Tagelied , Slâfest du, vriedel ziere (MF 39,18)

»Slâfest du, friedel ziere? »Schläfst du, mein schöner Liebster? wan wecket uns leider schiere. Ach, man weckt uns schon; ein vogellîn sô wolgetân ein Vöglein, so wunderschön, daz ist der linden an daz zwî gegân.« ist auf einen Zweig der Linde geflogen.«

»Ich was vil sanfte entslâfen, »Ich habe so sanft geschlafen, nu rüefestu, kint, wâfen. nun rufst du, Kind: ›Steh auf!‹ lieb âne leit mac niht sîn. Freude ohne Leid kann nicht sein. swaz du gebiutest, daz leiste ich, mîn friundîn.« Was du verlangst, das tu ich, liebe Freundin.«

Diu frouwe begunde weinen: Die edle Frau begann zu weinen: »du rîtest hinnen und lâst mich eine. »Du reitest weg und lässt mich allein. wenne wilt du wider her zuo mir? Wann wirst du wieder zu mir kommen? owê, du füerest mîne fröide sant dir!« Ach, du nimmst meine Freude mit dir!«

Wolfram von Eschenbach, Sîne klâwen (MF 4,8)

»Sîne klâwen »Seine Klauen durh die wolken sint geslagen, haben die Wolken durchschlagen, er stîget ûf mit grôzer kraft. er steigt herauf mit großer Kraft. ich sih in grâwen Ich sehe ihn grauen, tægelîch als er wil tagen, den Tag verkündend bei seinem Kommen, den tac, der im geselleschaft der ihm das Zusammensein erwenden wil, dem werden man, nehmen will, ihm, dem edlen Mann, den ich mit sorgen în bî naht verliez. den ich mit Sorgen zur Nacht einließ. ich bringe in hinnen, ob ich kan. Ich bringe ihn fort von hier, wenn ich es kann. sîn vil manigiu tugent mich daz leisten hiez.« Seine große Macht hieß mich das tun.«

»Wahtær, du singest »Wächter, was du singst, daz mir manige fröide nimt nimmt mir viele Freuden und mêrt mîne klage. und mehrt mir mein Leid. mær du bringest, Nachricht bringst du, der mich leider niht gezimt, ach, die mir nicht willkommen ist, immer morgens gegen dem tage. immer morgens, wenn es Tag wird. diu solt du mir verswîgen gar. Du sollst sie mir nicht zu Ohren kommen lassen. daz gebiut ich den triuwen dîn. Das befehl ich dir bei deiner Treue. des lôn ich dir als ich getar, Das lohn ich dir, wie ich es kann, sô belîbet hie der geselle mîn.« dann bleibt mein Liebster hier.«

»Er muoz et hinnen »Er muss von hier fort, balde und ân sûmen sich: schnell und ohne Säumen: nu gib im urloup, suozez wîp. Nun lass ihn gehen, süße Frau. lâze in minnen Lass ihn später her nâch sô verholn dich, ganz im geheimen dich lieben,

14 daz er behalte êre unde den lîp. damit er Ansehn und Leben behält. er gab sich mîner triuwen alsô Er hat auf meine Treue so vertraut, daz ich in bræhte ouch wider dan. dass ich ihn auch wieder fortbringen möchte. ez ist nu tac: naht waz ez dô Es ist nun Tag: Nacht war es, als mit drucken an die bruste dîn kus mir in an dein Kuss und deine Umarmung ihn mir gewan.« anvertrauten.«

»Swaz dir gevalle, »Was immer dir behagen mag, wahtær, sinc, und lâ den hie, Wächter, sing, aber lass ihn hier, der minne brâht und minne enphienc. der Liebe brachte und Liebe empfing. von dînem schalle Von deinem Singen ist er und ich erschrocken ie. sind er und ich noch immer erschrocken. sô ninder der morgenstern ûf gienc Noch ehe der Morgenstern aufgegangen war ûf in, der her nâch minne ist komen, über ihm, der um der Liebe willen hergekommen noch ninder lûhte tages lieht, war, du hâst in dicke mir benomen und des Tages Licht noch nicht leuchtete, von blanken armen, und ûz herzen niht.« hast du ihn mir oft aus meinen weißen Armen genommen, aber aus dem Herzen nicht.«

Von den blicken, Von den Strahlen, die der tac het durh diu glas, die der Tag durch die Fenster warf, und dô wahtære warnen sanc, und dem warnenden Lied des Wächters si muose erschricken musste sie erschrecken durch den der dâ bî ir was. wegen ihm, der da bei ihr war. ir brustlîn an brust sie dwanc. Ihre zierlichen Brüste drückte sie an seine Brust. der rîter ellens niht vergaz Der Ritter vergaß nicht, dass er ein Mann war (des wold in wenden wahtærs dôn): (daran wollte ihn der Ruf des Wächters hindern): urloup nâh und nâher baz Der Abschied, nah und immer näher, mit kusse und anders gab in minne lôn. gab ihnen mit Küssen und anderem der Liebe Lohn.

Heinrich von Morungen, Owê sol aber mir jemer mê (MF 143,22)

Owê, - O weh, - sol aber mir iemer mê wird mir denn jemals wieder geliuhten dur die naht leuchten durch die Nacht noch wîzer danne ein snê weißer noch als Schnee ir lîp vil wol geslaht? ihr wunderschöner Leib? der trouc diu ougen mîn. Er täuschte meine Augen. ich wânde, ez solde sîn Ich glaubte, es wäre des liehten mânen schîn. des hellen Mondes Schein. dô tagte ez. Da brach der Tag an.

Owê, - O weh, - so aber er iemer mê wird er denn jemals wieder den morgen hie betagen, den Morgen hier erwarten, als uns diu naht engê, während uns die Nacht entflieht, daz wir niht durfen klagen: ohne dass wir zu klagen brauchen: 15 owê, nu ist ez tac, »O weh, nun ist es Tag«, als er mit klage pflac, wie er klagte, dô er jungest bî mir lac? als er zuletzt bei mir lag? dô tagte ez. Da brach der Tag an.

Owê, - O weh, - si kuste âne zal sie küsste mich in dem slâfe mich. unzählige Male im Schlaf. dô vielen hin zetal Da fielen hernieder ir trehene nider sich. ihre Tränen. iedoch getrôste ich sie, Doch ich tröstete sie, daz si ir weinen lie dass sie ihr Weinen ließ und mich alumbe vie. und mich in die Arme nahm. dô tagte ez. Da brach der Tag an.

Owê, - O weh, - daz er sô dicke sich dass er sich immer wieder bî mir ersehen hât! in mich verschaut hat! als er endahte mich, Als er mich aufdeckte, sô wolt er sunder wât wollte er meine Arme mîn arme schouwen blôz. unverhüllt und bloß sehen. ez was ein wunder grôz, Es war ein großes Wunder, daz in des nie verdrôz. dass er nie genug davon bekam. dô tagte ez. Da brach der Tag an.

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