Literatur Und Archiv
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Archive in/aus Literatur Literatur und Archiv Herausgegeben von Petra-Maria Dallinger und Klaus Kastberger Band 5 Archive in/aus Literatur Wechselspiele zweier Medien Herausgegeben von Klaus Kastberger und Christian Neuhuber unter Mitarbeit von Lisa Erlenbusch Herausgegeben am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz und am Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich/StifterHaus, Linz. Mit freundlicher Unterstützung von Land Steiermark und Land Oberösterreich. ISBN 978-3-11-074227-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074250-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074263-3 DOI https://doi.org/10.1515/9783110742503 Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial- NoDerivatives 4.0 Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Library of Congress Control Number: 2021933818 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio- grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Klaus Kastberger und Christian Neuhuber; publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Dieses Buch ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.com. Umschlagabbildung: Paul Pelliot zwischen Handschriften der Mogao-Grotte Nr. 163 (Aufnahme von Charles Nouette, 1908), © MNAAG, Paris, Dist. RMN-Grand Palais / image musée Guimet Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com Inhalt Klaus Kastberger und Christian Neuhuber Vorwort 7 Steffen Schneider Goethes Archivbegriff und Archivpoetik am Beispiel einer Szene aus Faust II 13 Petra-Maria Dallinger Franz Tumler – Nachprüfung von Aufschreibungen 29 Nick Büscher Marlen Haushofers literarischer Nachlass zwischen Bewahrungsbemühen und Zerstörungswut 45 Georg Hofer und Helmut Neundlinger Arbeit an der Biografie Das Archiv des Autors Karl Wiesinger zwischen Zeugenschaft und Konstruktion 61 Maria Piok Bühnenkünstler im Archiv Probleme der Intermedialität am Beispiel Otto Grünmandl 79 Klaus Kastberger Read after Burning – Thomas Bernhard und das Archiv 91 Burkhardt Wolf Das offene Archiv Heimrad Bäckers nachschrift zum Verwaltungsmassenmord 107 Carmen Ulrich Archivgeburten in Wolfgang Hilbigs Roman ICH Über die Koinzidenz von Literatur und Staatssicherheit 127 6 Inhalt Manfred Mittermayer Archiv der kleinen Völker Zu den Reisebüchern von Karl-Markus Gauß 143 Johanna Zeisberg Archiv und Metalepse Literarische Gegenwartsanalysen von Orhan Pamuk und Judith Schalansky 161 Christian Neuhuber Autorschaft, Auto(r)fiktion und Selbstarchivierung in Clemens J. Setz’ Erzählwerk 177 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 189 Vorwort Der literarische Nachlass ist eine mediale Formation, die sich – wesentlich beein- flusst von Vorkehrungen, die Johann Wolfgang von Goethe für sich und die Pflege seines Nachlasses getroffen hat – in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus- prägte. Doch erst im 20. Jahrhundert wurde mit dem modernen Literaturarchiv ein Ort zur Bewahrung und Erforschung literarischer Nachlässe geschaffen. Nicht nur Werke, werkgenetische Materialien und Briefe gehören in heutiger Begriffs- bildung einem solchen Nachlass an, sondern oft auch sehr umfangreiche Doku- mente zur Biografie der Autorinnen und Autoren sowie Sammlungen von hetero- genen Materialen, die von den Schreibenden entweder selbst angelegt oder später von anderen ergänzt wurden. Anders als in Handschriftensammlungen von Bibliotheken, in denen literari- sche Originalwerke und Briefe schon zuvor zu fortlaufenden Reihen geordnet und abgelegt wurden, bildet für die Funktions- und Organisationsweise des Lite- raturarchivs nicht mehr das Medium Buch die Referenz, sondern ein Begriff des Archivs, der aus Verwaltungsapparaten stammt. Hier wird der Nachlass nicht selektiert und kodifiziert (d. h. nach dem Muster von Büchern gebunden), sondern als ein zusammengehöriger Körper behandelt, der genuin aus der literarischen Produktion hervorgeht und diese in sich selbst dokumentiert. Der literarische Nachlass macht also ein differenzierteres Verständnis des Archivarischen unab- dingbar. Doch welchen Einfluss haben diese Entwicklungen auf das literarische Schrei- ben? Betrachten Kreative die Werkstätten, in denen sie arbeiten, selbst schon als künftige Archive – zumal dann, wenn sie ihre Nachlässe noch zu Lebzeiten dem Literaturarchiv übergeben? Wo verläuft in den Materialien die Grenze zwischen einer Registratur des bereits fertiggestellten Werkes und dem aktuell im Entste- hen begriffenen? Wie wirken sich Vorstellungen vom literarischen Archiv auf die Medien der Veröffentlichung aus, und wie greift die deutschsprachige Literatur das Archiv als Thema auf? Gründen genau hier neue Gattungsformen wie Archiv- roman, Roman-Blog oder Dokufiktion? Welche fiktionalen Welten bauen sich in Literatur aus dem Archiv? Der Band Archive in/aus Literatur. Wechselspiele zweier Medien zeigt als fünfter Teil der Reihe Literatur und Archiv in seinen Beiträgen exemplarisch auf, wie sich Literatur und Archiv gegenseitig bedingen. Diese Wechselspiele wären auch im Mittelpunkt einer Tagung gestanden, die das Franz-Nabl-Institut für Literatur forschung der Universität Graz gemeinsam mit dem Adalbert-Stifter- Institut des Landes Oberösterreich konzipiert hatte, doch aufgrund der epidemio- logisch er for derlichen Restriktionen im April 2020 absagen musste. Die hier ver- Open Access. © 2021 Klaus Kastberger und Christian Neuhuber, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz. https://doi.org/10.1515/9783110742503-001 8 Vorwort sammelten Aufsätze geben, in ausgearbeiteter Form und chronologisch geordnet nach den zugrunde liegenden Untersuchungsobjekten, wieder, was nicht im Vortrag vermittelt werden konnte – und archivieren dadurch das Tagungsthema. * Mit Einblicken zur Praxis und Poetologie des Archivs bei Goethe eröffnet Steffen Schneider die Reihe der Beiträge. Ausgehend von der These, dass sich Goethes Archivpraxis mit dem steigenden Erfahrungsdruck der Sattelzeit weiterent- wickelt, rekonstruiert Schneider die Genese eines neuen Archivverständnisses hin zu einem Modus der Selbstdokumentation, Selbstreflexion und Selbstent- faltung. Nicht bloß das Sammeln selbst oder die Konservierung des Lebensbe- reichernden sei Telos eines Archivs, sondern dessen Wiederverwertbarkeit für soziale Diskurse – und damit auch für das literarische Schaffen. Der zweite Teil zeigt denn auch, wie sich diese Archivpoetik in Faust II konkretisiert und einen bis heute faszinierend vielschichtigen Deutungshorizont entfaltet. Franz Tumlers autobiografische Romane Aufschreibung aus Trient und Pia Faller geben vor, die Frage nach Identität und Zugehörigkeit durch persönlichen Augenschein und Materialeinsicht am Ort der Herkunft zu klären. Wie Petra- Maria Dallinger allerdings zeigt, markieren die angesprochenen Dokumente und Archivalien allenfalls Leerstellen, die keinen näheren Aufschluss über die Benen- nung von Verantwortung und möglicher Schuld des ehemaligen NS-Literaten geben. Doch setzt Tumlers Schreiben nach seiner poetologischen Wende in den 1950er Jahren gerade bei diesen Lücken an, indem es die Ambivalenz von Erinne- rung und die Polyvalenz von (sprachlichen) Bildern produktiv nützt. Dass sich Literatur von der Evidenz des Archivmaterials loskoppeln kann, stellt die Gültig- keit des Erzählens über sich selbst freilich selbst in Frage. Schon im ersten Band der Reihe Die Werkstatt des Dichters hat Dallinger darauf hingewiesen, dass Marlen Haushofer ihr Arbeitszimmer, das sie realiter nicht besaß, gleichsam internalisierte. Nick Büschers Beitrag im vorliegenden Band zeigt nun, wie das Schreiben der österreichischen Schriftstellerin als Ver- such verstanden werden kann, sich der Archivierung zu entziehen, indem das Leben archiviert und Literatur dadurch ‚verlebendigt‘ wird. Haushofers Verweige- rungshaltung gegenüber (literatur-)archivarischen Ordnungs- und Bewahrungs- bemühungen spiegelt sich nicht zuletzt in der Zersplitterung und Fragmentari- sierung ihres Nachlasses wider. Auch viele Protagonistinnen der untersuchten Erzähltexte Haushofers teilen diese durchaus ambivalente Haltung zur konser- vierenden Niederschrift und zu Archivierungsbemühungen, die dem Sein im Jetzt entgegenstünden. Gemein ist ihnen die Utopie einer Konvergenz von Literatur und Leben, die das Archiv obsolet machen würde. Vorwort 9 Im Gegensatz zu Haushofer sah der Linzer Schriftsteller Karl Wiesinger die materielle Dokumentation seines Lebens in umfangreichen Sammlungen immer schon als Möglichkeit der Selbstverortung im kulturellen, politischen und gesell- schaftlichen Umfeld seiner Zeit. Dass diese Arbeit an der eigenen Biografie nicht vorrangig der Objektivität oder Authentizität verpflichtet war, sondern vor allem der Selbstvergewisserung eines Außenseiters des Literaturbetriebs diente, zeich- nen Georg Hofer und Helmut Neundlinger in einem dreiteiligen Untersuchungs- verfahren nach, das sich den Werkcharakter des Autorarchivs zunutze macht: Die archivarisch verbürgten Lebenszeugnisse werden mit den ‚adaptierten Fak- ten‘ eines exemplarischen Lebensentwurfs konfrontiert, mit denen Wiesinger die Wahr nehmung seiner Person zu lenken versuchte. An seinen Tagebüchern schließ lich zeigt sich, wie diese Selbstarchivierung zwischen Dokumentation, Reflexion und Stilisierung oszilliert. Maria Piok verdeutlicht am Beispiel des Tiroler Kabarettisten und Schriftstel- lers Otto