Ausgabe 1/2019 Als PDF Pdf, 7.4 MB
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EINSICHTEN PERSPEKTIVEN Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte 1 19 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, Autorinnen und Autoren dieses Heftes das Jahr 2019 ist, etwas dramatisch formuliert, eine Art Schicksalsjahr Heinrich R. Eberhardt beschäftigt sich als Musik- für Europa: Unter anderem durch den bevorstehenden „Brexit“, starke lehrer und Chorleiter seit 1995 intensiv mit jüdischer nationalistische Bewegungen in einigen Mitgliedstaaten und gewach- Musik und Kultur. Er ist Herausgeber der deutsch- sene außen- und sicherheitspolitische Herausforderungen steht die sprachigen Ausgabe von „Semjon Shpungin: Vor und Europäische Union vor einer ernsthaften Zerreißprobe. Ein Schwer- nach der Flucht“, Berlin 2017, und ist mit Semjon punkt dieser Ausgabe von „Einsichten und Perspektiven“ beschäftigt Shpungin und dessen Familie befreundet. sich daher mit der Frage, welche Bedeutung der „neue Nationalismus“ für Europa hat: Neben dem eher grundsätzlich ausgerichteten Bei- Prof. Dr. Andreas Fahrmeir ist Inhaber der Profes- trag von Andreas Fahrmeir beleuchten Cecilia Mussini und Krzysztof sur für Neuere Geschichte unter besonderer Berück- Ruchniewicz dabei die Lage in Italien und Polen näher. sichtigung des 19. Jahrhunderts am Historischen Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Ein zweiter Schwerpunkt dreht sich um das Gedenken an die Früh- Frankfurt am Main. phase der ersten Demokratie in Deutschland vor 100 Jahren. In Remi- niszenz an das Datum „100 Jahre Revolution“ stellt Bernhard Sauer im Prof. Dr. Walter Mühlhausen ist Geschäftsführer zweiten Teil seines Beitrags über den sog. „Spartakusaufstand“ dar, wie und Vorstandsmitglied der Stiftung Reichspräsident- die Frage nach dem „richtigen“ Vorgehen in den einschlägigen zeitge- Friedrich-Ebert-Gedenkstätte (Heidelberg) und apl. nössischen Zeitungen diskutiert wurde. Den Kontrapunkt zu diesen Professor an der TU Darmstadt. Geschehnissen beschreibt Walter Mühlhausen, in dem er den Weg zur Verfassung der jungen deutschen Republik am sicheren „Gegen-Ort“ Dr. Cecilia Mussini ist Lehrbeauftragte am Institut zu Berlin, nämlich Weimar, vorstellt. für Italienische Philologie der LMU München sowie freie Autorin und Lektorin. Rupert Grübl, der seit 1. Januar der neue Direktor der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit ist, lässt seine ersten Tage Angela Nienierza, M.A., ist wissenschaftliche Mit- im Amt Revue passieren und erklärt, welche Ziele er sich in den nächs- arbeiterin am Institut für Kommunikationswissen- ten zehn Jahren vorgenommen hat. Angela Nienierza untersucht, wie schaften und Medienforschung der LMU sowie Aus- Jugendliche Extremismus in den sozialen Medien erkennen und wahr- landskoordinatorin des Instituts. nehmen. Finden Sie außerdem heraus, wen wir in der zweiten Ausgabe unseres historisch-biographischen Rätsels suchen. Prof. Dr. Krzysztof Ruchniewicz ist Historiker und Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutsch- Und noch ein ganz besonderes Highlight: Nora Krug, Autorin der land- und Europastudien der Universität Wroclaw/ großartigen Graphic Novel „Heimat“, erzählt im Gespräch mit der Polen sowie Lehrstuhlinhaber für Zeitgeschichte am E&P-Redaktion, wie sie in ihrer Wahlheimat New York mit ihrem selben Zentrum. Er ist außerdem Autor von mehre- deutschen Erbe umgeht, und ist überzeugt, dass „wir als Deutsche die ren Publikationen. Zuletzt: Schauplatz Geschichte. Verantwortung tragen, als Verfechter der Demokratie zum Wohl unse- Entdecken und verstehen in den deutsch-polnischen rer Gesellschaft“ beizutragen. Beziehungen, Berlin 2018. Die Redaktion Dr. Bernhard Sauer ist Historiker und hat mit einer Arbeit über die „Schwarze Reichswehr“ promoviert. Leserbriefe richten Sie bitte an folgende E-Mail-Adresse: landes- [email protected], Stichwort: Einsichten und Perspektiven. Prof. Dr. Rainer F. Schmidt ist Professor für Neu- Hier können Sie auch ein kostenloses Abonnement der Zeitschrift este Geschichte und Didaktik der Geschichte an der beziehen. Universität Würzburg. 2 Einsichten und Perspektiven 1 | 19 Inhalt Europa und der Nationalismus 4 von Andreas Fahrmeir Die nationalistische Rhetorik der italienischen Regierungskoalition zwischen Online- und Oine-Welt 12 von Cecilia Mussini Wie viel Nationalismus verträgt die Europäische Union? Im Fokus: Polen 20 von Krzysztof Ruchniewicz „Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess“ 26 Ein Interview mit Nora Krug über ihre Graphic Novel „Heimat“ Interview: Monika Franz Wer war es? 30 Ein historisch-biographisches Rätsel von Rainer F. Schmidt Der „Spartakusaufstand“ – die zweite Phase der proletarischen Revolution? 32 Teil 2: Das Ende des Spartakusaufstandes – eine historische Einordnung von Bernhard Sauer Die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 42 von Walter Mühlhausen Zwischen oenem Hass und geschickter Verführung. 54 Extremismus in sozialen Medien und wie Jugendliche ihn erkennen und wahrnehmen von Angela Nienierza Vor und nach der Flucht 64 Semjon Shpungins Erinnerungen an die deutsche Okkupation in Lettland, das Ghetto Daugavpils und sein Überleben danach von Heinrich R. Eberhardt Seit 60 Tagen im Amt: Rupert Grübl, der neue Direktor der Landeszentrale 76 Einsichten und Perspektiven 1 | 19 3 Europa und der Nationalismus Europa und der Nationalismus von Andreas Fahrmeir Eine historische Karte Europas aus dem Jahr 1828 Abbildung: IMAGNO/ Austrian Archives/ Süddeutsche Zeitung Photo 4 Einsichten und Perspektiven 1 | 19 Europa und der Nationalismus Nationalismus ist im heutigen Europa wieder aktuell. In einer ganzen Reihe von Ländern sind „rechtspopuläre“ Parteien im Aufwind oder an der Regierung. Ihr Geschichtsbild knüpft an klassische nationalistische Erzählungen an, und für die Gegenwart verfolgen sie das Ziel, die „Nation“ geschlossener, einheit- licher und von „Brüssel“ oder der „Globalisierung“ unabhängiger zu machen. Gleichzeitig ist der Zuschnitt einzelner Nationen erneut umstritten. Im Namen „nationaler Selbstbestimmung“ wird beispielsweise die staatliche Unabhän- gigkeit Schottlands oder Kataloniens gefordert. Handelt es sich dabei um die Rückkehr alter Muster, die zu den wichtigsten Hintergründen der zerstöreri- schen Kriege gehörten, die Europa im 20. Jahrhundert erlebte? Oder würde die Erfüllung nationaler Befreiungsträume in einem geeinten Europa gar schwe- lende Konflikte beseitigen, die ein friedliches Zusammenleben demokratischer Nationen erschweren? Werden „Vereinigte Staaten von Europa“ früher oder später eine „Nation Europa“ hervorbringen, oder ist Europa allenfalls als Föde- ration von „Nationen“ denkbar? Klarheit in Bezug auf diese Fragen zur Gegenwart kann ein historischer Überblick nicht bieten, aber er kann vielleicht dabei helfen, den Hintergrund aktueller Entwicklungen besser zu verstehen. Dabei sind drei emen besonders wichtig – und zugleich besonders umstritten. Erstens: Sind Nationen „neu“ oder „alt“, (relativ) kurzlebig oder ewig? Zweitens: Wie verhalten sich „Nationen“ zu Staa- ten? Und drittens: Wann werden nationale Trennlinien für wen besonders wichtig? Die Bedeutung der ersten Frage für die politische Ord- nung Europas ist oensichtlich. Wenn „Nationen“ ewige oder zumindest dauerhaft stabile Einheiten sind, kann Europa nicht gegen sie konstituiert werden. Wenn sie aber zu bestimmten Zeiten entstehen und ihre zentrale Bedeutung für das Selbstverständnis von Einzelnen und Gruppen auch wieder verlieren können, sind auch post- nationale Ordnungen möglich. Weil das so ist, ist keine Antwort auf die Frage völlig neutral. Nationalisten – also Menschen, die von einer überragenden Bedeutung der Aufteilung der Bevölkerung der Welt in Nationen ausgehen und der eigenen Nation einen besonderen Rang zuweisen – können kaum zuge- stehen, dass sie auch einer anderen oder gar keiner Nation angehören könnten, dass ihre Nation erst irgendwann Kampf für's Vaterland. Historische Illustration von 1892 entstanden ist und irgendwann vielleicht gar nicht mehr Abbildung: Ullstein Bild Einsichten und Perspektiven 1 | 19 5 Europa und der Nationalismus existiert. Wer dagegen den Annahmen des Nationalismus waren also wandelbar und konnten, in dem Maße, in skeptisch gegenüber steht, wird sich über jeden Beleg für dem die Unterschiede zwischen ihnen durch den mate- die Kurzlebigkeit nationaler Weltbilder freuen. riellen und intellektuellen Fortschritt abnahmen, in einer Es macht es nicht einfacher, dass die Bedeutung des gemeinsamen europäischen „Familie“ münden – so nahm Wortes „Nation“ ursprünglich sehr unbestimmt ist: eine Friedrich Schiller noch 1789 an.4 Gruppe von Menschen mit gewissen Gemeinsamkei- Es kam freilich anders. Eine wachsende Zahl von Beo- ten.1 Die als „national“ beschriebenen Gemeinsamkeiten bachtern sah in der Vielfalt europäischer Nationen nun können dabei ganz unterschiedlicher Art sein: Sprache, nicht mehr das Ergebnis historischer Entwicklungen, son- Abstammung, Aussehen, Religion, Gebräuche, Herkunft dern deren Ursache: Die Rivalität der „Völker“ habe Kriege aus einer bestimmten Gegend oder Zugehörigkeit zu und sogar Revolutionen hervorgebracht, und es war die einem Herrschaftsbereich. „Nationen“ können im Mittel- „Nation“, welche politische Herrschaft legitimierte und alter groß oder klein gedacht werden, also „Deutschland“, prägte. In dieser Wahrnehmung war es eine zentrale Auf- „Sachsen“ oder „Meißen“ zugeordnet sein. Im Laufe der gabe, Nationen voneinander abzugrenzen: zu ermitteln, Zeit wird es üblicher, als Nationen oder „Völker“ (das Wort was ihre ‚eigentliche‘ Sprache war, wer ihnen ‚eigentlich‘ wird im Deutschen lange synonym verwendet2)