierendorff allerdings noch andere, schwerwiegendere Erkran- kungen durchgemacht hatte. Auf essenzielle Erfahrungen des Jugendalters mussten sie in ihren Schützengräben jahrelang verzichten. Dietrich studier- te wie Mierendorff anschließend Staatswissenschaften und Nationalökono- mie, beide besuchten (wenn auch in unterschiedlichen Semestern) Vorle- sungen und Seminare in Freiburg, Frankfurt und München, beide waren von sozialistischen Ideen fasziniert und beide beendeten 1921 ihr Studium mit einer Promotion. Dietrichs Vater Philipp, ein Essener Korbwarenhänd- ler, verlor im Zuge der Inflation im Jahr 1923 genauso sein Vermögen wie Georg Mierendorff, ebenfalls ein Kaufmann. Carlo Mierendorff war wie Otto Dietrich als Journalist tätig, beide wandten sich der Politik zu und waren später intensiv mit politischer Propaganda befasst – allerdings in ganz unterschiedlichen Lagern. Mierendorff wurde Ende der zwanziger Jahre neben anderen Tätigkeiten Pressesprecher des sozialdemokratischen hessischen Innenministers Wilhelm Leuschner (1890-1944). Während Mie- rendorff im Februar 1933 einen Aufmarsch der Frankfurter SPD gegen die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler organisierte,52 stand Dietrich inzwi-

50 Otto Dietrich: Die deutsche Presse als Waffe deutscher Politik, Rede bei einer Kund- gebung am 23. April 1933, im Wortlaut veröffentlicht von Wolff’s Telegraphisches Bureau (WTB), in »Erste Abendausgabe« v. 23.4.1933, archiviert in: Institut für Zeit geschichte München (IfZ), Fa 199/37 (im Folgenden Dietrich, Presse als Waffe). 51 Richard Albrecht: Der militante Sozialdemokrat. Carlo Mierendorff 1897 bis 1943. Eine Biografie, Berlin 1987, S. 16 ff. 52 Ebd., S. 131.

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