150 JAHRE INDUSTRIESTANDORT HÖCHST EINBLICKE IN DIE GESCHICHTE DER FARBWERKE, DER HOECHST AG UND DES INDUSTRIEPARKS HÖCHST 1863

Das Gemälde zeigt die Ansicht von Höchst mit der Fabrik im Jahr 1873.

CHEMIE IN HÖCHST SEIT 1863

n Höchst wurde 1863 die Theerfarbenfabrik Meister Lucius & ICo. gegründet, aus der die Farbwerke Hoechst und die Hoechst AG hervorgingen. 1998 wandelte sich der Standort zum Industrie- park Höchst. Erstes Produkt am Standort war der rote Farbstoff „Fuchsin“. Später folgten Arzneimittel und Kunststoff e. Seit 150 Jahren wird am Standort mit bahnbrechenden Ideen und Produkten Zukunft gemacht. Heute ist der Industriepark Höchst einer der größten Forschungs- und Produktionsstandorte der Chemie- und Pharmaindustrie in Europa und ein wichtiger Impuls- geber für die Wirtschaftsregion /Rhein-Main. Diese Broschüre wirft einen Blick auf die Geschichte des Stand- ortes und begleitet die Menschen, die an dieser Erfolgsgeschichte mitgeschrieben haben.

Frankfurt am Main Flughafen Frankfurt

Industriepark Höchst

Der Industriepark Höchst ist heute Standort für rund 90 Unternehmen. Rund 22.000 Menschen arbeiten auf dem heute 4,6 Quadratkilometer großen Gelände. Der Industriepark schreibt die lange Erfolgsgeschichte des Standortes fort, die mit einer kleinen Farbenfabrik mit fünf Mitarbeitern vor 150 Jahren begann. 2 2013

EINBLICK IN DIE ERFOLGSGESCHICHTE EINES INDUSTRIESTANDORTES

1863 – Als „Meister, Lucius & Co.“ ein Start-up war: Die Farbwerke gehen an den Start ...... Seite 4/5

Weltinnovationen „made in Höchst“: Lichtbeständiges Grün und synthetisches Indigo-Blau ...... Seite 6

Wie mit Arznei gegen Fieber aus der Farbenfabrik ein Chemieunternehmen wurde ...... Seite 7

„Gesundheitsmanagement“ anno 1874: Der erste Werksarzt war ein Pionier der Arbeitsmedizin ...... Seite 8

Medizin aus Mikroben: Die bakteriologische Abteilung liefert Immunpräparate ...... Seite 9

Antitoxine aus dem „Fohlenpferch“: Impfserum gegen eine Volkskrankheit ...... Seite 10

Work-Life-Balance um 1900: Leib und Magen, Heim und Herd ...... Seite 11

Das erste künstliche Hormon: „Adrenalin-Kick“ aus den Farbwerken verlängert Narkose ...... Seite 12

„Silberkugel“ gegen Syphilis: „Salvarsan“ begründet die moderne Chemotherapie ...... Seite 13

Der Erste Weltkrieg ändert alles, Neustart mit Düngemitteln und Kunststoffen ...... Seite 14

Der Peter-Behrens-Bau: „Umbautes Licht“ ...... Seite 15

Das Werk Höchst der I. G. Farben im Nationalsozialismus ...... Seite 16

Nach Kriegsende: Neugründung mit Umlaut ...... Seite 17

Ein neues Wahrzeichen: Das Verkaufshochhaus von 1956 ...... Seite 18

Von Kohle zu Erdöl: Start der Petrochemie am Standort ...... Seite 19

Kunst-Stoffe und -Fasern aus Höchst ...... Seite 20

Der Sprung über den Main ...... Seite 21

1963: „Jahrhunderthalle“ feiert einhundert Jahre Chemie ...... Seite 22

Rotfabriker, Farbwerker und Hoechster ...... Seite 23

Insulin aus Höchst ...... Seite 24

Die Ölkrise trifft den Standort ...... Seite 25

Die Werkfeuerwehr ...... Seite 26

Das Jahrzehnt vor dem großen Umbruch ...... Seite 27

Abschied von Hoechst ...... Seite 28

„Farb-Werke“ im Industriepark ...... Seite 29

Der Innovationsstandort wandelt sich zum „Industriepark Höchst“ ...... Seite 30/31

3 1863

1863 - DIE FARBWERKE GEHEN AN DEN START Vor 150 Jahren begann die Erfolgsgeschichte des Industriestandortes mit einer kleinen Fabrik für die damals innovativen Teerfarben. Mit der Farbenindustrie etablierte sich eine „New Economy“ als Lieferant neuartiger Produkte: Die aufstrebende Chemiebranche erschloss immer neue Technologiefelder und etablierte sich als starker Wirtschaftszweig. Der Industriestandort Höchst ist eng mit diesem Aufstieg verwoben.

PIONIERE DER Ansicht der Fabrik im Jahr 1885. „NEW ECONOMY“: DIE GRÜNDER UND DER TECHNISCHE DIREKTOR

ie Arbeit mit den neuen synthetischen DFarbstoff en erforderte Pioniergeist. Der Chemiker Dr. Eugen Lucius nahm die wissenschaftliche und unternehmeri- sche Herausforderung an und gründete die „Theerfarbenfabrik Meister Lucius ALS „MEISTER LUCIUS & & Co.“ gemeinsam mit seinen Teilhabern EEugenugen LLuciusucius CO.“ EIN START-UP WAR Carl Friedrich Wilhelm Meister und Lud- wig August Müller. Ein weiterer Mann der ersten ie Keimzelle des heutigen Industrieparks Höchst war eine Stunde war der Chemiker Adolf Brüning, Dkleine Farbenfabrik, die 1863 gegründet wurde. Das Her- ein Studienfreund von Lucius. Brüning stellungsverfahren für die dort produzierten synthetischen Teerfar- trat als technischer Direktor in die Teer- ben war erst sieben Jahre zuvor entwickelt worden. Die Farbstoff e farbenfabrik ein und übernahm nach dem waren ein neuartiger Industriezweig und die „Theerfarbenfabrik Ausscheiden von Müller im Jahre 1865 Meister Lucius & Co.“ war ein Start-up-Unternehmen der ersten FFriedrichriedrich WWilhelmilhelm dessen Firmenanteile. 1867 wurde der Stunde. Erstes Produkt war das „Fuchsin“, für das die „Rotfabriker“ MMeistereister Firmenname in „Meister Lucius & Brü- noch Lizenzgebühren entrichten mussten. Der Konkurrenzdruck ning“ geändert. Die drei im neuen Technologiefeld Teerfarbstoff e forderte der jungen Firma Firmenlenker praktizier- alles ab: In den ersten beiden Jahren schrieb die „Theerfarbenfabrik“ ten eine klare Arbeitsteilung. Meister ver- rote Zahlen. Doch schon bald wurden Gewinne erwirtschaftet, das antwortete den Verkauf, Lucius forschte junge Unternehmen wuchs – und musste ab 1869 umziehen: Der im Labor und Brüning organisierte die ursprüngliche Standort nahe des Höchster Schlosses zwischen Produktion. Der umsichtige Chemiker Stadtmauer und Main reichte nicht aus. Bis 1874 zog die gesamte betrieb auch die Verlegung der Fabrik Fabrik um. Sie wurde westlich des Liederbachs, der unweit des in das Höchster Unterfeld, dem heutigen AAdolfdolf BBrüningrüning heutigen Tor Ost verläuft, neu gebaut. An diesem Standort konnte Standort des Industrieparks. das Unternehmen weiter wachsen.

4 1877

Das schon länger verwendete Firmenzeichen, der nassauische Löwe, wird offi ziell eingeführt und bis 1939 in 74 Ländern in aller Welt als Warenzeichen eingetragen.

DIE CHEMIEBRANCHE – EIN JUNGER INDUSTRIEZWEIG WÄCHST

itte des 19. Jahrhunderts war die industrielle Revolution in gewonnene Anilinöl war Rohstoff für die synthetischen Teerfarben. MDeutschland angekommen. Die Dampfmaschine und der Der Abfall aus den Gaskokereien war Ausgangsstoff für kosten- mechanische Webstuhl gaben den Takt vor: Der Bergbau, eisen- günstig zu produzierende Farben. Und die Textilbranche war ein verarbeitende Betriebe und die Textilbranche entwickelten sich dankbarer Abnehmer. So manche Farbfabrik entstand – manche im Stakkato. Im Nachklang entstand mit der chemischen Farben- junge Firmen scheiterten, doch die „Theerfarbenfabrik“ setzte sich industrie eine ganze Industriebranche. Das aus dem Steinkohleteer durch.

ERFOLG: EINE STANDORTFRAGE

ür einen erfolgreichen Industriestandort schien die kleine betrieben gab es fähige Arbeitskräfte. Ausschlaggebend für die FAmtsstadt Höchst am Main nicht die erste Wahl zu sein. Doch Standortentscheidung dürfte jedoch die wirtschaftsgeografi sche die Gründer Friedrich Wilhelm Meister und Eugen Lucius konnten Lage gewesen sein: Höchst lag an der Straße von Frankfurt nach und wollten in ihrer Heimatstadt Frankfurt keine chemische Fabrik Mainz und auf dem Main konnten Waren einfach transportiert wer- errichten, denn Frankfurt zeichnete sich damals durch eine eher den. Zudem lieferte der Fluss Wasser für den laufenden Betrieb. industriefeindlich geprägte Atmosphäre aus. Dagegen waren in Und Höchst war bereits an die Eisenbahn angeschlossen. In Summe Höchst die Grundstücke preiswerter und Lucius kannte den ört- bestechende Standortvorteile, später vervollständigt durch die lichen Holzhändler Balthasar Schweitzer, der ihn beim Kauf des Nähe zum Flughafen Frankfurt. Geländes unterstützte. Und bei den ortsansässigen Handwerks-

Die Farbwerke wuchsen nach ihrem Umzug schnell, hier eine Panoramaansicht aus dem Jahre 1888.

5 1883

1863

BUNTES TREIBEN IN DER „ROTFABRIK“

Die Geschichte des Standortes begann mit den damals innovativen Teerfarben. Erstes Produkt war das „Fuchsin“, für das die „Rotfabriker“ noch Lizenzgebühren entrichten mussten. Doch schon bald glückten den „Farbwerken“ selbst technische Innovationen.

DAS ERSTE PATENT MACHT FARBWERKE MACHEN „GRÜN-VOR-NEID“ „BLAU“

usgehend vom ersten Produkt, dem Teerfarbstoff „Fuchsin“, s war nicht alles grün, was Aerweiterten die Rotfabriker ihr Angebot an Farbstoff en fort- Eglänzt. Nicht nur das schim- laufend. Bereits im Jahr der Gründung 1863 errangen die Farb- mernde Grün war eine beliebte werke ihr erstes Patent: Der Firmengründer Eugen Lucius hatte bei Kleiderfarbe, Blau war um 1900 Experimenten mit Fuchsin festgestellt, dass er ein lichtbeständiges sehr gefragt. Arbeitskleidung Grün herstellen konnte. sowie die 1873 eingeführten Jeans Das gab es zwar schon auf dem Markt, doch konnte das Höchster trug man in blau. Und auch Matro- Grün auch als Paste hergestellt werden. Mit dieser Paste konnte senanzüge und Waff enröcke färbte man gut Leder einfärben. Paradoxerweise kam die Textilfarbe man mit Indigo, einem tiefblauen insbesonders nach Einbruch der Dunkelheit am Schönsten zur Farbstoff . Das große Farbenlager des Geltung. Denn auch im Gaslicht leuchtete die Farbe noch in sattem Standortes am Mainufer. Grün. Ein Küpenfarbstoff Indigo ist ein sogenannter „Küpenfarbstoff “. In einem Bottich, der Grün gewandetes „It-Girl“ „Küpe“, werden die Farbstoff e in einer Flüssigkeit gelöst. In der che- Ein zur damaligen Zeit konkurrenzlo- mischen Umgebung der Küpe ändert der Farbstoff seine Farbe. Die ses „It-Girl“ bewies dies augenfällig: zu färbenden Kleidungsstücke werden in die Küpe getaucht. Beim Die Gemahlin von Napoleon III., Trocknen an der Luft oxidiert der Indigo und wird dadurch wieder Kaiserin Eugenie, trug ein mit dem blau. In feinster Verteilung entsteht der Farbstoff direkt auf der Faser. Höchster Grün gefärbtes Abend- Damit sind wasch- und lichtechte Farben garantiert. kleid. Und die Farben aus Höchst wurden populär. Indischer Indigo Der blaue Farbstoff wurde aus der indischen Indigopfl anze oder in Deutschland bis in die frühe Neuzeit aus dem Färberwaid gewonnen. Die Ausbeute aus der indischen Pfl anze war viel höher, darum wurde VERSUCHSFÄRBEREI IN D 607 auf die Farbgewinnung aus Färberwaid im 17. Jahrhundert verzichtet. Die damalige britische Kolonie Indien war der wichtigste Lieferant ie Farbwerke haben im Jahr 1898 eine Versuchsfärberei in für den aus der Pfl anze gewonnenen Indigofarbstoff . Doch die Qua- DBetrieb genommen. Das Gebäude D 607 nahe Tor Ost steht lität schwankte. Zudem war man von wechselnden Ernteerträgen noch heute und wird für Veranstaltungen genutzt. Der Klinkerbau abhängig. Die künstliche Herstellung von Indigo erschien demnach nutzt die repräsentativen Formen der Renaissance. lohnend.

Synthese von Indigo Die Synthese von Indigo war Adolf von Baeyer im Jahr 1880 bereits gelungen. Im gleichen Jahr begannen die Farbwerke mit den Versu- chen, diese Synthese in ein großtechnisches Verfahren zu überführen. Leider gelang das nicht auf Anhieb. Doch die Farbwerke bewiesen sehr großes Durchhaltevermögen: Erst nach rund 20 Jahren glückte ein wirtschaftliches Verfahren. Gegenüber dem natürlichen hatte der synthetisch gewonnene Indigo klare Vorteile in der Anwendung für die Textilindustrie: Dieser Farbstoff war leicht zu dosieren und garantierte gleichbleibende Farbqualitäten. Kein Wunder, dass die Textilindustrie den synthetisch hergestellten Indigo begeistert orderte. Der lange Atem der Farbwerke hatte sich ausgezahlt. 6 MEDIZIN AUS DEN FARBWERKEN

Rund zwanzig Jahre nach Gründung wurde aus der „Theerfarbenfabrik“ ein Chemieunternehmen: 1883 begannen die „Farbwerke vorm. Meister Lucius & Brüning“ mit der Pharma-Produktion. Zur damaligen Zeit waren Apotheker die Hersteller von Arzneimitteln und nicht Industriebetriebe.

WIE MIT ARZNEI GEGEN FIEBER AUS DER FARBENFABRIK EIN CHEMIEUNTERNEHMEN WURDE

nd Arzneien wurden direkt aus der Natur gewonnen. Bei- Antipyrin Uspielsweise half gegen Fieber bis in die 1880er Jahre nur Doch schon im ein Naturheilmittel aus Südamerika: Bereits die Ureinwohner darauffolgenden der Anden nutzten den gelben Chinarindenbaum als Heilpfl anze. Jahr 1884 gelang den Aus der Chinarinde wurde das sogenannte Chinin gewonnen, das Farbwerken ein voller fi ebersenkend wirkte. Seit 1823 konnte Chinin auch industriell aus Erfolg im Pharmasek- der Chinarinde extrahiert werden, doch der Rohstoff Chinarinde tor. Wieder hatten die war teuer. Und in falscher Dosierung ist Chinin tödlich. Es wurde Farbwerke ein Patent also nach einer Alternative gesucht – lange Zeit vergeblich. Bei übernommen. Der den erfolglosen Versuchen wurde das Herstellungsverfahren für Chemiker Ludwig Teerfarben entdeckt. Erst im Jahr 1881 gelang es dem Chemiker Knorr hatte sich einen Otto Fischer, Chinin zu synthetisieren. neuen Wirkstoff patentieren lassen, Kairin den die Farbwerke Die Farbwerke nutzten das Patent von Fischer und brachten ab 1883 unter dem Markenna- das fi ebersenkende „Kairin“ auf den Markt, das erste synthetische men „Antipyrin“ auf Medikament. Das Arzneimittel hatte jedoch Nebenwirkungen wie den Markt brachten. Antipyrin senkte das Fieber wesentlich stärker starken Schüttelfrost und wirkte nicht lange. als Kairin und wirkte schmerzlindernd. Bei einer schweren Grippe- epidemie bewährte sich das als Pulver verkaufte Präparat. Für den Zeitraum von Jahrzehnten bleibt Antipyrin eines der wichtigsten fi ebersenkenden Mittel.

Pyramidon 1893 vermochte ein Chemiker der Farbwerke aus dem Antipyrin- Molekül einen noch besseren Wirkstoff herzustellen. Das neue Mittel hatten die Farbwerke ab 1897 im Angebot. „Pyramidon“ war dreimal stärker als Antipyrin und wirkte länger. Und Pyramidon hatte noch weitere Vorzüge, denn es wirkte krampfl ösend und entzündungshemmend. Später wurde das Medikament in Form von gleichmäßig dosierten Tabletten gefertigt. Pyramidon war ein wahrer „Longseller“: Es wurde rund 80 Jahre lang vertrieben.

Farbwerke an der Börse Als die Farbwerke im Jahr 1888 ihr 25-jähriges Jubiläum feiern, werden an der Frankfurter Börse die Aktien des Unternehmens geführt. Aus der off enen Handelsgesellschaft „Farbwerke vorm. Meister Lucius & Brüning“ war eine AG geworden. Im Jubiläums- jahr zählten mehr als 2.000 Mitarbeiter zur Belegschaft: 57 Chemiker, 9 technische Beamte, 86 Kaufl eute, 50 Aufseher und 1.860 Arbeiter.

7 1892

1874

„GESUNDHEITSMANAGEMENT“ ANNO 1874

Viele Menschen haben an der Erfolgsgeschichte des Industrieparks mitgeschrieben. Einen Ehrenplatz haben dabei ein Pionier der Arbeits- medizin und die Leiterin des werkseigenen Entbindungsheims inne, in dem viele „Rotfabriker“ das Licht der Welt erblickten. Zu den frühen sozialen Errungenschaften am Standort gehörten auch Badehäuser.

KREIS-PHYSIKUS SORGT FÜR „GEWERBEHYGIENE“

en Begriff „Gesundheitsmanagement“ gab es 1874 zwar noch Arbeitsschutz. Er untersuchte, wie Chemikalien auf den mensch- Dnicht, doch als mit Dr. Wilhelm Grandhomme der erste Fab- lichen Organismus wirken und entwickelte Vorschläge zum Schutz rikarzt eingestellt wurde, begann die lange Tradition und zur Vorbeugung. Für die damals sogenannte der Gesundheitsfürsorge für die Mitarbeiter, die heute „Gewerbehygiene“ war das bahnbrechend. Der Pio- im Arbeitsmedizinischen Zentrum des Industrieparks nier der deutschen Arbeitsmedizin starb im Jahr 1907. fortgesetzt wird. Grandhomme war Kreis-Physikus in Aufgrund seines Engagements gilt er als Mitbegründer Frankfurt und trat im Alter von 40 Jahren bei den Farb- der Sozialpolitik der Farbwerke. werken seinen Dienst als Werksarzt an. Unter seiner Wilhelm Grandhomme beschäftigte sich intensiv mit Leitung entstand die erste Krankenstation am Standort. dem Industriestandort und verfasste das Buch „Die Seine Tätigkeit ging über die ärztliche Versorgung der DDr.r. WWilhelmilhelm Fabriken der Aktien-Gesellschaft Farbwerke vorm. Arbeiter hinaus: Dr. Wilhelm Grandhomme küm- GGrandhommerandhomme Meister, Lucius & Brüning zu Höchst a. M.“. Ihm zum merte sich auch um die Gesundheitsvorsorge und den **1834 †19071834 †1907 Gedenken ist die Zufahrtsstraße an Tor West benannt.

DIE LEITERIN DES „STORCHENNESTS“ „HERREN IM BAD“

ie erste Werksärztin der Farbwerke em körperlichen Wohlbefi nden der Belegschaft dienten DHöchst war Dr. Elisabeth Kuhn. Viele Dauch Hygiene und eine gesunde Ernährung. Am Ende eines „Farbwerker“ kannten sie im wahrsten Sinne anstrengenden Arbeitstages waren die „Rotfabriker“ stets komplett „von Geburt“ an, denn sie leitete das werks- eingefärbt – eine gründliche Reinigung war geboten. Porentief eigene Entbindungsheim. Im sogenannten konnten sich die Arbeiter in der 1892 erbauten Zentralbadeanstalt „Storchennest“ erblickten viele noch heute reinigen. Im für damalige Zeit hochmodernen „Rundbad“, einem DDr.r. EElisabethlisabeth KuhnKuhn lebende „Rotfabriker“ das Licht der Welt. Nach Gebäude mit kreisförmigem Grundriss, gab es Duschen und 140 **18851885 ††19771977 der im Jahr 1977 verstorbenen Ärztin ist die Wannenbäder sowie ein römisch-irisches Bad. Zusätzliche Räum- Zufahrtsstraße zum Besuchertor K 801 benannt. lichkeiten für Massagen waren auch vorhanden.

Zentrale Badeanstalt „Rundbad“

Das 1892 erbaute Rundbad in der Durchsicht. 8 MEDIZIN AUS MIKROBEN

An der Erfolgsgeschichte des Industrieparks haben ganz große Namen mitgeschrieben: Robert Koch, Begründer der medizinischen Mikrobiologie und der Immunitätsforschung, übergab den Farbwerken Höchst sein Labor und seine Mitarbeiter. Dies war der Beginn der Produktion von Impfstoff en am Standort.

DER ENTDECKER UNSERER DIE BAKTERIOLOGISCHE KLEINSTEN GEGNER ABTEILUNG GEHT AN DEN START er lässt sich nicht regelmäßig impfen? Ein kurzer Picks, ein ls Robert Koch im Jahr 1890 in Berlin auf Wlanganhaltender Schutz vor so manch gefährlicher Krank- Adem Internationalen Ärztekongress ein heit. Nach einer Schutzimpfung bildet die körpereigene Immunab- Mittel gegen Tuberkulose vorstellte, sprach wehr Antikörper gegen Krankheitserreger. Das kann den Ausbruch die Welt von einer Ruhmestat. Das „Tuber- einer Infektionskrankheit verhindern oder abschwächen. Dass kulin“, das er in seinem Berliner Laborato- die Menschen sich heute gegen viele Krankheiten impfen lassen rium aus gezüchteten und abgetöteten Tuber- können, verdanken sie auch Robert Koch. Er enthüllte, das mikro- kelbazillen herstellte, erwies sich jedoch als AAugustugust LLaubenheimeraubenheimer skopisch kleine Lebewesen Krankheiten hervorrufen – dies wies er wirkungslos – die enttäuschten Hoff nungen ** 1848 1848 iinn GGießenießen am Lebenszyklus des Milzbrand-Erregers nach. Später entdeckte führten dazu, dass die Presse vom Tuberku- †† 1904 1904 iinn HHöchstöchst er die Mikroorganismen, die für die Erregung der ansteckenden lin-Skandal sprach. War der Mensch machtlos Tuberkulose verantwortlich sind. Dafür erhielt er im Jahr 1905 den gegen seine kleinsten Feinde? Robert Koch Nobelpreis für Medizin. Koch versuchte auch, gegen die Volks- wollte daran nicht glauben, jedoch forschte er an anderen Krankheiten krankheit Tuberkulose ein Mittel zu fi nden. Das glückte ihm nicht. weiter und gab die Bekämpfung der Tuberkulose auf. Die Farbwerke wollten den Kampf gegen die Volkskrankheit nicht verloren geben. Beginn der Immunitätsforschung Jedoch bewährte sich sein aus abgetöteten Tuberkelbazillen Immunpräparate aus Höchst zusammengesetztes „Tuberkulin“ als Diagnostikum: Damit ließ Jedoch besaß das Unternehmen keine Erfahrung auf dem frisch aus sich feststellen, ob man an Tuberkulose litt oder nicht. Der Nach- der Taufe gehobenen Forschungsfeld der Immunpräparate gegen weis von Krankheitserregern im Körper war ein großer Schritt Infektionskrankheiten. Am Standort gab es noch keine Betriebe, in und begründete die Immunitätsforschung. Von Robert Kochs denen aus Bakterien Arzneimittel hergestellt wurden. Was war in dieser Bedeutung kündet heute nicht nur der Robert-Koch-Preis, mit Situation zu tun? Die Farbwerke beschlossen, etwas zu riskieren. Das dem jährlich herausragende biomedizinische Forschungsarbeiten Unternehmen schloss im Jahr 1892 mit Robert Koch einen Vertrag ausgezeichnet werden, sondern auch das Robert-Koch-Institut und verlagerte die Produktion von „Tuberkulin“ nach Höchst. Die (RKI), das Bundesinstitut für Infektionskrankheiten und nicht erfahrenen Labor-Mitarbeiter übernahmen sie gleich mit. Professor übertragbare Krankheiten in Berlin. Der Vorläufer des heutigen August Laubenheimer, seit 1883 in Diensten der Farbwerke Hoechst RKI wurde im Jahr 1891 gegründet – Robert Koch selbst hat das und dort bis dato für die Farbstoff e und die synthetischen Arzneimittel Institut bis zum Jahr 1904 geleitet. verantwortlich, ging damit ein hohes unternehmerisches Risiko ein: Er kaufte Labor, Mannschaft und ein nicht ausgereiftes Produkt, das Robert Koch und Höchst „Tuberkulin“, und versuchte es zur Marktreife zu führen. Glücklicher- So mancher Höchster wird die Robert-Koch-Schule in der weise stellte sich der Erfolg schnell ein: Im selben Jahr konnten die Luciusstraße besucht haben. Es ist kein Zufall, dass die Schule in der Farbwerke ihr erstes Immunpräparat vorstellen, hergestellt im ersten Nachbarschaft des Industrieparks zu Ehren Kochs benannt wurde, eigenen bakteriologischen Betrieb, das „Tuberculocidin“. Es stärkte denn die Farbwerke hatten mit dem späteren Nobelpreisträger das Immunsystem gegen die unsichtbaren Krankheitserreger. Die einen Vertrag geschlossen und führten seine Suche nach einem Farbwerke hatten sich auf dem neuen Feld der biologischen Präparate Immunpräparat gegen Tuberkulose fort. etabliert – große Erfolge mit Impfseren sollten folgen.

AAnsichtnsicht dderer FarbwerkeFarbwerke imim JJahrahr 11890.890.

9 1896

1894

IMPFSERUM GEGEN EINE VOLKSKRANKHEIT

Vor der gefürchteten Diphtherie, einer Volkskrankheit, konnten sich die Menschen erstmals durch ein Impfserum schützen, das die Farbwerke nach dem Verfahren Emil von Behrings in Serie produzierten.

RETTER VOR DEM „WÜRGE-ENGEL“

m Ständestaat des 19. Jahrhunderts prädestinierten Emil Behring Giftstoff e, die Toxine, durch vom Körper Iweder eine hohe Geburt noch materieller Reichtum, um sich gebildete Stoff e, Antikörper, unschädlich einen großen Namen zu machen. Der spätere Nobelpreisträger gemacht werden können. Behring gelang wurde als Sohn eines Lehrers geboren und konnte das Abitur nur es, ein Serum mit Antitoxinen herzustel- dank eines staatlichen Stipendiums erwerben. Mit großer Zielstre- len: Er gewann es aus dem Blut infi zierter bigkeit absolvierte er seine berufl iche Laufbahn und verpfl ichtete Tiere, deren Immunabwehr Antikörper sich als Arzt zum Militärdienst. Bei der Arbeit als Stabsarzt war gebildet hatte. Die Impfung heilte zwei neben der Wundversorgung auch die Verhinderung von Seuchen kranke Kinder. Und Behring erschuf EEmilmil vvonon BBehringehring wichtig. So begegnete Behring der ansteckenden Erkrankung, als die wissenschaftliche Grundlage der * 11854,854, † 11917917 deren Bezwinger er in die Geschichte eingehen sollte: Der Volks- Serum-Therapie. Dafür wurde er nicht krankheit Diphtherie. nur geadelt (und durfte sich nun „von Behring“ nennen), sondern er konnte auch den ersten Nobelpreis Kampf gegen Diphtherie für Medizin im Jahr 1901 entgegennehmen. Doch am wichtigsten: Eine Infektion konnte zum Verschluss der Atemwege führen, wes- Er rettete unzählige Menschen vor einem qualvollen Tod. halb die Krankheit auch als „Würge-Engel“ berüchtigt war. Es gab kein wirksames Mittel dagegen. Behring blieb hartnäckig und Serum gegen Tetanus forschte am Institut von Robert Koch weiter. Schließlich gelang Dabei halfen die Farbwerke kräftig mit. Sie produzierten nach ihm der Durchbruch im Kampf gegen diese Krankheit: Behring seinem Verfahren ab 1894 ein wirksames Serum gegen Diphtherie entdeckte, dass die von den Diphterie-Bakterien abgesonderten – später auch ein Serum gegen Tetanus.

ANTITOXINE AUS DEM „FOHLENPFERCH“ DER FARBWERKE

ie ansteckende Krankheit Diphtherie forderte Jahr für Jahr einstöckigen Bau befanden sich Bruträume und Laboratorien, in Dviele Todesopfer, vor allem Kinder. Als es Emil von Behring dem größeren Bau mit dem U-förmigen Grundriss waren Pfer- gelang, ein wirksames Impfserum herzustellen, schien Rettung in deställe untergebracht (siehe Abbildung). Hinter den Stallungen Sicht. Doch fehlten Behring die Kapazitäten, um das Impfserum in breitete sich der sogenannte „Fohlenpferch“ der Farbwerke aus. großen Mengen herzustellen. Professor August Laubenheimer, der Hier sorgten Tierpfl eger, viele von ihnen vormalige Kavalleriesol- in Diensten der Farbwerke Höchst schon Robert Kochs Produktion daten, für den täglichen Auslauf der Pferde. Die Bakterien wurden von „Tuberkulin“ nach Höchst geholt und den bakteriologischen auf Nährböden in Brutschränken gezüchtet, das von den Mikro- Betrieb etabliert hatte, wollte auf dem Gebiet der Immunpräpa- organismen produzierte Diphtherie-Gift extrahierten Laboranten. rate weiter wachsen. 1892 nahmen die Farbwerke Behring unter Die eigentlichen Produzenten der Antitoxine waren die Pferde in Vertrag. In Höchst wurden zwei neue Gebäude errichtet. In dem den Stallungen. Den Tieren wurden die Toxine injiziert, und ihre Immunabwehr bildete Antikörper gegen das Gift. Für die Serum- Herstellung wurde den Pferden Blut abgenommen, dafür gab es bei den Ställen einen eigenen Operationsraum. In großen Standgläsern wurde das Blut einen ganzen Tag lang in einem Eisschrank gekühlt, während sich die festen Bestandteile am Boden sammelten und oben das helle Serum mit den Antikörpern verblieb. Anschließend erfolg- Fohlenpferch ten noch die Reinigung, das Zentrifugieren und die bakteriologi- sche Untersuchung des Impfstoff es. Ab 1894 produzierte die neue Stallungen Herstellungsanlage am Standort das erste wirksame Serum gegen Bruträume Diphterie in Serie. Das Immunpräparat der Farbwerke erwies sich und für die Menschen als wahrer Segen, viele Kinder überlebten von Laboratorien nun an eine gefürchtete Volkskrankheit. 10 „HEIMCHEN“ UND HERD: WORK-LIFE-BALANCE UM 1900

Für das Wohlbefi nden der Mitarbeiter haben bei den Farbwerken nicht nur Werksärzte und Badehäuser gesorgt, in Bier- und Speisehallen konnten sich die Arbeiter zu Tisch setzen und in eigens errichteten Arbeitersiedlungen sesshaft werden.

LEIB UND MAGEN

chon früh gab es Werksküchen zur Verpfl egung der Mitarbeiter. SBereits die Fabrik von 1867 verfügte über eine Küche und einen Speiseraum für die Mitarbeiter. 15 Jahre nach der Gründung der Teerfarbenfabrik wurden 1878 sogenannte „Menagen“ errichtet, die von den Arbeitern selbst verwaltet wurden. In diesen „Bier- und Speisehallen“ wurden im Jahr 1911 auf Anweisung von General- direktor Gustav von Brüning der Bierausschank eingestellt und aus- schließlich alkoholfreie Getränke ausgeschenkt. Insbesondere die Werkskapelle war durch übermäßigen Alkoholkonsum aufgefallen. Blick in die Werkskantine um 1920. Heute wird am Standort in mehreren Betriebsrestaurants für Leib und Magen der Mitarbeiter gesorgt. Das Bistro-Casino in Gebäude wurde nach 20 Monaten Bauzeit im Jahr 1982 eingeweiht. Das C 785 hat seinen Vorläufer in einem ehemaligen Prokuristen-Casino Betriebsrestaurant Ost wurde im Jahr 1986 eröff net – untergebracht aus dem Jahr 1922. Das Restaurant Süd wurde 1971 in Betrieb ist es in einem im Jahr 1955 als Wasch- und Badehaus errichteten genommen. In den 1990er Jahren wurde es umfassend erneuert Gebäude. Heute bewirten die drei großen Betriebsrestaurants im und erhielt sein heutiges Aussehen. Die Werkskantine im Westen Industriepark Höchst jeden Werktag im Durchschnitt 4.000 Gäste.

HAUS UND HOF

er träumt nicht von einem Haus im Grünen mit eigenem dafür hatte der Unternehmensgründer Wilhelm Meister zu seinem WGarten? Für die Belegschaft errichteten die Farbwerke Ruhestand gestiftet. Wohnhäuser mit niedrigen Mieten. Selbstredend geschah dies nicht aus purer Nächstenliebe. Das Unternehmen hatte einen schnell Kranz um den Standort wachsenden Bedarf an Arbeitskräften – und wollte Arbeiter anwer- Die Farbwerke hatten ihre Umgebung weitreichend sichtbar ben und langfristig an das Unternehmen binden. Arbeiteten im gestaltet: Kranzförmig legten sich die Werkssiedlungen, die fast Jahr 1875 rund 400 Arbeiter am Standort, waren es 13 Jahre später ausschließlich aus Ein- und Zweifamilienhäusern und Gärten schon rund 1.800 und um die Jahrhundertwende weitere 12 Jahre erbaut waren, um den Industriepark. Die Werkswohnungen ver- später bereits 4.000. Zwar fand das Unternehmen ausreichend viele fügten seit 1895 über einen Gasanschluss und fl ießendes Wasser. Arbeiter. Aufgrund der hohen Fluktuation der Mitarbeiter konnten Zur vom Unternehmen direkt oder indirekt fi nanzierten Infra- die Farbwerke jedoch nicht den dringend benötigten Stamm von struktur der Siedlungen gehörte auch so manche Schule, Kirche Facharbeitern aufbauen. In jedem Jahr der 1890er Jahre stellte die oder Kaufhaus. Viele Mitarbeiter fanden am und um den Standort Fabrik rund 1.200 Mitarbeiter ein, von denen nur wenige langfristig ihre Heimat, manche Familien blieben dem Umfeld der Fabrik über am Standort blieben. Generationen treu.

Siedelnde Wanderarbeiter Darum sollten auswärtige Arbeitskräfte am Standort sesshaft GROSSE FESTHALLE VON 1896 werden: 1875 bezogen die Arbeiter vier Wohnungen im „Seeacker“ nahe Tor Ost. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden so rund 1.400 ine große Festhalle wird Behausungen gebaut. Um 1900 logierte einer von zehn Mitarbeitern Enahe beim Tor Ost im Jahr in einem werkseigenen Haus. Zur sozialen Absicherung entstand 1896 errichtet – sie steht noch auch die Krankenkasse. Und 1886 wurde die Beamten-Pensions- heute. Neben einem Festsaal kasse gegründet, Vorläuferin der noch heute bestehenden Pensions- gibt es dort Speiseräume für die kasse der Mitarbeiter der Hoechst-Gruppe VVaG. Im sogenannten Belegschaft. Und auf der Kegel- „Heimchen“, einer Altensiedlung, durften langjährige Mitarbeiter bahn dürfen die Mitarbeiter „in ihren Lebensabend verbringen – mietfrei. Das Ausgangskapital die Vollen“ werfen. 11 1910

1904

„ADRENALIN-KICK“ AUS DEN FARBWERKEN

Ungeahnte Möglichkeiten der medizinischen Behandlung haben sich in den vergangenen 150 Jahren eröff net – dazu haben Erfi ndungen aus Höchst kräftig beigetragen. Gegen Schmerzen half Arznei aus den Farbwerken – und bei Operationen sorgte ein synthetischer „Adrenalin-Kick“ für eine tiefe Narkose.

BESSER SCHMERZMITTEL STATT RAUSCHGIFT

ine Operation ist für Patienten unangenehm, doch dank der Das Hormon veranlasst die Blutgefäße, sich zusammenzuziehen. ENarkose erträglich. Das war in früheren Zeiten anders, die So bleibt das Betäubungsmittel länger im Blut und man benötigt Patienten mussten leiden. Man verwendete Drogen zur Anästhe- eine geringere Dosis. Wie Hormone wirken, war damals gerade sie, so beispielsweise Kokain und Heroin zur örtlichen Betäubung. erst entdeckt worden. Es war bekannt, dass Nervenbahnen viele Ärzte und Forscher versuchten, diese Suchtmittel durch medizi- Funktionen im Körper steuern. Erst später entdeckten Forscher, nische Anästhetika zu ersetzen. Den Farbwerken gelang es, das dass auch über die Blutbahn Steuerbefehle gegeben werden – erste künstlich hergestellte – synthetische – Betäubungsmittel zu mittels Hormonen. Das Wort bedeutet Antreiber, eine passende entwickeln: Sie nannten es „Novocain“, das neue Kokain. Beschreibung für den sprichwörtlichen Adrenalin-Kick. Für den Einsatz in der Medizin gewann man Adrenalin zunächst aus den Ein wirkungsvoller Zusatz Nebennieren von Schlachttieren, was recht kostspielig war. Ein Um die Wirkung von Betäubungsmitteln bei der Lokalanästhesie, preiswerter Ersatz musste her – und wieder wurde ein Höchster der örtlichen Betäubung, zu verstärken, nutzte man Adrenalin. Forscher fündig.

VATER VIELER MEDIKAMENTE

gelingt es dem Chemiker Friedrich Stolz, das Hormon der Paulistraße gelebt hatte, wurde nach 1904 Adrenalin zu synthetisieren, es künstlich und nicht aus seinem Tod im Jahr 1936 auf dem Höchs- Schlachttieren zu gewinnen. Im Jahr 1906 bringen die Farbwerke das ter Friedhof beigesetzt. Hormon unter dem Namen „Suprarenin“ auf den Markt. Das „Sup- rarenin“ erweist sich als ideale Ergänzung zum „Novocain“ – auch Grundlage für „Novalgin“ weil das Betäubungsmittel seinerseits die Wirkung des Adrenalins nicht Der Apothekersohn Stolz war indirekt an abschwächt. So setzt die Kombination des ersten synthetischen Hor- einem weiteren Meilenstein der Pharma- mons mit dem ersten synthetischen Betäubungsmittel einen Standard zie beteiligt: Ein aus dem „Melubrin“ entwickeltes Arzneimittel, das in den Krankenhäusern des frühen 20. Jahrhunderts. „Novalgin“, war seit seiner Einführung 1922 bis in die 1970er Jahre ein Standardmedikament in der Schmerzbehandlung. Ein erfolgreicher Forscher Die Synthese des „Suprarenin“ war nicht der erste Erfolg von Friedrich Stolz: Er hatte bereits 1893 aus dem Antipyrin-Molekül das „Pyrami- don“ entwickelt. Die Pharmazie wurde Stolz gleichsam in die Wiege HAUPTLABOR FÜR DIE gelegt: Er entstammte einer Heilbronner Apothekerfamilie und hatte FORSCHUNG in München Pharmazie studiert. Nach dem Studium entschied er sich gegen die Arbeit in einer Stadtapotheke, was der Wunsch seines Im Jahr 1889 wird Vaters gewesen wäre. Gut, dass der begabte Forscher nicht auf seinen das erste „For- Vater hörte. Stattdessen ging er als Industrie- schungszentrum“ chemiker nach Höchst, wo er immer wieder am Standort, das Forschungserfolge feierte. 1912 entwickelte Hauptlabor, errichtet. er ein Schmerzmittel, das bei Gelenkrheuma An seiner Stelle stärker wirkt als „Pyramidon“: Das „Melu- befi ndet sich heute brin“. Der Medikamentenname setzt sich aus das Gebäude D 725. den Anfangsbuchstaben der Firmengründer Im Hauptlabor ist FFriedrichriedrich SStolztolz Meister, Lucius und Brüning zusammen. die wissenschaftliche * 11860860 † 19361936 Friedrich Stolz, der in unmittelbarer Nähe des Bibliothek unter- heutigen Tor Ost in einer Werkswohnung in gebracht. 12 VON DEN ERSTEN ARZNEIEN ZUR CHEMOTHERAPIE

hemotherapie – dabei denken viele Menschen an belastende Nebenwirkungen bei der Behandlung von Krebs. Dabei richtet sich die CChemotherapie mit chemischen Mitteln möglichst gezielt und wirkungsstark gegen Krebszellen oder Krankheitskeime und schont dabei den Organismus des Patienten soweit wie möglich. Leider gibt es nicht gegen jede Krankheit eine derart ideal wirkende Arznei. Noch vor hundert Jahren waren zielgenau wirkende Medikamente unbekannt. Chemische Stoff e gezielt mit Blick auf ihre Wirkung gegen bestimmte Krankheitskeime zu testen und modifi zieren, war damals keine „Standard operating procedure“. Doch der Mediziner Paul Ehrlich war es gewohnt, Neuland zu betreten.

PAUL EHRLICH BEGRÜNDET DIE MODERNE CHEMOTHERAPIE

aul Ehrlich verwendete Farbstoff e, um Zellen unter Emil Behring und den Farbwerken bei der Entwicklung Pdem Mikroskop besser untersuchen zu können. des Diphtherie-Serums. Für seine Methode, mit der die Durch seine Färbemethoden unterschied er ver- Wirksamkeit von Impfseren bestimmt werden konnte, schiedene Arten von Blutzellen, wodurch die Dia- die sogenannte „Wertbestimmung von Sera“, erhielt gnose zahlreicher Blutkrankheiten möglich wurde. er 1908 gar den Medizin-Nobelpreis. Ungeachtet die- Ehrlich musste zwangsläufi g mit den „Farbwerken“ PPaulaul EEhrlichhrlich ser Erfolge sollte eine ganz große Stunde für Ehrlich in Berührung kommen, schon im Labor hatte er das * 11854854 † 11915915 und die Farbwerke noch kommen – im Kampf gegen Höchster „Methylenblau“ verwendet. Später half er die Syphilis.

„SILBERKUGEL“ GEGEN SYPHILIS: „SALVARSAN“

u Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es kein Mittel gegen die von der „Silberkugel“ gegen Syphilis – ZSyphilis, eine tödlich verlaufende Geschlechtskrankheit, die manchmal reicht eine einzige Injektion sich seit dem 16. Jahrhundert in allen Bevölkerungsschichten aus- zur Heilung – verbreitet sich schnell, breitet. Paul Ehrlich geht in seinem Kampf gegen die bakterielle obschon das Präparat noch in der Ver- Infektion systematisch vor. Er infi ziert Ratten mit dem Erreger der suchsphase steht. Syphilis und testet anschließend chemische Verbindungen aus Arsen auf ihre Heilkraft. 600 Versuche schlagen fehl. Doch Ehrlich bleibt „Heilendes Arsen“ aus hartnäckig, denn an der „Lues Venera“ – der „Krankheit der Venus“ den Farbwerken – gehen viele Menschen Die Farbwerke, mit denen Ehrlich vertraglich verbunden ist, jämmerlich zugrunde. beginnen die Herstellung auf großtechnische Anlagen zu über- Mit dem „Präparat tragen. Es ist ein schwieriges Unterfangen, das Laborverfahren 606“ gelingen ihm und zur Herstellung des Wirkstoff es auf den Maßstab großer Anlagen seinem Mitarbeiter, zu übertragen, denn die Qualität muss immer gleich bleibend dem japanischen Bak- hoch sein. Während der Versuchsreihen treibt die Verzweifl ung teriologen Sahatschiro der Syphilitiker die Farbwerke dazu, ihre Medikamentenproben Hata, schließlich die sorgfältig zu sichern – im Panzerschrank der Direktion. Doch Heilung. Das Mittel schließlich ist Hilfe für die Kranken in Sicht: Es gelingt den Farb- wird an Menschen werken, das Präparat in gleich bleibender Qualität großtechnisch erprobt und beweist herzustellen. Im Jahr 1910 bringen die Farbwerke das Mittel als Mitarbeiter der Farbwerke füllen auch hier seine Wirk- „heilendes Arsen“, als „Salvarsan“, auf den Markt. Das Mittel „Salvarsan“ ab. samkeit. Die Kunde markiert den Beginn der modernen Chemotherapie.

WENIGER NEBENWIRKUNGEN DANK „NEO-SALVARSAN“

Kennzeichnend für Paul Ehrlich und die Farbwerke ist, dass sie bei verursachen kann. Auch das glückt ihnen: Das neue Salvarsan, dem Meilenstein „Salvarsan“ nicht stehenbleiben: Sie wollen das „Neo-Salvarsan“, ist nun sogar in destilliertem Wasser löslich. Es für die Injektion nur schwer lösliche Präparat verbessern, da die wirkt stark gegen die Bakterien und ist für den Patienten besser bisher nötige Lösung in Natronlauge schwere Nebenwirkungen verträglich – so gut wirkt eine Chemotherapie im Idealfall. 13 1924

1913

DER ERSTE WELTKRIEG VERÄNDERT ALLES

am Vorabend des ersten Höchst einige Farbstoff - von Salpetersäure auch 1913, Weltkrieges feierten die betriebe stillgelegt. chemisch möglich: In Farbwerke ihr 50-jähriges Bestehen. Auf Höchst wurden eigens dem Werksgelände arbeiteten nahezu 8.900 Kriegsproduktion für die Kriegspro- Menschen. Die deutschen Farbhersteller Statt Farben musste auf duktion Betriebe zur hatten eine Vormachtstellung auf dem Weisung des Kriegs- Produktion von Salpe- Weltmarkt: Bis zu 85 Prozent des Welt- ministeriums Salpeter- tersäure errichtet. Die bedarfs konnte aus deutscher Erzeugung säure produziert werden. chemische Produktion gedeckt werden. Diese Lage änderte sich Salpetersäure wurde zur von Salpeter verlängerte durch den Ersten Weltkrieg vollständig. Munitionsherstellung den Krieg. Die 546 benötigt und wurde bis gefallenen Mitarbeiter Stillgelegte Betriebe dahin aus Chilesalpeter aus den Farbwerken Viele Mitarbeiter mussten zum Wehrdienst gewonnen, der aus gehörten zu den Millio- auf die Schlachtfelder. Farbstoff e konnten Südamerika importiert nen, die im Ersten Welt- Produktionsanlage für Salpeter. kaum noch exportiert werden. Zum einen werden musste. Je länger krieg auf den Schlacht- verhinderte das die englische Seeblockade, der Krieg dauerte, desto feldern, durch Hunger zum anderen bestand außer für Feldgrau für weniger Rohstoff e hatte das Militär zur und Krankheiten umkamen. die Uniformen wenig Nachfrage. Das hatte Verfügung – die Seeblockade verhinderte Folgen: Im Laufe des Krieges wurden in den Nachschub. Jedoch war die Synthese

FRAUEN BEI DEN FARBWERKEN

e länger der Krieg dauerte, desto deut- Frauen, im gleichen Jahr traten die ersten Jlicher wurde, dass die Unternehmen aus- Akademikerinnen ihre Arbeit am Standort schließlich mit männlichen Arbeitskräften an. Und die Farbwerke richteten bereits nicht weiter produzieren konnten. Frauen 1917 für die Betreuung des Nachwuchses eroberten die Betriebe. Ab 1917 arbeite- einen Kindergarten ein. ten in fast allen Betrieben der Farbwerke

DUDEN UND DIE VERHALTENER NEUSTART MIT ACETYLENCHEMIE DÜNGEMITTELN UND KUNSTSTOFFEN

er Chemiker Paul unger und Krankheiten, Reparations- umnutzen. Und bereits gegen Ende des DDuden arbeitete Hzahlungen und soziale Unruhen belas- Krieges, 1917, waren in Höchst die Grund- seit 1905 für die Farb- teten die deutsche Bevölkerung nach dem lagen für die spätere Kunststoff produktion werke, er begann als Krieg. Die deutsche Chemie hatte ihren gelegt worden. Leiter des Azofar- Vorsprung bei Farben und Arzneimitteln benbetriebs. Zur Zeit verloren. Im Ausland waren im Krieg die Kunststoffe PPaulaul DDudenuden des Kriegsausbruchs * 11868;868; † 11954954 Fabriken und Patente deutscher Firmen Der technische Werksleiter Paul Duden 1914 war er technischer beschlagnahmt worden. Die deutsche hatte in Höchst die Acetylenchemie wei- Werksleiter der Farbwerke. chemische Industrie, vormals als „Apo- terentwickelt. Acetylen war Ausgangs- 1917 legte Duden die Grundlagen für die theke der Welt“ bewundert, stand unter basis für viele sogenannte Monomere, die spätere Kunststoff produktion, indem er ein Zugzwang. Es galt, die Kriegsproduktion zu verschiedenen Kunststoff en kombiniert Verfahren zur Herstellung von Acetaldehyd, wieder auf die zivile Nutzung umzustellen. werden konnten. Jedoch sollte am Standort Aceton und Essigsäure entwickelte. Eine das Zeitalter der Kunststoff e erst richtig im Straße in Kriftel ist nach dem Chemiker Düngemittel Jahr 1928 beginnen: mit „Mowilith“, einem benannt worden, der weniger bekannt ist Nach mehreren Jahren Forschung konnten Polyvinylacetat (PVA). als sein Vater, der Wörterbuch-Schöpfer die Farbwerke ihre Anlagen schließlich Konrad Duden. im Jahr 1921 zur Düngemittelproduktion 14 DER PETER-BEHRENS-BAU: „UMBAUTES LICHT“

urm und Brücke – von diesen klassischen Bauwerken der Marmorsaal TMenschheit gibt es unzählige, doch Industriepark-Mitarbeiter Der Behrens-Bau ist nicht unverändert durch die Zeit gegangen. Im wissen, damit kann nur der Peter-Behrens-Bau gemeint sein. Das zweiten Obergeschoss entlang der Straßenseite lag anfänglich das heute als „Juwel der Industriearchitektur“ gepriesene Gebäude „große Sitzungszimmer“, auch „Marmorsaal“ genannt, weil es ganz wurde ab dem Jahr 1920 geplant, um die am Standort verstreut mit Travertin verkleidet war. Tisch, Stühle und Fenster-Vorhänge liegenden technischen Abteilungen zusammenzuführen. Als Ver- hatte Peter Behrens entworfen. Doch bereits in den 1930er Jahren waltungsgebäude sollte es das Hauptkontor (heute: Gebäude D 706) wurde dieser Sitzungssaal in drei Büros mit hölzernen Schrank- erweitern, das im Jahr 1893 eingeweiht worden war. Als Verbindung wänden unterteilt. Auch der Hörsaal zeigt sich heute nicht mehr in zwischen beiden Gebäuden schlug der Architekt Peter Behrens eine seiner originalen Ausstattung: Er wurde im Zweiten Weltkrieg von Brücke, die sich über die Brüningstraße erstreckt. Für den reprä- Sprengbomben getroff en und in den 1950er Jahren in veränderter sentativen Bau sollte ursprünglich Sandstein großfl ächig verwendet Form wieder aufgebaut. Hingegen präsentiert die Ausstellungshalle werden. Doch Baumaterial war knapp, es herrschte Infl ation und im Erdgeschoss, die während des Nationalsozialismus umgebaut als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg hatten französische worden war, seit ihrer Rekonstruktion im Jahr 2008 wieder ihr Truppen im Jahr 1923 den ursprüngliches Aussehen. Gleichermaßen wurden die Farbfassun- Standort besetzt. So wur- gen in der Kuppelhalle 2010 behutsam restauriert. den die regional verfüg- baren Ziegel eingesetzt, Turm und Brücke die das Erscheinungsbild als Firmenlogo des Gebäudes außen und Das Technische Ver- innen prägen. waltungsgebäude war in einer Zeit des Umbruchs Kuppelhalle entstanden. Der Erste Die meisten Industrie- Weltkrieg lag noch nicht park-Mitarbeiter werden lange zurück, Repa- schon das Herzstück des rationszahlungen und Gebäudes, die Kuppelhalle Infl ation belasteten die besichtigt haben. Die über Menschen. Als der Beh- dem Raum schwebenden rens-Bau schließlich im Glaskuppeln sind Kristal- Jahr 1924 eingeweiht wurde, konnte er seine Funktion als reprä- len nachempfunden, das sentativer Firmensitz nur für kurze Zeit erfüllen. Mit Gründung hereinfl utende Licht fällt auf gefärbte Ziegelpfeiler, die sich zum der I. G. Farben AG im Jahr 1925 wurde der Standort zu einem Hallenboden hin verjüngen. Von unten nach oben bauen sich die I. G. Farben-Werk unter vielen. Die I. G. Farben selbst bezog Farben von Grün über Blau und Rot bis zu Gelb auf, dabei neh- ihren Hauptsitz am Frankfurter Grüneburgpark (das ehemalige men die heller werdenden Farben den immer weiter auskragenden I. G. Farben-Haus ist heute Teil der Frankfurter Goethe-Univer- Pfeilern die Wuchtigkeit. Als „Umbautes Licht“ ist dieser Raum- sität). Der Behrens-Bau wurde vorübergehend zu einem einfachen eindruck gepriesen worden. Die farbliche Gestaltung ist ebenso wie Bürogebäude. Doch Jahre später wurde die Silhouette des Behrens- die Verwendung von kristallinen Formen in den Glaskuppeln und Baus weithin bekannt, Turm und Brücke wurden zum Firmenlogo Deckenlampen, den Fensterfl ächen und Bodenmosaiken ein augen- des neugegründeten Hoechst-Konzerns und waren als Werbeschild fälliger Verweis auf die Farbwerke Höchst. an Apotheken weltweit im Straßenbild präsent.

Die Fassadengestaltung Die Ausstellungshalle im Der Hörsaal des Behrens-Baus Der ganz mit Travertin zitiert das Firmenwappen Erdgeschoss im Zustand von 1927. vor der Zerstörung durch verkleidete „Marmorsaal“ in mit dem nassauischen Löwen. Die Halle wurde 2008 restauriert. Bombentreff er. seinem ursprünglichen Zustand. 15 1933

DAS WERK HÖCHST DER I. G. FARBEN IM NATIONALSOZIALISMUS

ereits im Kriegsjahr 1916 hatten sich Nazi-Flaggen beim 75-jährigen Jubiläum Bdie Farbwerke mit anderen Unter- 1933 rissen die Nationalsozialisten die nehmen zur „Interessengemeinschaft der Macht in Deutschland an sich. Wie andere deutschen Teerfarbenfabriken“ zusam- Industriezweige kooperierten auch die mengeschlossen. In dieser „Kleinen I. G.“ I. G. Farben mit dem Nazi-Regime. Alle blieben die Farbwerke als Unternehmen als jüdisch geltenden Mitarbeiter wurden jedoch noch selbstständig. Die Kriegswirt- zwischen 1933 und 1938 aus dem Unter- schaft, die weggebrochenen Exportmärkte nehmen entlassen. Als das Werk Höchst im und der Verlust der ausländischen Werke Jahr 1938 sein 75-jähriges Jubiläum feierte, hatten die Farbwerke zu diesem Schritt waren Nazi-Flaggen gehisst. Nicht nur veranlasst. Vollständig fusionierten die Werksleiter Ludwig Hermann stand dem Farbwerke mit weiteren Chemieunterneh- Nazi-Regime nahe. men im Jahr 1925 zur „I.G. Farbenindus- Naturkautschuk abhängig. Und deutsche trie Aktiengesellschaft“. Höchst wurde zu Planung für den Krieg Chemieunternehmen konnten aus Kohle einem I. G. Farben-Werk unter vielen. Ab Die I. G. Farben hatten sich seit den 1920er durch Verfl üssigung synthetischen Otto- 1929 führte die Weltwirtschaftskrise dazu, Jahren ganz neue Produktfelder erschlossen, kraftstoff herstellen. Auch in Höchst gab dass Produktionsstätten zusammengelegt darunter künstlich hergestellten Kautschuk es eine Tankstelle mit dem synthetischen und viele Mitarbeiter entlassen wurden. und aus Kohle gewonnenes Benzin, sowie Benzin (im Bild links unten, im Hintergrund Höchst verlor während der I. G. Farben- Leichtmetalle und Synthetikfasern. Der der Peter-Behrens-Bau). Diese technologi- Zeit Teile seiner Farbenproduktion. Dafür synthetische Kautschuk wurde durch schen Errungenschaften waren auch für die wurden die Zweige Pharma, Pfl anzenschutz, Polymerisation von Butadien mit Natrium Kriegsplanung des Nazi-Regimes wichtig. Kunstharze und Lösungsmittel in Höchst erzeugt, daher der Name Buna. Dadurch ausgebaut. war man nicht mehr vom Import von

VERBRECHEN DER I. G. FARBEN

achdem Nazi-Deutschland den Krieg Wehrmacht waren, wurden Menschen aus Nim Jahr 1939 begonnen hatte, setzten den besetzten Ländern zunächst mit Ver- die I. G. Farben nicht nur Kriegsgefangene, sprechungen als freiwillige Arbeitskräfte sowie Fremd- und Zwangsarbeiter in ihren rekrutiert, später auch mit brutalem Zwang Werken ein, sondern auch Insassen von nach Deutschland gebracht. Die Arbeiter Konzentrationslagern. Im Werk Höchst der waren in zehn Lagern untergebracht, über- I. G. Farben sind KZ-Häftlinge zwischen wiegend auf dem Werksgelände und in 1940 und 1945 nicht nachweisbar. Doch Zeilsheim. Nach Kriegsende wurde für die rund 8.500 Fremd- und Zwangsarbeiter Fremd- und Zwangsarbeiter unter Aufsicht steht heute ein kleines Denkmal in Zeils- aus mehr als fünfzehn Nationen mussten der Amerikaner ein zentrales Auff ang- heim, an der Stelle, wo in der Nazi-Zeit im Werk Höchst während des Zweiten lager in Zeilsheim errichtet. Von hier aus eines der Zwangsarbeiterlager und in der Weltkrieges arbeiten. Da die meisten deut- sollten diese „Displaced Persons“ wieder Nachkriegszeit das zentrale Auff anglager schen Arbeitskräfte als Soldaten bei der eine Heimat fi nden. Für diese Menschen errichtet worden waren.

AMERIKANER IN HÖCHST

m 29. März 1945 besetzten amerika- waren bei Kriegsende nahezu unzerstört. Anische Truppen das Werk und den Mitte April 1945 beschlagnahmten die Stadtteil Höchst, die beide von den Flächen- Amerikaner das Werk Höchst offi ziell und bombardements der Alliierten verschont nutzten den Behrens-Bau, das alte Verwal- geblieben waren. Der Hörsaal im Behrens- tungsgebäude, das Kasino und die Werk- Bau war durch einen Bombentreff er zerstört stätten für die Militärverwaltung. worden, doch die Produktionsanlagen 16 1945

NACH KRIEGSENDE: NEUGRÜNDUNG MIT UMLAUT ach Kriegsende herrschte weiterhin große Not, es fehlte an Schreibweise mit „oe“ anstelle des deutschen Umlauts. 1947 wurde NAllem. Darum ließen die Amerikaner ab Sommer 1945 den das neue Logo eingeführt: Es zeigte Turm und Brücke des Behrens- Betrieb im Werk eingeschränkt wieder aufnehmen. Produziert Baus – in dieser ersten Fassung noch mit mittig stehendem Turm. wurde zunächst vieles für den Eigenbedarf. Werk und Wirtschaftswunder Rübenmarmelade aus dem Labor 1948 hatte mit der Währungsreform und der eingeführten Das Labor für technische Sonderprodukte lieferte Seife, D-Mark ein fast 20 Jahre währender Aufschwung Bohnerwachs und Zahnpasta, sowie Puddingpulver begonnen. Das „Wirtschaftswunder“ bezog auch die und Rübenmarmelade. Die Alizarinfabrik lieferte Farbwerke mit ein: Das Unternehmen erzielte 1948 Lederöl und Schuhcreme. In der Erntezeit wurde einen Jahresumsatz von fast 150 Millionen DM. Als im Werk auch Gemüse getrocknet und gefroren. „Farbwerke Hoechst AG Als der Winter nahte, mussten viele Betriebe die vormals Meister Lucius Arbeit einstellen – wegen vorhersehbaren Kohle- & Brüning“ wurde das mangels. Unternehmen 1951 neu gegründet. Zum neuen Unter- „Farbwerke Hoechst US Administration“ nehmen gehörten die Werke Höchst, 1945 hatten die Alliierten die Aufl ösung der I.G. Farbenindustrie AG Griesheim und Off enbach sowie ab dem verfügt und alle Werke unter Militärverwaltung gestellt. Die Amerika- Jahr 1952 Gersthofen. Karl Winnacker ner planten zunächst, das Werk Höchst in unabhängige Unternehmen wurde 1952 zum ersten Vorstandsvorsit- aufzuteilen. Doch dann entschieden sich die Amerikaner, die I. G. zenden ernannt. 1953 wurden die Farb- Farben so zu entfl echten, dass die zur I. G. fusionierten Unternehmen werke Hoechst aus der amerikanischen wieder auferstanden. Die Farbwerke fi rmierten zunächst noch unter Kontrolle entlassen. Dr. Karl Winnacker „Farbwerke Hoechst US Administration“ – Vorbild für die spätere

PENICILLIN: ANTIBIOTIKUM DER ERSTEN STUNDE

egen bakterielle Infektionen helfen Antibiotika. Diese wirksa- Gmen Arzneimittel verdanken die Menschen dem Zufall – und einem aufmerksamen Forscher. 1928 bemerkte der Schotte Alex- ander Fleming in einer seiner Petrischalen, die er mit Bakterien beimpft hatte, einen Schimmelpilz. Statt die scheinbar unbrauchbar gewordene Bakterienkultur einfach wegzuwerfen, sah er genauer hin: Rund um das Gefl echt des Schimmelpilzes waren alle Bakte- rien abgetötet worden. Fleming entdeckte bei seinen Forschungen, dass der Pilz einen Stoff absondert, der bestimmte Bakterien tötet. Fleming nannte den bakterientötenden Stoff Penicillin. 1941 wurde dieser Wirkstoff erstmals isoliert und erfolgreich klinisch getestet. Die Forschungsergebnisse wurden publiziert und gelangten trotz des Krieges nach Deutschland.

Penicillin aus Höchst In Höchst gelang es Heinz Öppinger und Rudolf Fußgänger, Peni- cillin im Labormaßstab herzustellen. Das Kriegsende verhinderte die Errichtung einer geplanten Produktionsanlage, jedoch wurde das bereits hergestellte Penicillin als Wundpuder vertrieben. 1948 konnte Höchst einen Lizenzvertrag mit dem amerikanischen Unter- nehmen Merck abschließen und mit Mitteln aus dem Marshall-Plan eine Penicillin-Anlage errichten. 1950 konnte die Produktionsan- In Anwesenheit des amerikanischen Hochkommissars John McCloy lage ganz Deutschland mit Penicillin versorgen. wurde am 4. August 1950 der Penicillin-Betrieb in Höchst eingeweiht.

17 EIN NEUES WAHRZEICHEN

er Standort Höchst war bis in die 1950er Jahre regellos gewachsen, manche Abteilungen Dlagen über das ganze Gelände verstreut. Um Teile der Verwaltung zentral zusammen- zuführen, begannen die Farbwerke, ein Hochhaus zu bauen, das 1956 eröff net wurde. Das Verkaufshochhaus trug die Gebäudebezeichnung C 660 und prägte das Bild des Standortes. Nach annähernd einem halben Jahrhundert wurde es im Jahr 2003 abgerissen.

Farbenstraße eröffnet Als das Hochhaus gebaut wurde, hatte auch der Autoverkehr stark zugenommen. 1954 wurde die alte Mainzer Straße, die als Durchgangsstraße von Frankfurt nach Mainz genutzt wurde, für den öff entlichen Verkehr gesperrt. Dafür wurde entlang der Nordseite des Werkes die Farbenstraße eröff net. Die Verbindungsstraße von Tor West zu C 660 wurde 1956 fertiggestellt.

Von A 70 zu C 770 Schon in den 1930er Jahren hatte die Werksleitung ver- sucht, den Standort neu zu strukturieren. Diese Versuche beendete der Krieg. Erst zwischen 1959 und 1965 wurde das Werksgelände neu gegliedert und ein Rasterplan ein- geführt. Bis dahin waren die Gebäude mit Buchstaben und Zahlen gekennzeichnet gewesen, so stand A sowohl für die Anilin- als auch die Alizarinfabrik, F für die Far- benfabrik und Ch für Chemiebetriebe (der 1950 eröff nete Penicillin-Betrieb war als Ch 21 gekennzeichnet). Doch eindeutig war die Trennung nicht: Beispielsweise war der Behrens-Bau der Alizarinfabrik zugeordnet und hieß A 70. Nachdem die auch heute noch gültigen Bezeichnungen mit Buchstaben von Nord nach Süd und Zahlen von West nach Ost eingeführt worden waren, wurde es leichter, sich Für den Bau des Verkaufshochhauses C 660 musste die 1898 erbaute zu orientieren. Der Behrens-Bau trägt heute die Kenn- Arbeitersiedlung „Mainfeld“ abgebrochen werden. zeichnung C 770.

Tor Ost in den 1950er Jahren So sah es in den frühen 1950er Jahren in der Nähe von Tor Ost aus: Horizontal im Bild (Foto rechts) verläuft die Brüningstraße, im Hintergrund liegt der Taunus im Nor- den. Am linken Bildrand ist die große Festhalle, erbaut 1896, zu erkennen, die auch heute noch steht. Das heutige Gebäude D 711 mit dem großen Wandmosaik ist auf dem Bild nicht zu sehen, es wurde erst in den späten 1950er Jahren errichtet, als neue Pharmaverpackung. Das mehr- stöckige graue Gebäude mit dem dunklen Satteldach am rechten Bildrand ist die alte Feuerwache. Dieses Gebäude war 1891 als zentrales Gebäude für das Fuhrwesen erbaut und 1920 zur Aufnahme der Feuerwache beträchtlich erweitert worden. 1960 wurde das Gebäude abgerissen, die Werkfeuerwehr bezog das neue Gebäude C 299. An Stelle des Fuhrwesens steht heute das Gebäude C 820, in dem auch die Besucher an Tor Ost empfangen werden. Auf Höhe des grauen Streifens auf der Fahrbahn am rech- ten Bildrand liegt heute die Toreinfahrt in den Industrie- park. (Das Foto wurde Anfang bis Mitte der 1950er Jahre aufgenommen, das genaue Jahr ist nicht belegt.) 18 1956

VON KOHLE ZU ERDÖL: START DER PETROCHEMIE AM STANDORT

ach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich für die chemische NIndustrie die Rohstoff basis: Das aus der Kohle gewonnene MITBEGRÜNDER DER Acetylen wurde weitgehend durch Ethylen aus Erdöl ersetzt. Das KUNSTSTOFFSPARTE Zeitalter der Petrochemie und der Kunststoff e begann. Prof. Otto Horn gilt als Mitbegründer Neue Rohstoffbasis der Kunststoffsparte von Hoechst. Er Zunächst kaufte Hoechst das war ab 1957 der erste Forschungs- Ethylen ein. Um den Grund- leiter von Hoechst. Nach Otto Horn PProf.rof. OttoOtto HornHorn stoff günstiger zu erhalten, nahm **1904,1904, ++19911991 ist die Verbindungsstraße vom Tor Hoechst im Jahr 1956 am Standort Süd-West zum Tor Süd benannt. eine Erdölspaltanlage in Betrieb, um das Ethylen aus Erdöl selbst zu gewinnen. Allerdings musste schon fünf Jahre später die Spalt- Verkaufshochhaus anlage wieder still gelegt werden, Kotra Koker C 660 Düngemittelsilo da die Weltmarktpreise für Ethylen so stark gefallen waren, dass die Anlage unrentabel wurde. Doch der sogenannte „Koker“, ein hun- dert Meter hoher Turm (Bild links), blieb ein weithin sichtbares Zeichen des Wandels der Rohstoff basis. Der „Koker“ wurde genutzt, um an seiner Spitze überschüssige Produktionsabgase lodernd abzufackeln. Höchster Schloß

Erdölspaltung mit Hochtemperatur-Pyrolyse Einen weiteren Versuch, Grund- stoffe günstiger zu erhalten, stellte die 1958 in Höchst errich- tete Hochtemperatur-Pyrolyse dar. Bei der Hochtemperatur- pyrolyse wird Erdöl oder Erdgas unter sehr hohen Temperaturen von mehr als 1.000 Grad Celsius in Ethylen und Acetylen ther- mochemisch gespalten. Auch diese Anlage (Bild links) musste geschlossen werden, weil sie auf- grund der Weltmarktpreise nicht mehr wirtschaftlich arbeiten konnte. Allerdings blieben die Ölpreise nicht immer berechenbar, und wäh- rend der Ölkrise in den 1970er Jahren zeigte sich, wie abhängig nicht nur die Chemie vom Erdölimport geworden war.

„Kotra“ bringt keine Kohle mehr Wegen der veränderten Rohstoff basis musste Kohle nicht mehr in großen Mengen in die einzelnen Betriebe am Standort geliefert wer- den. Am Standort gab es für die Lieferung von Kohle seit 1923 eine gewaltige Anlage: Die Kohlentransportanlage, kurz „Kotra“ genannt, hatte die von Schiff en angelieferte Kohle über Transportbänder in der gesamten Fabrik verteilt. Ihre Förderbänder waren überall auf dem Die Kohlentransportanlage („Kotra“) hatte bis 1966 die von Schiff en Gelände präsent. Sie wurde 1966 abgerissen. angelieferte Kohle über Transportbänder am gesamten Standort verteilt 19 KUNST-STOFFE UND -FASERN AUS HÖCHST

ach ersten Versuchen in den 1920er Jahren brach am Stand- Nort das Zeitalter der Petrochemie und der Kunststoff e in den 1950er Jahren wirklich an. Waren die ersten Kunst-Stoff e noch ein unvollkommener Ersatz für Natur-Stoff e gewesen, so boten die neuen Kunststoff e Eigenschaften, die natürliche Materialien nicht besaßen. Folgerichtig konnten sich die Kunststoff e neben Farben und Arzneimitteln als neue Chemiesparte etablieren. Doch die Farbwerke Hoechst mussten viel Tatkraft aufbieten, um an dieser Erfolgsge- schichte mitschreiben zu können.

Hosta-Kunststoffe Das Zeitalter der Petrochemie begann mit dem aus dem Erdöl gewon- nen Ethylen. Der Chemiker Karl Ziegler hatte aus dem Ethylen das Polyethylen entwickelt. Für diese Kunststoff e boten sich viele Anwendungsmöglichkeiten. Das hatte man auch in Höchst erkannt: Professor Otto Horn nahm im Jahr 1952 Kontakt zu Ziegler auf und erwarb dessen Niederdruckpolyethylen-Verfahren, Karl Ziegler selbst erhielt für sein Verfahren im Jahr 1963 den Nobelpreis. Am Standort wurde noch im Jahr 1952 ein Betrieb errichtet, der viele erfolgreiche Kunststoff e unter dem Markennamen „Hosta-“ entwi- Hostalen eroberte die Haushalte (oberes Bild). Blick in die Hostalen- ckelte und vermarktete. Nicht nur viele Gebrauchsgüter des täglichen Produktion in den 1950er Jahren (unteres Bild) – auch Bierkästen Bedarfs konnten aus diesen Kunststoff en gefertigt werden, sondern wurden aus dem formstabilen Kunststoff gefertigt. auch stark belastete Maschinenteile wie Zahnräder. wickelten Farbstoff en, den „Samaronen“, lichtecht färben. Zudem Kunstfaser Trevira waren die Kleidungsstücke für die neu eingeführten Waschmaschinen Für den Einstieg bei Kunstfasern hatte Hoechst geeignet. Für „Trevira“ gab es viele Anwendungsmöglichkeiten, zunächst eine Lizenz zur Herstellung von Polyester- unter der Marke „Trevira Studio International“ brachte Hoechst fasern erworben, die das Unternehmen 1955 unter Modekollektionen auf den Markt und das extrem belastbare „Trevira dem Namen „Diolen“ der Textilindustrie anbot. Hochfest“ wurde in der Industrie als technischer Faserwerkstoff ein- Doch wie in der Vergangenheit versuchte Hoechst beim Einstieg in gesetzt. Mit „Trevira“ konnte Hoechst eine lange dauernde Erfolgs- neue Sparten möglichst schnell, eigene Innovationen zu entwickeln. geschichte schreiben. Als die Farbwerke an den Start gingen, lieferten Dies glückte eindrucksvoll mit den Fasern, die Hoechst unter dem sie der Textilindustrie die Färbemittel, nun sogar Textil-Gewebe mit Markennamen „Trevira“ auf den Markt brachte. Die pfl egeleichte neuen Eigenschaften. Textilfaser war angenehm zu tragen und ließ sich mit den eigens ent-

Unter der Marke „Trevira Studio International“ präsentierte Hoechst Die Synthetik-Fasern wurden von den Hoechst-Mitarbeitern sorgfältig unter Modekollektionen auch auf Messen. dem Mikroskop geprüft (die Aufnahme stammt aus den 1960er Jahren). 20 1960

1952

DER SPRUNG ÜBER DEN MAIN

ie 1950er und 1960er Jahre waren geprägt vom Ost-West- DKonfl ikt mit Kuba-Krise und Mauerbau, doch es war auch eine Zeit des erfolgreichen Neubeginns und des Wirtschaftswun- ders in Deutschland: Der Standort profi tierte davon und wollte weiter wachsen. Da nördlich des Mains zwischen den Stadtteilen Höchst und Sindlingen in Ost und West und den Bahnlinien im Norden kein Platz mehr war, hatte die Werksleitung Gelände südlich des Mains gekauft und wollte sich dieses Gebiet mit dem Sprung über den Main erschließen. Dazu baute Hoechst die erste private Brücke über eine öff entliche deutsche Wasserstraße, die Mittelbrücke. Die Mittelbrücke im Bau. Neuer Hafen am Südufer Nach 15-monatiger Bauzeit wurde der neue Südhafen im Jahr 1967 Im gleichen Jahr wurde die zweite Werksbrücke errichtet. Auf der fertiggestellt. Die ersten Container wurden 1972 im Hafen verladen. Schrägseilbrücke konnte die Eisenbahn auch den Südteil erreichen. Heute verbindet der Trimodalport am Südufer die Verkehrsträger Wasserweg, Straße und Schiene miteinander.

Forschung im Süden Im neuen Süden sollte auch die Forschung zentral zusammengefasst werden. Abgesehen vom bereits 1889 errichteten Hauptlaborato- rium im Norden waren in vielen Betrieben eigene Forschungs- labore entstanden. Auf der Südseite war ausreichend Platz, um die Forschung zusammenzulegen. Im Jahr 1960 wurde der erste Bauabschnitt des Forschungszentrums auf der südlichen Mainseite Die Mittelbrücke wurde am 29. September 1960 vom hessischen fertiggestellt. In den kommenden Jahren entstanden immer weitere Ministerpräsidenten Georg August Zinn (Dritter von rechts) eingeweiht. Laborgebäude. Dies unterstreicht den hohen Stellenwert, den die Bei der Zeremonie waren der Aufsichtsratvorsitzende Friedrich Jähne Forschung am Standort hatte. Denn auch in den 1950er und 1960er (Vierter von rechts) und der Vorstandsvorsitzende Karl Winnacker Jahren konnte Hoechst sich in allen Chemiesparten mit neuen Erfi n- (Zweiter von rechts) zugegen. dungen behaupten.

ERFOLGE MIT FARBEN, ARZNEIMITTELN UND KUNSTSTOFFEN

Schon in den 1950er Jahren hatte Hoechst Anwendungstechnische 1957 brachte Hoechst die „Remazol“-Farben auf den Markt, mit Abteilungen (ATA) aufgebaut, die Weiterverarbeitungsmöglich- denen sich Baumwolle besonders brillant färben ließ. keiten von Hoechst-Erzeugnissen entwickelten. Beispielsweise Auch bei den Arzneimitteln lief es gut: Mit dem Antibiotikum hatten die sogenannten „ATA-Textil“ und die „ATA-Kunststoff e“ „Reverin“ ist Hoechst über Jahrzehnte erfolgreich. Das 1958 ein- großen Anteil daran, dass die Hostalen-Kunststoff e und die Kunst- geführte „Reverin“ wirkt gegen schwerste Infektionskrankheiten. faser Trevira auf dem Markt so lange erfolgreich waren, weil sie Es ist das erste intravenös anwendbare Tetracyclin-Breitbandanti- immer neue Anwendungsmöglichkeiten biotikum. Ein Welterfolg gelingt 1964 mit dem Salureti- fanden. cum „Lasix“ zur Behandlung der Herzinsuffi zienz. Das Auf ihrem angestammten Marktplatz neue Diuretikum wirkt stark auf die Natrium- gelang den Farbwerken wieder eine ausscheidung, beeinfl usst die des Kaliums Weltneuheit: Sie entwickelten sogenannte hingegen nur gering. „Lasix“ ist gut ver- Reaktiv-Farbstoff e, deren Moleküle sich träglich, es resorbiert rasch und verweilt chemisch an Wolle, Seide und Perlonfa- im Körper nur kurz. Da die Wirkung gut sern banden – eine farbechte Verbindung. steuerbar ist, wird es zu einem der Spitzen- Das Hoechster „Brillantblau B“ war der diuretika am Arzneimittelmarkt. Und Höchst erste Reaktiv-Farbstoff , der eine chemi- bekräftigt seinen Ruf als Innovationsstandort. sche Bindung mit Wollfasern einging. Und 21 1963: EIN JAHRHUNDERT CHEMIE

as Jahr 1963 war für den Standort ein Grund zu feiern: Ein DJahrhundert Chemie, einhundert Jahre Arbeit, Wertschöp- fung und Innovation am Standort. Rund 22.000 Mitarbeiter waren im Werk Höchst beschäftigt, so viele Menschen arbeiten auch heute im Industriepark Höchst.

Die Jahrhunderthalle Dem hundertsten Jahr ihres Bestehens setzten die Farbwerke Hoechst ein Denkmal in Form einer Veranstaltungshalle. Spaten- stich für die Jahrhunderthalle war im März 1961, Richtfest im Zur Jubiläumsfeier im Januar 1963 spielte das Orchester Beethovens Dezember 1962. Als Veranstaltungsgebäude eines Industriebetriebs fünfte Symphonie in der Jahrhunderthalle. stand die Jahrhunderthalle in der Tradition eines „Feierabendhau- ses“, das kulturelle und gesellschaftliche Veranstaltungen nicht nur Mosaik, das auch heute noch an der Fassade zu sehen ist. Das für Mitarbeiter, sondern auch für Außenstehende anbietet. Auch von der Hofkunstanstalt München hergestellte Mosaik hat Blasius heute noch treten populäre Künstler aus Spreng entworfen. Das neue Empfangs- aller Welt in der Jahrhunderthalle auf, die gebäude C 820 wird 1963 fertiggestellt, sich heute im Besitz der DEAG befi ndet. die Werksbücherei und das Büro für kulturelle Veranstaltungen ziehen ein. Neubauten im Osten Die Werksbücherei verfügt über eine Der Standort wuchs in den 1960er Jahren Diskothek mit mehr als 600 Schallplatten. nicht nur auf der südlichen Mainseite, auch im Osten veränderte er sein Gesicht: Das neue Ausbildungszentrum 1956 wurde das Kaufhaus abgerissen und Das im Jahr 1900 entstandene Entbin- ein großer Besucherparkplatz angelegt. dungsheim des Standortes, das soge- Bis dahin hatte das im Jahr 1896 errich- nannte „Asyl“, nahe Tor Ost gelegen, tete Kaufhaus Nahrungsmittel wie Brot, Zunächst trägt das neue Pharma-Verpackungsgebäude wird im Jahr 1962 geschlossen. An seiner Eier, Fleisch und Konserven, Putz- und eine Fassadenverkleidung aus dem Kunststoff Hostalit. Stelle entsteht die neue Werksschule für Reinigungsmittel, aber auch Damen- und die Mitarbeiter. 1966 wird die 4.000 m2 Herrenkleidung im Sortiment. große Lehrlingswerkstatt eingeweiht. Zum neuen Ausbildungszen- trum gehört auch ein Sozialgebäude mit Speisesaal, Turnhalle und Neue Pharma-Verpackung und neuer Empfang Bibliothek. Heute nutzen Provadis und die im Jahr 2003 gegründete 1960 wird gegenüber von Tor Ost das neue Pharma-Verpackungs- Provadis-Hochschule Teile dieser Ausbildungsstätte. gebäude D 711 fertiggestellt. Im September 1960 erhält es ein

 Der Standort Höchst veränderte sich auch im Osten in den 1960er Jahren, vor Tor Ost wurde der große Besucherparkplatz angelegt, es entstanden das neue Pharma- Verpackungsgebäude D 711, der Besucherempfang C 820 und das Ausbildungszentrum. Auf diesem Luftbild aus den 1960er Jahren ist im Bildhintergrund das riegelförmige Verkaufshochhaus C 660 zu sehen, das im Jahr 2003 abgerissen worden ist. 22 1974

1963

ROTFABRIKER, FARBWERKER UND HOECHSTER

ielen Menschen haben im Laufe der Zeit in Höchst gearbeitet mit grünen Streifen und auf dem Kopf eine Vund an der Erfolgsgeschichte des Standortes mitgeschrieben. grüne Schirmmütze mit Silberstreifen. Von Einige haben ihr gesamtes Berufsleben in Höchst verbracht. Man- den vielen Besuchern, die Dietzler während che Familien arbeiteten über Generationen am Standort, sie waren seines Berufslebens begrüßen konnte, wird Rotfabriker, Farbwerker und Hoechster. ihm einer sicherlich besonders einprägsam in Erinnerung geblieben sein: Am 11. Mai Der erste „Rotfabriker“ 1911 war off enbar kein „Kaiserwetter“, denn Der erste Mitarbeiter, den die Farbwerke 1863 einstellten, war Kaiser Wilhelm II. musste auf der Fahrt im Johann Baptist Barthel, gebürtiger Höchster und „Rotfabriker“ off enen Wagen von Bad Homburg nach der ersten Stunde. Barthel öff nete Schutz vor einem Unwetter morgens die Werkstore für die ande- suchen – er eilte mitsamt seinem Gefolge Jean Dietzler, der ren Arbeiter. Der damals 29- Jährige in das Hauptbüro der Farbwerke. Dort Portier des Hauptbüros wohnte mit seiner Familie nahe dem empfi ng ihn der „Grüne General“ und der Farbwerke, war als Firmengelände. Er verwahrte in führte die Durchreisenden in das Arbeits- der „Grüne General“ seinem Haus sämtliche Schlüssel der zimmer des technischen Direktors Adolf bekannt: Seine Fabrik. Barthel fungierte nicht nur von Brüning, der jedoch nicht im Büro war. Schirmmütze und sein als Portier, der kontrollierte, ob die Wilhelm II. unterhielt sich mit dem „Grünen Gehrock waren grün, Arbeiter pünktlich erschienen, er war General“, wunderte sich, dass kein Mitglied seine graue Hose hatte auch Postbote und Nachtwächter. So der Geschäftsleitung anwesend war, und grüne Streifen. patrouillierte er nachts mit geschul- setzte in ein ausliegendes Notizbuch seine tertem Gewehr, es war eine Leihgabe Unterschrift. Die Werksleitung ließ dieses Schriftstück später rahmen von einem benachbarten Jäger. Die und im Gebäude aufhängen. Das Dokument ging verloren, doch die Wachhunde, die ihn begleiteten, hatte Johann Baptist Barthel Geschichte vom Kaiserbesuch am Standort ist verbürgt. die Firma gekauft. * 1833 in Höchst; † 1907 Der erste Lehrling der Farbwerke Der Direktor als Einbrecher Waren die Farbwerke mit fünf Arbeitern gestartet, hatte die „Rotfabrik“ Angeblich testete der Technische Direktor Adolf (später: von) Brü- dank ihres Erfolges nicht nur Bedarf nach vielen weiteren Arbeitern, ning, ob der erste Werkschützer seinen Verpfl ichtungen auch nachts sondern auch nach solchen, die gut ausgebildet waren. Denn von den nachkam, indem er so lange in der Fabrik rumorte, bis Barthel mit Menschen hängt der Erfolg jeder Unternehmung ab. So begannen Gewehr und Hund die Fabriktür aufschloss und rief: „Wer da?“ die Farbwerke schon früh in ihrer Geschichte, Lehrlinge auszubilden. Zumindest hat Barthels älteste Tochter diese Familiengeschichte Der erste gewerbliche Auszubildende der Farbwerke ist für das Jahr so ihrem eigenen Enkel erzählt, der den Vorfall niederschrieb und 1878 nachweisbar: Damals trat der dreizehnjährige Georg Gehringer einen Beleg für den Diensteifer des ersten „Rotfabrikers“ lieferte. als Schlosserlehrling in die Mechanischen Werkstätten ein. Die Geh- ringers arbeiteten über Generationen in Höchst, am Standort nichts Der Kaiser und der „Grüne General“ ungewöhnliches. Und auf Georg folgten Generationen von Lehrlingen Ein würdiger Nachfolger des ersten Rotfabrikers war Jean Dietzler, der und Auszubildenden. Heute bildet Provadis 1.400 junge Menschen in Portier des Hauptbüros. Dietzler war als der „Grüne General“ bekannt, mehr als 40 Berufen aus. denn er trug einen grünen Gehrock mit Silberborte, dazu graue Hosen

1974 änderten die „Farbwerke Hoechst AG vormals Meister Lucius & Brüning“ den Firmennamen in „Hoechst Aktiengesellschaft“. Die Stellung der Arbeitnehmer verbesserte sich im Laufe der Zeit: 1976 trat das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Kraft. Bei der Hoechst AG wurde die Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder von den Mitarbeitern gewählt.

 „Farbwerker“ beginnen an Tor Ost ihren Arbeitstag (Foto aus den 1950er Jahren). Generationen arbeiteten am Standort. Sie kamen von nah und fern um hier zu arbeiten: Die ersten ausländischen Gastarbeiter wurden im Jahr 1960 in Höchst angestellt. 23 INSULIN AUS HÖCHST HILFT DIABETIKERN

och zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestand die einzig mögli- Die Arbeit an bio- Nche Therapie bei Diabetes mellitus in allerstrengster Diät. Ein synthetischen Pro- Großteil der Diabetiker verstarb an der Stoff wechselkrankheit. 1907 duktionsverfahren veröff entlichte der Berliner Kinderarzt und Internist Georg Lud- ging parallel dazu wig Zülzer erste Forschungen zur Therapie von Diabetes mellitus weiter. Denn ohne mittels Extrakten aus der Bauchspeicheldrüse, die zum damaligen neue Technologie Zeitpunkt aufgrund der erheblichen Nebenwirkungen jedoch kaum würde es bald nicht auf Interesse stießen. Dennoch waren es die Experimente von Zül- mehr gehen: Eine zer, die 1910 das Interesse der Farbwerke an der Diabetes-Therapie Studie des American weckten. Bereits 1912 begannen die Farbwerke mit der Erforschung National Diabetes von aus Bauchspeicheldrü- Advisory Board hatte 1976 gezeigt, dass schon im Jahr 2000 die sen von Tieren gewonne- natürlichen Ressourcen nicht mehr ausreichen würden, um den nen Extrakten zur Nutzung weltweit wachsenden Insulinbedarf zu decken. Um 100.000 Dia- in der Diabetes mellitus- betiker ein Jahr lang mit Insulin zu versorgen, brauchte es die Therapie. Bauchspeicheldrüsen von drei Millionen Rindern beziehungsweise von 14 Millionen Schweinen. Insulin aus Pankreata Anfang der 1980er Jahre entwickelte das Unternehmen ein eigenes 1921 gelang es Forschern Verfahren zur Herstellung genetisch veränderter Bakterien für die Insulinproduktion von im der Universität Toronto, Insulinproduktion. Auch der Bau einer Biosynthese-Anlage, in der Industriepark Höchst. Insulin aus der Bauch- die Produktion erfolgen sollte, wurde in Angriff genommen. Doch speicheldrüse (Pankreas) es sollte bis zum Jahr 1998 dauern, bis eine Anlage zur Herstellung von Tieren zu extrahieren und dessen Wirkung am Menschen von Humaninsulin mittels gentechnisch modifi zierter Mikroorga- zu erforschen. Inzwischen war den Farbwerken die gute Quali- nismen bei Hoechst in Betrieb gehen konnte. tät ihres Produktes von dem von Oskar Minkowski gegründeten 1999 brachte das Unternehmen das rekombinante Humaninsulin Deutschen Insulin-Komitee bestätigt worden, was es dem Unter- Insuman® auf den Markt, das der Abhängigkeit von tierischem nehmen ermöglichte, Insulin nicht nur nach eigenen bewährten Ausgangsmaterial ein Ende bereitete und damit die Produktions- Methoden, sondern auch nach dem in Toronto entwickelten und weise grundlegend veränderte. nun verbesserten Verfahren herzustellen. Im Oktober 1923 brachte das Unternehmen „Insulin Hoechst“ in Europa in den Verkauf. Insulinanalogon Aufbauend auf der Erkenntnis, dass Insulin in kristallisierter Form 2001 kam Lantus® auf den Markt, ein langwirksames Insulinana- einen deutlich höheren Reinheitsgrad und bessere Verträglichkeit logon mit 24 Stunden Wirkdauer, das weltweit einen neuen Standard besitzt, war Hoechst 1936 der erste Hersteller, der seine gesamte in der Insulintherapie setzte. 2005 folgte Apidra®, ein kurzwirksames Produktion auf kristallisiertes Insulin umstellte. Es folgten in den Insulinanalogon, das es den Diabetikern ermöglicht, die Insulindosis 1930er und 1940er Jahren rasch neue Produkte. In den 1950er Jah- unmittelbar auf ihr Essen abzustimmen und so ihren Blutzucker bei ren vertrieb das Unternehmen bereits ein vielfältiges Sortiment beziehungsweise kurz nach der Mahlzeit zu kontrollieren. an Insulinpräparaten, darunter die Neuprodukte „Depot-Insulin Hoechst Klar“und „Komb-Insulin“ mit verbesserter verzögerter Pharmafertigung H 600 Freisetzung. H 600, das größte Gebäude des Industrieparks, spielt eine wichtige Rolle in der Insulinherstellung am Standort. Das 200 mal 250 Meter Humaninsulin große Fertigungsgebäude im Süden des Industrieparks wurde 1967 In den 1970ern arbeiteten die Hoechst-Forscher mit Hochdruck in Betrieb genommen, um der ständig steigenden Nachfrage nach an der Entwicklung von Humaninsulin. Der große wissenschaft- Arzneimitteln gerecht zu werden. Während noch 1967 vor allem liche Durchbruch kam 1976, als dem Unternehmen erstmals die Dragees, Granulate, Kapseln, Cremes und Salben in großem Umfang Herstellung von halbsynthetischem Humaninsulin gelang. Aus- hergestellt wurden, richtete sich der Fokus ab 1994 zunehmend auf gangsmaterial war Schweineinsulin, das sich von Humaninsulin die Sterilfertigung. Vor allem die Herstellung der Insuline trug zu nur in einer Aminosäure unterscheidet. Letztere wurde mittels der strategischen Bedeutung des Fertigungsstandorts Frankfurt biochemischer Verfahren ausgetauscht. Es sollten jedoch noch im Bereich der Injektionsarzneimittel bei. Lantus®, das zu den einige Jahre vergehen, bis ein geeignetes Produktionsverfahren umsatzstärksten Produkten von Sanofi zählt, durchläuft in H 600 auf Basis wissenschaftlicher Ergebnisse entwickelt und zugelassen die Fertigungsanlagen, wird dort verpackt und anschließend über wurde. 1983 brachte Hoechst sein „Hoechst Depot-H-Insulin“ in das benachbarte Distributionszentrum in Gebäude H 590 versendet, den Handel. um weltweit Diabetiker zu versorgen. 24 1973

DIE ÖLKRISE TRIFFT DEN STANDORT

atten die Farbwerke nach dem zweiten Weltkrieg stetig Rücken- dem Vergleich mit ihm stellen mussten, um ihre Wirksamkeit zu Hwind gehabt, kämpften sie seit den späten 1960er Jahren gegen belegen. starken Gegenwind. Der Nachkriegsaufschwung in Deutschland endete mit der Rezession von 1966, dann folgte ab 1973 die weltweit Umweltschutz am Standort spürbare „Ölkrise“, als die arabischen Staaten nach dem „Jom-Kip- Auch im Umweltschutz ging der Standort neue Wege: Bereits 1965 pur-Krieg“ die Fördermengen beschränkten. Dies war besonders wurde am Standort mit dem Bau einer großen Anlage zur chemi- für die chemische Industrie ein harter Schlag, denn sie setzte Erdöl schen und biologischen Reinigung der Abwässer begonnen. Die nicht nur als Kraftstoff und Energieträger, sondern vor allem als Roh- zweite Ausbaustufe der biologischen Abwasserreinigungsanlage stoff ein. Hoechst musste bei rohölabhängigen Produkten wie bei- wird 1977 fertiggestellt. Mit der dritten Ausbaustufe wird 1981 spielsweise Ethylen und Propylen Preissteigerungen von bis zu 300 begonnen. Kernstück sind die neu entwickelten Bio-Hoch-Reak- Prozent verkraften. Zudem führte die durch die Ölkrise ausgelöste toren. Sie erhöhen die Gesamtleistung wesentlich und werden in Konjunkturkrise zu sinkendem Absatz und 1974 sogar erstmals zu der Folge auch in anderen Werken der Hoechst AG gebaut. Die Kurzarbeit. Dennoch gab es auch positive Entwicklungen: Hoechst 1978 in Betrieb genommene Rückstandsverbrennungsanlage konnte konnte sich 1974 vorübergehend als größter Pharmahersteller Industrieabfälle, die zuvor als Sondermüll deponiert werden muss- bezeichnen, nachdem man die Mehrheit an dem französischen Unter- ten, umweltgerecht entsorgen und dabei noch Energie erzeugen. nehmen Roussel-Uclaf erworben hatte. Im gleichen Jahr änderten die „Farbwerke Hoechst AG vormals Meister Lucius & Brüning“ den SAMMET FOLGT Firmennamen in „Hoechst Aktiengesellschaft“. AUF WINNACKER Forschungserfolge mit Trental und Claforan orstandsvorsitzender Karl Winna- Der Standort konnte auch Erfolge in der Forschung feiern: 1972 Vcker, der Hoechst seit 1951 maß- bringt Hoechst Trental auf den Markt. Das Medikament ist durch- geblich geprägt hatte, übergibt 1969 blutungsfördernd und wirkt entzündungshemmend. Es wird für viele sein Amt an Rolf Sammet. Wie sein Jahre eines der umsatzstärksten Arzneimittel des Konzerns. Auch das Vorgänger residiert Sammet im Gebäude 1980 eingeführte Antibiotikum Claforan war ein großer Erfolg und D 706, dem im Jahr 1893 errichteten wurde in den Folgejahren zu Hoechsts umsatzstärkstem Medikament. Hauptkontor, das später mehrfach auf- Claforan wirkte so gut, dass sich andere neu entwickelte Antibiotika gestockt worden war. Prof. Rolf Sammet

EINE NEUE LANDMARKE: EIN WEISSER SCHORNSTEIN

in neues Wahrzeichen erhielt der Standort 1982 mit Edem großen Kamin des Kraftwerks, der zunächst weiß gestrichen war, bevor er 1998 farbig bemalt wurde. Der Kamin ragt 167 Metern hoch auf und macht den Industriestandort schon von Weitem sichtbar. Selbst- verständlich war das erste Kraftwerk am Standort viel kleiner: Es bestand aus einem Dampfkessel und einer Dampfmaschine mit drei PS Leistung. Damit ging die Fuchsinfabrik in Betrieb. Später wurden das erste Kesselhaus und ein Schornstein gebaut. Wahrschein- lich war das im Jahr 1867, doch genau belegt ist das nicht. Ab 1899 wurden erstmals die seinerzeit hoch- modernen Elektro motoren eingesetzt. In den 1920er Jahren hatten fast alle Betriebe am Standort eine eigene Energieversorgung, 1934 entstand das Heizkraftwerk zur zentralen Energieversorgung. Heute versorgen Der im Jahr 1982 errichtete Kamin war ursprünglich weiß gestrichen. Auf diesem rund 1.000 Kilometer Stromleitungen und rund 500 Luftbild aus dem Jahr 1990 ist rechts hinter dem Kamin der Peter-Behrens-Bau Kilometer Versorgungsleitungen, die Dampf und zu sehen, links davon steht noch wie ein Riegel das Verkaufshochhaus C 660 – das Prozessmedien führen, die Betriebe, Gebäude und Gebäude aus den 1950er Jahren wurde im Jahr 2003 abgerissen. Anlagen im Industriepark Höchst. 25 DIE WERKFEUERWEHR

n den Kindertagen der Farbwerke gab es Konzernlöschfahrzeuge Inoch keine hauptberufl ichen Feuerwehr- der Hoechst AG leute am Standort: In der ersten Fabrik von Die Werkfeuerwehr war auch im Wasser in 1863 stand lediglich Löschgerät bereit, doch ihrem Element: 1962 wurde als erstes Feu- als das Unternehmen am Markt erfolgreich erlöschboot in Hessen das „FLB Hoechst“ war und rasch wuchs, stellten die umsich- in Dienst gestellt, das heute noch im Ein- tigen Farbwerke Löschmannschaften auf, satz ist. Seit den 1970er Jahren wurden die sich aus freiwilligen Mitarbeitern der sogenannte „Universallöschfahrzeuge“ Betriebe rekrutierten. eingesetzt, die mit großen Mengen aller benötigten Löschmittel beladen werden Die Löschmannschaften konnten. Damals war der Leiter der Feuer- der Farbenfabrik wehr im Werk Höchst auch verantwortlich 1920 zog die Werkfeuerwehr in das ursprüng- Auch die technische Ausrüstung wurde ver- für alle Werkfeuerwehren im Konzernver- lich als zentrales Fuhrwesen im Jahr 1891 bessert: 1880 wurde die erste Dampfspritze bund der Hoechst AG und die Höchster erbaute Gebäude an Tor Ost. Diese Feuer- angeschafft, die von Pferden gezogen Werkfeuerwehr koordinierte die weltweite wache wurde 1960/61 abgerissen und das wurde. Nachdem zunächst Signalhörner Beschaff ung, daher wurde das sogenannte Empfangsgebäude C 820 entstand dort. Die Feueralarm gaben, wurden später Alarm- „Konzernlöschfahrzeug“ in den meisten Feuerwehr nahm das neue Gebäude C 299 in glocken installiert. Bereits 1888 gab es eine Werken eingesetzt. Betrieb. Die zweite Feuerwache auf der süd- elektrische Feuermeldeanlage mit Leut- lichen Mainseite wurde im Jahr 1977 bezogen. werk, deren Telegraphendrähte sich über Sonderfahrzeuge und Wechsellader den gesamten Standort ausbreiteten. Nach Die Werkfeuerwehr bekämpft nicht nur einem Zug am Feuermelder ertönten überall in der Fabrik Alarm- Brände, sondern leistet auch technische Hilfe. Seit 1982 hilft die glocken, deren Glockenschlag anzeigte, wo es brannte. Die frei- Werkfeuerwehr im Rahmen des Transport-Unfall-Informations- willigen Löschmannschaften eilten bei Alarm aus ihren Betrieben und Hilfeleistungssystems (TUIS) der deutschen chemischen zum Spritzenhaus und fuhren mit der Dampfspritze zum Einsatzort. Industrie auch über die Werksgrenzen hinaus. Zu den Fahrzeugen der Werkfeuerwehr Infraserv Höchst gehören unter anderem ein Berufsfeuerwehr im Werk ab 1912 Gerätewagen Gefahrgut, ein Gerätewagen Atemschutz/Strahlen- 1912 wurde eine zentrale Berufsfeuerwehr für den Standort ein- schutz-Dekontamination, ein mobiler Wasserwerfer und ein Tele- gerichtet und eine neue Feuermeldeanlage installiert: Die Melde- skopmast mit 53 Meter Arbeitshöhe. Die Werkfeuerwehr nutzt ein anlage zeigte die Nummer des alarmierten Feuermelders an und Wechselladersystem mit 22 Abrollbehältern für unterschiedliche zeichnete die Alarmierungszeit mit einem Morseschreiber auf. In Einsatzzwecke. Auf Einsätze in großen Höhen ist die Höhenret- den 1920er Jahren wurde das erste Feuerwehrauto angeschaff t, tungsgruppe der Werkfeuerwehr spezialisiert. Zur Werkfeuerwehr dessen Spritze 1.000 Liter Löschwasser pro Minute ausbrachte. von Infraserv Höchst gehören rund 125 Werkfeuerwehrleute, die Zunehmend wurden Schaum- und Gashandfeuerlöscher eingesetzt im Industriepark Höchst mit Rat und Tat helfen. und in den Betrieben stationäre Löschanlagen installiert.

Ab 1901 nutzte die Werkfeuerwehr auch Ein frühes Löschfahrzeug der Werkfeuer- Gerätewagen der Werkfeuerwehr. eine Lokomotive als Einsatzfahrzeug. wehr (wahrscheinlich um das Jahr 1925). 26 1988

DAS JAHRZEHNT VOR DEM GROSSEN UMBRUCH

uch in den 1980er Jahren erholte sich die Konjunktur nicht: Nach Ader islamischen Revolution im Iran kam es 1979 zur „Zweiten Ölkrise“, deren Folgen für die Konjunktur für Hoechst bis zum Ende der 1980er Jahre spürbar waren. Dennoch war Hoechst international ein Schwergewicht und seinerzeit am Umsatz gemessen sogar das größte Pharmaunternehmen der Welt. Hoechst stärkte seine Position auf dem amerikanischen Markt mit der Übernahme des amerikanischen Chemieunternehmens Cela- nese Corporation: 1987 verschmolz Hoechst die Landesgesellschaft American Hoechst mit zur Auf dem Düngemittelsilo im Norden des Industrieparks war eine Hoechst Celanese Corporation. Einen Leuchtschrift mit sechs Meter hohen Buchstaben installiert. Das Silo süßen Erfolg konnte das Unternehmen wurde 1987 abgerissen. Ein neues Wahrzeichen hatte der Standort mit Acesulfam K feiern. Unter dem aber bereits 1982 mit dem 167 Metern hohen Kamin des Kraftwerks Markennamen Sunett wird der Süßstoff erhalten, der zunächst weiß gestrichen war, bevor er in den 1990er vor allem zur Weiterverarbeitung durch Jahren farbig bemalt wurde. Großverbraucher vertrieben. 15 Jahre Forschungs- und Entwicklungsarbeit produktion aus Rentabilitätsgründen stillgelegt werden; das Silo, an waren notwendig gewesen, um den Süß- das heute noch Namen wie Silostraße, Silogebiet und natürlich noch stoff zur Marktreife zu führen. das 1957 eröff nete Silobad erinnern, wurde 1987 abgerissen. 1988, das Jahr des 125. Jubiläums, und Als Vorstandsvor- 1989, das Jahr, in dem die Mauer fi el, Neues Tor Süd und Kantinen sitzender löste Wolfgang waren die wirtschaftlich erfolgreichsten Das neu gestaltete Tor Süd wurde 1987 nach zweijährigen Umbau- Hilger im Jahr 1985 Geschäftsjahre in der Geschichte von ten eröff net. Es bot erstmalig getrennte Fahrspuren für Pkw und seinen Vorgänger Rolf Hoechst. Lkw und entlastete die westlichen Vororte vom Verkehr. In den Sammet ab. 1980er Jahren wurden auch die Werkskantinen im Westen (1982) Ein Wahrzeichen verschwindet und im Osten eingeweiht (1986). Letztere wurde in einem im Jahr In den 1980er Jahren änderte der Standort sein Aussehen, ein altes 1955 als Wasch- und Badehaus errichteten Gebäude untergebracht. Wahrzeichen verschwand. Das große Düngemittelsilo, als Teil der Der seit den 1920er Jahren bei den Mitarbeitern unter dem Namen Stickstoff -Fabrik im Jahr 1925 erbaut, hatte über viele Jahrzehnte den „Zum Blechlöff el“ bekannte Speisesaal in Gebäude D 749 wurde Blick von Norden auf den Standort geprägt. Auf dem Dach war seit geschlossen. Auch im inzwischen abgerissenen Verkaufshochhaus dem Jahr 1954 eine Leuchtschrift installiert, zunächst „Farbwerke C 660 wurde 1988 ein Betriebsrestaurant eröff net. Im gleichen Jahr Hoechst AG“ in sechs Meter hohen Buchstaben, die über eine Länge wurde die Ballsporthalle an der Höchster Farbenstraße eingeweiht. von 130 Metern verliefen. Nach der Umfi rmierung 1974 war dort der Das Grundstück hatte die Hoechst AG kostenlos zur Verfügung Schriftzug HOECHST AG zu lesen. 1984 musste die Düngemittel- gestellt.

Das damalige Hoechster Stammwerk im Jahr 1983, von Südosten nach Nordwesten gesehen. Düngemittelsilo Jahrhunderthalle

Kraftwerkskamin

Verkaufshochhaus C660 Behrens-Bau

Zentralforschung Pharmafertigung H 600 27 ABSCHIED VON HOECHST

it der Wende und dem Mauerfall 1989, der Wiedervereinigung F 821 auf der südlichen M1990 und dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 endete der Mainseite. lange Kalte Krieg der Nachkriegszeit. Der Freude über die Wieder- vereinigung folgte wieder eine Krise, mit hoher Arbeitslosigkeit Von Hoechst zu Aventis und dem anstrengenden Aufbau Ost. Die Unternehmen versuchten, Das Pharmageschäft wurde dieser Krise mit einer anderen, globalisierten Ausrichtung ihrer im neuen Unternehmen Geschäftsmodelle zu begegnen. So fusionierten zahlreiche Pharma- „Hoechst Marion Roussel“ hersteller in Europa und Amerika Mitte der 1990er Jahre zu bisher zusammengefasst. Das ungeahnt großen Unternehmen. Geschäft mit Spezialche- mikalien wurde 1997 an Aufbruch 94 das schweizerische Unter- 1994 wurde Jürgen Dormann Vorstands- nehmen Clariant verkauft. vorsitzender. Mit seiner „Aufbruch 94“ 1998 brachte Hoechst das getauften Strategie begann der Umbau verbliebene Chemiege- der Hoechst AG. Hoechst konzentrierte schäft in der Celanese AG sich weltweit auf Pharma, Landwirt- in einem sogenannten „Spin-off “ an die Börse. 1999 fusionierte schaft und Chemie. Hoechst stieg aus die Hoechst AG, die größtenteils nur noch aus dem Pharmabe- Geschäftsfeldern aus, in denen das reich „Hoechst Marion Roussel“ und der Landwirtschaftstochter Unternehmen nicht weltweit führend „Hoechst Schering AgrEvo“ bestand, mit dem französischen war. Das Geschäft mit Textilfarbstoff en, Unternehmen Rhône-Poulenc zu Aventis. Das neue Unternehmen Jürgen Dormann das ursprüngliche Kerngeschäft der wurde kurzzeitig zum am Umsatz gemessen zweitgrößten Pharma- wurde 1994 neuer Farbwerke, der Keimzelle des Welt- unternehmen der Welt, doch in der Branche lagen Großfusionen Vorstandsvorsitzender. konzerns Hoechst, wurde 1995 von weiterhin im Trend. Die Leitung der Pharmasparte von Aventis Hoechst in das mit neu gegrün- wurde in Frankfurt angesiedelt, die der Landwirtschaftssparte dete Gemeinschaftsunternehmen DyStar eingebracht. 1995 kaufte im französischen Lyon. Die Firmenzentrale zog nach Straßburg. Hoechst das amerikanische Pharmaunternehmen Marion Merrel Damit gab es Hoechst nicht mehr. Das sogenannte „Life Sciences“- Dow und verwandelte sich von einem zentralisierten Konzern in Konzept hatte sich für Aventis schnell überlebt: 2001 verkaufte das eine Strategische Management-Holding. Als sichtbares Zeichen für Unternehmen die Agrochemie-Sparte „Crop Science“ an Bayer. den Bruch mit der Vergangenheit ersetzte Hoechst sein Logo mit Aventis selbst wurde 2004 von dem französischen Pharmaunter- „Turm und Brücke“ durch ein monochromes Quadrat. Und Dor- nehmen Sanofi -Synthélabo übernommen. mann zog aus dem historischen Vorstandsgebäude in das Gebäude

DER INDUSTRIEPARK HÖCHST GEHT AN DEN START

Nun war das ehemalige Stammwerk, Gründungsort der Farbwerke und Keimzelle des späteren Weltkonzerns Hoechst, nicht mehr Firmenzentrale, sondern ein Standort vieler Unternehmen. Viele Mitarbeiter waren verunsichert. In dieser Situation krempelten die Höchster die Ärmel hoch und begannen, den Standort fi t für die Zukunft zu machen. Aus dem Stammwerk eines Unternehmens wurde das Netzwerk des Industrieparks Höchst. Tor Ost des Industrieparks Höchst im Jahr 2012.

28 1994

„FARB-WERKE“ IM INDUSTRIEPARK

wischen Produktionsanlagen und Bürogebäuden muss nicht Farbe gegen Ztristes Grau herrschen. An vielen Fassaden im Industriepark Lärm Höchst leuchten „Farb-Werke“ des Farbgestalters Friedrich Ernst 2009 hat Infraserv von Garnier. Seit den späten 1970er Jahren hat von Garnier, gebo- Höchst zusa m men ren im Jahr 1935, mehr als 70 Gebäude im Industriepark und das mit den Sindlinger kilometerlange, weitverzweigte Netz aus Rohren und Rohrbrücken Nachbarn die neue farblich gestaltet. „Ein Mensch hält sich zu einem Großteil seines Schallschutzwand Lebens an seinem Arbeitsplatz auf, und es ist mein Ziel, diese am westlichen Rand Arbeitslandschaft natürlich, vereinfacht und beruhigt zu gestalten. des Industrieparks Das Rohrnetz im Industriepark ist in pastell- Das ist durch Farben möglich“, sagt Friedrich Ernst von Garnier. eingeweiht. Die farbenen Blau- und Grüntönen gestaltet. Seine Farbgebung für Produktionsanlagen, Bürogebäude, Rohr- sechs Meter hohe leitungen und Brücken prägt den Industriepark. Mauer ist mit Mustern in dezenten Blau- und Grüntönen gestaltet. „Meine Intention bestand darin, Farbspiele zu gestalten, die dabei Farbig ist nicht kunterbunt helfen, den freundlichen Gruß einer großen Arbeits- und Produk- Omnipräsent im Industriepark ist das kilometerlange, weitver- tionswelt an die umliegenden Wohn- zweigte Netz aus Rohren und Rohrbrücken. Da es dem Auge nahezu gebiete glaubwürdiger zu machen“, überall begegnet, ist das Rohrnetz optisch bewusst zurückhaltend sagt Friedrich Ernst von Garnier. „Mit in pastellfarbenen Blau- und Grüntönen bemalt, die manche Orte den Farblicht-Spielereien möchte ich im Industriepark in ein charakteristisches Licht tauchen. erreichen, dass die Geschlossenheit der Wand nicht mehr im Vordergrund Der farbige Kamin steht und dass die Wirkung der kleinen Es ist nur folgerichtig, dass der weithin sichtbare Kamin auch Figuren vor allem die Empfi ndungen optisch prägnant gestaltet wurde. Schließlich bildet seine Silhou- der Kinder erreichen kann, die in den ette einen Widerpart zur Frankfurter Skyline. Doch mit seinem Wohnhäusern neben dieser erwach- weißen Anstrich war er jahrelang auch optisch ein nüchterner und senen Welt leben und spielen“, so unscheinbarer Zweckbau gewesen. Seit 1998 strahlen seine kräfti- der Farbgestalter, dessen Farbwerke gen Farben weit in das Umland und stehen für eine Industriekultur die Arbeitslandschaft in und um den Friedrich Ernst von moderner Prägung. Industriepark prägen. Garnier.

Der 167 Meter hoch aufragende Kamin Das Wasserstoff gasometer im Südwesten Zwei Funktionen in einer Wand: Schallschutz und war ursprünglich weiß gestrichen. Seit des Industrieparks mit der Bemalung von freundliches Farbenspiel in dezenten Blau- und Grüntönen 1998 erstrahlt er in kräftigen Farben. Garnier. im Westen des Industrieparks. 29 DER INNOVATIONSSTANDORT WANDELT SICH

it dem Abschied von Hoechst war Maus dem ehemaligen Stammwerk eines Unternehmens ein Standort vieler Unternehmen geworden: Der Industriepark Höchst.

Der Industriepark und Infraserv Höchst gehen an den Start Die neu gegründete Betreibergesellschaft Infraserv Höchst öffnete den Standort 1997 für konzernfremde Unternehmen und stellte ihn auf ein neues, marktfähiges 2009 wurde eine neue Brücke im Industriepark geschlagen: Eine Versorgungsbrücke für Fundament: Die Energie- und Medienver- verschiedene Medien wurde unmittelbar neben der mittleren Mainbrücke errichtet. sorgung, Entsorgung und Logistik wurden wettbewerbsfähigen Strukturen angepasst, geringer. Seit 2007 werden in der Biogas- serstraße miteinander verbindet. Ein neues sowie das Arbeitsumfeld und die Ausbil- Anlage in einem eigens entwickelten Ver- Hochregallager mit rund 70.000 Paletten- dungsmöglichkeiten am Standort weiter- fahren erstmals industrielle Klärschlämme plätzen wurde eröffnet. Das Logistik- entwickelt, um optimale Bedingungen für zusammen mit organischen Abfällen in Zentrum von Infraserv Logistics verfügt Forschung und Produktion zu bieten. Biogas umgewandelt. Dieses Biogas wird über vollautomatische Regalbediengeräte seit 2011 in der Bioerdgas-Aufbereitungs- in den beiden Lagerblöcken und Elektro- Nachhaltige Energie anlage auf Erdgasqualität aufbereitet und hängebahnen in der Warenumschlaghalle. Die weltweit größte Pharmawasser-Erzeu- anschließend in das Versorgungsnetz ein- Beim Versand der Produkte in alle Welt gungsanlage ging im Jahr 2005 in Betrieb. gespeist, das schont die begrenzt verfügbare profi tiert der Industriepark von seiner Nähe Pharmawasser ist ein speziell „gereinigtes Ressource Erdgas. Des Weiteren sorgt eine zum Flughafen Frankfurt. Wasser“, es wird für die Produktion und Ersatzbrennstoff -Anlage für nachhaltige Fertigung von Arzneimitteln und Lebens- Energieerzeugung. Und der Standort Bildungsstandort Industriepark mittelzusatzstoff en benötigt. Gasturbinen ermöglicht umweltfreundliche Mobilität: Der Industriepark ist auch ein Bildungs- mit Kraft-Wärme-Kopplung wurden in Am Südrand des Industrieparks wurde die standort: 1998 wurde Provadis gegründet. Betrieb genommen. Sie ermöglichen ein erste Wasserstoff tankstelle Hessens für Der Fachkräfteentwickler der Industrie besonders hohes Maß an Energieeffi zienz, Brennstoff zellen-Fahrzeuge eröff net, ver- bildet junge Menschen in mehr als 40 ver- dabei ist der Kohlendioxid-Ausstoß deutlich sorgt vom Industriepark via Pipeline. Dort schiedenen Berufen aus und hat rund 250 fällt Wasserstoff als Nebenprodukt an. Weiterbildungsangebote im Angebot. In Hessen wird Provadis zum größten Aus- Logistik und Mobilität bildungsdienstleister. 2003 eröff nete eine Der Erfolg eines Standortes hängt auch Hochschule am Standort: Die Provadis von ausgezeichneten Verkehrsanbindungen Hochschule ist auf duale und berufsbeglei- ab: Am Südhafen wurde der Trimodalport tende Studiengänge spezialisiert und bietet ausgebaut, der Schiene, Straße und Was- die Möglichkeit, international anerkannte Bachelor- und Master-Abschlüsse zu erwer- ben.

Arbeiten und Forschen in Höchst In der Nähe von Tor Ost wurde das Büro- gebäude B 852 vollendet, dessen schiff s- förmiger Baukörper auf 63 Stelzen ruht. Die DyStar-Firmenzentrale nahe Tor Nord, ein Labor- und Bürogebäude mit außergewöhnlicher Farbgebung wird ein- Eine Ersatzbrennstoff -Anlage, im Süden des Ein großes Hochregallager, das Logistik- geweiht. Nach dem Auszug von DyStar zog Industrieparks gelegen, sorgt für nachhaltige Zentrum von Infraserv Logistics, wurde 2008 dort Siemens ein. Im Besucherempfang Ost Energieerzeugung. eingeweiht. eröff nete die öff entlich zugängliche Aus- 30 2013

1997

ZUM „INDUSTRIEPARK HÖCHST“

stellung „Zeitstreifen“ zur Geschichte des Standortes. Ein zweiter Besucherempfang wurde 2004 eingeweiht: Im Süden entstand an Tor K 801 das neue Empfangsgebäude, dessen weißes Segeldach frei zu schweben scheint. Auf der südlichen Mainseite eröff - neten das Bürogebäude Triatrium, das Mehrzwecklaborgebäude und 2013 Clari- ants neues globales Zentrum für Forschung & Entwicklung, das Clariant Innovation Center. Der Industriepark kann damit den Ruf von Höchst als Innovationsstandort Celanese hat ihre neue Kunststoff -Anlage im Industriepark 2011 eingeweiht. (Foto: Celanese) nachdrücklich bekräftigen. Biotechno- logie, automatisierte Logistik, nachhaltige Hormon Insulin verabreicht wird. Vom Standort von 90 Unternehmen Energieerzeugung und Ressourcenscho- Distributionszentrum aus gehen die Fertig- Nach seiner Neugründung als „Industrie- nung, moderne Forschungsmethoden und arzneimittel von Sanofi in nahezu alle Welt. park Höchst“ kam der Standort schnell Produktionsverfahren kennzeichnen die aus den Startblöcken: Waren zu Beginn Arbeit am Standort. Hostaform-Kunststoffe aus Höchst rund 40 Unternehmen im Industriepark Die weltgrößte Produktionsanlage für ansässig, wuchs die Zahl bis 2013 auf über Insulin aus dem Industriepark Polyoxymethylene wurde 2011 im Indust- 90 Unternehmen. Investitionen in Höhe Im Süden des Industrieparks entstand das riepark Höchst eingeweiht. Die unter dem von rund fünfeinhalb Milliarden Euro seit Insulin-Kompetenzzentrum von Sanofi : die Markennamen Hostaform vertriebenen dem Jahr 2000 belegen die Anziehungskraft Insulin-City. Von der Forschung und Ent- Hochleistungskunststoffe von Celanese des Industrieparks, größter Gewerbesteuer- wicklung über die Wirkstoff produktion sind vielseitig einsetzbar: bei Haushalts- zahler der Stadt Frankfurt und wichtigster bis zum fertigen Medikament fi ndet hier geräten und Zahnrädern in der Industrie, Standort für Forschung & Entwicklung und lückenlos die komplette Wertschöpfungs- bei Befestigungselementen und Trinkwas- Produktion in der Rhein-Main-Region. Die kette von Insulinen statt. In modernsten seranwendungen oder in der Automobil- dynamische Entwicklung des Industrie- biotechnischen Anlagen werden das Basal- industrie. Um Platz für den Ausbau des parks Höchst mit mehr als 22.000 Beschäf- insulin Lantus®, das schnell wirkende Insu- Frankfurter Flughafens zu machen, hatte tigten schreibt die lange Erfolgsgeschichte lin Apidra® sowie Insuman® zur Injektion Celanese für seine Anlagen mehr als 50 in des Standortes fort, die mit einer kleinen produziert. Die Fertigung wurde erweitert Frage kommende Standorte geprüft – der Farbenfabrik mit fünf Mitarbeitern vor und modernisiert, ein Werk für Insulin- Industriepark Höchst setzte sich gegen alle 150 Jahren begann. Pens entstand, mit denen das lebenswichtige anderen Wettbewerber durch.

Der Standort wandelte sich zum Industriepark Höchst: Seit 1998 wuchs die Zahl der im Industriepark ansässigen Unternehmen auf über 90. Neu eröff nete Anlagen und Forschungszentren bekräftigen den Ruf des Industrieparks als Innovationsstandort (Luftbild aus dem Jahr 2012, von Nord nach Süd). Distributionszentrum Arzneimittelfertigung von Sanofi

Neue Versorgungsbrücke Baustelle des 2013 Werk für Insulin-Pens eröff neten Clariant Insulin- Innovation Center Wirkstoff produktion

Kunststoff -Anlage von Celanese; dahinter: Logistik-Zentrum von Infraserv Logistics 31 IMPRESSUM

Herausgeber Infraserv GmbH & Co. Höchst KG Industriepark Höchst 65926 Frankfurt am Main

Verantwortlich: Constanze Buckow-Wallén, Unternehmenskommunikation E-Mail: [email protected]

Redaktion, Texte und Bildredaktion: Mathias Stühler

Gestaltung: Löttgers Kommunikationsdesign, [email protected]

Bilder: Hoechst GmbH, Firmenarchiv (Seiten 1-28), Infraserv Höchst (S. 2, 3, 7, 10, 21, 26, 29, 30, 31), Sanofi (S. 24), Celanese (S. 31)

Dezember 2013 www.150jahre-menschen-standort-werte.de www.ihr-nachbar.de www.industriepark-hoechst.com

www.infraserv.com Drucknummer: 0480/0462 D 12/13