Interne und externe Mehrsprachigkeit im Filmwerk von Gianni Amelio

(Karl Ille, Universität Wien)

Ungeachtet der allgemeinen Produktions- und Rezeptionskrise des italienischen Films zu Beginn seiner Schaffenszeit hat der aus Kalabrien stammende Filmemacher Gianni Amelio mit seinen Produktionen insbesondere der 90er Jahre hohe Anerkennung in Italien und Europa gefunden. Die thematische Brisanz seiner Werke sowie die besondere Qualität seiner cineastischen Feinarbeit waren hierfür maßgebend. Teil der genannten Feinarbeit bilden die vielfältigen Repräsentationen kultureller und sprachlicher Alterität, die zentraler Gegenstand der vorliegenden Studie sein werden. Im Horizont von Amelios eigener Filmarbeit für das Fernsehen sowie seiner hohen Ansprüche an den späteren Kinofilm war freilich - abgesehen von einzelnen Publikumserfolgen wie etwa Il ladro di bambini (1992)1 – kein unmittelbarer Beitrag des Regisseurs zur Milderung der ökonomischen Krise des Kinos in Italien zu erwarten. Dort war inzwischen eine Fernsehindustrie mit wenigen Nischen für Qualitätsproduktionen übermächtig geworden und hat den dramatischen Rückgang des Kinobesuchs seit den 70er Jahren (Morandini 1998:548) mit verursacht. Amelios Arbeiten waren jedoch vor dem Hintergrund ihrer ästhetischen wie kulturpolitischen Kompromisslosigkeit geeignet, Monopolisierungstendenzen in der italienischen Filmproduktion2 zu konterkarieren, die die letzte Schaffenskrise des italienischen Films (Schifano 2007:91-105) begleiten. Die Produktionen Amelios konnten zwar nicht die internationale Aufmerksamkeit erlangen wie jene Filme von , Gabriele Salvatore und , die 1990 bis 1999 mit Oscars ausgezeichnet wurden3. Amelios Filme haben aber ihren festen Platz in der Liste der in dieser Zeit international wahrgenommenen und ausgezeichneten italienischen Filmwerke und sind somit gleichfalls am „Neustart des italienischen Kinos“ (Wagner/Winkler 2010:8) und an der Wiedererlangung seiner internationalen Bedeutung beteiligt. Die vorliegende Studie wird gerade jene internationalen Filmerfolge des Regisseurs fokussieren, die sich in den 90er Jahren verdichten und sowohl die interne als auch die externe Mehrsprachigkeit thematisiert haben. Dem soll eine knappe sozio- und perzeptionslinguistische Erörterung vorausgeschickt werden, um notwendigen Begriffsklärungen durch einige Hinweise auf italienspezifische sprachliche Realitäten anbringen zu können. In der Folge soll versucht werden, Amelios Repräsentationen von Mehrsprachigkeit zwischen neorealistischer Tradition und ihrer Reinterpretation im Kontext des neuen italienischen Kinos zu verorten. In den Folgeschritten werden die Konfigurationen von Mehrsprachigkeit in jenen Filmen Amelios nachgezeichnet werden, die beide Aspekte vereinen, nämlich sowohl die Wahrnehmung und Abbildung der internen Varietäten des Italienischen als auch deren Kontakt mit anderen Sprachen.

1 Der Film wird nicht zuletzt vor dem Hintergrund seines ökonomischen Erfolgs zum Modell, das rasch auch Nachahmer findet: „Il film (che nelle prime visioni incassa dieci miliardi di lire) non solo ha successo, ma diventa un modello per il cinema successivo, che sarà caratterizzato anche da un’onda di „ameliani“, più o meno autentici, più o meno sinceri.“ (Martini 2006:105). 2 Die aktuellen Entwicklungen bestätigen aufgezeigte Trends hinsichtlich einer zunehmenden Monopolisierung der italienischen Medienproduktion, für die Berlusconis direkte Einflussnahme über die private Mediaset sowie seine indirekte politische Kontrolle der RAI-Produktionen eine zentrale Rolle spielen.

3 Es handelt sich hierbei um die Filme Nuovo cinema Paradiso (1988) von Giuseppe Tornatore, Mediterraneo (1991) von Gabriele Salvatore und La vita è bella (1997) von Roberto Benigni. Aus dieser Festlegung auf beide Manifestationen von Mehrsprachigkeit ergibt sich die notwendige Beschränkung auf folgende 4 Werke des Regisseurs: Il ladro di bambini (1992), (1994), Le chiavi di casa (2004) und La stella che non c’è (2006). Ein Konklusionskapitel wird versuchen, die Gemeinsamkeiten der Repräsentationen der Mehrsprachigkeit in den untersuchten Filmen herauszuarbeiten sowie den jeweils unterschiedlichen Funktionszuweisungen und den daraus resultierenden Interpretationsmöglichkeiten nachzugehen.

Mehrsprachigkeit aus sozio- und perzeptionslinguistischer Perspektive

Zunehmende Mobilität und Durchlässigkeit der heutigen komplexen Medien- und Wissensgesellschaften haben zuletzt dazu geführt, dass sich einerseits die Kopräsenz von Sprachen und Varietäten in ihnen verändert und oft verdichtet hat, andererseits aber auch das Bewusstsein und die Wahrnehmung von dieser Kopräsenz geschärft wurde. Ökonomisch begründete Phänomene der Migration und der Globalisierung sind aktuelle Katalysatoren der sprachlich-kulturellen Rekonfigurationen geworden, die oft lokale oder regionale Varietäten durch neue Sprachen und Varietäten ersetzen. Das gesellschaftlich gebundene Auftreten von deutlich unterscheidbaren Varietäten einer einzigen Sprache erlaubt, eine interne gesellschaftliche Mehrsprachigkeit anzunehmen. Das Zusammentreffen eines italienischen Dialekts mit der italienischen Standardvarietät bedingt so eine Zweisprachigkeit, die als Binnendiglossie beschreibbar ist. Bei einer entsprechenden Hierarchisierung der Verwendung zweier deutlich unterschiedlich wahrgenommenen Sprachen, etwa dem Albanischen und dem Italienischen, kann von einer Außendiglossie ausgegangen werden. Für die Handlungsdisposition der Sprecherinnen und Sprecher sind außer den Sprachkompetenzen auch die erworbenen Repräsentationen der fraglichen Sprachen und Varietäten relevant. Wie die rezent geschärfte Perzeptionslinguistik4 zeigen konnte, sind für eine mehrsprachige Praxis Sprachwissen und Sprachbewusstsein sowie die Wahrnehmung der verwendeten Varietäten und ihre bewertende Repräsentation steuernd. Dies vor allem im Horizont, dass die sozialen Bewertungen sich nicht immer an den Kategorisierungen der linguistischen Forschung orientieren und keineswegs immer gesichert ist, „unter welchen Bedingungen ein Bündel von Varianten oder Merkmalen eine spezifische Varietät konstituiert“ (Krefeld/Pustka 2010:18). Auch die Beschreibung der im Immigrationskontext neu entstandenen mehrsprachigen Kommunikationsräume, in denen die Sprecherinnen und Sprecher ihre Netzwerke im Kontext sprachlicher Territorialität und Arealität (vgl. Krefeld 2004:29) knüpfen, könnten durch die Einbindung der Repräsentationsforschung deutlich geschärft werden. Da die genannten Repräsentationen aber auch für jede Verarbeitung und für jede Art von Referenz auf sprachliche Verhältnissen in Artefakten von Belang sind, wird auch auf die Wahrnehmung der Mehrsprachigkeit in den erweiterten Filmräumen Amelios zurückzukommen sein.

Die Sprachverhältnisse Italiens, die Amelio in seinen Filmen über die handelnden Personen direkt oder indirekt zu repräsentierten versucht, haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten unter dem Einfluss allgemeiner Globalisierungstendenzen und spezifischer Immigrationsentwicklungen deutlich

4 Vergleiche hierzu den instruktiven Sammelband „Perzeptive Varietätenlinguistik“ von Krefeld und Pustka, in dem zahlreiche Repräsentationen analysiert werden, die auf der konkreten Wahrnehmung sprachlicher Realisierungen gründen (Krefeld/Pustka, ed. 2010). verändert. Die weitere Auflösung agrarischer Strukturen und die durch neue Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse geförderte Mobilität hat vielerorts zur weiteren Ablösung des Dialektgebrauchs durch regionale Varietäten des Italienischen geführt, die in ihrer Substitutionsphase einen spezifischen Variantenreichtum im Dialekt-Regiolekt-Kontinuum hervorbringen. Code switching und code mixing begleiten diese Substitutionsprozesse und bedingen Kommunikationshandlungen, die D’Achille jenen hochfrequenten Fällen zuordnet, in denen die Sprecherinnen und Sprecher „all’interno di uno stesso enunciato“ beide Codes, nämlich „lingua e dialetto“ (D’Achille 2003:178) verwenden. Neue Sprachkontakte sind den aktuellen europäischen und transkontinentalen Immigrationsflüssen zuzuschreiben. Im Filmwerk Amelios findet etwa der von Barrieren begleitete Kontakt des Italienischen mit dem Mandarin (La stella che non c’è, 2006) sowie mit dem Albanischen im kolonialen und neokolonialen Kontext (Lamerica, 1994) nicht nur seine Repräsentationen, sondern erhält eine zentral handlungsstrukturierende Dimension. Das Filmgeschehen in Lamerica referiert sowohl auf die kolonialgeschichtliche Vergangenheit Italiens als auch auf seine rezente Immigrationsgeschichte: im August 1991 erlebten Italien und die Welt die Landung von etwa 20.000 albanischen Flüchtlingen in , von denen die meisten nach ihrer Kasernierung in einem Fußballstadion „wieder nach Albanien zurückverfrachtet“ wurden (Pallaver 1995:70). Die Fluchtrichtung der betroffenen Albanerinnen und Albaner hatte allerdings auch damals ihren sozio- und perzeptionslinguistischen Hintergrund: der Erwerb einer Italienischkompetenz mit Hilfe der kontinuierlichen Rezeption des italienischen Fernsehens, der auch heute gelegentlich noch als ein „successo della televisione italiana“ (D’Achille 2003:12) dargestellt wird, sowie die ideologische Übersteuerung ihrer positiven Repräsentation. Die in dieser Studie später zu liefernde filmanalytische Auseinandersetzung mit der medienkritischen Darstellung dieses Phänomens durch Gianni Amelio wird zeigen, dass der Regisseur mit seinem sprach- und kulturpolitischen Hintergrund durchaus im Detail vertraut war.

Zwischen neorealistischer Tradition und Repräsentation einer globalisierten Welt

Gianni Amelio, der 1945 in San Pietro Magisano in der kalabrischen Provinz geboren wurde, hat seine cineastische Arbeit mit 21 Jahren als Assistent des sardischen Regisseurs begonnen. Seine wichtigsten Anregungen für diese Arbeit hat er mit Gewissheit von den Meisterwerken des italienischen neorealistischen Films erhalten. Schon thematisch verbindet sich Amelios Filmschaffen mit zahlreichen dieser neorealistischen Werke: allen voran ist es sein „attachement viscéral au Sud“ (Mirabella 2004:38) und seine Vorliebe für die Darstellung der italienischen Meridionalität, deren historische, soziale und kulturelle Benachteiligung vor Ort und in direkter Kontrastierung mit neuen Zielorten einer migrazione interna mit der Kamera interpretiert wird. Genauere Vergleiche der deutlicher neorealistisch beeinflussten Werke Amelios mit einigen Hauptwerken des Neorealismus, die diese Meridionalität und den inneritalienischen Nord-Süd- Konflikt thematisieren5, wären sicher lohnenswert. Konkretere inhaltliche Intertextualitäten ergeben sich diesbezüglich zwischen Amelios Così ridevano (1998) und Viscontis Rocco e i suoi fratelli (1960), deren meridionale Familiendramen am ambivalenten Entschluss zur inneritalienischen Migration nach Norditalien (Torino bzw. Milano) aufbauen. Amelios Film Lamerica (1994) übernimmt direkte Zitate und Strukturen des neorealistischen Episodenfilms Paisà (1946) von : Die

5 In diesem Zusammenhang könnte eine kontrastive Analyse unter Heranziehung zentraler Werke von Visconti, Castellani, Germi oder Rosi neue Aspekte ergeben. gewalttätige Abnahme der Schuhe des ehemaligen italienischen Besatzers Spiro in einem der Bunker, in den albanische Straßenkinder diesen zuvor getrieben hatten, evoziert Rossellinis Szene der Entwendung der Schuhe des amerikanischen Soldaten durch neapolitanische Straßenkinder. Zudem kann die Luce-Wochenschau des Beginns von Lamerica als Referenz auf die strukturierenden Wochenschauausschnitte in Rossellinis Episodenfilm gedeutet werden (Winkler 2009:45). Die lexikalische und syntagmatische Beeinflussung von Amelios Filmtitel Il ladro di bambini (1992) durch die Filmtitel I bambini ci guardano (1943) sowie Ladri di biciclette (1948) von ist zumindest angenommen worden (Martini 2006:105). Für die Durchführung seiner Filmarbeiten waren sicher das Engagement von Laienschauspielern sowie Aufnahmen an konkreten Orten und der Verzicht auf Studioproduktionen die wichtigsten Anregungen des Neorealismus, wenngleich Amelio hier mit dem Engagement von Berufsschauspielern weitergehende Kompromisse eingegangen ist. In den historischen neorealistischen Filmen wurden lokale wie regionale Eigenheiten von Sprache und Kultur nicht mehr nur angedeutet, sondern erstmals auf audio-visuellen Kanälen in ihrer Konkretheit vermittelt. Freilich ist Amelio in keinem Werk so weit gegangen wie , in dessen Film La terra trema (1948) die Kommunikation nahezu zur Gänze vom lokalen Dialekt sizilianischer Fischer getragen wird und den Film ohne Untertitelung für das italophone Publikum unzugänglich macht. Doch auch sein 1998 produzierter Film Così ridevano, der in neorealistischer Tradition eine ganze Palette italienischer Dialekte und Varietäten anbietet, bietet eine pragmatische Untertitelung an. Die Untertitel sichern dem italophonen Publikum das Verständnis des Dramas meridionaler Einwanderer in der piemontesischen Hauptstadt auch dann, wenn im Film der Dialekt Catanias oder Turins oder kalabrische und apulische Varietäten gesprochen werden. Die 1998 in Venedig erfolgte Auszeichnung von Così ridevano mit einem Leone d’oro war auch in diesem Zusammenhang Gegenstand heftiger kulturpolitischer Diskussionen6. Die sprachliche Variation der meridionalen Regionen fand aber bereits im ersten Film Amelios ihre Abbildung, nämlich in La fine del gioco (1970), einer Produktion im Rahmen des experimentellen Filmschaffens, das im Kanal 2 der Rai der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Leonardo, ein 12jähriger Insasse einer Erziehungsanstalt, wird in diesem Film von einem Fernsehregisseur im Zug begleitet und interviewt, wobei die kalabrischen Modalitäten des Sprachgebrauchs Leonardos deutlich abgebildet werden. Die Annäherung zweier Reisegefährten unterschiedlichsten Alters im sich kontinuierlich verändernden Raum, die Indienstnahme einer Zugreise für die narrative Strukturierung, die gesellschaftspolitischen Fragen staatlicher Korrektur meridionaler Jugendlicher sowie ihrer Befreiung aus den Kontrollsphären der Obrigkeit nehmen viel von dem vorweg, was Amelio in seinem Filmerfolg des Jahres 1992 Il ladro di bambini thematisch verdichten konnte. Der Umstand, dass sich bereits in seinem ersten Film die ersten sprachlichen Belege für die filmisch zu interpretierende Meridionalität der gezeigten Personen finden, hat sich als wegweisend für viele weitere Arbeiten des Regisseurs herausgestellt.

Die interne Mehrsprachigkeit des italienischen Südens kam bereits 1990 deutlicher ins Bild, als Amelio mit Porte aperte (1990) eine bemerkenswerte Verfilmung des gleichnamigen Romans von Leonardo Sciascia gelungen war. In diesem Film kommt keine dialektal eingefärbte Kunstsprache zum

6 Hinter der durch vorgenommenen Preisverleihung wurde auch eine Parteinahme des damaligen Kulturministers Walter Veltroni für die sozialkritischen Anliegen des Films vermutet und die Prämierung daher als „una sorta di ‚golpe‘ ulivista“ (Martini 2006:144) politisch umgedeutet. Einsatz, die Literaturverfilmungen gelegentlich auszeichnet7, sondern die sprachliche Variation im Spannungfeld von Referenzitalienisch und lokalem sizilianischem Dialekt. Palermo lässt sich heute durch „una più accentuata italofonia in tutti i livelli di istruzione" (Soriani 2010:369) von anderen Städten und Provinzen Siziliens sprachlich abgrenzen. Die sprachliche Sonderstellung dieser Hauptstadt beruht auf einer längeren Tradition und ist daher im Prinzip auch für das im Film abzubildende Palermo des Jahres 1937 anzunehmen. Sprache und Dialekt sind diglossisch verteilt: Italienisch ist die Sprache der faschistischen Machthaber, des Gerichts und der formalen Kommunikation, Sizilianisch die Sprache des Vernakular- und Intimbereichs, der informalen Kommunikation und folglich auch der die Straßen säumenden Rufkulissen des Films. Aus diastratischer Sicht fällt die für den Film charakteristische Repräsentation eines frequenteren Dialektgebrauchs durch die weiblichen als durch die männlichen Oberschichtangehörigen auf. Interessant bleibt die Darstellung eines ausnahmsweisen Sizilianischgebrauchs durch den Vertreter der faschistischen Machthaber, den Anwalt Spadafora, der die idiomatische Wendung Bon tempu e malu tempu non dura tuttu ‘u tempu8 (0:04:13) zur Charakterisierung der Launen der Natur und indirekt der Relativität der Dauer einzelner erfreulicher und unerfreulicher Lebensphasen bemüht. Diese Dialektverwendung ist geeignet, Versuche der Sprachpolitik des Faschismus gerade der 30er Jahre in Erinnerung zu rufen, den Dialekt in folkloristische Nischen zu verbannen (vgl. etwa Ille 1996b:42-44). Das im Film gesprochene Italienisch zeichnet sich durch die erwartbaren regionalen Merkmale aus, die sowohl die phonetische Realsierung als auch morpho-syntaktische und lexikalische Eigenheiten betreffen. So erzählt der Buchhalter Scalia, bevor er zum Mörder wird, vom Ablauf seines Alltags und verwendet dabei die Formulierung mi piglio il caffè9 (0:05:10), deren lexikalische Abwahl von pigliare statt einem prendere zwar auch diaphasisch motiviert bleibt, offenkundig aber durch das kopräsente Sizilianische pigghiari ‘u cafè eine zentrale Gebrauchsstützung erhält. Besonders interessant ist auch die Abbildung von Phänomenen des code switching im Film, die Angebote für mehrschichtige Interpretationen enthalten. Im folgenden Dialog zwischen Leonardo und Tommaso Scalia, seinem Vater, kommt dieses Switchen wie folgt zum Ausdruck:

Mi scappò ‘u attu. – Fici bonu. Mangiasti? – Sì. – E che mangiasti? – Pomodoro,

sale, pane, zucchero.- Bravo!10 (0:14:03 – 0:14:14)

Leonardo erwähnt emotional betroffen die Flucht der Katze im sizilianischen Dialekt, der Vater setzt beim Sprecherwechsel mit seinem Kommentar auf Sizilianisch fort, seine Frage beantwortet Leonardo dann aber in einem überdeutlich artikulierten Italienisch. Interpretierbar ist, dass die Frage als Gelegenheit zur Wiedergabe des bereits erworbenen italienischen Vokabulars erkannt wird und bereits die wiederzugebende Liste mit früheren Erwerbssituationen assoziiert wird. Im Horizont dieser Interpretation könnte das abschließende italienische Bravo! des Vaters auch als Lob für die sprachliche Qualität der Antwort angesehen werden. In jener markanten Szene, in der der Richter Di

7 Hierbei ist nicht zu übersehen, dass der Vorwurf der konstruierten Sprache, der auch einigen Neorealisten gegenüber erhoben wurde, gelegentlich den literarischen Textvorgaben selbst gemacht werden müsste. Die weitgehende Abhängigkeit von den sprachlichen Vorgaben literarischer Texte gehört zur allgemeinen Problematik der Literaturverfilmungen (vgl. Brunetta 1976). 8 A good time or a bad time doesn’t last all the time. 9 I have my coffee. 10 The cat ran away. – Good for him. Have you eaten? – Yes. –What did you eat? – Tomatoes, salt, bread and sugar.- Good boy! Francesco auf den kleinen Leonardo im Krankensaal trifft, wird das code switching noch durch ein angesetztes code mixing ergänzt:

Come sei piccolo!. E che ti pozzu dumannari? Ha‘ mangiato? Ha‘ da mangiari!11 (1:06:09 -

1:06:25)

Nach einem gescheiterten Versuch, eine Konversation auf Italienisch zu beginnen, setzt Di Francesco mit dem Sizilianischen fort, das den für Leonardo gültigen Kode des Intimen und Familiären darstellt. Die erste direkt an Leonardo gerichtete Frage wird daher sizilianisch formuliert, die weiteren weisen allerdings phonetische und strukturelle Italianisierungen auf, obwohl sich Di Francesco sichtlich bemüht, perzeptionslinguistisch wichtige Sizilianisch-Marker wie das finale –i der Infinitivform einzusetzen und damit auch die Wahrnehmung einer familiären Sprachhandlung durch Leonardo zu ermöglichen. Die sozial und beruflich bedingte Dominanz des Italienischgebrauchs des Richters bleibt Hintergrund bei den Unsicherheiten im Sizilianischen. Diese Szene ist aber nur ein Beispiel für die filmische Repräsentation der Diglossie im Palermo der faschistischen Zeit, für die sich weitere bemerkenswerte Belege im Film finden lassen. Diese können aber hier nicht mehr interpretiert werden, um den Rahmen dieser Studie nicht zu sprengen.

Die Mehrsprachigkeitsfrage tritt vor allem in jenen Filmwerken Amelios in den Hintergrund, in denen der Regisseur auch gegen die Präferenzen des Neorealismus seine eigene Ästhetik und Kamerasprache gesucht und umgesetzt hat. Bereits im Film La città del sole (1973), in dem sich Amelio der Philosophie von Tommaso Campanello und dem allgemeinen Verhältnis von Utopie und Macht widmet, hat Amelio etwa die „objektiv“ erzählende Kamera durch eine „subjektivere“ Aufnahmetechnik ergänzt, die die Rezipienten zwingt, die Repräsentationen aus der Perspektive einer Person der diegetischen Welt zu sehen. Das hierbei vorliegende ästhetische Anliegen wird durch eine ethisches gedoppelt, das Delmas nicht unzutreffend als „esigenza etica“ (Delmas 1975/2001:63) bezeichnet hat. Pasolini, Bertolucci und Antonioni haben Amelio bei der Entwicklung einer eigenen Kamerasprache zweifellos Anregungen geliefert. Die Suche nach einer neuen ästhetisch-ethischen Neubegründung seines Schaffens war aber immer auch von Amelios Leidenschaft der präzisen Porträtierung von Individuen, einer Nutzung der Möglichkeiten des Melodramas sowie einer „indomabile ossessione romanzesca“ (Martini 2006:27) begleitet. Etablieren kann sich so auch ein Markenzeichen Amelios, nämlich die präzise Wiedergabe von Gefühlszuständen, die in überlangen Einstellungen in Groß- oder Nahaufnahme festgehalten werden. Beispiele von filmgeschichtlicher Relevanz sind hierfür die lange Nahaufnahme von Giannis und Paolo in Le chiavi di casa (1:40:01 – 1:41:11) sowie die überlange Großaufnahme der Mimik Vincenzos in La stella che non c’è (1:30:19 – 1:32:25), der einen von Tränen begleiteten Kampf gegen die Verzweiflung zu gewinnen hat. Beide Szenen sind paradigmatisch dafür, wie Amelio bereits im Plot selbst die Grundlagen für jene Hoffnung bereit stellt, die den stets offenen Schluss seiner Filme beherrscht. Thematische Konstanten der Arbeit Amelios sind vorerst seine Auseinandersetzungen mit der (biographisch erfahrenen) Absenz eines Vaters, mit dem Familienerhalt, mit sozial und psychologisch marginalisierten Kindern und Jugendlichen sowie mit den Manipulationsmöglichkeiten der Medien. Später holt Gianni Amelio jedoch auch die Globalisierungsproblematik und die aktuellen Widersprüche zwischen Ökonomie und Ökologie (La stella che non c’è) sowie die transstaatliche Immigrationsproblematik (Lamerica) ins Bild, wobei sich letzte als Meilenstein seiner internationalen

11 How tiny you are! What could I ask you? Have you eaten? You must eat! Anerkennung erweisen sollte. Inzwischen hat sich die filmische Auseinandersetzung mit der Immigrationsfrage weiterentwickelt und vor allem auch die von Amelio ausgegrenzte Frage der oft illegalen Immigration aus dem afrikanischen und asiatischen Raum einbezogen. In diesem Zusammenhang können die Filme Sud Side Stori (2000) von Roberta Torre, Tornando a casa (2001) von Vincenzo Marra oder Gomorra (2008)12 von nur stellvertretend genannt werden. Dass sich diese Filme um innovative Transgressionen bemühen und teilweise auch eine Genretransformation erreicht haben, konnte Daniel Winkler zuletzt im Detail darstellen (vgl. Winkler 2010:52-61). Amelio hat demgegenüber einen frühen eigenen Zugang zu den aktuellen Bedrohungen ökonomischer, ökologischer und kultureller Globalisierung gefunden. Die folgenden Analysen werden zeigen, dass hierzu auch seine Auseinandersetzungen mit den neuen Formen externer Mehrsprachigkeit gehören, die gerade eine sprachlich-kulturelle Folge der angesprochenen Tendenzen darstellen. Da der Regisseur seine Kamera vorzugsweise auf die Grenzen der individuellen Mehrsprachigkeit in der Fremde geheftet hat, werden die folgenden Arbeitsschritte auch seinen Repräsentationen der psychosozialen Implikationen des Nichtfunktionierens dieser externen Mehrsprachigkeit in fremden Gesellschaften nachgehen müssen.

Rückkehr nach Sizilien durch ein Land ohne Eigenschaften

Im Jahre 1992 schuf Gianni Amelio unter Mitwirkung von Sandro Petraglia und Stefano Rulli seinen in Cannes ausgezeichneten Film Il ladro di bambini, der ein weiteres durch die migrazione interna befördertes Familiendrama wiedergibt: Rosetta, ein 11jähriges sizilianisches Mädchen, das von ihrer Mutter zur Kinderprostitution angehalten wird, und Luciano, ihr asthmakranker 9jähriger Bruder, sollen nach einem Carabinieri-Einsatz in der Peripherie von Mailand vom kalabrischen Carabiniere Antonio Criaco nach Civitavecchia in ein Internat gebracht werden. Aus bürokratischen Gründen können die Kinder dort nicht aufgenommen werden, weshalb die Reise bis ins sizilianische Gela fortgesetzt werden muss. Die ungleiche Reisegruppe macht Zwischenstation in Kalabrien, wo die Schwester Antonios ein Restaurant führt und Antonio seine Großmutter treffen kann. In diesem wird allerdings Rosetta aufgrund der Veröffentlichung ihrer Fotos auf der Titelseite als Prostituierte erkannt und vor der kalabrischen Familie erniedrigt. Nach der Überfahrt nach Sizilien verbringen Rosetta, Luciano und Antonio erholsame Stunden am Strand, die auch zu ihrer deutlichen menschlichen Annäherung führen. Im Strandrestaurant treffen sie auf zwei französische Touristinnen, Martine und Nathalie, die sie nach geäußertem Wunsch im Auto nach Noto führen. Dort versucht ein scippatore die Kamera der Touristinnen zu entwenden, kann aber von Antonio gestellt und den Carabinieri übergeben werden. Doch die Dienststelle der Carabinieri wird Antonio fast selbst zum Verhängnis: Da die Zeit für die Überführung längst abgelaufen ist, wird er als ladro di bambini der Kindesentführung verdächtigt, kommt aber mit einer Verwarnung davon. In der folgenden Nacht erreichen Antonio und die Kinder die Peripherie von Gela. Die indirekt angebotene Fluchtmöglichkeit nehmen sie nicht in Anspruch und versuchen im Morgengrauen am Straßenrand ihre Ängste vor dem kommenden Internatsleben niederzureden.

Ungeachtet des Umstands, dass die dargestellte Reise filmisch meist von einer inhaltsentleerten Italien-Kulisse begleitet wird, die auch akustisch sprachlich und kulturell kaum variiert, zeichnen sich

12 Die Verfilmung des Bestsellers von Roberto Saviano war 2009 Oscar-Kandidat für den besten ausländischen Film. Leider haben sich aber die Hoffnungen für Garrones Gomorra letztlich nicht erfüllt. die Protagonisten des Films durch eine bemerkenswerte interne Mehrsprachigkeit auf: Rosetta und Luciano sprechen Italienisch und Sizilianisch, Antonio, der vom sizilianischen Schauspieler Enrico Lo Verso interpretiert wird, realisiert sein Italienisch mit deutlichem meridionalen Akzent und beweist in Kalabrien, dass er ungeachtet seines Transfers nach Mailand eine Basiskompetenz für den kalabrischen Dialekt seiner Familie erhalten hat. Als sie allerdings auf eine touristisch bedingte externe Mehrsprachigkeit in Sizilien treffen, zeigen sich ihre Kompetenzlücken, die eine differenziertere Kommunikation mit den gleichfalls monolingual auftretenden französischen Touristinnen verunmöglicht. Immerhin verfügt Antonio aber über die metalinguistische Grundkompetenz, das Französische als solches zu erkennen: Auf die Frage Rosettas nach der Herkunft Che sono americane?13 (1:20:21) antwortet Antonio umgehend in vorwurfsvollem Ton: Non l’hai sentito come parlano? Sono francesi.14 (1:20:22) Immerhin beweist Rosetta in Folge, dass sie zwar nur einen einzigen französischen Satz von sich geben kann, diesen aber mit erstaunlicher Qualität der phonetischen Realisierung umzusetzen versteht: Oui, je suis Catherine Deneuve!15 (1:20:31). Dieser Satz ist übrigens der einzige nicht italienische, den die von Linda De Angelis geschaffene Erzählung enthält (Amelio/De Angelis 2000:111). Auf den Umstand der diegetischen Präsenz der Dialekte im Film wird nur hingewiesen: Luciano, der aus der Ich-Erzählperspektive erzählt, gibt die „in dialetto siciliano“ vernommenen Sätze seiner Mutter allerdings nur in ihrer italienischen Übersetzung wieder (Amelio/De Angelis 2000:7), obwohl er erzählt, dass zu Hause Dialekt gesprochen wurde. Später wird dem Lesepublikum auch die Antonios Verwendung des „voi“ zur Ansprache der Großmutter und deren Abhängigkeit vom Dialekt („l’unica lingua che lei conoscesse“) erklärt (Amelio/De Angelis 2000:71).

Die touristisch verursachte Mehrsprachigkeit der abgebildeten Situationen wird im Film mit der jeweiligen verbalen Eingeschränktheit der Kommunikationsteilnehmer kontrastiert. Nicht zu unterschätzen ist allerdings der Anteil jener Kommunikate, der allein über den nonverbalen visuellen Kanal vermittelt werden. Die sinnvolle Verbindung kinetischer Kodierungen (vgl. Argyle 1996:147- 151), die über Mimik und Gestik erfolgen, mit proxemischen Regelungen, die eine soziale Raumverteilung herstellen, findet auch in Amelios Film ihre Abbildung. Hier wird der Regisseur der Komplexität der Vermittlungsmöglichkeiten seines Mediums gerecht, das ein vielschichtiges „mentales Repräsentationssystem“ (Mikos 2008:45) errichten kann. Die nonverbalen Kodierungen bestimmen einerseits ergänzend die Kommunikation der drei italienischen Protagonisten untereinander, andererseits sind sie bestimmend für die Kontaktsicherung zu den zwei französischen Touristinnen. Die in Italien nachweisbare diatopische Variation der Gestenverwendung (vgl. Ille 1996a:68-70) ist auch in der nonverbalen Organisation der Kommunikate durch Antonio erkennbar, wie etwa seine multiple Durchführung der mano a borsa (0:11:41 und 1:21:51) zeigt, deren Frequenz in meridionalen Zusammenhängen zunimmt. Der letztlich erfolgreiche Kontakt zu den Französinnen wird gleichfalls nonverbal hergestellt, indem ein körper- und handgestisches symbolisches Sich- Ergeben als Vorbereitung für ein strategisches Zuprosten Verwendung findet (1:20:51-1:21:01). In Rom war Antonio selbst von einer wahrscheinlich der Wahrsagerei nachgehenden Frau unter Einsatz der Paddelgeste (0:24:57) zu sich gewunken worden, die mit dem nach unten gekehrten Handteller ausgeführt wurde und sich damit als ein Ausdruck der mediterranen Gestikkultur mehr zu erkennen gab.

13 Are they Americans? 14 Didn’t you hear them speaking? They’re French. 15 Yes. I am Catherine Deneuve. Im Film wird die Dialektkompetenz der Kinder vorerst nur als offenkundige Passivkompetenz dargestellt, die sie in die Lage versetzt, ihre sizilianischen Dialekt sprechende Mutter in der Mailänder Wohnung zu verstehen. Die ersten Szenen des Plots zeigen die Mutter, die versucht, Luciano aus der Wohnung zu bewegen, um ihn nicht zum Zeugen des Prostitutionsgeschehens zu machen. Sie wirft ihm vor, er verhielte sich wie ein Mädchen, come ‘na femminedda (0:02:42), das seine Wohnung nicht verlassen möchte und stellt ihm die rhetorische Frage: Addiventasti fimmina?16 (0:02:50). Schließlich steckt die Mutter Luciano einen 1000-Lire-Schein zu und fordert ihn im sizilianischen Dialekt auf, sich ein Eis kaufen zu gehen:

Tè, pijati ‚ste mille lire e vatt‘ accattà nu gelato!17 (0:03:25)

Vorher war Rosetta mit den Worten Su, spicciati, bedda da’mamma!18 (0:03:17) angehalten worden, sich zu beeilen19. Diese obigen Beispiele zeigen, dass auch in diesem Film der sizilianische Dialekt, der gerade in der Metropole Mailand in besonderer Weise vom Italienischen dominiert wird, als eine von Italianismen überlagerte Varietät repräsentiert wird, die durchaus ihre Entsprechung in der sprachlichen Realität hat. Realisierungen wie das obige femminedda oder die Substitution des sizilianischen gilatu durch das italienische gelatu im anderen Beispiel zeigen, dass hier ein unter deutlichem Überlagerungsdruck stehender Dialekt präsentiert wird. Bemerkenswert bleibt die weitere Darstellungen des Sprachverhaltens der Kinder: Sie sprechen ein kaum markiertes Italienisch und geben Ihre Aktivkompetenz hinsichtlich der Anwendung des Sizilianischen nur in einer einzigen Szene preis: Dies erfolgt in einem Bahnhofsbuffet, in dem sich Luciano wiederum um einen bereits mit Bedeutung besetzten 1000-Lire-Schein eine Packung Chips gekauft hat und Rosetta ihn diesmal auf Sizilianisch mit der Frage Li accattasti tu chisti?20 frontal angreift. In der folgenden Sprachhandlung reklamiert Rosetta unter Berufung auf die gemeinsame Mutter die Verantwortung für die Finanzen für sich und verweist auf Lucianos Krankheit, was in einer aggressiven körperlichen Konfrontation der Kinder endet. Die Psychologie hinter dieser Szene ist bemerkenswert: Das sizilianische Verb accattari (kaufen) bleibt in der Aggressionsszene die zentrale lexikalische Abwahl und referiert letztlich auf die traumatisch besetzten Erfahrungsanteile der Anhaltung zur Prostitution und der mit ihr verbundenen familieninternen Geldverteilung. Beide Erfahrungsbereiche sind durch die zentrale Rolle der Mutter und ihrer diesbezüglichen Sprachhandlungen sizilianisch besetzt. Hier geben sich die Abhängigkeiten von einer psychologisch nicht verarbeiteten Vergangenheit auch als Auslöser für die Kodewahl zu erkennen. Amelio lässt den meridionalen Dialekten in seinen Filmen sehr oft dort ihren Platz, wo Intimität und Emotionalität eine zentrale Rolle einnehmen. Auch für Antonio trifft dies zu, der, von der Freude über das familiäre Wiedersehen beherrscht, bereits bei Ankunft im halbfertigen Haus seiner Schwester deren Sohn mit der Frage Unn‘ è la mamma?21 (0:43:58) konfrontiert und damit in jene kalabrische Varietät einschwenkt, die er mit seiner nur Dialekt beherrschenden Großmutter sprechen wird. Interessant ist bei diesem vom Italienischen und Kalabrischen bestimmten Dialog der sofortige Übergang Antonios zum Italienischen in dem Moment, in dem es um seine berufliche Praxis geht, die von der zentralen Position des Italienischen geprägt

16 Or are you a girl, now? 17 Here’s a thousand lire, go buy yourself an ice-cream! 18 Hurry up, my darling! 19 Das in den Untertiteln bei dieser Äußerung fälschlich wiedergegebene spiaccicati ist absolut nicht hörbar, würde zerquetschen bedeuten und zeigt, dass die Untertitelung auch im konkreten Fall keine verlässliche Quelle für die Rekonstruktion der mündlichen Sequenzen ist. 20 Did you buy these? 21 Where is your mother? ist. Als die Großmutter die Frage Che me cunti ’i bono?22 (0:52:56) an ihn richtet, gibt es keinen Platz mehr für das Kalabrische: E niente, io sono militare23 (0:53:00), lautet die italienisch formulierte Antwort Antonios. Abgesehen von den dialektalen Teilen der obigen Konversation hat die regionale Kultur und ihre Dialekte und Varietäten in authentischer Umgebung in Amelios Film keinen weiteren Platz. Sogar die dargestellte Konvesation wird immer wieder vom Lärm vorbeirasender Lastwägen akustisch beeinträchtigt. Es ist, als wollten diese im Dienste globalisierter Wirtschaftsinteressen die letzten Reste regionaler Sprachkultur überrollen. So erscheint Italien als weitgehend konturenloses Land ohne nähere Eigenschaften, das von der Auflösung seiner Regionalkulturen steht. Das Sizilianische war zwar im Immigrationskontext noch im Bild, immer jedoch gemeinsam mit jenem sozialen Druck, der auf dieser Varietät im Exil des Nordens lastet. In Sizilien jedoch, am Ziel ihrer Reise, werden die sizilianischen Kinder ihre sizilianische Muttersprache nicht mehr sprechen und diese auch nicht in authentischen Zusammenhängen hören können.

Die Kommunikation zwischen den dargestellten Französinnen und den italophonen Protagonisten verläuft im Film unterschiedlich erfolgreich. Dort, wo - wie etwa zu Beginn des Kontaktes die Abwehr des Fotografierens - Gesten einfache Botschaften vermitteln können, werden die Kommunikate vollständig verstanden. In anderen Situationen hilft die sprachliche Nähe der in Kontakt getretenen romanischen Sprachen: So gibt es etwa bei der Äußerung von Rosettas Haarfarbenwunsch – zusätzlich gestützt durch die Berührung des Referenzobjekts, nämlich der Haare der Französin - auch für Martine nicht das geringste Problem, den Entsprechung zwischen biondi und dem französischen blonds herzustellen. Die Kommunikation trifft allerdings rasch auf ihre Grenzen, als die Mitteilungen differenzierter werden:

Io da grande farò la parrucchiera.- Ah? – Io da grande fare cappelli.24 (1:25:45)

Diese Mitteilungen werden von Martine allerdings nicht mehr verstanden, obwohl Rosetta versucht, klassische Vereinfachungsstrategien anzuwenden, wie die Substitution des konjugierten Verbs durch seine Infinitivform oder einer unerkannten lexikalischen Einheit durch eine einfachere und häufiger gebrauchte. Doch auch die Kommunikation mit den männlichen Vertretern der Protagonistengruppe scheitert mehrmals offenkundig: So etwa in der Szene, in der sich Martine am Tisch der Karten spielenden männlichen Protagonisten erkundigt, wo Luciano seine Kartenspieltechniken erlernt habe:

Où il a appris tout ça? – Che dice? Puoi giocare, sì.25 (1:29:45)

Amelio lässt nicht nur die Protagonisten, sondern auch das Kinopublikum mit den Fremdsprachen allein, die in einen Kontakt mit dem Italienischen treten, und hat keine Untertitelung der französischsprachigen Passagen seines Films vorgesehen. Die Rezipienten nehmen daher die französischsprachigen Teile dann vollständig aus der Perspektive der italienischsprachigen Protagonisten auf, wenn sie selbst keine Französischkompetenz aufzuweisen haben. Andernfalls haben sie dem diegetischen Personal gegenüber den Vorteil, Teile des Plots im Detail verstehen, die von den im Stück handelnden Personen aus sprachlichen Gründen bestenfalls erahnt werden können. Auch bei der Wahl der italienischen Untertitelung werden die französischsprachigen

22 But what about you? 23 Nothing, I’m a military man. 24 When I grow up, I’ll be a hairdresser. - What? – Me, big, do hair. 25 Where did he learn that? What did she say? Yes, you can play. Gesprächsteile des Films nicht übersetzt oder als Texte wiedergegeben. Die Rezipienten erhalten in diesem Falle nur mit Hilfe der Formel PARLANO IN FRANCESE (1:20:19) den Hinweis auf den Gebrauch des Französischen. Erst die englische Untertitelung übersetzt auch die französischsprachigen Anteile der mehrsprachigen Kommunikation und ermöglicht somit auch dem des Französischen unkundigen Teil des Publikums eine emanzipierte Teilnahme. Nimmt man allerdings das bereits dargestellte ästhetisch-ethische Anliegen Amelios ernst, sein Publikum dazu zu veranlassen, auch das sprachliche Geschehen und damit das mögliche Nichtverstehen aus der Perspektive der Personen der diegetischen Welt wahrzunehmen, könnte diese Emanzipation auch als eine subversive Teildemontage der künstlerischen Ansprüche dieses Werks interpretiert werden.

Sprachliche Verweigerungsszenarios in einer anderssprachigen Fremde

Die nächsten hier zu interpretierenden Filme Amelios unterscheiden sich von den bisher dargestellten durch eine wichtige neue Gemeinsamkeit: Italien dient bestenfalls noch als Ausgangspunkt der Reisen ihrer Protagonisten in die Fremde oder wird überhaupt vollständig durch ein fremdes Land ersetzt, in dem eine Ankunft bereits ihre Stilisierung zum Ausgangspunkt der erzählten Reise erfährt. Diese Struktur erhielt die bemerkenswerte Produktion Lamerica (1994), die hier, der Chronologie ihres Erscheinens folgend, vor den Filmwerken Le chiavi di casa (2004) und La stella che non c’è (2006) im Hinblick auf die in ihnen repräsentierte Mehrsprachigkeit untersucht werden sollen. Die beiden zuletzt angeführten Filmproduktionen verbindet darüber hinaus, dass sie Verfilmungen literarischer Erzählwerke darstellen: Le chiavi di casa hat Giuseppe Pontiggias Nati due volte (2000), La stella che non c’è Ermanno Reas La dismissione (2002) filmisch reinterpretiert. Eine weitere interessante Gemeinsamkeit aller genannten Filme bleibt, dass die italophonen Protagonisten ihres Geschehens ausnahmslos über keine so weitreichende Sprachkompetenz verfügen, dass sie ohne Hilfe von Vermittlern kommunikativ überleben zu könnten. Eine Gemeinsamkeit der diese Filme beherrschenden Sprachen ist wiederum, dass ihre Systeme in einem so deutlichen Abstand zum Italienischen stehen, dass eine partielle Interkomprehension, wie sie zuletzt im Zusammenhang mit der Perzeption des Französischen aufgezeigt werden konnte, nicht mehr gewährleistet ist.

Schon der Titel von Lamerica enthält einen ersten Verweis auf die möglichen sprachlichen und kulturellen Implikationen der dargestellten Immigrationsproblematik: Amelio hatte in Folge einer Anregung aus Elsa Morantes La Storia (Amelio 1994/2001:173) die mögliche schriftliche Realisierung von L’America durch einen der Orthographie unkundigen Immigranten für den Titel seines aussagestarken Filmwerks gewählt. Der Vater Amelios, der nach Argentinien emigrierte und seine kranke Frau mit ihrem Kind zurückließ, bleibt hierbei einer der wichtigsten Bezugspunkte des Films. Auf ihn wiederum referiert der Protagonist Spiro Tozaj, der sich im Laufe des Filmgeschehens als der Sizilianer Michele Talarico entpuppt, der ehemaliger Besatzer mit den faschistischen Truppen nach Albanien gelangt und in den Gefängnissen von Enver Hoxha um den Verstand gekommen ist. Seine Rolle wurde in neorealistischer Manier einem Laienschauspieler überantwortet, den Amelio in Marina di Ragusa in der Person des früheren Fischers Carmelo Di Mazzarelli entdeckte. Mit dem Sizilianer Enrico Lo Verso, der den jungen Unternehmer Gino spielt, und dem Apulier , der den erfahrenen Fiore interpretiert, hat Amelio zwar auch zwei Berufsschauspieler für diesen Film engagiert, gleichzeitig aber erreicht, dass der meridionale Akzent der italienischen Protagonisten gesichert bleibt. Die Vernetzung von Geschichte und Gegenwart, von italienischem Kolonialismus und Neokolonialismus sowie Immigration und Emigration bleibt ein Hauptanliegen Amelios. Sein Film erzählt als Hauptstrang die Geschichte des süditalienischen Unternehmers Gino und des sizilianischen Besatzungssoldaten Spiro, die ungeachtet ihrer unterschiedlichen, sich aber doch überschneidenden Vergangenheit in die Flüchtlingsrolle geraten sind und schließlich mit den Massen albanischer Flüchtlinge auf dem Schiff Partizani nach Italien zurückkehren. Das Italienische des Films wird von einem meridionalen Akzent bestimmt. In verschiedenen Situationen, vor allem aber Im Moment der größten Intimität seiner Erinnerung, als er sich nämlich seine fieberkranke Frau und seinen kleinen Sohn, den Giovanni piccirillu, vergegenwärtigt, findet sich Spiro im Sizilianischen wieder und sichert so auch diesem Film seine interne italienische Mehrsprachigkeit. Das Albanische bleibt ungeachtet der Tatsache, dass das gesamte Filmgeschehen in Albanien und zwischen dem Hafen Durrës, der Hauptstadt Tirana und nordalbanischen Stadt Shkodër angesiedelt ist, im Hintergrund und bietet meist nur die sprachliche Kulisse der Ereignisse. Die konkrete sprachliche Variation des Albanischen hat allerdings auch in Amelios Film Einzug gehalten. So sind etwa die Vokalrealisierungen und Nasalierungen des Gegischen, das in Nordalbanien nördlich des Flusses Shkumbin beheimatet ist, in jenen Szenen des Films hörbar, die in Nordalbanien spielen26, wohin der diesmal vor seinen eigenen italienischen Landsleuten flüchtende Spiro aufgebrochen ist. Interessant bleibt hierbei, dass die Vertreter der staatlichen Macht auch im Norden den am Toskischen aufbauenden Standard sprechen. Über die Albanischkompetenz Spiros gibt der Film keine detaillierte Auskunft, da sich der Sizilianer vorerst vor allem durch Schweigen auszeichnet und erst wirklich gesprächig wird, als er als Italiener geoutet wurde. Die Herrschaftsverhältnisse zwischen dem Italienischen und dem Albanischen, die in der faschistischen Ära etabliert wurden, erscheinen der diegetischen Abbildung nach wenig verändert. Sprachmittler sind stets Albaner, die für die Übersetzungen zuständig sind, und nur Albaner sprechen die Italiener in ihrer Sprache an, für die gegenteilige Richtung fehlt die Sprachkompetenz. Bis auf Mirëdita, den Wunsch eines guten Tages, bringen die italienischen Unternehmer kein albanisches Wort über die Lippen. Dieses wird auch in den italienischen Untertiteln des Films nicht im Original wiedergegeben, sondern nur als (in albanese) Buongiorno (0.07:18). Wie früher die koloniale Arroganz, so verhindert auch das gegenwärtige neokoloniale Überlegenheitsgefühl die Aneignung der Sprache der Beherrschten. Dem gegenüber zeigt der Film in seiner Schlussphase eine albanische Immigrantengruppe, die versucht, sich die für sie dominante italienische Sprache anzueignen und zu sichern, die das italienische Fernsehen schon seit Jahrzehnten nach Albanien übertragen hatte. Mit dem zuletzt erworbenen Vokabeln für Schiff und Meer, nämlich anie – nave und det – mare (1:38:10), bereiten sie sich sprachlich direkt auf die gefährliche Überfahrt vor. Die Rezipienten des Films haben allerdings keine Gelegenheit, die Bedeutung jener albanischen Äußerungen zu erfahren, die keine Übersetzung in der diegetischen Welt erhalten. Auch hier kommt die Politik der minimalen Untertitelung einer direkteren Wahrnehmung der dargestellten Geschehnisse aus der Perspektive der handelnden italienischen Protagonisten entgegen.

Im Amelios Le chiavi di casa begleitet Gianni seinen behinderten Sohn Paolo, den er durch 15 Jahre hindurch abgelehnt und nicht gesehen hatte, im Zug von Mailand nach Berlin, um ihn dort bei der Absolvierung seiner Therapien behilflich zu sein. In der Berliner Klinik trifft er auf die Französin

26 Im Zusammenhang mit diesen Beobachtungen ist Dalina Kallulli besonderer Dank auszusprechen, die mir dank ihrer Albanisch- und Linguistikkompetenz zahlreiche Hinweise zur Realisierung des Albanischen in Amelios Film geben konnte. Nicole, die eine noch schwerer behinderte Tochter zu betreuen hat und Gianni zu einem tieferen Verständnis für die erforderliche Präsenz verhilft. Um eine über Internet gefundene norwegische Brieffreundin Paolos treffen zu können, fahren Vater und Sohn im Auto nach Norwegen, wo die schwierige Annäherung der beiden definitiv gelingt. Da Amelio ein nahezu sprachloses Norwegen liefert, in dem es folglich auch keiner Sprachkenntnisse bedarf, sind die wichtigsten Herausforderungen der Mehrsprachigkeit in Deutschland zu bewältigen. Gianni spricht nur etwas Englisch und kann mit Nicole dank deren Italienerfahrung in italienischer Sprache kommunizieren. Das Nichtverstehen des Deutschen ist für ihn vor allem deswegen angstbesetzt, da er befürchtet, seinem Sohn im Eventualfall nicht helfen zu können. Paolo hingegen kommt mit seiner fehlenden Kompetenz sehr gut zurecht, spricht die Deutschsprachigen direkt und ohne Scheu an und macht sich sogar über die Verständnisprobleme seines Vaters lustig. Als der Taxilenker im Berliner Taxi sich mit der Frage Was ist mit dem Kind27 (0:12:50) an Gianni wendet, dieser nur mit einem Non capisco antworten kann, kommentiert Paolo diese Reaktion mit einem belustigenden Non capisce lui28 (0:12:55). Die Physikotherapie, bei der die Ärztin ungeachtet ihrer ethisch lauteren Absichten und ihres vermittelten Lobes für Paolos Anstrengungen eine bellende Kommandostimme entwickelt, ist für Gianni das eigentlich traumatische Erlebnis in Berlin. Er unterbricht die Physikotherapie seines Sohnes auch deswegen, weil er die deutsche Sprache nicht versteht, er sich auch mangels Sprachkompetenz völlig hilflos fühlt und ihm die Vorgänge so gesteigert bedrohlich erscheinen. In der Badewanne mit Paolo versuchen beide, die Erlebnisse zu bewältigen, indem Gianni mehr schlecht als recht die Kommandostimme der Ärztin imitiert und ein Links – recht – links -recht29 (0:57:02) von sich gibt. Sprachlich sehr interessant ist wiederum der Umstand, dass in Paolos Sprache in der Phase seiner emotionalsten Momente gegenüber seinem Vater erstmals deutliche regionale Markierungen auftreten, die auf seine sprachliche Sozialisation im von Mailand weit entfernten Rom verweisen, obwohl solche Merkmale im gesamten Film kaum wahrnehmbar waren. Mit einem so markierten Nun se fa ccosì30 (1:41:33) gelingt es ihm schließlich auch, den Vater von seinem emotionalen Ausbruch zu befreien, dessen filmische Darstellung bereits Gegenstand einer früheren Ausführung dieser Studie war.

In La stella che non c’è des Jahres 2006 hat sich Amelio nochmals den psychologischen Folgen des Nichtverstehens von Kommunikationshandlungen in fremder gesellschaftlicher Umgebung gestellt. Diesmal ist es allerdings das fernöstliche China, in dem ein italophoner Protagonist diese Erfahrungen sammeln muss. Es handelt sich um Vincenzo Buonavolontà, einen Facharbeiter, der nach dem Ankauf eines Hochofens durch eine chinesische Delegation nach Shanghai fliegt, um in China einen von ihm als gefährlich eingestuften Bestandteil zu ersetzen, der mitverkauft wurde. Aus ethischem Antrieb macht er sich dort mit Hilfe der in Italien im Rahmen der Delegation bekannt gewordenen Übersetzerin Liu Hua auf die Suche nach dem Hochofen. Die Suche führt die beiden nach Wuhan und am Jangtse nach Congquing, bevor die Suche in Baotou in der Inneren Mongolei fortgesetzt werden muss. Die sprachlichen Kulissen bleiben meist im Hintergrund und hinterlassen so keinen tieferen Einblick in die sprachliche Variation Chinas. Vincenzo, der auch etwas Englisch spricht, wird ohnedies nie in einer anderen Sprache Chinas als Mandarin angesprochen, auch wenn er dieses Idiom auf der gesamten Reise nicht verstehen kann. Einmal, als Liu eine Aggressionshandlung durch einen Chinesen

27 What’s the matter with the boy? 28 I don’t understand. – He doesn’t understand. 29 Left – right –left - right 30 That’s no way to behave. erleiden muss, der sie als Prostituierte diffamiert, weil sie sich mit dem Ausländer Vincenzo zeigt, wird eine südchinesische Variation des Mandarin anhand der Frikativrealisierung hörbar31 (0:56:10). Das Nichtverstehen des Mandarin bindet Vincenzo stärker an Liu, seine Aussprachefehler beim Nachsprechen führen zu belustigenden inhaltlichen Ergebnissen, doch auch er kann Liu in Fortsetzung eines in Italien entstandenen Grundkonflikts Fehler nachweisen, die wie die Verwendung von divorato (verschlungen) statt divorziato (ehelich geschieden) (0:41:06) wiederum zu seiner Rolle des sprachlich Kompetenteren zurückführt. Auf der Fahrt nach Baotou im Lastwagen erklärt ihm der Fahrer die Homophonie der Ortsbezeichnung Baotou mit bao tou (1:22:54), was die Handlung, ein Tuch um den Kopf zu wickeln, bedeutet. Diese Erklärung kann Vincenzo ebensowenig verstehen, wie jene Rezipienten des Films, die keine Mandarin-Kompetenz besitzen. Auch an dieser Stelle helfen keine Untertitel, die Inhalte zu vermitteln. Vincenzo behilft sich aber ersatzweise mit Gestik und Mimik und kann etwa mit Erfolg unter Einsatz von Fingern und Händen ikonisch Zahlen und einen Polster abbilden, der verständlich macht, dass er schlafen möchte (1:22:10 – 1:23:54). Die letzte entscheidende Annäherung an Liu Hua, die dann auch Amelios hoffnungsvolles Ende des Filmes ermöglicht, bleibt jedoch eine sprachliche: als Liu ihn auf Mandarin frägt, ob die Erfüllung seiner Mission, deren Scheitern nur das Publikum kennt, nicht zu schwer war, erhält sie die sie sichtlich berührende Antwort auf Italienisch:

Shi bu shi hen nan? – No, no. È andato tutto bene. Sono stato fortunato.32 (1:36:45)

Erstmals beweist Vincenzo, die notwendige Passivkompetenz erworben zu haben, um das auf Mandarin Mitgeteilte ohne Lius Übersetzungshilfe verstehen zu können. Die dadurch erreichte Annäherung wie gleichzeitige Emanzipation scheint eine hohe Wirkung erzielt zu haben, die als Vorgabe an mögliche Fortsetzungen der Story nach Ende des Plots deutbar bleibt. Die Untertitelung mit PARLA IN CINESE kann an dieser entscheidenden Stelle aber nicht mit der Verpflichtung des Publikums auf die Perspektive des Protagonisten begründet werden, da dieser die auf Mandarin formulierte Frage verstanden hat. Es bleiben allerdings Argumente für eine filmästhetische Begründung dieser Lösung.

Konklusion

Die obigen Analysen haben zeigen können, dass Gianni Amelio sowohl der internen als auch der externen Mehrsprachigkeit in seinen Filmen in sehr subtiler Weise Raum gegeben hat. Die Repräsentationen dieser Mehrsprachigkeit sind wiederholt auch als Ergebnisse der Interpretation einer möglichen Wahrnehmung durch die Protagonisten der diegetischen Welt interpretierbar. Die Fokussierung der Entwicklungen der in der Filmwelt Amelios handelnden Personen und das ausgeprägte Interesse an einer Präzisierung der Darstellung ihrer Gefühlswelt, dem die sensible Kameraarbeit des Regisseurs entgegenkommt, bedingt allerdings auch eine Verlagerung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf eine Hintergrundfunktion. Zentrale Bedeutung erhalten die Fragen der psychologischen Folgen des Nichtverstehens sowie des gesellschaftlichen Ausschlusses sprachlich nicht ausreichend kompetenter Personen in Konfigurationen der Mehrsprachigkeit. Das sprachbedingte Trennende und seine psychosozialen Folgen erreicht daher in jenen Filmen, die die

31 In diesem Zusammenhang danke ich Christian Leitner, der mir als Sinologe einige wertvolle Hinweise bei der gemeinsamen Analyse von Amelios Film geben konnte. 32 Wasn’t it too difficult? – No, no. Everything went well. I was lucky. externe Mehrsprachigkeit fokussieren, eine höhere Bedeutung als deren verbindende Funktionen wie neuen Chancen. Allerdings führt die Wahrnehmung der Fremde sowie der fremden Sprachen, die nicht angeeignet werden können oder wollen, immer zu einer deutlichen Annäherung an jene Kommunikationspartner, die gerade in der Fremde die eigene Sprache sprechen. Dies gilt in Lamerica vorerst für Gino und Fiore und dann für Gino und Spiro, in Le chiavi di casa für Gianni und Paolo und in La stella che non c’è auch für Vincenzo und Liu, obwohl das Italienische weiterhin Fremdsprachenstatus für Liu besitzt. Die Annäherung der Protagonisten in der sprachlichen Fremde führt allerdings auch zu einer immer stärker werdenden gegenseitigen Abhängigkeit, deren Folgen keiner kritischen Bearbeitung unterzogen werden. Das Zusammenführen von Protagonisten, die sich in einer gemeinsamen Abwehr einer globalisiert entleerten oder gar bedrohlichen Umgebung befinden, scheint erklärtes Ziel der Handlungsstrukturierung der meisten hier analysierten Filme zu sein. Die Personen bleiben damit zwar in gesellschaftshistorische Verhältnisse eingebettet, diesen werden aber wiederholt nur noch sehr blasse Kulissenzeichnungen zugewiesen. Die gesellschaftliche Einbindung der Handlungen hat damit jene Bedeutung verloren, die ihnen frühere neorealistische Arbeiten beigemessen haben. Allerdings haben die Analysen der internen Mehrsprachigkeit insbesondere in Porte aperte und Il ladro di bambini zeigen können, dass sich in den präzise dargestellten Sprachhandlungen der Protagonisten, die von code switching und sprachlichen Überlagerungen durch eine herrschende Sprache determiniert werden, auch eine deutlichere Abbildung ihrer gesellschaftlichen Implikationen manifestiert. In diesen Fällen ist, zumindest hinsichtlich der interpretierenden Darstellung der Sprachverhältnisse, weiterhin ein deutlicherer Einfluss neorealistischer Traditionen anzunehmen.

Gianni Amelios cineastische Feinarbeit, von der eingangs die Rede war, hat sich in seiner Aufarbeitung der Bewältigung interner und externer Mehrsprachigkeit nicht auf ihre verbalen Anteile beschränkt, sondern auch das Wirksamwerden der verschiedenen Ebenen der nonverbalen Kommunikation ins Bild gesetzt. Seine Neugierde für psychosoziale Steuerungsprozesse der menschlichen Annäherung hat den Regisseur verstärkt zu ganzheitlichen Darstellungsweisen verpflichten gewusst, für die kein Medium geeigneter scheint als der Film, der seine unterschiedlichen Repräsentationssysteme wiederum unterschiedlich vernetzen kann. Die Gesamtdarstellung von Kommunikationshandlungen hat den Filmemacher allerdings nicht daran gehindert, sich auch mit Detailfragen der verbalen Kodierung auseinanderzusetzen, die wie die Fragen der Entstehung von Mehrdeutigkeit und Missverständnis mit den jeweiligen Sprachsystemen in Verbindung gebracht werden muss. Auch diese vorwiegend linguistischen Fragen haben, wie in der Studie zu zeigen war, einen Platz in seinen Filmen gefunden. Die genannte Vielfalt der Interpretationsansätze in den Filmen Amelios hat die Durchführung der vorliegende Arbeit zwar nicht erleichtert, sie letztlich aber doch als ein Privileg erscheinen lassen: ein Privileg zur Auseinandersetzung mit einem der interessantesten Regisseure Italiens und einem der spannendsten Kapitel der jüngsten italienischen Filmgeschichte.

Filmographie

Amelio, Gianni (1990), Porte aperte. Italia: Erre Produzioni/Istituto Luce/Urania Film, 108 min,

(Istituto Luce). Amelio, Gianni (1992), Il ladro di bambini. Italia/Francia: Erre Produzioni/Arena Films, 112 min,

(DARC).

Amelio, Gianni (1994), Lamerica. Italia/Francia: Cecchi Gori Group Tiger/Arena Films, 114 min,

(Cecchi Gori Home Video).

Amelio, Gianni (2004), Le chiavi di casa. Italia/Germania/Francia: Achab Film/Rai Cinema/Pandora

Filmproduktion GmbH/Arena Films, 105 min, (01 Distribution).

Amelio, Gianni (2006), La stella che non c’è. Italia: Rai Cinema e Cattleya/Babe/Carac Films e

RTSI/Oak 3 Films, 104 min, (01 Distribution).

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