SWR2 Musikstunde

SWR2 Musikstunde

SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Musikalische Wirbel, Drehungen und Rundgänge (3) Recycling Von Sabine Weber Sendung: Mittwoch, 05. August 2015 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 1 Musiktsunde mit Sabine Weber 05.08.2015 3. Recycling Signet: SWR2 Musikstunde MODERATION Heute und diese Woche: mit Sabine Weber! Titelmusik kurz MODERATION Copy and paste, Sampler und Remix sind unsere Stichwörter. Oder: Plagiate und Wiederverwertung – Recyling ist jetzt angesagt. Und das Zurückführen von Musik in neue Kreisläufe hat über große Strecken gar keinen negativen Anklang. In der klassischen Musik ist schon immer gern wiederverwertet worden. Themen werden sogar ganz offiziell unter dem Namen des Urhebers aufgegriffen und bearbeitet. In dieser Musikstunde geht es unter anderem darum, wie durch Wiederverwertung neue Bedeutungszusammenhänge entstehen. Wie zum Beispiel damals in den 1950ern an einem trüben Samstagabend, wo man sich durch das Fernsehprogramm gezappt hat. Am Wetterbericht kleben bleibt. Die Stimmung noch trüber wird. Und dann eine kleine recycelte Musik das Herz höher schlagen lässt: 1 Länge: 0'31 Eurovisionsmelodie/Fernsehen MODERATION Die Eurovisionshymne kennen wir seit unserer Kindheit. 1950 ist die European Broadcast Union, kurz EBU gegründet worden, für besondere Übertragungen in Rundfunk und Fernsehen europaweit. Die erste EBU-Fernseh-Übertragung ist übrigens die Krönungszeremonie von Elizabeth II 1953 gewesen. Auch wenn die Fernseher-Dichte noch spärlich gewesen ist. Diese Fernsehübertragung macht die Sache der EBU mit einem Schlag populär. Und die EBU braucht sofort eine 2 Erkennungsmelodie. Sie schreibt einen Wettbewerb aus. Eine Jury wählt aus den von verschiedenen Ländern eingereichten Vorschlägen aus. Und das ist der Gewinner. Sie wissen es alle: Das Präludium zum Te Deum des französischen Komponisten Marc-Antoine Charpentier. Am 6. Juni 1953 geht die EBU-Fanfare erstmals über den Äther. Sie kündigt die Übertragung des Narzissenfestes aus dem schweizerischen Montreux an. Populär wird die Eurovisionshymne dann nicht nur durch den Grand Prix d'Eurovision de la Chanson. Sie wird auch vor der Spielshow „Spiel ohne Grenzen!“ gesendet. „Wetten das ….? hat mal mit dieser Hymne begonnen oder „Einer wird gewinnen ….“ mit Hans-Joachim Kulenkampff. Der Te Deum Hymnus, Basis der ursprünglichen Musikvorlage, ist seit jeher eine Vorlage für musikalische Erfolgsfeiern und Jubel gewesen. Allerdings weniger für Gewinner von Quizsendungen und Sympathisanten in Talkshows. Er wurde traditionell zur Feier neu gekrönter Häupter in Herrscherhäusern oder Siegesfeiern angestimmt. Mit Marc-Antoine Charpentiers Te Deum ist möglicherweise der ruhmreiche Sieg Ludwigs XIV. über Wilhelm von Oranien gefeiert worden. In der Schlacht von Steinkerke am 3. August 1692, also gestern vor 323 Jahren. Und so klingt die Originalmusik. Das Präludium - Pauken und Trompetenstark - mit dem anschließenden Te Deum: „Dich, Gott, loben wir, dich, Herr, preisen wir. Dir, dem ewigen Vater, huldigt das Erdenrund! ....“ 2 Länge: 1'53, 1'05, 4'00 (Kürzungen: 0'33/ 1'45/3'59) Marc Antoine Charpentier, Preludio, Te Deum laudamus, Te aeternum Patrem, Les Arts Florissants (Chorsolisten), William Christie (LTG) MODERATION Die Eurovisionsmelodie im selten zu hörenden Original. Wieder zurück recycelt. Zum Präludium mit anschließendem Te Deum von Marc Antoine Charpentier. Zu Charpentiers und damit auch zu Johann Sebastian Bachs Zeiten gibt es noch kein Urheberrecht. Es ist gängige Praxis zu kopieren. Auch, um von Komponistenkollegen zu lernen! Als Antonio Vivaldi seine 12 Violinkonzerte unter 3 dem Titel L'Estro Armonico 1712/13 bei Estienne Roger in Amsterdam drucken lässt, ist die europäische Musikwelt längst hellhörig. Die wahrscheinlich schon viel früher komponierten Werke – es kursieren bereits händische Abschriften - sind Wunderwerke an Ideen- und Formenreichtum. Sie zünden ein Feuerwerk unter den Komponistenkollegen. Weitere Verleger versuchen sich an den Verkaufsschlager zu hängen und drucken nach. Walsh in London ist berüchtigt für seine Raubdrucke, aber auch der Verlag Le Clerc in Paris zieht mit. Johann Sebastian Bach verfällt auf eine andere Idee. Nicht das Original will er besitzen. Er recycelt das Werk auf seinem eigenen Notenpapier. Er überträgt es für Orgel. Und studiert es in dieser Fassung. Die Italienische Mode ist am Weimarer Hof auch angesagt, wo Bach gerade beschäftigt ist. Die jubelnden beiden Sologeigen in der Vivaldischen Partitur turnen bei Bach auf der Tastatur. In dieser Aufnahme auf der Hildebrandt-Orgel der Naumburger St. Wenzelkirche. Gunther Rost spielt. 3 LC12424 OEHMS OC 642 Länge: 1'18, 0'32, 3'04 Concerto in d-moll RV 565/ BWV 596 bearb. Johann Sebastian Bach, Gunther Rost, Orgel MODERATION Vivaldische Geigenkunst durch Bachs Orgelbrille beschaut! Die Transkription von Antonio Vivaldis Concerto in d-moll Ryomeverzeichnis 565 von Johann Sebastian Bach. Zuletzt die Fuge aus Vivaldis Konzert. Gunther Rost hat sie in Bachs Fassung gespielt. Wenn man an die abfällige Bemerkung von Igor Strawinsky denkt, Vivaldi hätte ein und dasselbe Violinkonzert einfach nur 400 Mal komponiert, dann dürfen wir uns fragen: Wieso hat der große Bach es nötig, Vivaldi zu plündern? Bach hält Vivaldis Violinkonzerte - deren Formkonzepte und Ideen - nicht nur eines Studiums für würdig, sondern infiltriert die Kunst in seinen Kosmos. Er kopiert sie. Vielleicht ist das sogar eine Verneigung vor dem Italiener? Denn er lernt entscheidendes auch für seine zukünftigen Konzerte. Heute hätte Bach jedenfalls Plagiatsprozesse am Hals. 4 Im nächsten Fall feilt und recycelt ein ganzes Jahrhundert. Als der große Geigenzauberkünstler Arcangelo Corelli aus Rom seine 12 Sonaten für Violine in seinem Opus 5 herausgibt, hält die Geigenwelt den Atem an. Im Januar des Jahres 1700 in Rom setzt Corelli einen Meilenstein. Ein neues Formverständnis stellt er in diesen Sonaten vor. Barocken Asymmetrien und bizarren und simplen Überraschungen erteilt er eine Absage. Die Sonaten sind symmetrisch, fast schon klassisch, ausgeglichen, und galant! Um das ästhetisch angestrebte Ebenmaß auch optisch zu unterstreichen, erscheint das Opus 5 in fein gearbeitetem Kupferstich. Dieser Kupferstich ist der Ausgangspunkt einer legalen und illegalen Nachdruckflut. Die Geigenwelt wird geschäftig. Über 50 zum großen Teil nicht autorisierte Neuauflagen erscheinen. Es entstehen Hunderte handschriftlicher Kopien, Arrangements, Bearbeitungen, Ornamentierungen. Für heutige Interpreten sind gerade die Bearbeitungen eine Fundgrube für die damalige Aufführungspraxis. Da steht in den neu herausgegebenen Verzierungsausgaben ausgeschrieben, wie tatsächlich gespielt wurde. Francesco Geminiani, Giuseppe Tartini bearbeiten. Sogar für das Cembalo entstehen anonym herausgegebene handschriftliche Versionen. Sie legen die Philosophie der Verzierungstechnik im 18. Jahrhundert frei. Sogar in Traktaten tauchen verzierte Versionen einzelner Sätze als Lehrbeispiele auf. Aber wie wollte Corelli sie aufgeführt wissen? In Amsterdam erscheint bereits 10 Jahre später, also 1710 ein Neudruck mit verzierten Adagios zu den ersten 6 Sonaten. Und der Verleger behauptet, sie stammen von Corelli. Hat Corelli auf die Flutwelle reagiert und richtig stellen wollen? Sofort wird diese Korrektur in London wieder nachgedruckt. Der große Geiger Joseph Joachim gibt diese verzierten Sonaten als Corellis geistiges Eigentum auch noch einmal im 19. Jahrhundert heraus. Corelli ist als Urheber dieser 1710- Verzierungen angezweifelt worden. War das etwa nur wieder eine Erfolgsmasche des Verlegers? Der Amsterdamer Drucker Estienne Rogers und Corelli stehen aber bis zu Corellis Tod 1713 in freundschaftlichem Kontakt. Corelli lässt auch sein nachfolgendes Opus 6 bei ihm in Amsterdam drucken. Der Geiger Enrico Gatti geht davon aus, dass die Verzierungen in dieser Auflage von Corelli autorisiert gewesen sind. Und Corelli habe mit diesen Verzierungen vielleicht an die Geigenamateure 5 gedacht. Die Profis können sich in den langsamen Sätzen im zweiten Dutzend versuchen. Das hat Enrico Gatti in seiner Aufnahme auch gemacht. Mit einer Ausnahme. Für das Largo in der 10. Sonate hat er auf eine handschriftliche Cembaloverzierung eines Manuskripts zurückgegriffen. (Das heute als Walsh Anonymous in der Musikbibliothek der Berkeley Universität verwahrt wird). 4 LC ARCANA A 423-2 Länge: 2'22; 0'36; 2'03 Arcangelo Corelli, Sarabande, Gavotta, Gigue aus der 10. Sonate aus Opus 5, Enrico Gatti, Violine, Gateano Nasillo, Violoncello, Guido Morini, Cembalo MODERATION Sarabande, Gavotta und Gigue aus der 10. Sonate für Violine und Basso continuo aus dem Opus 5 von Arcangelo Corelli. Das Thema in der swr2 Musikstunde ist diese Woche Beständigkeit im ewigen Kreisen!

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