DENKMAL FÜR DIE ERSTE HOMOSEXUELLE EMANZIPATIONS- BEWEGUNG

DENKMAL FÜR DIE ERSTE HOMOSEXUELLE EMANZIPATIONS- BEWEGUNG EINLEITUNG

Seit September 2017 steht am Magnus-Hirsch- Diese mutigen Personen haben durch Selbstorgani- feld-Ufer in -Mitte ein Denkmal aus sechs sation eine beispielhafte soziale und politische Be- überdimensional großen Calla-Lilien, die die Far- wegung geschaffen, um eine Veränderung des ge- ben der Regenbogenflagge tragen. Die Calla-Lilie sellschaftlichen Klimas zu bewirken und Rechte zu ist ein Symbol für die Vielfalt sexueller Identitäten in erkämpfen, die LSBTI* ein freies und offenes Leben der Natur: Sowohl männliche als auch weibliche Blü- ermöglichen. Das Denkmal soll die Pionier*innen die- ten sind gleichzeitig auf einer Pflanze vorhanden. ses noch immer andauernden Kampfes würdigen und Mit dem Argument, dass sexuelle Vielfalt etwas Na- heutige Generationen inspirieren, ihr Vermächtnis türliches ist, begann in Berlin etwa 70 Jahre vor den fortzuführen. Stonewall-Aufständen in der New Yorker Christopher Street erstmals eine Bewegung, die weltweit Antrieb In drei Kapiteln dokumentiert diese Broschüre die his- für die Emanzipation von Lesben, Schwulen, Bise- torischen Hintergründe, an die das Denkmal für die xuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen erste homosexuelle Emanzipationsbewegung erin- (LSBTI*) gab. Denn schon 1897 gründete sich hier das nert, sowie dessen über 25 Jahre andauernden Ent- Wissenschaftlich-humanitäre Komitee, das als erste stehungsprozess. Bürgerrechtsorganisation homosexueller und trans- geschlechtlicher Menschen das tat, was heute zum Tagesgeschäft der meisten LSBTI*-Vereine gehört: Beratung, Aufklärung und Lobbyarbeit. Die Berliner Aktivist*innen um den Arzt und Sexualwissenschaft- ler Dr. setzten sich beispielswei- se dafür ein, antihomosexuelle Strafgesetze wie den § 175 des Reichsstrafgesetzbuches abzuschaffen – dies wäre ihnen auch fast gelungen, wären nicht die Nazis an die Macht gekommen.

4 INHALT

KAPITEL 1 Die Institutionen der ersten homosexuellen Emanzipationsbewegung Seite 6 Von Berlin gingen wichtige Impulse für die homosexuelle Emanzipationsbewegung aus: Hier hat- te Dr. Magnus Hirschfeld bereits 1897 das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee gegründet, das als erste Bürgerrechtsorganisation homosexueller und transgeschlechtlicher Menschen in die Geschichte einging, und hier schuf Hirschfeld mit dem 1919 eröffneten Institut für Sexualwissen- schaft auch die erste Selbsthilfeeinrichtung für LSBTI*.

KAPITEL 2 Die Strategien des Wissenschaftlich-humanitären Komitees Seite 15 Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) und sein Initiator Dr. Magnus Hirschfeld ver- körperten einen neuen Ansatz politischer und sozialer Reformbestrebungen. Der Einsatz des WhK gegen die Kriminalisierung und Stigmatisierung Homosexueller in Deutschland verband medienwirksamen Aktivismus mit moderner Wissenschaft. Die Erfolge dieser Strategie waren eng mit dem kulturellen Klima im deutschen Bürgertum der Jahrhundertwende verknüpft und konnten sich auf die Zusammenarbeit mit anderen Emanzipationsbewegungen stützen.

KAPITEL 3 Die Entstehung des Denkmals für die erste homosexuelle Emanzipationsbewegung Seite 24 Als am 7. September 2017 in Berlin mit einem großen Festakt das Denkmal für die erste ho- mosexuelle Emanzipationsbewegung der Öffentlichkeit übergeben wurde, hatte dieses erin- nernde Kunstwerk bereits seine eigene Bewegungsgeschichte geschrieben. Seit Mitte der 1990er Jahre arbeitete der Initiator des Projektes, der Lesben- und Schwulenverband Ber- lin-Brandenburg, an dessen Umsetzung.

5 KAPITEL 1

Die Institutionen der ersten homosexuellen Emanzipationsbewegung

6 Die Institutionen der ersten homosexuellen Emanzipationsbewegung

Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee und sei- ne Initiativen zur Abschaffung des § 175

Die erste homosexuelle Emanzipationsbewegung be- ginnt 1897 mit der Gründung des Wissenschaftlich-hu- manitären Komitees (WhK). Der jüdische Arzt und Se- xualwissenschaftler Dr. Magnus Hirschfeld (1868-1935) war Initiator und maßgeblicher Vertreter dieser Bewe- gung. Zu den ersten Initiativen des WhK gehörte eine Petition zur Abschaffung des § 175 des Reichsstrafge- setzbuches, der die „widernatürliche Unzucht [...] zwi- schen Personen männlichen Geschlechts“ unter Ge- fängnisstrafe stellte. Die Petition wurde von mehr als 2.000 Vertreter*innen aus Politik, Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft unterschrieben und bis 1904 mehrfach in Reichstag und Bundesrat eingebracht.

Nach dem Misserfolg dieser ersten Petition versuchte das WhK, die breite Masse der Bevölkerung mit einer Aufklärungskampagne zu überzeugen. Die 1901 ver- öffentlichte Broschüre „Was muss das Volk vom drit- ten Geschlecht wissen!“ stützte sich argumentativ auf Hirschfelds Theorie der „sexuellen Zwischenstufen“. Hirschfeld vertrat die Meinung, dass zwischen den bei- den Polen des Mannes ohne weibliche und der Frau ohne männliche Eigenschaften „intersexuelle Varian- Dr. Magnus Hirschfeld, um 1930 © Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e. V., Berlin

7 Die Institutionen der ersten homosexuellen Emanzipationsbewegung

ten“ existierten, zu denen er unter anderen Homose- fung des § 175 gemacht, so war davon keine Rede xuelle, „Hermaphroditen“, „Androgyne“ und „Trans- mehr. In dem 1909 vom Reichsjustizamt vorgeleg- vestiten“ zählte. Er ging davon aus, dass alle diese ten Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch war sogar Varianten angeboren seien und somit auch nicht dem eine Verschärfung des § 175 und seine Ausdehnung freien Willen unterlägen. Eine strafrechtliche Verfol- auf Frauen vorgesehen. Zur Strafrechtsreform kam es gung verbiete sich deswegen. angesichts des heraufziehenden Ersten Weltkrieges jedoch nicht mehr. Dem WhK gelang es mit seiner Aufklärungsarbeit, Ver- ständnis für Homosexuelle zu wecken und einen Teil Trotz des Aufblühens der Homosexuellenbewegung der Öffentlichkeit für eine Abschaffung des § 175 zu seit Gründung der Weimarer Republik 1919 waren gewinnen. Als jedoch 1907 im Zuge der Eulenburg-Af- die politischen Perspektiven für eine Abschaffung des färe ein Kreis engster Berater des Kaisers der Homo- § 175 auch in den 1920er Jahren nicht besonders gut. sexualität beschuldigt wurde und Hirschfeld in den 1925 und 1927 legte die konservative Reichsregierung folgenden Gerichtsverfahren die sexuelle Veranlagung zwei Entwürfe zur Reform des Strafgesetzbuches vor der Beschuldigten als Sachverständiger begutach- – und abermals war darin keine Aufhebung, sondern ten musste, kippte die Stimmung. Kaiser Wilhelm II. sogar eine Verschärfung der Strafverfolgung Homose- (1859-1941) entließ seine Berater und die Presse sah xueller vorgesehen. Demnach sollte zusätzlich zu ei- in Hirschfeld und dem WhK den „Quell all der schmut- nem neuen § 296, der sich mit dem alten § 175 deck- zigen Verleumdungen der letzten Monate“1. te und diesen ersetzten sollte, der § 297 geschaffen werden. Der geplante § 297 sah vor, sogenannte qua- Die Eulenburg-Affäre war ein herber Rückschlag im lifizierte Fälle wie homosexuelle Prostitution, Sex mit Kampf gegen die Kriminalisierung und Stigmatisie- männlichen Jugendlichen unter 21 Jahren sowie Miss- rung Homosexueller. Die homosexuellenfeindlichen brauch von Männern unter Ausnutzung eines Dienst- Kräfte hatten nun Oberwasser. Hatte der preußische und Arbeitsverhältnisses künftig härter zu bestrafen. Justiz-Staatssekretär Arnold Nieberding (1838-1912) Für diesen neuen Tatbestand sollten nicht mehr nur Hirschfeld 1897 noch Hoffnungen auf eine Abschaf- beischlafähnliche Handlungen relevant sein, sondern

1 Kommentar in der Berliner National-Zeitung vom 11.11.1907, zit. nach Herzer, M. (1992): Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexolo- gen. Frankfurt am Main: Campus-Verlag, S. 74.

8 auch andere Formen der homosexuellen Betätigung So knapp die Mehrheit im Ausschuss gewesen war, wie beispielsweise gegenseitige Masturbation. so unsicher war sie. Ihre Gegner*innen, insbesondere die Nationalsozialisten, gewannen zunehmend an Ein- Der repressive Gesetzentwurf führte dazu, dass das fluss. Das NSDAP-Parteiorgan Völkischer Beobachter WhK in die Offensive ging und ein breites Bündnis für kommentierte die Entscheidung zynisch: „Wir gratu- eine Strafrechtsreform schmiedete. Dieses „Kartell lieren zu diesem Erfolg, Herr Kahl und Herr Hirsch- für Reform des Sexualstrafrechts“ bestand aus so un- feld. Aber glauben Sie ja nicht, daß wir Deutschen sol- terschiedlichen Organisationen wie dem Deutschen che Gesetze auch nur einen Tag gelten lassen, wenn Bund für Mutterschutz und Sexualreform und dem Ver- wir zur Macht gelangt sein werden.“2 band Eherechtsreform und zielte darauf, das gesamte Sexualstrafrecht zu modernisieren, die Abschaffung Hirschfeld war für die Nazis die Inkarnation aller „bos- des § 175 inbegriffen. Das Bündnis entfaltete eine haften Triebe der Judenseele“3. Regelmäßig hetzte umfassende Lobbyarbeit. Mit Erfolg: Im Oktober 1929 der Völkische Beobachter gegen die Aufklärungsar- kam es im Strafrechtsausschuss des Reichstages zur beit des WhK. Schon 1920 war Hirschfeld nach einem entscheidenden Verhandlung, bei der die Einführung Vortrag in München von Rechtsradikalen angegriffen des § 296 mit denkbar knapper Mehrheit von 15 ge- und schwer verletzt worden. Der junge Adolf Hitler gen 13 Stimmen abgelehnt wurde. Gleichzeitig wur- (1989-1945) soll den Angriff mit den Worten gerecht- de aber mit übergroßer Mehrheit die Einführung des fertigt haben: „Wäre ich hier in München gewesen, § 297 beschlossen. Im neuen Strafgesetzbuch sollte so hätte ich ihm einige Ohrfeigen gegeben, denn das, die „Unzucht“ zwischen zwei erwachsenen Männern was dieser alte Schweinejude feilbietet, bedeutet ge- also nicht mehr bestraft werden. Ausschlaggebend meinste Verhöhnung des Volkes.“4 waren neben den Stimmen von DDP (Deutsche De- mokratische Partei), SPD und KPD (Kommunistische Im März 1930 nahm der Interparlamentarische Aus- Partei Deutschlands) die des nationalliberalen Aus- schuss für die Rechtsangleichung des Strafrechts schussvorsitzenden Wilhelm Kahl (1849-1932) von der zwischen Deutschland und Österreich mit 23 gegen 21 DVP (Deutsche Volkspartei). Stimmen den § 296 schließlich wieder in das Reform-

2 Völkischer Beobachter vom 2.8.1930, zit. nach Schoppmann, C. (1997): Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität (2., überarb. Aufl.). Pfaffenweiler: Centaurus, S. 15. 3 ebd. 4 zit. nach Zinn, A. (2018): Aus dem Volkskörper entfernt?. Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus. Frankfurt, New York: Campus Verlag, S. 243. 9 Die Institutionen der ersten homosexuellen Emanzipationsbewegung

Kostümfest im Institut für Sexualwissenschaft, 1920 © Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e. V., Berlin

10 paket auf. Zu einer Abstimmung im Reichstags- den 8. Juni 1933 lud das WhK zu den zwei letzten Mit- plenum kam es infolge von Wirtschaftskrise und Not- gliederversammlungen, um über Auflösung und Ver- verordnungskabinetten nicht mehr. Der alte § 175 wendung des Vereinsvermögens zu beschließen. Zu blieb unverändert bestehen. diesem Zeitpunkt hatten einige WhK-Mitglieder, so z. B. Hirschfeld, Deutschland bereits verlassen. Oder Es war klar, dass die Machtübernahme der National- sie waren bereits verhaftet worden, wie Kurt Hiller sozialisten auch für das WhK das Ende brachte. Für (1885-1972), stellvertretender Vorsitzender des WhK, der am 23. März 1933 festgenommen und ins KZ Ora- nienburg verschleppt wurde.

Das Institut für Sexualwissenschaft

1919 gründete Hirschfeld das Institut für Sexualwis- senschaft (IfS), das schnell weltweite Anerkennung gewann. Für das Institut kaufte Hirschfeld das Haus an der Ecke In den Zelten 10 und Beethovenstraße 3.

Regelmäßige Vorträge, Kurse und Beratungen über sexuelle Probleme gehörten ebenso zur Arbeit des IfS wie der Versuch einer internationalen Vernetzung der Sexualwissenschaft. Das IfS war international bald so bekannt, dass unter Berufung auf seine Forschungs- ergebnisse die Sexualstrafgesetze der Sowjetunion, Norwegens und der Tschechoslowakei gelockert wur- den. 1921 veranstaltete das IfS die 1. Internationa- Institut für Sexualwissenschaft, 1928 © bpk/Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer/Willy Römer le Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaft-

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In erster Linie war das Institut eine ambulante Ein- richtung zur Beratung bei Sexualproblemen und zur Untersuchung, Begutachtung und Behandlung sämt- licher „Sexualstörungen“. Nicht zuletzt war es ein Zu- fluchtsort für Menschen in Not. Als Archiv zur Samm- lung, Sichtung und Bearbeitung sowie Museum zur Demonstration sexualwissenschaftlicher Publikatio- nen und relevanter Dokumente aller Art war das In- stitut ein Anziehungspunkt im Berlin der Goldenen Zwanziger. Für die Fortbildung von Ärzt*innen dien- te es als Lehr- und Schulungsstätte, für interessier- te Laien als Vortragsort, wobei Hirschfeld – wie sein lange wichtigster Mitarbeiter Arthur Kronfeld (1886- 1941) – durch Vortragstätigkeit auch in Volkshoch- schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen von Berlin und weit darüber hinaus wirkte.

„Transvestitenscheine“

„Transvestiten vor dem Eingang des Instituts für Sexualwissenschaft“ (originaler Bildtitel) anlässlich der 1. Internationalen Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Hirschfeld hatte mit seiner Forschung zu den Grundlage, 1921 © bpk/Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer/Willy Römer sexuellen Zwischenstufen auch den Neologis- licher Grundlage, auf einem weiteren Kongress in mus „Transvestit“ geprägt und 1910 mit „Die Kopenhagen wurde 1928 die Weltliga für Sexualre- Transvestiten. Eine Untersuchung über den ero- form gegründet und Hirschfeld zu einem ihrer Präsi- tischen Verkleidungstrieb“ eine Studie dazu ver- dent*innen gewählt.

12 öffentlicht. Darin stellt Hirschfeld fest, dass der „Verkleidungstrieb“ nicht etwa lediglich eine Form von Homosexualität sei und dass die Klei- dung für das körperliche und seelische Wohl- befinden von Transvestiten von lebenswichtiger Bedeutung ist. Aufgrund seiner guten Vernet- zung mit dem Homosexuellendezernat der Ber- liner Kriminalpolizei konnte Hirschfeld eine Regelung erwirken, die es erlaubte, den ent- sprechenden Personen nach Vorlage einer ärzt- lichen Bestätigung ihres „Transvestitismus“ „Transvestiten“-Bescheinigung des Instituts für Sexualwissenschaft, 1928 © Archiv der polizeiliche Ausweise – sogenannte „Transvesti- Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e. V., Berlin tenscheine“ – auszustellen. Zwar fiel das Tragen von Kleidern des jeweils anderen Geschlechts Die Machtübernahme der Nationalsozialisten brach- nicht unter den § 175 konnte aber nach § 183 te auch das Ende des Instituts für Sexualwissen- des Reichsstrafgesetzbuches als sexuelle schaft. Am 6. Mai 1933 wurde das IfS gleich zweimal Handlung bewertet und mit bis zu einem Jahr geplündert: am Vormittag durch Mitglieder der nati- Gefängnis bestraft werden. Die Scheine wiesen onalsozialistischen Deutschen Studentenschaft und die Inhaber*innen als offiziell bekannt „Männer- SA-Angehörige, am Nachmittag noch einmal durch kleidung tragend“ bzw. „Frauenkleidung tra- Student*innen der Tierärztlichen Hochschule. 12.000 gend“ aus, wodurch sich diese bei Kontrol- Bände der Bibliothek wurden abtransportiert, ein Teil len durch die Straßenpolizei, bei Razzien oder der Bücher und eine Büste Hirschfelds wurden am 10. vor Gericht vor Verhaftung bzw. Bestrafung Mai auf dem Berliner Opernplatz verbrannt. Hirsch- schützen konnten. Das IfS übernahm die Rolle feld selbst war von seiner Ende 1930 angetretenen als Gutachtenstelle für die Transvestitenscheine. Weltreise auf Anraten von Freunden nicht zurückge- kehrt. Am 18. November 1933 kam es schließlich auch

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zur formellen Enteignung Hirschfelds. Die Gestapo verfügte, das gesamte Vermögen des IfS bzw. der Dr. Magnus-Hirschfeld-Stiftung einzuziehen.

In seinem Pariser Exil unternahm Hirschfeld zusam- men mit seinen Lebenspartnern, dem chinesischen Arzt Li Shiu Tong (1907-1993) und Karl Giese (1898- 1938), den Versuch, das IfS neu zu gründen. Dieser scheiterte aber. Über die genauen Umstände ist nur wenig bekannt.

Plünderung des Instituts für Sexualwissenschaft, 1933 © bpk Hirschfeld und Li Shiu Tong in Nizza © Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e. V., Berlin

14 KAPITEL 2

Die Strategien des Wissenschaftlich- humanitären Komitees

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Die Strategien des Wissenschaftlich-humanitären Komitees

Dr. Magnus Hirschfeld wurde 1868 als Sohn des jü- dar, dass die sexuelle Orientierung biologisch sei. Ho- dischen Arztes Hermann Hirschfeld und dessen Frau mosexualität sei der angeborene aber nicht als patho- Friederike im pommerschen Kolberg geboren. Nach logisch zu verstehende Defekt einer kleinen Minder- dem Abitur im Jahre 1887 begann er mit dem Studi- heit, die es deshalb verdiene, toleriert und akzeptiert um der „neueren Sprachen“, 1888 wechselte Hirsch- zu werden. Diese Position widersprach der dominie- feld zur Medizin. 1892 promovierte er, im Jahre 1896 renden gesellschaftlichen und medizinischen Vor- schließlich eröffnete Hirschfeld eine Arztpraxis in Ber- stellung, wonach Homosexualität eine beispielweise lin-. Aufgerüttelt durch den Strafpro- durch Masturbation oder sexuelle Übersättigung er- zess gegen den homosexuellen Schriftsteller Oscar worbene Perversion sei. Wilde (1854-1900) begann Hirschfeld 1895 mit der Er- forschung der Homosexualität. Am 15. Mai 1897 grün- Als Hirschfeld und das WhK zum Ende des 19. Jahr- dete Hirschfeld in seiner Berliner Wohnung gemein- hunderts begannen, sich mit den biologischen „Ursa- sam mit dem Juristen Eduard Oberg (1858-1917), dem chen“ der Homosexualität zu befassen, wurde in der Verleger Max Spohr (1850-1905) und dem Schriftstel- deutschen Psychiatrie bereits rege über die Spielarten ler Franz Joseph von Bülow (1861-1915) das Wissen- non-konformen Sexualverhaltens diskutiert. Bekann- schaftlich-humanitäre Komitee (WhK). te Mediziner und Pioniere der Sexualwissenschaft wie Richard von Krafft-Ebing (1840-1902) und Albert Moll Die direkte Motivation für Hirschfelds Initiative zur (1862-1939) waren in Studien zu dem Schluss ge- Gründung des WhK war vermutlich der Suizid eines kommen, dass Homosexualität zumindest bei eini- homosexuellen Patienten, über den er in seiner ers- gen Personen eine unverschuldete, also angeborene ten sexualwissenschaftlichen Schrift zum Thema Ho- Eigenschaft sei, wenngleich Krafft-Ebing sein daraus mosexualität „Sappho und Sokrates: oder, wie erklärt folgendes Plädoyer für eine Straffreiheit homosexuel- sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen ler Handlungen mit einer erneuten medizinischen Pa- des eigenen Geschlechts?“ (1896) berichtet. In „Sap- thologisierung der Homosexualität als Krankheit, De- pho und Sokrates“ legte er bereits die für das Wirken generation oder Perversion verband. Hirschfeld hatte des WhK fundamentale wissenschaftliche Auffassung die gesellschaftliche Deutungshoheit der modernen

18 Medizin über die Sexualitäten erkannt. Wenn es ihm sexualität gesellschaftsfähig machte, mit politischem gelänge, die wissenschaftlichen Autoritäten davon zu Aktivismus zu verbinden. In seine Beweiskette nahm überzeugen, dass Homosexualität eine biologisch be- er dabei bereitwillig jede Theorie auf, die die biologi- gründbare Naturform sei, könnte sich auch das Bild schen Ursachen der Homosexualität nahelegte. Die- des Homosexuellen in der Öffentlichkeit wandeln und ser unkritische biologische Determinismus verleitete die juristische Verfolgung durch den Staat abgebaut ihn auch dazu, seine Patient*innen an Ärzt*innen werden. Um mit dem WhK die Entpathologisierung der zu überweisen, die höchst fragwürdige operative Homosexualität voranzutreiben, musste Hirschfeld Therapieversuche an Homosexuellen durchführten – also selbst zur wissenschaftlichen Autorität werden: aus heutiger Sicht ein schwerer Fehler Hirschfelds. „Wissenschaftliche Autorität – welche die objekti- ve Wahrheit verkörperte – und subjektive Betroffenheit Forschung und die Bereitstellung wissenschaftli- galten im Wissenschaftsverständnis Ende des 19. Jahr- cher Expertise zum Thema Homosexualität stellten hunderts als unvereinbar. Hirschfeld hat sich nie als ho- nur eine Säule der Aktivitäten des WhK dar. Gleich- mosexuell ‚geoutet‘. Dies geschah offenbar nicht aus zeitig startete das WhK mit der Petition zur Abschaf- Feigheit – er hat zum Beispiel kein Geheimnis aus seiner fung des § 175 politische Aktionen und schmiedete Freundschaft zu Karl Giese gemacht –, sondern aus stra- Allianzen mit den liberalen Kräften des Bürgertums. tegischen Gründen. Ein sexuelles Bekenntnis Hirsch- Dass das WhK relativ ungestört in der Öffentlichkeit felds wäre einer Selbstdisqualifikation als Sexualwissen- agieren konnte, verdankte es dem milden Zensurge- schaftler gleichgekommen. [...] Daher trat Hirschfeld im setz sowie dem kulturellen Klima im liberalen Bür- Hörsaal und vor Gericht als Sachverständiger, objektiver gertum der Jahrhundertwende. Auf Druck des mäch- Wissenschaftler und in seinen politischen Schriften als tigen deutschen Verlagswesens wurde 1900 eine Anwalt der Diskriminierten und Kriminalisierten auf.“5 abgeschwächte Form des Zensurgesetzes erlassen. Damit setzte sich im Deutschen Kaiserreich eine Li- Mit der Gründung des WhK verstand es Hirschfeld auf beralisierung fort, die bereits 1890 mit dem Außer- strategische Art und Weise, die aufstrebende Sexual- krafttreten der Sozialistengesetze und dem Rücktritt wissenschaft, die eine objektive Diagnose der Homo- des Reichskanzlers Otto von Bismarck (1815-1898)

5 Herrn, R. (2013): Sexualwissenschaftliche Positionen und sexualpolitische Strategien Magnus Hirschfelds, in: LSVD Berlin-Brandenburg e. V. (Hrsg.), Bündnisreport 2013, S. 14. 19 Die Strategien des Wissenschaftlich-humanitären Komitees

begonnen hatte. Die SPD wuchs in der Folge zu einer rort Friedrichshagen entstandenen Friedrichshagener starken politischen Kraft heran und entwickelte sich Dichterkreis. Deutschlands führende naturalistische zum Zufluchtsort für Gegner*innen des konservativen Schriftseller wie Gerhart Hauptmann (1862-1946) und industriellen und aristokratischen Establishments. Frank Wedekind (1864-1918) wohnten in Friedrichsha- Hirschfeld, selbst SPD-Mitglied, gewann schnell die gen. Hier stellte Wedekind 1891 das Theaterstück Unterstützung des SPD-Vorsitzenden August Bebel „Frühlings Erwachen“ fertig, in dem auch die Entde- (1840-1913) und eines großen Teils der Parteiführung ckung der eigenen Homosexualität bei Jugendlichen für die Petition zur Abschaffung des § 175. thematisiert wird. In einer Reihe mit weiteren promi- nenten Schriftsteller*innen, darunter Rainer Maria Die Bewegung für die Rechte Homosexueller konnte Rilke, Herman Hesse, Heinrich und Thomas Mann so- sich auch auf das Wohlwollen der kulturellen Avant- wie Stefan Zweig, unterstützen Hauptmann und garde im Kaiserreich stützen. Unter der Führung von Wedekind die Petition des WhK. Walter Leistikow (1865-1908) und Max Liebermann (1847-1935) gründeten die deutschen Impressio- Die dritte wichtige Säule der Aktivitäten des WhK war nist*innen die Berliner Sezessionsbewegung, die mit die Volksbildung, in deren Namen das WhK dutzende öf- den Traditionen der akademischen Kunst brach. Beide fentliche Vorträge förderte. Unterstützt wurde diese Ar- Künstler waren frühe Unterstützer des WhK und sei- beit von WhK-Zweigstellen in München, Leipzig, Frank- ner Petition. Aus Deutschlands breiter und diffuser furt und Hamburg. Häufig sprach Hirschfeld selbst auf Gegenkultur kam ebenfalls Unterstützung. Prominen- diesen Veranstaltungen. Für größere Volksversamm- te Mitglieder der Lebensreformbewegung traten dem lungen, die sich explizit auch an die Arbeiter*innen- WhK bei. Der bekannte Wandervogel-Anführer Wil- schicht richteten, mietete das WhK die Brauereien Ah- helm Jansen (1866–1943) war nicht nur aktives Mit- rendt und Patzenhofer in Berlin-Moabit an – beide Orte glied des WhK, sondern auch Gründer und Leiter der fassten jeweils mehr als 1.000 Zuhörer*innen. 1921 in Frankfurt gegründeten WhK-Zweigstelle. Viele Mitglieder des WhK unterhielten außerdem enge Ver- Die populärste Publikation des WhK war die 80-sei- bindungen zu dem um 1890 im damaligen Berliner Vo- tige Broschüre „Was muss das Volk vom dritten Ge-

20 schlecht wissen!“ (1901), die bis 1911 in einer Aufla- reich. Zu den wichtigen Errungenschaften gehör- ge von 50.000 Exemplaren erschien. Unterstützt wurde ten auch die Gründung zahlreicher schwuler und diese Aufklärungskampagne von Max Spohr und sei- lesbischer Zeitschriften sowie blühende nem Leipziger Verlagshaus. Spohr, Mitbegründer des Clubkultur als wichtiger Zufluchtsort für die Com- WhK, hatte 1896 schon „Sappho und Sokrates“ verlegt. munity. Ein weiterer Meilenstein der sich entwi- 1898 legten Spohr und Hirschfeld alle zwölf Pamphlete ckelnden schwul-lesbischen* Populärkultur ist von Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895), der als einer der der Spielfilm „Anders als die Andern“ (1919) von ersten bekannten Vorkämpfer für die rechtliche Gleich- Richard Oswald (1880-1963). Der erste bekannte stellung Homosexueller gilt, neu auf. Ein Jahr später Film zum Thema Homosexualität stellt den § 175 gab der Spohr Verlag den ersten Band von Hirsch- kritisch dar und entstand unter Mitwirkung von felds „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“ heraus, Hirschfeld. Bereits 1920 wurde der Film jedoch das bis 1923 in 23 weiteren Bänden erschien. Auch die nach Wiedereinführung der Zensur verboten. Schrift „Die Liebe des dritten Geschlechts. Homosexu- alität, eine bisexuelle Varietät keine Entartung – keine Bilder auf der nächsten Seite 1. „Gruppe aus einem Berliner homosexuellen Lokal ‚Marienkasino‘, in dem viele Schuld“ der offen lesbischen Feministin Johanna El- männliche Prostituierte in Frauenkleidern verkehrten“ (originaler Bildtitel), Quel- le: Magnus Hirschfeld, Geschlechtskunde, 5 Bände (1926-1930), Bd. 5, S. 590. berskirchen (1864-1943) erschien 1904 im Spohr Ver- 2. Titelseite der homosexuellen Zeitschrift „Die Insel“, März 1931, gemeinfrei 3. Berliner Szenebar „Eldorado“ an der Ecke Motz- und Kalckreuthstraße, um 1929 lag. Die vielen Publikationen halfen, das Monopol der © Bundesarchiv, Bild 146-1976-141-25 4. Titelseite der lesbischen Zeitschrift „Die Freundin“, Mai 1928, gemeinfrei medizinischen und juristischen Autoritäten auf die öf- 5. Außenansicht des „Eldorado“, um 1932 © Bundesarchiv, Bild 183-1983-0121-500 fentliche Diskussion über Homosexualität aufzuwei- chen und trugen außerdem zur Herausbildung eines Die Freiheit, mit der Hirschfeld, Spohr und das WhK ersten schwul-lesbischen* literarischen Kanons bei. die Volksbildungskampagnen betrieben, ist beeindru- ckend. Schriften zur Homosexualität, die einem Wis- Das schwul-lesbische* Leben in Berlin seit der senschafts- oder Bildungsanspruch verschrieben wa- Jahrhundertwende ren, wurden so gut wie nie zensiert. Großbritannien Die Emanzipationsbewegung vollzog sich nicht bildet diesbezüglich ein krasses Gegenbeispiel. Wie in nur im wissenschaftlichen und politischen Be- Deutschland standen auch hier homosexuelle Hand-

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lungen unter Strafe, gleichzeitig wurden selbst wissen- mit Verweiblichung zurück. Im Gegenteil: Viele charis- schaftliche Schriften, in denen das Angeborensein der matische Anführer der Geschichte, wie z. B. Alexander Homosexualität vertreten wurde, streng zensiert. Ein der Große und Friedrich II., seien besonders mannhaf- Beispiel hierfür ist das Werk „Sexual Inversion“ (1897) te und gleichzeitig männerliebende Persönlichkeiten des englischen Sexualwissenschaftlers Havelock Ellis gewesen. Gesellschaftlicher Fortschritt bestehe des- (1859-1939), das zuerst in Deutschland unter dem Titel halb in der Anerkennung der homophilen Neigungen „Die Homosexualität“ (1896) erschienen war, in England des super-männlichen Mannes. Friedlaenders vor al- jedoch nicht verkauft werden durfte. lem frauenfeindliche Position vertrug sich nicht mit Hirschfeld und dem WhK, zu dessen Mitgliedern auch Mit dem Wachsen des WhK kamen auch die ers- Frauen, wie z. B. Johanna Elberskirchen zählten. ten Identitätskonflikte innerhalb der Bewegung auf. Die biologistische Tendenz, die Hirschfeld dem WhK Hirschfelds Biologismus limitierte sich außerdem nicht gab, vor allem aber seine Theorie der sexuellen Zwi- auf homosexuelle Männer, denn seiner Auffassung nach schenstufen stießen innerhalb des WhK von Anfang erlebten lesbische Frauen das Angeborensein ihrer an auf Widerspruch. Vor allem die Gegenkulturbewe- Homosexualität nicht anders als männliche Homose- gung förderte in dieser Hinsicht alternative Gemein- xuelle. Hirschfeld unterhielt darüber hinaus gute Kon- schaften sexueller Minderheiten wie auch konkurrie- takte zu linken Feministinnen, die die Abschaffung des rende Theorien über die gleichgeschlechtliche Liebe. § 175 und damit die homosexuelle Emanzipations- Besonders die sogenannten „Maskulinisten“ stell- bewegung unterstützen. Dazu gehörte insbesondere ten eine Herausforderung für den von Hirschfeld ein- die Frauenrechtlerin Helene Stöcker (1869-1943), die geschlagenen Kurs dar. Zu dieser Gruppe zählte das 1905 den Bund für Mutterschutz (ab 1908 Deutscher WhK-Mitglied Benedict Friedlaender (1866-1908), der Bund für Mutterschutz und Sexualreform) mitbegrün- mit der „Sezession des WhK“ 1906 eine eigene Split- dete. Der Mutterschutzbund setzte sich für die sexu- tergruppe gründete. Hirschfelds Theorie der sexuel- elle Selbstbestimmung der Frau, für den Zugang zu len Zwischenstufen ablehnend wies Friedlander jede Informationen über Empfängnisverhütung und später Assoziation gleichgeschlechtlicher erotischer Liebe auch für das Recht auf Abtreibung ein.

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Die Entstehung des Denkmals für die erste homosexuelle Emanzipationsbewegung

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Ein neues Denkmal in der Hauptstadt – für wen? Der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Branden- burg (LSVD) bemühte sich seit 1992 um einen Geden- In den 1980er Jahren erlangte Dr. Magnus Hirsch- kort für Magnus Hirschfeld im Berliner Stadtraum. feld zunehmend wieder Bedeutung als Identifikati- Zum 100. Gründungstag des Wissenschaftlich-hu- onsfigur der LSBTI*-Bewegung. 1982 gründete sich in manitären Komitees (WhK) benannte der LSVD in ei- West-Berlin die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft mit ner symbolischen Aktion kurzfristig den Platz vor dem Ziel, das wissenschaftliche und kulturelle Erbe dem Haus der Kulturen der Welt in „Magnus-Hirsch- von Magnus Hirschfeld und des von ihm geleiteten In- feld-Platz“ um. 1998 entschied der damalige Bause- stituts für Sexualwissenschaft (IfS) zu erforschen und nator Jürgen Klemann, einen am Bundeskanzleramt zu bewahren. Später entstanden weitere Organisati- über die Spree führenden Steg nach Hirschfeld zu be- onen, die sich programmatisch auf ihren Namens- nennen. Nachdem dieser Steg bis 2007 nicht gebaut geber beziehen, wie beispielsweise die 2007 gegrün- worden war, wendete sich der LSVD an den Senat und dete Hirschfeld-Eddy-Stiftung oder die 2011 von der den Bezirk Mitte, um einen Ersatzort zu finden. Man Bundesrepublik Deutschland errichtete Bundesstif- verständigte sich auf den Uferabschnitt zwischen tung Magnus Hirschfeld. Anlässlich des 75. Jahresta- Moltkebrücke und Lutherbrücke in der Nähe des ges der Bücherverbrennung durch die Nationalsozia- Standortes des ehemaligen IfS. Das Magnus-Hirsch- listen, als deren Auftakt die Plünderung des Instituts feld-Ufer wurde am 6. Mai 2008 eingeweiht. für Sexualwissenschaft gilt, zeigte das Berliner Me- dizinhistorische Museum der Charité 2008 die Aus- 2011 definierte der LSVD entlang des Uferabschnitts stellung „Sex brennt“. An das zerstörte Institut selbst den genauen Standort für das zukünftige Denkmal. erinnert nur noch eine 1994 im Großen Tiergarten in Am 2. September 2011 errichtete dort die Berliner Berlin aufgestellte Gedenktafel. Seit 1995 erinnert au- Kulturverwaltung zwei Gedenktafeln, die über die ers- ßerdem eine Gedenkstele in der Otto-Suhr-Allee 93 in te homosexuelle Emanzipationsbewegung informie- Berlin-Charlottenburg an Magnus Hirschfeld, der in ren und das vom LSVD initiierte Denkmal zur Würdi- dem heute ebenfalls nicht mehr existierenden Haus gung dieser Bewegung ankündigen. Die Gedenktafeln von 1896 bis 1910 gewohnt hat. legen ihren Schwerpunkt nicht mehr nur auf Magnus

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Hirschfeld, sein Institut und das WhK, sondern rücken ator einer aus vielen verschiedenen Individuen beste- auch andere Wegbereiter*innen der ersten Homose- henden organisierten Bewegung. Losgelöst von einer xuellenbewegung in den Fokus, etwa den Juristen und ausschließlichen Opferperspektive ging es den Initi- Journalisten Karl Heinrich Ulrichs sowie die Juristin ator*innen des Denkmals darum, das Denkmal nicht und Frauenrechtlerin Anita Augspurg (1857-1943). nur von der reichen Geschichte und Kultur einer dis- kriminierten Minderheit erzählen zu lassen, sondern Es gibt doch schon diverse Gedenkstätten für Homo- auch das Community-Selbstbewusstsein zu fördern sexuelle – warum braucht es noch eine? und Besucher*innen zu bestärken, sich menschen- rechtlich zu engagieren. In Berlin sollte endlich ein Bei anderen Gedenkstätten geht es oft darum, Ho- Ort geschaffen werden, der die homosexuelle Emanzi- mosexuelle als Opfergruppe anzuerkennen und pation würdigt und darüber informiert, dass die welt- darzustellen. Diese mahnende Trauerarbeit leis- weit erste homosexuelle Emanzipationsbewegung ten beispielsweise das 2008 im Berliner Tiergarten nicht 1969 in New York mit Ausschreitungen begann, eingeweihte Denkmal für die im Nationalsozialis- sondern Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland mus verfolgten Homosexuellen oder die Rosa-Win- mit dem Anspruch, durch Wissenschaft Gerechtigkeit kel-Gedenktafel am , die bereits 1989 zu erlangen. errichtet wurde. Daneben existieren in der Stadt viele Gedenkorte, die einzelne Personen in den Fokus des Die Umsetzungsphase Gedenkens rücken, wie z. B. die Karl-Heinrich-Ul- richs-Straße oder der Kurt-Hiller-Park. Mit dem Ma- Zwischen 2012-2015 wurde im Berliner Wintergarten gnus-Hirschfeld-Ufer wurde ebenso ein solcher Ort Varieté viermal die Gala „Stars für Magnus“ ausgerich- geschaffen. Mit einem neuen Denkmal sollte das Ge- tet, um Spenden für das Denkmal zu sammeln. Gleich- denken aber von einer namentlich genannten Leitfi- zeitig warb auch das BÜNDIS GEGEN HOMOPHOBIE gur erstmals auf eine gesamte Bewegung ausgewei- mit seiner Kampagne 2013 für dessen Umsetzung. Im tet werden, um der Tatsache Rechnung zu tragen, November 2015 wurden fünf Denkmalsentwürfe im dass Hirschfeld kein Einzelkämpfer war, sondern Initi- Haus der Kulturen der Welt der Öffentlichkeit vorge-

26 stellt. Diese wurden von einer internationalen studen- tischen Arbeitsgruppe unter der Leitung des Dozen- ten Wolfgang Knapp am Institut für Kunst im Kontext der Universität der Künste (UdK) entwickelt. Eine Jury aus politischen Entscheidungsträger*innen sowie Ex- pert*innen aus Kunst und Kultur entschied sich mit deutlicher Mehrheit für das Modell „Calla“ mit der Begründung: „Die Jury ist der Überzeugung, dass das Denkmal selbstbewusst und positiv wirkt und eine be- eindruckende Fernwirkung entwickelt. Die Calla-Li- lie besitzt weibliche und männliche Blüten auf einer Pflanze. Somit ist sie ein Symbol für die Normalität der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt in der Na- tur.“

Bereits im Dezember 2015 stellte das Bildungs- und Sozialwerk des Lesben- und Schwulenverban- des Berlin-Brandenburg e. V. (BLSB) als Bauherr die nötigen Anträge zur Errichtung des Denkmals im denkmalgeschützten Bereich des Großen Tiergar- tens beim Bezirksamt Mitte. Der Landschaftsarchi- tekt Sascha Ratayski wurde mit den Planungsleis- tungen zum Aufbau des durch eine Zuwendung der Lotto-Stiftung Berlin finanzierten Bauprojektes be- Kampagnenplakat der Bündniskampagne 2013 des BÜNDNIS GEGEN HOMOPHOBIE auftragt. © LSVD Berlin-Brandenburg e. V.

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Im Sommer 2016 einigten sich der BLSB und das Be- Dank der Unterstützung durch Stromnetz Berlin wird zirksamt auf einen Vertrag zur kostenfreien Über- der Gedenkort zukünftig nachts beleuchtet sein. lassung des Flurstückes 440 zur Errichtung eines Denkmals. Am 16. September 2016 wurde dieser Im Sommer 2017 konnte mit den Bauarbeiten für das Überlassungsvertrag im Rathaus Tiergarten von dem Denkmal begonnen werden. Am 7. September 2017 – damaligen Bezirksbürgermeister und langjährigen nach einem Vierteljahrhundert Engagement und Be- Unterstützer des Denkmals, Christian Hanke, offizi- harrlichkeit – weihte Senator Dr. Dirk Behrendt das ell übergeben. Bei dem Pressetermin anwesend wa- Denkmal zusammen mit dem LSVD, Vertreter*in- ren auch die in Berlin-Schöneberg geborene, jetzt in nen der Universität der Künste, den Künstler*innen, Australien lebende Großnichte Magnus Hirschfelds, den Jurymitgliedern sowie mit zahlreichen Unter- Ruth Gabrielle Cohen, und ihre Familie. Sie appellier- stützer*innen ein. Beim anschließenden Festakt zur te an die Berliner Politik: „Ich danke dem Lesben- und Denkmalseröffnung im Centrum Judaicum sprach Schwulenverband für sein unermüdliches Engage- u. a. Kultursenator Dr. Klaus Lederer. ment. Endlich wird mit einem Denkmal an die weltweit erste Homosexuellenbewegung erinnert. Leider muss- 120 Jahre nach Gründung des WhK verbindet die- ten viele bürokratische Hürden überwunden werden. ses Denkmal Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Nun muss sichergestellt werden, dass dieses Denk- der sich wandelnden homosexuellen und transge- mal dauerhaft das Berliner Stadtbild prägt. Ich appel- schlechtlichen Emanzipationsbewegungen mit dem liere an die neue Berliner Landesregierung, für die Glauben an die ausnahmslose Gültigkeit der Men- Instandhaltung dieses wichtigen Gedenkortes Verant- schenrechte und den gesellschaftlichen Fortschritt wortung zu übernehmen.“ durch die Wissenschaften.

Schon zwei Monate später verpflichtete sich die neu gewählte Berliner Regierung in ihrer Koalitionsver- einbarung, für die spätere Instandhaltung des Denk- mals Sorge zu tragen. Ebenfalls eine gute Nachricht:

28 Einweihung des Denkmals am 7.9.2017 © Benjamin Kindervatter, LSVD Berlin-Brandenburg e. V. IMPRESSUM

Herausgeber Bildungs- und Sozialwerk des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg e. V. Amtsgericht Charlottenburg VR 26275 B

Kontakt Postfach 30 16 78 10748 Berlin Tel.: 030 – 22 50 22 15 Fax: 030 – 22 50 22 21 www.berlin.lsvd.de

Autor: Christopher Schreiber Redaktion: Christopher Schreiber, Jörg Steinert, Johannes Blankenstein Grafische Umsetzung: Benjamin Kindervatter

Auflage: 5.000 Exemplare

Bildnachweis: S. 2; S. 16-17; S. 31 © Benjamin Kindervatter, LSVD Berlin-Brandenburg e. V.

Das Denkmal für die erste homosexuelle Emanzipationsbewegung ist ein Projekt des Bildungs- und Sozialwerks des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg e. V. und wird von der Lotto- Stiftung Berlin gefördert. Weitere Informationen unter www.denkmal-fuer-berlin.de.

Ein Projekt des: in Kooperation mit: gefördert von:

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