Deutschland

VERBRECHEN Eigentum des Mannes Sie war erst 16, und sie wollte nur so leben wie andere Teenager in Deutschland auch. Doch dadurch sah Morsal Obeidis afghanische Familie ihre Ehre verletzt. Am Ende erstach ihr Bruder sie. Der Fall zeigt, wie gefährlich archaische Traditionen werden können, wenn Integration scheitert.

ine Woche nach ihrem Tod wird Morsal beerdigt. Am Morgen wa- Eschen die Frauen den Körper, reini- gen ihn von irdischen Sünden, so will es die Tradition. Schmal ist er, ein Mädchenkörper noch, zerschunden von Messerstichen, wild in den Leib gejagt. Die Frauen wickeln den Körper in ein Leinentuch, betten ihn in den Sarg aus hellem Holz. Am Mittag nehmen sechs Männer den Sarg auf ihre Schultern. Sie laufen vorne- weg, gefolgt von 200 Männern und Frauen in Schwarz. Ghulam-Mohammed Obeidi, der Vater, der in einer Nacht seine Tochter und wohl auch seinen Sohn verloren hat, geht in der Mitte. Sie kommen einen Weg entlang, der zum muslimischen Teil des Friedhofs -Öjendorf führt, ganz hinten, zum neuen Teil, dort, wo ein paar Bauarbeiter an einem Bagger lehnen. Dann bleiben die Frauen stehen, und die Männer gehen mit dem Sarg bis ans Grab, das ausgeschlagen ist mit Brettern. Ein rechteckiges Loch in der Erde. Oben heller Sand. Das ist der Endpunkt der Geschichte. Ein erstochenes Mädchen in einem Grab. Morsal Obeidi, 16 Jahre alt. Geboren in . Gestorben vor ein paar Tagen in Hamburg, auf einem Parkplatz. Zwischen Geburt und Tod versuchte Morsal Obeidi ein Leben zu führen, wie sie es für richtig hielt. So, wie die anderen Mädchen auf der Schule. Sie versuchte vielleicht genau das, was Politiker und Sozialarbeiter ständig fordern, nämlich sich zu integrieren. Ihre Eltern waren dabei ein Problem, die Familie. Ihr Bruder vor allem, Ahmad, der älteste. Zum Schluss wurde Morsal Obeidi zerrieben, von einem Leben in zwei Welten, vom täglichen Kampf darum, so sein zu dürfen, wie sie es wollte.

Am Abend des 15. Mai, einem Don- ZEITUNG / BILD ZITZOW MARCO nerstag, traf sich Morsal mit Mohammed, Schülerin Morsal: Der tägliche Kampf darum, so sein zu dürfen, wie sie wollte ihrem Cousin. Sie saßen in einem McDo- nald’s-Restaurant. Morsal war seit ein paar zu führen. „Er sagte zu mir: Du triffst dich hin, rauchten. Um 23.20 Uhr tauchte Monaten wieder in der Stadt, nach einer doch heute mit Morsal. Danach kommt ihr Ahmad aus der Dunkelheit auf. Morsal er- längeren Zeit bei Verwandten in Afghani- am Berliner Tor vorbei. Du sagst ihr ein- starrte, als sie ihn erkannte. Ahmad ging stan. Es war Frühling in Hamburg. Sie fach nichts. Ich will nur mit ihr reden.“ auf sie zu. Dann stieß er wortlos mit einem aßen, und Mohammed hatte einen Plan, Reden klang nicht nach einem Problem. Messer auf sie ein. Ein paar Stiche. „Ich den er Morsal nicht verriet. Der Plan schien Kurz nach 23 Uhr kamen Morsal und schätze, er hatte vorher was genommen. harmlos. Mohammed sagt später, Ahmad, Mohammed am Bahnhof an. Sie gingen Drogen. Oder hatte was getrunken. Ich Morsals Bruder, habe ihn gebeten, die um die Ecke zu einem kleinen Parkplatz, wollte ihn zurückhalten. Aber er schubste Schwester an den S-Bahnhof Berliner Tor direkt an einem Wohnhaus. Sie setzten sich mich weg“, so sagt es Mohammed.

62 der spiegel 22/2008 Ahmad Obeidi ist 23 Jahre alt, ein kräf- Wenn man Morsals Leben rekonstru- In Deutschland angekommen, gab es tiger, sportlicher Typ. Morsal versuchte iert, dann erfährt man etwas über die wenig Gemeinsamkeiten. Die alten Feinde wegzulaufen, stolperte, schlug hin. Ahmad unterschiedlichen Wege, sich einzufügen. wohnten jetzt nebeneinander, in derselben war über ihr, stach weiter auf sie ein. 5 Sti- Irgendwie anzukommen in Deutschland. Stadt. Man besann sich auf das höchste che, 10 Stiche. Er sagte nichts dabei. Nur Man spürt die verschiedenen Anpassungs- Gut, über alle ideologischen Grenzen hin- der rechte Arm arbeitete. Wie im Rausch. geschwindigkeiten. Morsal war immer weg: die Familie. Später sollte die Polizei über 20 Stiche einen Schritt voraus. Ihr Bruder Ahmad Die Familie war der Fluchtpunkt und zählen. So heftig ausgeführt, dass Ahmad immer hinterher. auch das, was es jetzt zu verteidigen galt. später einen Verband am rechten Unter- Morsal hatte einen deutschen Pass, ge- Sie durfte nicht auseinanderfallen in dieser arm trug. nauso wie ihr Bruder und der Rest der neuen, fremden Welt. Morsal schrie, die Leute im Wohnhaus Familie. Ghulam-Mohammed Obeidi war Der Konformitätsdruck ist hoch. Jeder wurden wach. Passanten riefen die Poli- als Erster nach Deutschland gekommen. soll die Regeln beachten. Morsal Obeidi MATTHIAS VON BRAUN / ACTION PRESS / ACTION VON BRAUN MATTHIAS ZEITUNG / BILD ZITZOW MARCO Sterbende Morsal, Täter Ahmad: Er wirft ihr die offenen Haare vor, die Schminke, die kurzen Röcke zei. Ahmad flüchtete, zur nahen U-Bahn, Im Jahr 1992 – damals war Helmut Kohl wurde auch das zum Verhängnis. Der Va- Mohammed folgte ihm. Dann saßen sie noch Kanzler. Der Vater war knapp 30 Jah- ter holte die Familie 1994 nach Deutsch- sich schweigend im Zug gegenüber. Der re alt, ein gutaussehender junger Mann, land. Ahmad war knapp zehn Jahre alt, Täter und der Lockvogel. ein Pilot. In der Sowjetunion war er zum Morsal erst drei. Der Vater konnte mit sei- Morsal starb. Kampfpiloten ausgebildet worden, er steu- ner Pilotenausbildung in der neuen Heimat Mohammed irrte kurze Zeit durch die erte die legendäre MiG-21, einen Düsen- nichts mehr anfangen. Niemand brauchte Nacht, dann meldete er sich bei der Polizei, jäger, zweimal so schnell wie der Schall. in Deutschland einen afghanischen Elite- sagte: Ahmad war’s. Er hat sie umgebracht. Obeidi flog Kampfeinsätze gegen die reli- soldaten. Der Pilot wurde Busfahrer. Die Auf dem Polizeirevier verhörten sie Mo- giösen Mudschahidin, er war Mitglied der deutsche Sprache erlernte er nie richtig. hammed sechs Stunden lang. kommunistischen Partei, deren Herrschaft Alle schienen ihn hier zu überholen – so- Am 16. Mai gegen Mittag, rund zwölf bald zu Ende ging. Die Mudschahidin gar seine eigene Tochter. Stunden nach der Tat, standen Polizeibe- zogen in Kabul ein. Obeidi flüchtete. In Obeidi eröffnete einen Handel für ge- amte an der Wohnungstür Ahmad Obeidis. Hamburg lebten bereits viele Afghanen, brauchte Autobusse im Stadtteil Rothen- Er ließ sich widerstandslos festnehmen. Er es schien ein guter Ort, um neu anzufan- burgsort. Auf dem Hof der Obeidi-Auto- gestand die Tat. Es schien den Polizisten, gen. Hier war man nicht allein. Export stehen noch drei heruntergekom- als habe Ahmad, der Schwesternmörder, Rund 20 000 Menschen afghanischer mene Busse und ein alter Mazda. Ahmad, auf sie gewartet. Herkunft wohnen heute in Hamburg – der Messerstecher, war hier der Geschäfts- In den nächsten Tagen ist von einem „Eh- mehr als in jeder anderen europäischen führer. Ein Händler, der kaum etwas hat, renmord“ die Rede. Ein Mord um der Ehre Stadt. Fast 7000 haben einen deutschen was er verkaufen könnte. willen? Kann es so etwas überhaupt geben? Pass. Dass sie bis zum Mord an Morsal sel- Die Familie wohnte im selben Stadtteil, Verliert nicht derjenige alle Ehre, der eine ten als Volksgruppe wahrgenommen wur- in einer anderen Straße. Keine gute Ge- Wehrlose meuchelt, die eigene Schwester, den, liegt nicht zuletzt daran, dass sie gend, aber kein Brennpunkt, in einem sieben Jahre jünger, ein Kind fast noch? schon in der Heimat mehr trennte, als sie fünfstöckigen Neubau, gegenüber verläuft Sicher, es hat Probleme gegeben in der in der Fremde einen kann. die Autobahn. Familie. Aber es gab einen Unterschied: Als die Kommunisten 1978 an die Macht Obeidis Familie wuchs. Er hatte bald Morsal wollte nur frei sein, Ahmad dage- kamen, waren es zuerst die Anhänger des eine Frau und fünf Kinder. Vielleicht hat- gen war kriminell. Ihm blieb Deutschland Königs, die das Land verließen. Ab 1989 te er draußen in der Welt keinen Erfolg, immer fremd. Er taumelte durch sein Le- flohen dann die Kommunisten vor den aber zu Hause war er immer noch das ben, haltlos, ein Versager. Er tötete seine siegreichen Mudschahidin. Deren Anhän- Oberhaupt. Ein Mann. Daraus wuchs sein Schwester, der er vorwarf, sie sei schon ger suchten ab 1996, nach der Niederlage ganzer Stolz. Niemand sollte sich bekla- viel zu sehr angekommen im Westen. Er gegen die Taliban, den Weg ins Ausland. gen über seine Familie. Niemand aus der warf ihr die offenen Haare vor, die Schmin- Jede Gruppe floh also vor der, die ihr spä- afghanischen Gemeinschaft sollte sagen, ke, die kurzen Röcke. ter ins Exil folgen sollte. seine Kinder brächten Schande. Aber es

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Obeidi-Haus in Masar-i-Scharif Morsals Notizbuch in Afghanistan Morsal-Vetter Jussuf (r.), Sohn sah ganz danach aus. Ahmad, der Älteste, begann, den Anweisungen des Vaters und aber blieben, mangels Anzeige, unbe- wurde kriminell. Morsal, die hübsche der Mutter nicht mehr bedingungslos nach- merkt. Laut Polizeiakten schlug Ahmad Tochter, wurde zu deutsch. Die Polizei zukommen. Sie wollte nicht nach den alten am 1. November 2006 seine Schwester zu- führte Ahmad bald als Intensivtäter. Mor- afghanischen Regeln leben, die ihr in Ham- sammen. Die ältere Schwester habe der sal flüchtete immer wieder zum Kinder- burg sinnlos erschienen. Sie stritten um am Boden liegenden Morsal dann noch das und Jugendnotdienst vor den Schlägen des ihr Äußeres. Um ihre offenen Haare, die Gesicht zerkratzt. Am 8. November 2006 Vaters und des Bruders. Schminke, die engen Jeans, Zigaretten, gab es wieder Schläge. Ahmad habe mit In dieser neuen Welt sind die stolzen Alkohol. Sie stritten um ihre Freunde und einem Messer gedroht, aber nicht zuge- Männer die ersten Verlierer. Verlorene Exis- Bekannten. Es ging um das Ansehen der stoßen. Er brüllte Morsal an, die Ehre der tenzen, die sich nur noch auf ihr Mannsein Familie, das Einzige, was Ghulam-Moham- Familie nicht zu verletzen. Morsal zeigte berufen können. Auf Kraft, Muskeln. Die med Obeidi, ehemaliger Kampfpilot, noch ihn an, sie wird dem Kinder- und Jugend- sich an alte Begriffe von Ehre klammern. zu verlieren hatte. notdienst übergeben. Am 19. Januar 2007 Weil jeder Verlierer wenigstens Ehre braucht. Der Vater, so die Polizei, habe zuge- habe Ahmad sie im Büro des Autohandels Morsal besuchte die Schule Ernst-Hen- schlagen. Ahmad, der Bruder, ebenso. Sie zusammengeschlagen. Seine Schwester ning-Straße, eine Haupt- und Realschule verloren die Kontrolle. Über Morsal. Und kleide sich wie eine verdammte Schlampe, in Hamburg- mit Schülern aus über sich selbst. „Du bringst der Familie sagte Ahmad den Polizisten. 18 Nationen. Hier in der Gegend traf sie Schande“, sagten sie. Womöglich ahnte Ahmad bereits, dass sich auch nachmittags öfter mit Freunden. Morsal flüchtete immer wieder. er es nicht mehr schafft. Sein Leben war Am Rande einer Fußgängerzone. Kein be- Mit 14 Jahren wurde sie Dauergast in verpfuscht. Aber er habe Morsal geliebt, sonders schöner Platz, aber hier hatte man Hilfseinrichtungen, insbesondere beim sagt eine Verwandte. In den Akten der Ju- seine Ruhe, die Familie war weit genug Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) in gendhilfe ist von einem „sehr ambivalen- weg. Man konnte abhängen, rauchen, Mu- der Hamburger Feuerbergstraße. Ein ro- ten Verhältnis“ die Rede. Morsal fürchtete sik hören, auch mal Alkohol trinken. Mor- ter Klinkerbau, drei Stockwerke, kein Ort, Ahmad – aber er war auch ein Flucht- sal mochte HipHop und Afghan-Pop. Sie wo man hingeht, wenn man nicht wirklich punkt. Manchmal übernachtete sie bei ihm war 16, und die Jungs fanden sie nicht muss. Es gab hier nebeneinanderliegende in der Wohnung. Beide einte die Angst vor uninteressant. Einzelzimmer. Mit Bett, Spiegel, Wasch- dem Vater. Einer KJND-Mitarbeiterin ver- „Sie war sprachlich gewandt becken. In den Vermerken äh- traute Morsal an, dass „sie sich ihrem Bru- und temperamentvoll“, sagt Hel- Morsal war neln sich die Abläufe: „Aufnah- der am nächsten fühle, obwohl sie auch mut Becker, der stellvertretende me im KJND“ und „Morsal ver- viel Streit mit ihm habe“. Schulleiter. „Sie hat sich nie ge- immer einen lässt die Einrichtung“ sind zwei Anfang März 2007 brachte die Familie scheut zu widersprechen.“ Mor- Schritt voraus. häufig verwendete Sätze. Morsal nach Afghanistan, zu Verwand- sal machte mit bei einem Pro- Ahmad immer Die größte Angst hatte Morsal ten nach Masar-i-Scharif, oben im Norden. jekt, bei dem Schüler andere hinterher. vor ihrem Bruder Ahmad. Wäh- Sie sollte hier den Koran studieren, sich Schüler erziehen sollen. Sie er- rend sie in Deutschland hei- mit Gebeten vertraut machen. Sie sollte hielt ein „Streitschlichter-Zerti- misch wurde, verlor er die Ba- Deutschland abstreifen, all die Einflüsse, fikat“, das sie als Konfliktlöserin auswies. lance zwischen alter und neuer Welt. Die das angeblich unwürdige Leben. Die Reise Es gibt einen Haufen Akten über Morsal Schule brach er ohne Abschluss ab. Sein war als Urlaub angekündigt. Die Eltern Obeidi, gefüllt mit dürren Sätzen von all Deutsch ist schlecht, er trank, mit 13 fiel er fuhren bald zurück. Morsal aber blieb fast den Hamburger Behörden, die über Jahre der Polizei zum ersten Mal auf. Seitdem ist neun Monate – zur Umerziehung. mit ihr zu tun hatten – Jugendamt, Schul- Ahmad rund 30-mal strafrechtlich in Er- In Afghanistan wohnte sie bei ihrem behörde, Polizei. Morsal, das sagen die Ak- scheinung getreten. Körperverletzung, Be- Cousin Jussuf Obeidi. Ein stattlicher Mann, ten, war keine besonders gute Schülerin. drohung, Diebstahl. Mitte fünfzig. Morsal sollte das Tschemak Im Januar 2007 teilte ihr Schulleiterin Do- Am 20. Januar 2007 etwa setzte er sich erleben. Das Erwachen als Frau. Sie be- rit Ehler mit, dass sie in diesem Schuljahr morgens, im Suff, in sein Auto. An einer suchte eine Koranschule, ein Notizbuch unmöglich den Hauptschulabschluss schaf- Ampel ging er auf vier Männer los, einen füllte sie mit heiligen Suren, die sie laut- fen könne. Sie kündigte an, Morsal zurück- schlug er mit einem Schlagstock zusam- malerisch in deutschen Buchstaben nie- zustufen. Die Eltern wurden informiert, men, einen anderen stach er mit dem Mes- derschrieb. „Morsal war hier, weil sie es vielleicht ließe sich ein Weg finden. Aber ser in den Oberschenkel. Als Polizisten ein- wollte“, behauptet der Cousin. sie hatten sich längst entschieden – und griffen, stand er ihnen gegenüber, eine Fla- Die Obeidis sind keine auffallend kon- nahmen Morsal von der Schule. sche mit abgebrochenem Hals in der Hand. servative Familie. Aber es gibt Werte, und Anders als ihre ältere Schwester war In den Polizeiakten sind auch einige An- dazu gehört, den Besitz der Familie zu ver- Morsal widerspenstig. Sie war 14, als sie griffe auf Morsal vermerkt. Die meisten teidigen: Zar – das Gold. Zamin – das

64 der spiegel 22/2008 Deutschland „Dann stirbst auch du“ Warum bedrohte Frauen schwer zu beschützen sind

as kleine Mädchen mit den Der Leidensweg der Tochter eines sen, müssen sie den Antrag an ihrem Zöpfen steht am Fenster und türkischen Gastarbeiters beginnt, als Wohnsitz stellen. So will es das Gesetz. Dblickt in den grünen Hinterhof. sie sich in einen deutschen Klassenka- Aber damit verraten die Frauen ihren Es will mit seiner Mutter nach draußen, meraden verliebt – und die Romanze Aufenthaltsort. „Lieber verheiratet es will spielen. „Nein“, sagt die junge auffliegt. In einem Türkei-Urlaub eröff- bleiben als sterben“, rät Çelebi dann. Frau, „es hat geregnet.“ net die Mutter der damals 17-Jährigen, 2007 konnte der als gewalttätig be- In Wahrheit strahlt die Sonne am dass sie dort einen Türken heiraten sol- kannte Ex-Mann einer anderen Çelebi- Mittwoch vergangener Woche über der le, damit sie „keine Schlampe“ werde. Mandantin unbehelligt zum Sorge- westdeutschen Großstadt. Doch die Die junge Türkin sperrt sich, vier rechtsprozess im Familiengericht Mön- Vierjährige soll nicht erfahren, warum Monate lang, dann gibt sie einem un- chengladbach spazieren. Dabei lag sie und ihre Mutter sich seit Wochen geliebten Cousin ihr Jawort – „weil ich gegen ihn ein Haftbefehl vor, und Çe- in dieser Wohnung verstecken: Sie wieder nach Deutschland wollte“, sagt lebi hatte den Richter um Hilfe gebeten, gehen nicht ans Telefon, nicht in den sie. Sie hatte damals noch keinen deut- der die Staatsanwaltschaft anrief. Doch Kindergarten, nicht an die Tür, deren schen Pass, nur eine Aufenthaltser- nichts passierte, und nach dem Prozess Klingelschild den Namen einer Be- laubnis. Und die verfällt nach sechs fing der gebürtige Türke seine Frau und Monaten im Ausland. Als sie die Tochter ab und erschoss beide. zurückkommt, ist sie bereits Auf staatlichen Schutz hoffte auch schwanger. Nourig A., 36, vergebens. Die aus Sy- Schon bald beginnt der rien stammende Kurdin hatte 2004 den nachgereiste Ehemann, sie zu Mord an ihrer Schwester nur deshalb schlagen – mit der Faust ins angezeigt, weil sie auf ein Zeugen- Gesicht, immer wieder. Jah- schutzprogramm vertraute. „Nie wie- relang hält sie das aus, dann der“, sagt sie heute, würde sie bei der lernt sie 2007 ihren neuen deutschen Polizei aussagen. Freund kennen. Sie reicht 1994 hatte ihr Vater sie frühmorgens die Scheidung ein. Ihr Mann in Bad Godesberg ins Wohnzimmer ge- schlägt sie blutig, bricht ihr führt. Ihre vier Jahre jüngere Schwester einen Zahn ab und sagt dann lag tot auf dem Sofa, daneben standen diesen Satz, den er vor Ver- zwei Cousins. Die junge Frau war er- wandten wiederholt: „Ich drosselt worden, weil sie sich aus Sicht bringe dich um – weil du mei- der Familie zu viel herumtrieb. „Wenn nen Namen in den Dreck ge- du lebst wie sie, dann stirbst auch du“, zogen hast.“ Sie flüchtet zu drohten sie ihr. einer Freundin. Zehn Jahre lang schwieg die junge

KARSTEN SCHÖNE (L.) KARSTEN Übers Internet nimmt die Frau, aus Angst. Dann hielt die frühe- Zeugin A., bedrohte Türkin: Faust ins Gesicht junge Mutter Kontakt mit re Medizinstudentin es nicht mehr aus dem Berliner Verein „Hatun und zeigte ihre Angehörigen an. In- kannten trägt. Denn die Mutter hat & Can“ auf, der seit dem Mord an der zwischen ist der Vater vom Landge- Angst, Todesangst. Vor ihrem türki- Türkin Hatun Sürücü 2005 bedrohten richt Bonn zu acht Jahren Haft wegen schen Noch-Ehemann, der gedroht hat, Frauen Rat und Unterschlupf bietet. Totschlags verurteilt worden, aber nun sie umzubringen – weil sie einen ande- Doch bevor sie ein neues Leben begin- fürchtet die Tochter die Rache ihrer ren liebt. nen kann, weit weg, will ihre Anwältin Sippe. Polizisten hatten ihr verspro- Die 22-Jährige ist eine jener jungen Gül≈en Çelebi erst das alleinige Sorge- chen, sie zu schützen; sie sollte auch ei- Frauen, die von Ehrenmord bedroht recht für die Tochter erstreiten. Sonst nen neuen Namen bekommen. Doch sind – mitten in Deutschland. Seit 1995 müssten deutsche Behörden dem Vater Beamte kamen und gingen, bürokrati- fielen laut Bundeskriminalamt mindes- sagen, wo sein Kind wohnt. sche Hindernisse türmten sich auf. tens 48 Menschen solchen Morden zum Es sind solche Formalien, die es Hel- Es sei „geradezu zynisch“, sagt ihr Opfer. Und der Fall der jungen Mutter fern wie Çelebi schwermachen, Frauen Kölner Rechtsanwalt Reinhard Birken- zeigt, wie schwer es ist, Gefährdete zu schützen. Weil die Opfer häufig stock, wie mit seiner Mandantin um- zu schützen. Etliche Vorschriften er- staatliche Leistungen bezögen, seien gegangen werde. Für die Zeugin habe leichtern es gewalttätigen Angehörigen vor einer sicheren Unterbringung in es weder einen Plan noch eine Per- etwa, den Aufenthaltsort der Bedroh- einer anderen Stadt meist auch Kämp- spektive gegeben. Wenn der Staat sol- ten zu ermitteln. Und Zeugenschutz- fe mit Kommunen nötig. Die Beamten che Morde in Deutschland besser ver- programme für die wenigen, die es würden sich oft gegen einen Umzug hindern und aufklären wolle, so Bir- wagen, gegen Schläger oder Mörder sperren, etwa um Hartz-IV-Gelder zu kenstock, „dann muss dringend der auszusagen, erweisen sich als zu kom- sparen. Und wollen mit ihren Kindern Zeugenschutz reformiert werden“. pliziert, zu bürokratisch. geflüchtete Frauen sich scheiden las- Andrea Brandt, Andreas Ulrich

66 der spiegel 22/2008 BODO MARKS / DPA BODO MARKS Morsal-Beerdigung*: Die Familie darf nicht auseinanderfallen in dieser neuen, fremden Welt

Land. Zan – die Frau. Sie sind unverrück- Sieben Wochen vor Morsals Tod spitzte werden, als sich wieder in die Mädchenein- bar das Eigentum des Mannes. sich die Lage zu. Die Leute vom Jugend- richtung zu begeben“, so heißt es in der Im Januar dieses Jahres durfte Morsal notdienst versuchten, Morsal aus der el- Akte des Jugendamts. Doch Morsal lehnte zurück nach Hamburg. Vor der Polizei sag- terlichen Wohnung zu holen. Am 11. April ab – und wurde entlassen. te sie später aus, sie sei nach Afghanistan stimmten Morsal und auch ihre Eltern ei- Nach Hause ging sie nicht. Die Eltern gebracht worden, um dort zu heiraten. Sie ner Unterbringung außerhalb Hamburgs erstatteten Vermisstenanzeige. Morsal sei konnte nach Deutschland zurück, als sie zu. Sie sollte in ein Heim bei . in einer Wohnung in Hamburg-, versprach, sich der Familie unterzuordnen. Für Morsal sei „Hamburg ein in jeder Hin- hörten sie von einer Freundin. Es ist die Aussage eines 16-jährigen sicht gefährlicher Ort gewesen“, heißt es in Die Obeidis fuhren dort hin, es kam wie- Mädchens. Der Vater möchte dazu nichts den Akten des Jugendamts. der zum Streit. Der Vater habe die Tochter sagen. Er steht an der Wohnungstür in Ro- Am 25. April entschloss sich Morsal, das geschlagen, schlimm. „Es endet mit einem thenburgsort, ein blasser, hagerer Mann. Flensburger Heim zu verlassen. Sie „will Polizeieinsatz“, heißt es in den Akten des Eine Freundin wird später behaupten, wieder in der Familie leben“, heißt es. „Al- Jugendamts. Wieder kam der Jugendnot- Morsal habe in Afghanistan ein Kind zur lerdings nur dann, wenn die Eltern das tä- dienst. Welt gebracht. Die Polizei aber sagt, sie ten, was sie wolle“, wird angefügt. Das Ju- Vielleicht fasste Ahmad, der Bruder, an habe über eine Geburt keine Erkenntnisse. gendamt hält Rücksprache mit der Familie. diesem Tag seinen tödlichen Plan. Am Der Vater sagt, dass er Morsal wieder auf- Abend des 15. Mai machte er sich auf den nehmen würde. Allerdings „müsse sie sich Weg zum S-Bahnhof Berliner Tor. Dabei an die Vorgaben der Familie halten“. hätte er eigentlich im Gefängnis sein müs- Der Vater hoffte auf eine neue Morsal. sen: Im Oktober 2007 war Ahmad zu ei- Morsal auf einen neuen Vater. nem Jahr und fünf Monaten ohne Bewäh- Sie wurden beide enttäuscht. rung verurteilt worden. Am 2. Mai 2008 Morsal blieb über Nacht fort. Als sie am wurde ihm die Ladung zum Haftantritt zu- 11. Mai nach dreitägiger Abwesenheit zu gestellt. Am 9. Mai aber beantragte sein den Eltern zurückkehrte, so die Erkennt- Anwalt Aufschub des Haftantritts. Am nisse der Polizei, habe der Vater sofort auf 15. Mai wurde der Antrag abgelehnt. sie eingeschlagen. Morsal flüchtete in ihr Zu spät für Morsal Obeidi. Zimmer. Mit verknoteten Bettlaken seilte In dieser Nacht traf sie auf Ahmad, auf sie sich aus dem Fenster ab. Unten habe dem kleinen Parkplatz gegenüber den ihr 13-jähriger Bruder sie gewürgt und Bahngleisen. Zwei Geschwister, die nicht geschlagen, ihr Schneidezahn brach ab. mehr genau wussten, wo sie eigentlich hin- Morsal landete wieder beim Jugendnot- gehörten. dienst. Auf dem Betonboden vor der Garage Dort versuchte man, sie zu überzeugen, blieben Morsals Blutspuren zurück, die dauerhaft in dem Flensburger Heim zu Tage später nur noch dunkle Flecken sind, bleiben. „Es soll ihr kein Ausweg gelassen schwarz, als wären sie Motoröl.

MICHAEL ARNING Jochen-Martin Gutsch, Per Hinrichs, Vater Obeidi (2. v. l.) Susanne Koelbl, Gunther Latsch, * Am vergangenen Donnerstag auf dem Friedhof Ham- Sven Röbel, Andreas Ulrich Sie verloren die Kontrolle burg-Öjendorf.

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