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AGONIE IM HAUSE WINDSOR Seitensprünge und kleinliches Gezänk entzaubern die königliche Familie. Mit peinlichen Enthüllungen über seine Kindheit und seine Ehe brachte Prinz Charles Großbritanniens tausend Jahre alte Monarchie in Mißkredit. Selbst treue Royalisten halten den Thronfolger für eine Fehlbesetzung. Naht das Ende der Windsors?

enn der Lieblingsonkel den klei- nen Prinzen necken wollte, hielt Wer ihm gern ein äußerliches Merkmal vor, das später auch Karikatu- risten als ständige Herausforderung be- trachteten: „Mit deinen langen Ohren wirst du niemals König werden.“ Solch grobe Scherze, für empfindsa- me Kinderseelen schwer zu verwinden, waren üblich im Hause Windsor – auch aus dem Munde des letzten indischen Vize-Königs Earl Mountbatten. Diesen Haudegen und Aufschneider, der im Zweiten Weltkrieg das alliierte Ober- kommando in Südostasien führte, hatte der Knabe Charles weit mehr ins Herz geschlossen als seine königlichen Eltern und folglich zum „Großpapi ehrenhal- ber“ ernannt. Die Prophezeiung des Earl – er wurde 1979 von einem IRA-Kommando samt seinem Fischkutter in die Luft gesprengt – könnte sich schon bald erfüllen. Charles Mountbatten-Windsor, 45, Thronfolger der britischen Herrscherin Elizabeth II., 68, ist zu einem Unglücks- prinzen geworden, einer traurigen Ge- stalt, den die Rache seiner Frau und ei- genes Ungeschick vor seinen Unterta- nen der Lächerlichkeit preisgeben. Er fühle sich im Mittelpunkt einer „griechischen Tragödie, ohne Ausweg und Hoffnung“, offenbarte Charles ver- gangene Woche einer fassungslosen Öf- fentlichkeit seine düstere Seelenverfas- sung. So redet nicht ein künftiger Mon- arch, sondern eher ein Suizidgefährde- ter. Gepeinigt von Depressionen, aber auch voll weinerlichen Selbstmitleids fragte er sich und die Nation: „Wie konnte es geschehen, daß mit mir alles so schrecklich schiefging?“ Das Bekenntnis stürzte die fast tau- send Jahre alte Insel-Monarchie, 1066 von Wilhelm dem Eroberer gegründet, jählings in eine Krise, welche die Grundfesten der nach dem Vatikan dau- erhaftesten Institution der Welt erschüt- tert. Das Unvorstellbare scheint denkbar geworden – daß mit dem Trauerkloß Charles die erfolgreichste europäische

Monarchie ihrem Ende entgegentau- KEYSTONE meln könnte. Seit der Stuart Charles I. Charles bei der Investitur zum Prinzen von Wales 1969: Mittelpunkt einer Tragödie

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1649 vor dem Whitehall-Palast in Lon- grund der Seelenlage einer Nation, die Das jüngste Kapitel in der langen, don enthauptet wurde, ist keine Dyna- in ihrer viktorianischen Blütezeit ein selbstverschuldeten Agonie der Wind- stie von Bedeutung – Frankreich, Preu- Empire von der 150fachen Größe des sors begann am vorletzten Wochenen- ßen, Österreich-Ungarn, Rußland, Ita- Mutterlandes beherrschte. Das Haus de, als die Sunday Times den ersten lien, Spanien – ohne Blutvergießen, der Windsors, bis 1917 Sachsen-Coburg Auszug einer neuen, autorisierten Bio- Krieg oder Revolution untergegangen. und Gotha, stand einem Reich vor, graphie des Prince of Wales veröffent- Sollte dieser Charles, dem vorbe- „gewaltiger als alle Eroberungen der lichte. Es war der bisher schwerste, weil stimmt war, der Dritte zu werden, den Römer und Alexanders des Großen, vom Thronfolger selbstveranstaltete Thron verspielen – es geschähe nicht mit Dschingis-Khans, der Kalifen und Na- Anschlag auf die königliche Familie, einem Knall, sondern mit einem Win- poleons“, wie die Autoren Collins und und er erfolgte ausgerechnet zu jenem seln, womöglich in einer plebejischen Lapierre schreiben. Zeitpunkt, da die Queen zur histori- Volksabstimmung, wie sie vorige Wo- Gewiß, das Empire ging verloren, schen Staatsvisite ins Reich der Zaren- che der liberale Economist vorschlug. Britannien sank zur mittleren Macht mörder aufbrach (siehe Seite 151). Schuld daran ist „Palace Dallas“, die herab, das seine Partner in der Europäi- Das Charles-Buch zeichnet das Bild „königliche Seifenoper“, wie der knorri- schen Union durch kleinkariertes Insi- eines zutiefst unglücklichen Menschen, der von klein auf unter ei- nem gefühlsrohen Vater und einer entrückten, kal- ten Mutter zu leiden hat- te: Charles blickt auf ei- ne „wirklich unerfreuliche Kindheit“ zurück. Queen-Gemahl Prinz Philip, Herzog von Edin- burgh, der selbst unter zer- rütteten Verhältnissen auf- gewachsen war, hänselte seinen Ältesten mit Vorlie- be in Gegenwart anderer und brachte ihn durch hu- morige Betrachtungen sei- ner Pubertätspickel immer wieder zum Weinen. Dafür verachtete Philip ihn als Weichling und fühlte sich bemüßigt, seinen Erstgebo- renen ein „bore .12 ass- hole“, also ein großkalibri- ges Arschloch zu nennen. Als eine jener Efeusee- len, die sich immer irgend- wo anranken müssen, ging Charles im Hause Windsor allmählich ein. Er suchte Asyl in der Welt der Bü- cher, was ihn heute in die Lage versetzt, über Shake- speare, Michelangelo oder Mozart wie über Freunde zu sprechen.

I. JONES / GAMMA / STUDIO X Schwer litt Charles dar- Thronfolger Charles 1994: „Wie konnte alles so schiefgehen?“ unter, daß seine Schwester Anne so war, wie er selber ge Satiriker Malcolm Muggeridge die stieren auf seiner Souveränität nervt. nach dem Willen des Vaters hätte sein Show der Royals nannte. Ehekrisen und Aber fast alles andere blieb: „die Monar- sollen – selbstbewußt, lautmäulig, rabi- Seitensprünge, Skandale und Enthül- chie, die Aristokratie, das Oberhaus, Pri- at und reiterlich geübt, keinesfalls aber lungen setzten der Königsfamilie derart vatschulen, die Church of England, das intellektuellen Zielen zugewandt. Als nachhaltig zu, daß ihre Aura der Unan- Londoner Klubleben, der blutige Jagd- sich der Bub einmal an einigen Skizzen tastbarkeit zerstört ist. An den sexuellen sport“, lästert der Oxford-Historiker Jo- von Leonardo da Vinci begeisterte, die Fehltritten ihrer Hauptdarsteller droht nathan Clark. er in einer Kommode auf Schloß die „Firma“ (so bezeichnen sich die Die Verwerfungen des 20. Jahrhun- Windsor aufgestöbert hatte, wies die Royals selbst seit Georg VI., dem Vater derts mögen diesen Säulen britischer Tra- ganze Familie ihn zurecht: Er solle lie- von Elizabeth II.) moralisch bankrott zu dition die Daseinsberechtigung entzogen ber lernen, nicht immer vom Pferd zu gehen – ironisches Schicksal eines Un- haben, abgeschafft haben sie sie nicht. fallen. ternehmens, dessen Hauptaufgabe die Die Windsors boten ihren Untertanen ei- Da blieb dem jungen Kronprinzen eigene Reproduktion ist. nen zugleich prunkvollen und unterhalt- fürs Gefühl nur Miss Anderson. Die Die Faszination der Briten, ja selbst samen Ausgleich für ihre geschrumpfte war hager und hartgesichtig und schlug der königslosen Demokratien in aller Rolle und eine oft trostlose soziale Ge- Charles bei der kleinsten Verfehlung. Welt für das tragikomische Schauspiel genwart. Nun bröckelt die Monarchie „Ansonsten aber“, resümiert Biograph wird nur verständlich vor dem Hinter- doch, jeden Tag ein bißchen mehr. Jonathan Dimbleby, „war das Kinder-

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mädchen für ihn der einzige Hafen der sprächspartner gefunden. Der Sicherheit.“ naturverbundene Journalist Die Schulzeit im schottischen Internat ist Präsident des Rates für den Gordonstoun, wo drakonischer Grup- Schutz des ländlichen Eng- pendrill und kaltes Wasser persönliche land. Freunde schildern ihn Zuwendung ersetzten, empfand der jun- als „glücklich“, wenn er auf ge Prinz als elende Pein. „Es ist die Höl- seinem Hofgut Traktor fährt. le hier“, schrieb der 14jährige damals in Die Arbeiten an dem Fern- sein Tagebuch. „Um alles in der Welt, sehfilm mit Charles ließen ich möchte nach Hause.“ Die anderen Dimbleby und den Thronfol- Zöglinge der Eliteanstalt, in der schon ger eng zusammenrücken. Philip geschult worden war, malträtier- Der Autor begleitete ihn nach ten ihn auf dem Rugbyfeld wie bei Prü- Mexiko und Polen, an den geleien im Schlafsaal mit bübischer Golf und nach Australien, un- Grausamkeit: „Immer war ich das Ziel terbrochen durch lange Inter- ihrer Gemeinheiten.“ views auf seinem Landsitz Liegt es an dieser Vergangenheit, so Highgrove, dem bevorzugten begannen Britanniens Psychologen zu Rückzugsort des unglückli- chen Prinzen. Die Unterhaltungen am Von nun an ist Kaminfeuer galten den Lieb- jeder Monarch Freiwild lingsthemen des Thronfol- gers: Religion, Umwelt, Ar- für die Medien chitektur, den Streitkräften – und eben Charles’ Ehe. Dim- spekulieren, daß Charles geschlechtliche bleby war beeindruckt: „Ich Erfüllung offenbar nur bei der eher her- habe 200 Stunden mit diesem ben Mrs. Parker Bowles zu finden ver- Britischer Magazin-Titel Mann verbracht, und keine mag, die ihn womöglich an die einstige „Eine Idee, deren Zeit um ist“ von ihnen war langweilig.“ Gouvernante erinnerte? Der inZucht ge- Wohl möglich, daß Charles im nommene Charles wuchs nicht zu einem Wieder mal konnte es Philip nicht las- Gespräch mit dem Medien-Edlen zu reifen, sondern einem unsicheren, leicht sen, sich in die Lebensbelange seines vertrauensselig war – oder so verzweifelt neurotischen und verschrobenen Mann nunmehr 32jährigen Sohnes einzumi- an sich selbst, daß er die Gefahr, in die heran, der gern mit Blumen Zwiesprache schen. Er tat dies in seiner gewohnt har- er sich begab, gar nicht oder zu spät hält. schen Art und stellte Charles das Ulti- wahrnahm. „Von Amts wegen“, so be- Im Herbst des Jahres 1980 traf Charles matum, die Beziehung zu sofort schrieb der Guardian die Folgen, werde aufDiana. Die warhingerissen –offenbar abzubrechen oder sich zu verloben. Wie von nun an jeder Monarch Medien-Frei- aber weniger von dem Mann als vielmehr üblich unterwarf sich der Prinz dem Wil- wild sein, „bis hin zur Folter“. von der Vorstellung, ganz nach oben zu len des Papas. Intimstes gab Charles preis – münd- heiraten: „Wenn ich nur das Glück habe, Buchautor Dimbleby, der Charles be- lich und in Form von Notizen, die er Princess of Wales zu werden“, pflegte die reits vor vier Monaten in einem Fern- Dimbleby überließ. Besonders shocking 19jährige ihren Freunden vorzuschwär- sehfilm das öffentliche Geständnis ent- für die vor zwei Jahren verlassene Gat- men. Die hatten den Eindruck, berichtet lockte, er sei fremdgegangen, während tin und ihre zahllosen Fans in aller Welt: Dimbleby, „als würde sich Diana um die er noch mit Frau Di zusammenlebte, Er habe die „Prinzessin Superstar“ (die Rolle in einem Kostümfilm bewerben“. hatte einen geistesverwandten Ge- Frauenillustrierte Woman), die mehr REX FEATURES PA / DPA Charles, Freundin Camilla Parker Bowles, Diana-Titel: Aussicht auf fette Beute hat nun noch mehr Raubfische angelockt

146 DER SPIEGEL 43/1994 angestarrt und beschrieben wurde als zelgänger porträtierte. Daß das Werk traditionelle Sonntagszeitungen wie die Jackie Kennedy und Brigitte Bardot auf nur mit ihrer Hilfe verfaßt worden sein News of the World (NoW). Deren Chef- dem Höhepunkt ihrer Karrieren, „nie konnte, hat die Prinzessin nie bestritten. redakteur Piers Morgan, 29, will seine geliebt“ und die Ehe nie gewollt. Das Dimbleby-Buch, so hoffte Konkurrenten mit dem heißesten Kö- Selbst nach den strengen Regeln des Charles („Ich stehe zu jedem Wort und nigsklatsch ausstechen. römischen Eherechts wäre das ein bedauere nichts“), sollte nun sein trübes Ende Juli meldete das Blatt, daß die Grund, den Lebensbund für nichtig zu Image aufpolieren und gleichzeitig die Behandlungsprotokolle eines Diana- erklären. Die Gemeinschaft mit dem le- Befähigung zum Thronerben untermau- Psychotherapeuten gestohlen worden benslustigen und leichtfüßigen Jeans- ern. Eine „riskante Taktik“, meinte der seien. Am 21. August lautete die Mädchen Diana, das sich nur schwer ans britische Verfassungsexperte Lord St. Schlagzeile: „Di’s grillenhafte Telefon- strenge Hof-Zeremoniell gewöhnen John of Fawsley, aber nicht gänzlich oh- anrufe bei verheiratetem Tycoon“. Die konnte, wurde für den schwermütigen, ne Erfolgschancen: „Der Prinz hat seine Gespräche, von Dianas Telefon aus ge- fast 13 Jahre älteren Charles zunehmend Karten auf den Tisch gelegt und ein führt, gab es tatsächlich, und ebenso zum Leidensweg: „Ich fühlte mich in ei- enormes Maß an Seriosität bewiesen. Er den angerufenen Oliver Hoare, einen ner verzweifelten Situation, eingesperrt will, daß die Leute über den Menschen früheren Freund des Paares. in einer Sackgasse ohne Ausweg.“ Bescheid wissen, der letztlich Ober- Es dauerte nur eine Woche, und die Die schonungslose, bisweilen peinli- haupt ihres Staates werden wird.“ nächste NoW-Schlagzeile fetzte: „Di’s che und schwülstige Lebensbeichte er- Nun wissen sie’s – aber ganz anders, Major klagt: Ich bekam auch wilde An- regte die Nation. Denn der Ehekrieg im als der Prinz kalkuliert hatte. Zuspruch rufe.“ Morgan ließ enthüllen, daß Prin-

KÖNIG GEORG V. 1865-1936 Prinzessin Mary 1867-1953

KÖNIG KÖNIG GEORG VI. 1895-1952 VERBRAUCHTER CLAN EDUARD VIII. Lady Elizabeth Bowes-Lyon *1900 1894-1972 Stammbaum der Windsors 1936 abgedankt ALPHA

KÖNIGIN ELIZABETH II. *1926 Prinzessin Margaret *1930 Prinz Philip, Herzog von Edinburgh Antony, Earl of Snowdon, geschieden 1978 KEYSTONE GAMMA/STUDIO X SPORTSPHOTO AGENCY PA/DPA GAMMA/STUDIO X KEYSTONE SPORTSPHOTO AGENCY

Prinz Charles *1948 Prinzessin Anne *1950 Prinz Andrew *1960 Prinz Lady Diana Spencer Mark Phillips 1973 Sarah Ferguson Edward getrennt 1992 Timothy Laurence 1992 getrennt 1992 *1964

Peter Phillips Zara Phillips *1977 *1981

Prinz William Prinz Henry Prinzessin Beatrice Prinzessin Eugenie *1982 *1984 *1988 *1990

Haus Windsor sprengte diesmal eindeu- für seine Form der Öffentlichkeitsarbeit zessin Dianas Ex-Reitlehrer ein Ver- tig den Rahmen einer lustigen Operette. erfuhr Charles kaum. Daß er ausgerech- hältnis mit der Schutzbefohlenen pfleg- Mit einemmal ging es nicht mehr allein net mit seinen erbittertsten Jägern – den te. Und es war wieder Morgans Blatt, um Sex, Betrug und Intrigen, sondern Boulevardblättern und Massenmedien – das mit dem „royal exclusive“ über ei- um das Urteilsvermögen des Thronfol- einen „faustischen Pakt“ geschlossen nen Sicherheitsbeamten herauskam, der gers. War Charles, so fragten sich viele habe, kann sich der angesehene Kolum- Diana und Major James Hewitt beim Briten, noch recht bei Trost? nist Hugo Young nur so erklären: Geschlechtsverkehr hinter Büschen ge- Gewiß hatte er mit seinen Offenba- „Charles, ein armer Irrer.“ filmt haben will. rungen Sympathien in der Öffentlichkeit Der liberale Independent höhnte über Chefredakteur Morgan behauptet, zurückgewinnen wollen. Denn Diana, den frivolen Umgang des Queen-Spros- „total an die Monarchie zu glauben“. nicht Charles, gebührt nach Volkes Mei- ses mit seinen „Medien-Peinigern“: Skrupel hat er natürlich keine, obwohl nung die Rolle des Opfers. Man könne „die Haie nicht dadurch ver- er einräumt, daß ihn manchmal seine Für diese Einschätzung hatte bereits scheuchen, daß man immer wieder Blut Großmutter anruft: „Sie sagt dann: ein Buch des Di-Biographen Andrew ins Wasser gießt“. Heute morgen hast du wieder abstoßen- Morton gesorgt, das den Thronfolger In einen veritablen Blutrausch ver- den Mist gedruckt.“ vor zwei Jahren als treulosen Lebens- setzt haben die Eheprobleme des Für die Verteidiger der Monarchie partner und langweiligen Ehemann, als Thronfolgers die Londoner Boulevard- schließt sich mit NoW und der seriösen lausigen Vater und exzentrischen Ein- blätter Sun und Daily Mirror, aber auch Sunday Times ein Teufelskreis. Beide

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Millionenblätter gehören dem australo- amerikanischen Medienmogul Rupert Murdoch. Der konzentriere sich darauf, „die Monarchie in Mißkredit zu bringen und Britannien in eine Republik zu ver- „Charles will nicht“ wandeln“, argwöhnt der Publizist Aube- ron Waugh. Die Krise der britischen Monarchie / Von Neal Ascherson Murdoch mag die britische Aristokra- tie, die den Parvenü seine niedere Her- kunft spüren ließ, tatsächlich verab- Der Schotte Ascherson, 62, ist Ko- of Wales mit sich selbst nicht klar. scheuen. Aber er ist vor allem ein knall- lumnist der liberalen Londoner Sonn- Doch für Charles geht es bei der Frage harter Verleger. Er handelt nach jenem tagszeitung Independent on Sunday. „Sein oder nicht sein“ nicht um Selbst- Prinzip, das der Sachbuchautor Jeremy mord, sondern um den Bestand der Paxman so umreißt: „Das unerschütter- ie wird bereits als die längste Ab- Monarchie. Er will gar nicht König liche Gesetz des englischen Journalis- dankungserklärung der Geschich- werden. Aber er glaubt noch immer, mus lautet, daß sich nichts besser ver- Ste bezeichnet: die neue Biogra- es sei sein Schicksal, ja sein Martyri- kauft als Geschichten aus dem Königs- phie von Prinz Charles, verfaßt von um, den Windsor-Thron zu besteigen. haus.“ dem Journalisten Jonathan Dimbleby. Die britische Öffentlichkeit empfin- Die Aussicht auf fette Beute hat nun Der Thronfolger hat das Werk persön- det diesen Zustand als sehr irritierend. noch mehr Raubfische angelockt. Dem- lich mit seinem Imprimatur versehen, Die Briten haben seit jeher ein Herz nächst soll ein zweites Diana-Buch von er hat dem Autor private Korrespon- für Tiere. Sie können nicht mitanse- Morton erscheinen („Her new life“). denz und Teile seines Tagebuchs über- hen, wie sich hilflose Kreaturen in ei- Und die amerikanische Skandalbiogra- phin Kitty Kelley hat angekündigt, daß sie ebenfalls ins Geschäft mit den Wind- sors einzusteigen gedenke. Eine in Fragen höfischer Etikette kompetente Person, die Bestseller-Au- torin Barbara Cartland, 93, geißelte die Selbstentblößung des Gatten ihrer Stief- enkelin Diana als furchtbaren Fehler: „Nun benehmen sich die Royals wie ge- wöhnliche Leute. Das wollen wir nicht. Wenn wir sie zerstören, dann bleibt uns nur noch eine ziemlich langweilige und dumme Insel und sonst gar nichts.“ Ohne das Königshaus wäre London in der Tat ein trüberer Ort. „Man muß sich nur ansehen, was mit Wien passiert ist, seit die Habsburger gehen mußten. Was werfen wir alle weg für ein bißchen Ge- lächter?“ bangte Waugh. Wie er fürchten viele konservative Briten, daß die prinzlichen Enthüllun- gen mit ihrer oft unfreiwilligen Komik die Monarchie irreparabel entzaubern. Denn Mystik, weiß der Londoner PR- Experte Trevor Harris, war stets eines lassen. Es sind die Bekenntnisse eines ner Falle winden. In der Vergangen- der „wichtigsten Markenzeichen der kö- britischen Hamlet. heit liebte das Volk deshalb stets jene niglichen Familie. Je mehr ihre Angehö- Ist so ein Mann in der Lage, den fast Herrscher am meisten, die ihre Freude rigen jetzt öffentlich reden, desto eher tausend Jahre alten Thron zu bestei- über den Job nicht verhehlten. verschwinden sie.“ gen? Ein Mann, gepeinigt von Selbst- Der Lebemann Eduard VII. etwa, Die „Magie“, die der berühmte Ver- zweifeln; der vor seinen Untertanen der zu Beginn dieses Jahrhunderts re- fassungstheoretiker Walter Bagehot En- enthüllt, daß seine Eltern ihn unter- gierte: Er ließ nie einen Zweifel daran, drückten und in eine lieblose Ehe daß ihm soziale Probleme völlig gleich- drängten; der öffentlich Ehebruch ge- gültig waren. Er erfreute sich lieber an Dianas Beute: steht und von seinem eigenen Unglück Frauen, Wein und ausschweifenden 37 Millionen und ein besessen ist? Freßorgien. Das einfache Volk emp- Und wenn dieser Prince of Wales fand angesichts seines Verhaltens eine Haus in Frankreich nicht gekrönt werden wird: Naht dann dumpfe Befriedigung. Die Menschen eine Revolution – das Ende des Verei- hatten auf seine Ernennung zum König de vergangenen Jahrhunderts als unver- nigten Königreichs von Großbritan- keinerlei Einfluß gehabt. Und den- zichtbaren Bestandteil der Monarchie nien und Nordirland und der Beginn noch fühlten sie sich dadurch geehrt, beschrieb, wird verdrängt von allzu der britischen Republik? daß er seine Privilegien so schamlos Menschlichem. Das Mysterium der Wie der Prinz von Dänemark, der und völlerisch ausnutzte – so wie El- Monarchie, so Bagehot, sei zugleich ihr von seinen Eltern ebenso geplagt und tern sich freuen, wenn Kinder sich mit Lebenselixier: „Das Tageslicht darf seelisch verkrüppelt wurde, wie die dem Spielzeug vergnügen, das sie ih- nicht auf diesen Zauber fallen.“ Shakespeare-Figur kommt der Prince nen gegeben haben. Zwar ist Charles nicht der erste Kron- prinz in der Geschichte des britischen

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Herrscherhauses, der unter dem Vater- familie im Londoner Parlament, wurden Sohn-Konflikt seelisch leidet und sich in mißachtet. Könige und Königinnen hingegen, der langen Wartezeit vor der Thronbe- Der Labour-Abgeordnete Paul Flynn die sich in ihren Palästen und auf ihren steigung nutzlos vorkommt. Aber es ge- wagte es vergangenen Montag, am Ran- Luxusjachten nicht wohl fühlten, wa- hörte nie zur königlichen Tradition, im- de einer Unterhaus-Debatte über walisi- ren beim Volk unbeliebt, denn sie gal- pertinente Spekulationen in der Öffent- sche Wirtschaftsprobleme das Königs- ten als undankbar. Königin Viktoria lichkeit auch noch anzuheizen: Diese haus als „diskreditiert und im Sterben gebärdete sich gegen Ende ihrer lan- Premiere gebührt Charles, dem „Prin- begriffen“ zu bezeichnen. Statt eines gen Regentschaft als melancholische zen der Indiskretion“ (Independent). Entrüstungssturms erntete der aufsässi- Witwe, welche die Bürde der Krone In einem seltenen Medienauftritt ge Republikaner nur matten Wider- nur zum Wohl des Volkes trug. Sie schalt Prinz Philip seinen Sohn am vori- spruch von den Hinterbänken der kon- wurde äußerst unpopulär, antimonar- gen Montag für dessen unverzeihliche servativen Tory-Fraktion. chistische Gedanken verbreiteten sich Offenheit: Er selbst habe „private Din- Als bester Ausweg aus der schwelen- schnell im ganzen Land. ge noch nie öffentlich diskutiert, und ich den Krise und den geschäftsschädigen- Prinz Charles gesteht seinen Unter- glaube auch nicht, daß die Queen dies den Schlagzeilen erscheint vielen Kö- tanen, daß er Depressionen schon bei jemals getan hat“, sagte er im Daily Te- nigstreuen nun eine rasche Scheidung dem Gedanken bekomme, sie regieren legraph. des ehemaligen Traumpaares Charles zu müssen. Falls er tatsächlich glaubt, Um die Zukunft der Krone macht sich und Diana. Der Tory-Abgeordnete Pa- ihnen damit schmeicheln zu können, der Herzog indes keine Sorgen: „Etwas, trick Cormack: „Je früher es vorbei ist, hat er sich entsetzlich getäuscht. was sich schon tausend Jahre hält, kann desto besser.“ Vor wenigen Wochen Die Dimbleby-Biographie erscheint ja wohl so schlecht nicht sein.“ noch undenkbar, schaltete sich die Kö- nach drei Jahren praktisch endloser Enthüllungen über die unglücklichen Ehen der Königinkinder, über die kostspieligen Extravaganzen des kö- niglichen Haushalts, über die Seiten- sprünge von Charles und Diana. Aber das neue Buch wirft jenseits al- ler Pikanterien und Peinlichkeiten eine fundamentale Frage auf: Ist die Mon- archie stark genug, eine Nachfolgekri- se zu überleben? Wenn Charles nicht König wird, folgt dann nach dem Tod seiner Mutter sein heute zwölfjähriger Sohn William auf dem Thron? Oder ist die britische Monarchie durch all die Skandale der letzten Jahre schon so ge- schwächt, daß ein Nachfolgestreit sie endgültig zerstören würde? Wenn die Öffentlichkeit zu entschei- den hätte, müßte man sich um die Zu- kunft des Königshauses keine Sorgen machen. Eine Umfrage ergab vor kur- zem, daß zwei Drittel der Briten für

den Weiterbestand der Monarchie REX FEATURES sind. Windsor-Verwandte Charles, Mountbatten, Philip (1977): Freudlose Kindheit All die feindseligen Enthüllungen über die Royal Family, vor allem im Auch Premierminister John Major, nigin in die öffentliche Diskussion ein. Zeitungsimperium des Medientycoons laut ungeschriebener Verfassung zum Während ihres Rußland-Besuchs ließ Rupert Murdoch, haben nur begrenz- Schutz der Royals gegen öffentliche An- ihr Büro verlauten, der „Prinz und die ten Schaden angerichtet. Die meisten griffe verpflichtet, bemühte sich vergan- Prinzessin von Wales“ seien „frei, ihre Briten haben vor der Krone weitaus gene Woche um Beistand: „Keines- eigene Entscheidung zu fällen“ – höch- höheren Respekt als vor der Person, wegs“ sei die Krone in Gefahr, die Mon- ste Erlaubnis für eine Scheidung? die sie trägt. archie vielmehr nach wie vor „der Sogar die Anglikanische Kirche, de- Die große Mehrheit der Briten Grundpfeiler unseres nationalen Le- ren Oberhaupt Charles nach seiner möchte deshalb Prinz Charles trotz sei- bens“. Thronbesteigung würde, reagierte gelas- ner Unzulänglichkeiten als Nachfolger Sein Plädoyer half wenig. Selbst sen. Bischof John Taylor, ein enger seiner Mutter sehen, selbst nach einer Charles’ kaltem Alten ist klargeworden, geistlicher Vertrauter der Windsors, er- Scheidung. Aber auch wenn er ver- daß die Herrschaft der Windsors mögli- klärte, selbst eine abermalige Vermäh- zichten sollte – so wie schon 1936 Edu- cherweise nicht ewig währt. Zur Monar- lung würde Charles’ Erbansprüche ard VIII. –, würden die Briten keine chie gebe es eine „vollständig vernünfti- „nicht gefährden“. Gefahr für die Monarchie erkennen. ge Alternative – und zwar die Repu- Eine neue Presseveröffentlichung – Ein schwacher oder ungeeigneter blik“, räumte Philip vorige Woche eben- ausgerechnet beim ungeliebten Nach- Monarch, den sich niemand wünscht, falls ein. Es sei nicht so, als klammere barn Frankreich – schien die Gerüchte würde die Krone selbst nicht diskredi- „sich die Familie verzweifelt an eine zu bestätigen: Das Pariser Boulevard- tieren: Er wäre zwar ein Unglück, aber ganz bestimmte Situation“. blatt Voici berichtete, die Arrangements eben der Preis, den man für das Verer- Andere haben den Status quo bereits für eine Scheidung seien schon getrof- bungsprinzip aufbringen müßte. aufgegeben. Bislang sorgfältig gehütete fen. Danach erhalte Diana eine Abfin- Regeln, wie die Vermeidung kommen- dung von 15 Millionen Pfund (etwa 37 tierender Äußerungen über die Königs- Millionen Mark), dazu eine Wohnung in

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London, einen Landsitz in Frankreich oder England und ungehinderten Zu- gang zu den Söhnen William und Henry. Diana fühlt sich laut Voici im Famili- enverband der Windsors wie die „größte Hure der Welt“ sowie als „Gefangene von Wales“. Die Zitate stammten angeblich aus Druckfahnen des neuen Andrew-Mor- ton-Buches. Ein Voici-Journalist, der seine illegal besorgten Informationen an britische Zeitungen verkaufen wollte, wurde bei der Übergabe in einem Pari- ser Hotel festgenommen. In lange nicht mehr praktizierter Ein- tracht ließen der Kronprinz und seine entfremdete Gattin über ihre Anwälte ein rasches Dementi folgen: An Schei- dung sei nicht gedacht. Vor allem monarchistische Ultras hal- ten eine Scheidung nach wie vor für un- denkbar. Das bestätigt ihnen ein Blick zurück in die jüngere Geschichte: Schon Charles’ Großonkel, König Eduard VIII., mußte 1936 Jahren auf Druck der Regierung dem Thron entsagen. In naiver Verkennung seines Amts als Oberhaupt der Anglikanischen Kirche Herrscherin Viktoria, Familie*: Das Empire ging verloren hatte Eduard geglaubt, er könne die zweimal geschiedene Amerikanerin zeremoniellen Funktionen so erfolg- den in gewalttätigen Umstürzen zu Re- Wallis Simpson heiraten und sie oben- reich ausfüllen könnte wie Elizabeth II. publiken. Das so entstandene Machtva- drein zur Königin machen. Doch wäh- in den vergangenen 42 Jahren, ver- kuum schuf die Voraussetzung für den rend er als Prince of Wales noch gegen stummt republikanischer Eifer. Aufstieg Hitlers und Stalins. das königliche Protokoll rebellieren und Noch immer gilt die Monarchie auch In Großbritannien blieb dagegen auch seiner Neigung zu verheirateten älteren bei vielen ihrer Kritiker als Garant die de facto entmachtete Monarchie der Frauen nachgeben durfte, lösten die der ungeschriebenen Verfassung. Der Mittelpunkt im Selbstverständnis der Ehepläne des Gekrönten eine Staatskri- Schriftsteller George Orwell hat 1944 Nation. Faschistische und sonstige se aus. darauf hingewiesen, daß der Erste Welt- Heilsbewegungen hatten keine Chance, Churchill, später britischer krieg drei der vier großen Monarchien Britannien blieb geistig und im wesentli- Premier, schrieb ihm eine Abschiedsre- in Europa beseitigte: Deutschland, chen politisch intakt. de, deren Sentimentalität Eduard zu ei- Rußland und Österreich-Ungarn wur- Weder ein banaler Ehebruch noch die nem Mythos edlen Verzichts Affären leichtgewichtiger Königskinder machte – Vorbild für Charles? dürften deshalb die Monarchie, das voll- Zum Verzicht zwingen kann kommenste Symbol der Nation, zum ihn niemand, die Thronfolge läßt sich nicht aus Gründen politi- scher Opportunität außer Kraft Kalte Entmachtung setzen – dann geriete die Monar- für den chie als ein Symbol geschichtli- cher Kontinuität in wechselhaf- traurigen Thronfolger ten Zeiten erst recht in Gefahr. Charles allein hält den Schlüssel Einsturz bringen. Sollte die Sippe der in der Hand, nur er kann den Windsors ganz und gar unhaltbar wer- Weg freimachen für seinen älte- den, ließen sich womöglich Nachkom- sten Sohn William, 12, vom Volk men der Stuarts auftreiben, deren An- zärtlich „Wills“ gerufen. spruch auf den britischen Thron histo- Ganz gleich, wie Charles sich risch zu rechtfertigen wäre. entscheidet, egal, wie weit die Den Ansehens- und damit auch den Selbstzerstörung des Herrscher- Machtverlust, den das tolle Treiben der hauses fortgeschritten ist – noch Windsor-Brut hervorruft, bekommt immer kann sich kaum jemand derzeit nicht in erster Linie Elizabeth eine Republik Großbritannien II. zu spüren, sondern der Premiermi- mit einem Präsidenten an der nister, dessen Amt sich daraus legiti- Spitze vorstellen, selbst wenn miert, daß er die Krone im Parlament kecke Zeitungen wie der liberale vertritt. Guardian schon mal die Vor- Ohne deren übertragene Autorität und Nachteile prominenter Kan- könnte der britische Premier kaum so

didaten beleuchten. GAMMA / STUDIO X selbstherrlich regieren. Englands Exe- Bereits bei der Frage, ob ein Vater Charles, Erben Henry, William (1988) gewähltes Staatsoberhaupt die Zukunft gesichert? * Gemälde von 1846.

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kutive wird weder durch eine starke Op- res Sohnes könnte die Amtsinhaberin vom Ersten stellvertretenden Minister- position noch durch ein Verfassungsge- Elizabeth II. durchaus aktiv mitwirken. präsidenten Oleg Soskowetz begrüßt. richt kontrolliert. Bräche die Monarchie Die Rechnung, im Vereinigten König- Die britische Botschaft ist bemüht, zusammen, käme die britische Demo- reich gern aufgemacht, geht so: die Sache herunterzuspielen. Es hieß, kratie ohne geschriebene Verfassung Vielleicht erreicht die Queen, die sich Majestät mäßen der protokollarischen nicht aus, müßte das feudale Relikt des selbst die Konstitution eines Pferdes be- Panne keinerlei Bedeutung bei. Das ist House of Lords durch eine gewählte scheinigt, das biblische Alter ihrer Mut- gelogen. Die Berichterstatter, die da- zweite Kammer ersetzt werden. ter. Queen Mom ist mit 94 Jahren im- bei waren, haben ganz genau gesehen: Kein Wunder also, daß Major mit der mer noch überaus rege. The Queen was not amused. Queen über die Thronfolge reden möch- Dann wäre Charles schon über 70, Präsident Boris Jelzin hat ein biß- te und daß es vornehmlich prominente William hingegen wäre gerade 38 – ge- chen Potemkin gespielt. Wo der könig- Tories sind, die schon seit Jahren Zwei- nau das richtige Alter für die Krönung liche Rolls-Royce und die Motorrad- fel an Charles’ Eignung zum König an- als Nachfolger seiner Großmutter. Also eskorte vorbeikamen, waren schäbige melden. An der kalten Entmachtung ih- dann: Long live the Queen. Häuserfassaden eilig renoviert oder, wo das so schnell nicht ging, mit höl- zernen Sichtblenden verkleidet wor- den. Alle waren sich einig: Das Protokoll hat ordentliche Arbeit geleistet. Daß „Diese wunderbare, russische Gardesoldaten einen guten Parademarsch treten, war bekannt. Aber daß sie auch einen zackigen Ri- ver-Kwai-Marsch spielen können, der schöne Frau“ sogar Britenherzen zu erfreuen ver- mag, das hat man nicht gewußt. SPIEGEL-Reporter Erich Wiedemann über die Queen in Rußland Erstaunlich auch: An den sechs Kan- delabern im Georgssaal des Kreml brennen zum Empfang am Montag drawstwuitje, gospodin“, sagt der Die Verehrung der Russen für die abend sämtliche 2400 Glühbirnen. Kei- Prinz. „Sind Sie aus Moskau?“ Queen hat mit den gewachsenen Vorstel- ne geklaut, keine kaputt. Das ist eine S„Sie werden sehr überrascht sein, lungen von heiler Welt zu tun. „Sie ist so Perfektion, wie man sie in Moskau Hoheit, aber ich bin aus Orpington in würdig, und sie braucht nicht zu arbei- sonst nur in Joint-ventures mit Westfir- England“, sagt der Mann mit dem ten“, sagte eine Moskauer Rentnerin na- men findet. Spitzbart. Aber der Prinz ist gar nicht mens Jewgenija der Korrespondentin des Die Moskauer Medien gehen mit der überrascht. „Vorhin bin ich noch einer Londoner Independent. Früher in ihrem Queen ganz behutsam um. Kaum ein ganzen Horde aus Birmingham begeg- Betrieb hätten sie eine Aufseherin ge- Wort über die Affären und Ranküne net“, sagt er. Es sei wohl leichter, Bri- habt, die sie die Köni- ten in Moskau zu treffen als Moskowi- gin von England nann- ter. ten, weil sie nicht zu ar- Dabei hat Präsident Boris Jelzin es beiten brauchte. Daß wirklich gut gemeint. Er hat zum Be- nicht Arbeit adelt, son- such von Königin Elizabeth II. und dern eher das Gegen- Prinz Philip das Volk vom Roten Platz teil, war auch im Vater- entfernen lassen, in der offensichtlichen land der Werktätigen Annahme, daß einfache Leute für Kö- nie strittig. nigliche Hoheiten kein Umgang sind. Walerij Konstanti- „Die Absperrung hat nichts mit Si- now hat eine Zeitungs- cherheit zu tun“, sagt Walerij Konstan- karikatur in einer Klar- tinow, ein Seemann aus Rostow am sichthülle bei sich, die Don. Jelzin wolle sich nicht von De- auf Jelzins Zecherqua- monstranten die Show stehlen lassen. litäten anspielt. Sie „Diese wunderbare, schöne Frau tut zeigt eine genervte dem Trunkenbold zuviel Ehre an.“ Queen, die an die Walerij Konstantinow trägt das Kremlpforte klopft. schwarze Barett der christlichen Mon- An der Pforte hängt ein archiebewegung. Er findet es unzeitge- Schild: „Nicht stören,

mäß, daß zu dem großen Galadiner am Boris schläft.“ PA / DPA Dienstag abend kein einziger russischer Doch der Zeichner Staatsgast Elizabeth, Gastgeber Jelzin: Jubel, Hudel, Heiterkeit Monarchist geladen ist. Die Tageszei- tut Jelzin Unrecht. Der tung Sewodnja hat Anfang des Monats Präsident ist ein guter Gastgeber. Er am Hofe von St. James, die seit Wochen in einer Umfrage ermittelt, daß 18 Pro- ist pünktlich, charmant, durchaus kor- die Schlagzeilen der britischen Presse zent der Russen wieder einen Zaren rekt gekleidet. Er hat sogar die Lust beherrschen. Nur Jubel, Hudel, Heiter- haben möchten. Tendenz steigend. am Wodka ganz leidlich unter Kontrol- keit. Der devote Kammerton der Be- Jedoch, die britische Krone ist nicht le. richterstattung über den Empfang im ihr Ideal. Konstantinow sagt: „Sie Anders Ministerpräsident Wiktor Kreml erinnert an alte bolschewistische herrscht, aber sie übt keine Macht Tschernomyrdin. Er ist unangenehm Zeiten. aus.“ Nein, die konstitutionelle Monar- aufgefallen, weil er es ablehnte, seinen Wenigstens einen Hauch dieser Cour- chie, von der er träumt, wäre nur der Urlaub am Schwarzen Meer für den toisie würde sich die Queen wohl auch Einstieg in eine Art royalistischer Dik- Staatsbesuch zu unterbrechen. Die von dem „rat pack“ wünschen, der Rat- tatur. Staatsgäste wurden am Flughafen nur tenmeute der Londoner Klatschjourna-

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