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SWR2 Musikstunde

Musikalische Wirbel, Drehungen und Rundgänge (3) Recycling

Von Sabine Weber

Sendung: Mittwoch, 05. August 2015 9.05 – 10.00 Uhr

Redaktion: Ulla Zierau

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1 Musiktsunde mit Sabine Weber 05.08.2015

3. Recycling

Signet: SWR2 Musikstunde

MODERATION Heute und diese Woche: mit Sabine Weber!

Titelmusik kurz

MODERATION

Copy and paste, Sampler und Remix sind unsere Stichwörter. Oder: Plagiate und Wiederverwertung – Recyling ist jetzt angesagt. Und das Zurückführen von Musik in neue Kreisläufe hat über große Strecken gar keinen negativen Anklang. In der klassischen Musik ist schon immer gern wiederverwertet worden. Themen werden sogar ganz offiziell unter dem Namen des Urhebers aufgegriffen und bearbeitet. In dieser Musikstunde geht es unter anderem darum, wie durch Wiederverwertung neue Bedeutungszusammenhänge entstehen. Wie zum Beispiel damals in den 1950ern an einem trüben Samstagabend, wo man sich durch das Fernsehprogramm gezappt hat. Am Wetterbericht kleben bleibt. Die Stimmung noch trüber wird. Und dann eine kleine recycelte Musik das Herz höher schlagen lässt:

1 Länge: 0'31 Eurovisionsmelodie/Fernsehen

MODERATION

Die Eurovisionshymne kennen wir seit unserer Kindheit. 1950 ist die European Broadcast Union, kurz EBU gegründet worden, für besondere Übertragungen in Rundfunk und Fernsehen europaweit. Die erste EBU-Fernseh-Übertragung ist übrigens die Krönungszeremonie von Elizabeth II 1953 gewesen. Auch wenn die Fernseher-Dichte noch spärlich gewesen ist. Diese Fernsehübertragung macht die Sache der EBU mit einem Schlag populär. Und die EBU braucht sofort eine

2 Erkennungsmelodie. Sie schreibt einen Wettbewerb aus. Eine Jury wählt aus den von verschiedenen Ländern eingereichten Vorschlägen aus. Und das ist der Gewinner. Sie wissen es alle: Das Präludium zum des französischen Komponisten Marc-Antoine Charpentier. Am 6. Juni 1953 geht die EBU-Fanfare erstmals über den Äther. Sie kündigt die Übertragung des Narzissenfestes aus dem schweizerischen Montreux an. Populär wird die Eurovisionshymne dann nicht nur durch den Grand Prix d'Eurovision de la Chanson. Sie wird auch vor der Spielshow „Spiel ohne Grenzen!“ gesendet. „Wetten das ….? hat mal mit dieser Hymne begonnen oder „Einer wird gewinnen ….“ mit Hans-Joachim Kulenkampff.

Der Te Deum Hymnus, Basis der ursprünglichen Musikvorlage, ist seit jeher eine Vorlage für musikalische Erfolgsfeiern und Jubel gewesen. Allerdings weniger für Gewinner von Quizsendungen und Sympathisanten in Talkshows. Er wurde traditionell zur Feier neu gekrönter Häupter in Herrscherhäusern oder Siegesfeiern angestimmt. Mit Marc-Antoine Charpentiers Te Deum ist möglicherweise der ruhmreiche Sieg Ludwigs XIV. über Wilhelm von Oranien gefeiert worden. In der Schlacht von Steinkerke am 3. August 1692, also gestern vor 323 Jahren.

Und so klingt die Originalmusik. Das Präludium - Pauken und Trompetenstark - mit dem anschließenden Te Deum: „Dich, Gott, loben wir, dich, Herr, preisen wir. Dir, dem ewigen Vater, huldigt das Erdenrund! ....“

2 Länge: 1'53, 1'05, 4'00 (Kürzungen: 0'33/ 1'45/3'59) Marc Antoine Charpentier, Preludio, Te Deum laudamus, Te aeternum Patrem, Les Arts Florissants (Chorsolisten), William Christie (LTG)

MODERATION

Die Eurovisionsmelodie im selten zu hörenden Original. Wieder zurück recycelt. Zum Präludium mit anschließendem Te Deum von Marc Antoine Charpentier.

Zu Charpentiers und damit auch zu Johann Sebastian Bachs Zeiten gibt es noch kein Urheberrecht. Es ist gängige Praxis zu kopieren. Auch, um von Komponistenkollegen zu lernen! Als Antonio Vivaldi seine 12 Violinkonzerte unter

3 dem Titel L'Estro Armonico 1712/13 bei Estienne Roger in Amsterdam drucken lässt, ist die europäische Musikwelt längst hellhörig. Die wahrscheinlich schon viel früher komponierten Werke – es kursieren bereits händische Abschriften - sind Wunderwerke an Ideen- und Formenreichtum. Sie zünden ein Feuerwerk unter den Komponistenkollegen. Weitere Verleger versuchen sich an den Verkaufsschlager zu hängen und drucken nach. Walsh in London ist berüchtigt für seine Raubdrucke, aber auch der Verlag Le Clerc in zieht mit. Johann Sebastian Bach verfällt auf eine andere Idee. Nicht das Original will er besitzen. Er recycelt das Werk auf seinem eigenen Notenpapier. Er überträgt es für Orgel. Und studiert es in dieser Fassung. Die Italienische Mode ist am Weimarer Hof auch angesagt, wo Bach gerade beschäftigt ist. Die jubelnden beiden Sologeigen in der Vivaldischen Partitur turnen bei Bach auf der Tastatur. In dieser Aufnahme auf der Hildebrandt-Orgel der Naumburger St. Wenzelkirche. Gunther Rost spielt.

3 LC12424 OEHMS OC 642 Länge: 1'18, 0'32, 3'04 Concerto in d-moll RV 565/ BWV 596 bearb. Johann Sebastian Bach, Gunther Rost, Orgel

MODERATION

Vivaldische Geigenkunst durch Bachs Orgelbrille beschaut! Die Transkription von Antonio Vivaldis Concerto in d-moll Ryomeverzeichnis 565 von Johann Sebastian Bach. Zuletzt die Fuge aus Vivaldis Konzert. Gunther Rost hat sie in Bachs Fassung gespielt.

Wenn man an die abfällige Bemerkung von Igor Strawinsky denkt, Vivaldi hätte ein und dasselbe Violinkonzert einfach nur 400 Mal komponiert, dann dürfen wir uns fragen: Wieso hat der große Bach es nötig, Vivaldi zu plündern? Bach hält Vivaldis Violinkonzerte - deren Formkonzepte und Ideen - nicht nur eines Studiums für würdig, sondern infiltriert die Kunst in seinen Kosmos. Er kopiert sie. Vielleicht ist das sogar eine Verneigung vor dem Italiener? Denn er lernt entscheidendes auch für seine zukünftigen Konzerte. Heute hätte Bach jedenfalls Plagiatsprozesse am Hals.

4 Im nächsten Fall feilt und recycelt ein ganzes Jahrhundert. Als der große Geigenzauberkünstler Arcangelo Corelli aus Rom seine 12 Sonaten für Violine in seinem Opus 5 herausgibt, hält die Geigenwelt den Atem an. Im Januar des Jahres 1700 in Rom setzt Corelli einen Meilenstein. Ein neues Formverständnis stellt er in diesen Sonaten vor. Barocken Asymmetrien und bizarren und simplen Überraschungen erteilt er eine Absage. Die Sonaten sind symmetrisch, fast schon klassisch, ausgeglichen, und galant! Um das ästhetisch angestrebte Ebenmaß auch optisch zu unterstreichen, erscheint das Opus 5 in fein gearbeitetem Kupferstich. Dieser Kupferstich ist der Ausgangspunkt einer legalen und illegalen Nachdruckflut. Die Geigenwelt wird geschäftig. Über 50 zum großen Teil nicht autorisierte Neuauflagen erscheinen. Es entstehen Hunderte handschriftlicher Kopien, Arrangements, Bearbeitungen, Ornamentierungen.

Für heutige Interpreten sind gerade die Bearbeitungen eine Fundgrube für die damalige Aufführungspraxis. Da steht in den neu herausgegebenen Verzierungsausgaben ausgeschrieben, wie tatsächlich gespielt wurde. Francesco Geminiani, Giuseppe Tartini bearbeiten. Sogar für das Cembalo entstehen anonym herausgegebene handschriftliche Versionen. Sie legen die Philosophie der Verzierungstechnik im 18. Jahrhundert frei. Sogar in Traktaten tauchen verzierte Versionen einzelner Sätze als Lehrbeispiele auf. Aber wie wollte Corelli sie aufgeführt wissen?

In Amsterdam erscheint bereits 10 Jahre später, also 1710 ein Neudruck mit verzierten Adagios zu den ersten 6 Sonaten. Und der Verleger behauptet, sie stammen von Corelli. Hat Corelli auf die Flutwelle reagiert und richtig stellen wollen? Sofort wird diese Korrektur in London wieder nachgedruckt. Der große Geiger Joseph Joachim gibt diese verzierten Sonaten als Corellis geistiges Eigentum auch noch einmal im 19. Jahrhundert heraus. Corelli ist als Urheber dieser 1710- Verzierungen angezweifelt worden. War das etwa nur wieder eine Erfolgsmasche des Verlegers? Der Amsterdamer Drucker Estienne Rogers und Corelli stehen aber bis zu Corellis Tod 1713 in freundschaftlichem Kontakt. Corelli lässt auch sein nachfolgendes Opus 6 bei ihm in Amsterdam drucken. Der Geiger Enrico Gatti geht davon aus, dass die Verzierungen in dieser Auflage von Corelli autorisiert gewesen sind. Und Corelli habe mit diesen Verzierungen vielleicht an die Geigenamateure

5 gedacht. Die Profis können sich in den langsamen Sätzen im zweiten Dutzend versuchen. Das hat Enrico Gatti in seiner Aufnahme auch gemacht. Mit einer Ausnahme. Für das Largo in der 10. Sonate hat er auf eine handschriftliche Cembaloverzierung eines Manuskripts zurückgegriffen. (Das heute als Walsh Anonymous in der Musikbibliothek der Berkeley Universität verwahrt wird).

4 LC ARCANA A 423-2 Länge: 2'22; 0'36; 2'03 Arcangelo Corelli, Sarabande, Gavotta, Gigue aus der 10. Sonate aus Opus 5, Enrico Gatti, Violine, Gateano Nasillo, Violoncello, Guido Morini, Cembalo

MODERATION

Sarabande, Gavotta und Gigue aus der 10. Sonate für Violine und Basso continuo aus dem Opus 5 von Arcangelo Corelli.

Das Thema in der swr2 Musikstunde ist diese Woche Beständigkeit im ewigen Kreisen! Zurzeit die Beständigkeit in der Wiederverwendung und -verwertung. Kurz: Recycling. Corellis Opus 5 ist im Verlauf des 18. Jahrhunderts in allen europäischen Druckzentren legal und illegal nachgedruckt worden. In allen möglichen Versionen, Bearbeitungen und Ornamentierungen sind sie aufgeführt worden. Tantiemen hat Corelli dafür allerdings nicht erhalten. Mit dem Nachruhm hat er sich begnügen dürfen. Richard Strauss ist einer der ersten Komponisten, der natürlich auch im Eigeninteresse, ganz vehement auf ein entgeltliches Urheberrecht für Komponisten gepocht hat. Am 14. Januar 1903 gründet er die Genossenschaft Deutscher Tonsetzer, zu deren Vorsitzenden er gehört. Sie gründen wiederum einige Monate später (1. Juli 1903) eine Verwertungsgesellschaft (die Anstalt für musikalisches Aufführungsrecht). Eine direkte Vorläufergesellschaft der GEMA, die heute immer noch die Verwertung von Musik im Rundfunk, Fernsehen und Konzert kontrolliert.

Was es heißt, seine Urheberschaft verteidigen zu müssen, erfährt rund 80 Jahre nach Corelli der Klaviervirtuose Muzio Clementi. Das Thema aus dem 1. Satz seiner Klaviersonate B-dur op.24, 2 taucht 10 Jahre später als Hauptthema einer Fuge in

6 der Zauberflöten-Ouvertüre von Wolfgang Amadeus Mozart wieder auf. Und Clementi sieht sich gezwungen, beim Druck seiner Sonate – nach der Zauberflötenuraufführung - auf SEINE Urheberschaft hin zuweisen! Aber wie ist Mozart überhaupt darauf gekommen, sich Clementis Thema anzueignen?

Bei einem legendären Klavierwettbewerb im Jahr 1781 treffen Mozart und Clementi aufeinander. Kaiser Joseph II will mit 'seinen Wiener Klaviervirtuosen' vor den russischen Besuchern Zar Paul und seiner Frau Maria Feodorowna angeben. Das Hinterhältige daran, weder Mozart, der gerade von Salzburg nach Wien übergesiedelt ist, noch Clementi wissen, dass ein Gegenspieler mit von der Partie ist. Vor hochherrschaftlicher Kulisse treffen sie zusammen. Und man darf sich vorstellen, wie überrascht sie gewesen sein müssen, sich in diesem Theater als Gegner zu begegnen. Clementi, der älteren, darf zuerst. Und er spielt unter anderem diese Sonate:

5 LC 06618-ACCENT 67911 D Länge: 3'45 Muzio Clementi, Allegro aus der Sonate in B-dur op 24 Nr. 2, Jos van Immerseel, Klavier

MODERATION

Der erste Satz, das Allegro aus der Sonate in B-dur Opus 24 Nummer 2 von Muzio Clementi. Warum Mozart das Thema verwendet hat, darüber gibt er keine Auskunft. Jedoch über das, was er von der Klavierkunst Clementis hält. Nach dem Klavierduell vor dem habsburgischen Kaiser, das er unter anderem mit den Variationen über ein Kinderlied – A vous je dirai maman – für sich entschieden hat, schreibt er seinem Vater: „Clementi spielt gut Klavier. Ist virtuos. Aber das ist alles. Er hat keinen Geschmack und kein Gefühl. Auf dem Klavier ist er ein Mechaniker.“ Mozart war unerhört selbstbewusst. Vielleicht auch etwas überheblich! Sein Gedächtnis ist bekannter Maßen phänomenal gewesen. Er hat sich das Thema aus dem ersten Satz von Clementis Sonate mühelos merken können. Wollte er zwei Jahre später etwa zeigen, wie viel ein Mozart aus diesem Thema zu entfesseln

7 vermag? Mit einer pompösen Einleitung davor und dann zu einer Funkensprühenden Fuge verarbeitet?

6 LC0110 DG 00289 477 5800 Länge: 6'16 Wolfgang Amadeus Mozart, Ouvertüre Die Zauberflöte, Concerto Köln

MODERATION

Die Ouvertüre aus der Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart. Mit Concerto Köln!

1956 kommt der argentinische Komponist Mauricio Kagel nach Köln. 50 Jahre bleibt er dort. Und mischt die Neue Musikszene mit neuem Musiktheater auf. In seiner Aufführungspraxis arbeitet er mit clownesken Überraschungsmomenten. Ich denke an seine schrägen Märsche, um den Sieg zu verfehlen. Er ließ sie seinerzeit als Professor an der Musikhochschule in Köln, in der dortigen Tiefgarage aufführen. Kagels Stücke haben immer Aktionscharakter. Und spielen durchaus auch mit Pathos, wie seine im Bachjahr 1985 fertig gestellte klingende Bachbiografie. Sankt- Bach-Passion hat er sie überschrieben und ein wenig an dem Denkmal dieses Musikheiligen gerüttelt oder eher an dessen allzu ehrfürchtiger Verklärung. Kagel war selbst ein großer Bewunderer seiner Kunst. Und den sich selbst beweihräuchernden Musikbetrieb hat er in seinem Chorbuch ganz schön aufgescheucht. 53 Bachchoraltexte hat Kagel zwischen 1975 bis 78 in seine skurrile Klangsprache überführt. Kagel nennt sie „nicht-lineare Transpositionen“. Eine sehr spezielle Form des Recycelns. Die Mutation über mehrstimmige Choräle für Männerstimmen und obligates Klavier ist ein Pilotprojekt aus dem Jahr 1971.

7 WDRPROD Länge: 4'58 Mauricio Kagel, Mutation über mehrstimmige Choräle für Männerstimmen und obligates Klavier (1971), Kölner Rundfunkchor, Aloys Kontarsky, Klavier. Aufgenommen im Mai 1972

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Aber was macht der vor dem Tod zitternde Sünder, wenn es Gott gar nicht gibt? Mauricio Kagel profaniert Bach und stellt geistliche Musik als ästhetisches Phänomen zur Debatte. In diesem Klangtheater mit Texten, die Johann Sebastian Bach seinerzeit in seinen Choralbearbeitungen verwendet hat. Mutation über mehrstimmige Choräle für Männerstimmen und obligates Klavier hat Mauricio Kagel diese Komposition aus dem Jahr 1971 genannt. Hier in einer Aufnahme mit dem WDR Rundfunkchor Köln, Aloys Kontarsky, Klavier, der das a-moll Präludium aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier Teil 2 als Generalbass unterlegt hat.

Eine unterschwellig komische Note könnte man dieser singend-sprechenden parodierten Sünderschar abgewinnen. Kagel hat an der teilweise überverklärten Bachrezeption gekratzt. Für eingeschworene Bach-Anhänger sicherlich verstörend. Bachs damaliges Publikum in Leipzig hat aber vergleichbar verstört reagiert auf die Gottesdienste in der Thomaskirche, wo ein verschrobener Organist - Zitat: „in den Choral wunderliche Variationes … und viele frembde Thöne mit eingemischet, daß die Gemeinde darüber confundieret worden...“ (zit. N. Bach, Kagel und die Theologie des Atheismus von Clytus Gottwald aus Musik-Konzepte 50/51 1986, S.133)

Der Begriff der Parodie für die Wiederverwertung kompositorischen Materials in neuem Kontext ist alt. Heute versteht man unter der Parodie eine „komisch-satirische Umbildung oder Nachahmung“, so steht's im Duden.

Und dazu passt die nächste Musik, auf die ich durch einen Zeitungsartikel gekommen bin. Eine Berliner Lehrerin wird angezeigt, weil sie im Musikunterricht - 11. Klasse Oberstufe – eine Parodie auf das Horst-Wessel-Lied behandelt hat. Das Thema der Unterrichtseinheit ist musikalische Propaganda. Um zu verstehen, wie Bertolt Brecht und Hanns Eisler ein Kampf- und Hetz Lied der Nazis parodistisch zu entschärfen versuchen, hat die Lehrerin das Original nicht nur vorgestellt, sondern auch dazu marschieren lassen. Und wird angezeigt. Nach Paragraf 68a droht Geld- und Freiheitsstrafe dem, der Kennzeichen verbotener Parteien öffentlich verwendet. Und dazu zählt das Lied des SA Mannes Horst Wessel, die Hymne der NSDAP.

9 Parodiert wurde deren fanatischer Text bereits vor Brecht. Aus: Die Fahne hoch/ Die Reihen fest geschlossen/ wird beispielsweise: die Preise hoch/ die Läden dicht verschlossen. Am bekanntesten ist die Kälbermarsch-Parodie von Brecht, vertont von Eisler: Hinter der Trommel her/ trotten die Kälber/ Das Fell für die Trommel/ liefern sie selber. Und zur originalen Melodie dichtet Brecht um in: Der Metzger ruft/ Die Augen fest geschlossen/ … In den Tiefen des Archivs ist diese Aufnahme zu finden gewesen - mit Hanns Eisler höchstpersönlich. Und auch sein Blättern ist original...

8 LC 00055-AMIGA 74321501932 Länge: 2'21 Hanns Eisler, Kälbermarsch, Hanns Eisler, Gesang, Andre Asriel, Klavier (aufg. 1958)

MODERATION

Der Kälbermarsch gedichtet von Bertolt Brecht, vertont von Hanns Eisler und in dieser Aufnahme von 1958 auch von Eisler gesungen. Am verstimmten Klavier Andre Asriel. Mit dieser Parodie sollte das Horst-Wessellied, die Kampfhymne der NSDAP, verunglimpft werden.

Den umgekehrten Weg geht ein anderes Militärlied. Es LÖST im 15. Jahrhundert die berühmteste Wiederverwertungswelle aller Zeiten AUS. L'homme armé! Zu übersetzen mit „Der Geharnischte!“ - „Nehmt euch in Acht vor dem Geharnischten! Überall hat man ausrufen lassen, jeder möge sich gut wappnen mit einer Rüstung“.

9 LC5537 NAXOS 8.553087 Länge: 0'32 l'homme armé, Oxford Camerata, Jeremy Summerly (LTG)

10 MODERATION

Über diesem streitlustigen Lied sind in einem Jahrhundert, von der Mitte des 15. bis weit ins 16. Jahrhundert hinein, um die 40 geistliche Messen komponiert worden. Das Lied ist am burgundischen Hof entstanden. Und mit dem Geharnischten könnte der Herzog von Burgund gemeint sein. Einen Großteil seines Lebens hat Karl der Kühne mit Feldzügen verbracht. In der Schlacht hat er auch seinen Tod gefunden.

Damals wie heute sind territoriale Ansprüche als Kämpfe für den rechten Glauben ausgegeben worden. Mitte des 15. Jahrhunderts, als die Osmanen Konstantinopel erobern, ist der Mann in Waffen als Verteidiger des Okzidents gefragt. Oder ist mit dem Geharnischten Mann etwa die Bedrohung gemeint? Im frankoflämischen Einflussbereich wird das Lied vom Geharnischten jedenfalls zum cantus firmus zahlreicher Messzyklen. Die Melodie wird in lang gezogenen Notenwerten zum Gerüst für andere Stimmen. Wobei der cantus firmus, der feste Gesang, meistens im Tenor liegt. Auch in Guillaume Dufays vierstimmiger Missa l'homme armé. Hier das Kyrie daraus. Mit der Oxford Camerata unter der Leitung von Jeremy Summerly.

10 LC5537 NAXOS 8.553087 Länge: 4'52 Guillaume Dufay, Kyrie aus der Messe l'homme armé, Oxford Camerata, Jeremy Summerly (LTG)

MODERATION

Das Kyrie aus der Messe L'homme armé von Guillaume Dufay mit der Oxford Camerata unter Jeremy Summerly. Eine geistliche Musik schließt den Recyling-Kreis der heutigen swr2 Musikstunde. Morgen geht es zum Thema Kreise ziehen, um Kränze, die gewunden werden, im speziellen um den Rosenkranz und Kreistänze.

Ich würde mich freuen, wenn Sie am Radio wieder mit dabei sind. Und wünsche Ihnen noch einen schönen Morgen mit swr2 Ihre sw 11