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I www.styriabooks.at SB N 978-3-222-13611-5

Gregor Auenhammer Spaziergänge Durch Wien Auf denSpurenvon Wagner Otto »Die Straßen Wiens sind mit Kultur gepflastert, die Straßen anderer Städte mit Asphalt.« Karl Kraus (1874–1936) Prolog

»Die Straßen Wiens sind mit Kultur gepflastert, die Straßen anderer Städte mit Asphalt«, konstatierte einst Kritikerpapst Karl Kraus. Wie recht er hatte! Und wie sehr sein Statement auch heute noch stimmt, lässt sich angesichts der Bedeutung des Werkes von für Wien eindrucksvoll erkennen. Wie ein roter, nein, pardon, wie ein grüner Faden zieht sich das Schaffen des visionären Architekten und Stadt- planers bis heute durch die Donaumetropole. Aber, verehrte Leserinnen und geneigte Leser, jetzt habe ich mich vor lauter Begeisterung hin- reißen lassen, mich – und Sie – gleich in medias res zu stürzen. Pardon! Küss die Hand die Damen, g’schamster Diener, die Herren. Enchanté, mesdames et messieurs! Der Zweifel ist eine Hommage an die Hoffnung, heißt es. Ohne den geringsten Zweifel aber steht eines fest: Otto Koloman Wagner war der richtige Mann, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. Otto Wagner war, als Kaiser Franz Joseph am 20. Dezember 1857 in der Hofburg das Aller- höchste Handbillet zur Schleifung der beengenden alten Stadtmauern Wiens unterzeichnete, gerade 16 Jahre alt. Am 20. Dezember hatte der Regent das Papier unterzeichnet, am 25. Dezember wurde es im vollen Wortlaut im Amtsblatt der Wiener Zeitung publiziert und bereits drei Monate später wurde der Wunsch des Kaisers in die Tat umgesetzt: Am Donaukanal beim Rotenturmtor begannen die Abbrucharbeiten an der alten Stadtbefestigung. Im Jahr darauf, 1859, beendete Otto Wagner sein Architekturstudium am k. k. Polytechnischen Institut. Mit nicht einmal 16 Jahren absolvierte er die Matura, mit gerade 18 Jahren be- endete er sein Studium. Auf Bestreben seiner Professoren ging er nach Berlin, wo er bei Schinkels Schüler Carl Ferdinand Busse, einer der ge- achtetsten Koryphäen jener Zeit, an der Berliner Bauakademie seine Ausbildung fortsetzte. 1861 kehrte er an die Akademie der bildenden Künste in Wien zurück, war bei Sicard von Sicardsburg und van der Nüll als Assistent tätig und absolvierte obendrein aus eigenem An- trieb eine Maurerlehre bei Stadtbaumeister Philipp Brandl. 1862 trat er in das Atelier Heinrich von Försters ein. Ab 1864 war Otto Wagner selbstständig als freier Architekt tätig. In diese Periode fiel auch einer der ersten Erfolge: Wagner gewann die Ausschreibung für die Gestal-

5 tung des prestigeträchtigen Kursalons im Stadtpark. Ein Projekt, das, wie etliche andere auch, leider nicht realisiert wurde, aber wesentlich zu seinem Ruhm beitrug. Nebenbei war er aber auch Bauführer bei und Ludwig Förster. Mit Mitte Zwanzig war er inmit- ten der ersten Garde der Ringstraßenarchitekten angekommen. 1865, am 1. Mai, eröffnete Kaiser Franz Joseph offiziell die Ringstraße. Diese sollte nicht nur für den Regenten, sondern auch für Otto Wagner zum Spielplan und Denkmal werden. Hätte man alles erbaut, was Otto Wagner seinerzeit erdacht, erson- nen, eingereicht, bis ins kleinste Detail als begnadeter Visionär der modernen Stadtplanung entworfen hatte, wären Wien all die leidigen Diskussionen um das Aberkennen des Weltkulturerbe-Status erspart geblieben – auch die Querelen um Neu- und Ausbauten am Karlsplatz bzw. am Heumarkt und den drohenden Verlust des Canaletto-Blickes. Für beide Örtlichkeiten hatte Wagner komplexe, geschlossene Ge- bäudeensembles entwickelt. Inklusive Grünflächen, Brunnenanlagen und Flaniermeilen. Die historische Wiener Innenstadt wäre vonseiten der UNESCO wohl nicht auf die Rote Liste des gefährdeten Weltkultur- erbes gesetzt worden. Ein Prachtboulevard, reichend von der Ringstraße bis nach Schönbrunn, war von ihm geplant worden. Vereitelt wurde die Umsetzung durch den Zusammenbruch der Monarchie. Das von ihm konzipierte, bis in den siebten Bezirk reichende Kaiserensemble mit einem (von ihm) »Artibus« genannten Museumskomplex wurde posthum mit Errichtung des MuseumsQuartiers verwirklicht. Seine klug auf Achsen und Kreise mit Verkehrsknotenpunkten an neuralgi- schen Stellen realisierte Gesamtkonzeption der Stadt mit Ring, Zweier- linie, Gürtel, Außenringautobahnen und U-Bahnen (seinerzeit Stadt- bahnen) prägt bis heute das Stadtbild. Als verbindendes Band könnte man die formschönen, gestalterisch perfekten grünen Geländer defi- nieren. In Wahrheit aber sind das nur ein paar Blitzlichter. Hätte man all das realisiert, was Otto Wagner seinerzeit als Stadt- baumeister weise, sozial denkend und gestalterisch vorausdenkend er- dacht, eingereicht, als begnadeter Visionär der modernen Stadtplanung geplant hatte, wäre Wien noch fantastischer, noch schöner, noch im- posanter, als es ohnehin heute ist. Und das, obwohl er ohnehin derart viele herausragende Bauwerke geschaffen hat, obwohl er das Stadtbild mit zahlreichen Jugendstiljuwelen enorm geprägt hat. Erlauben Sie mir bitte, dass ich mich vorstelle. Ich bin Flaneur – und in dieser Funktion bin ich Ihr Begleiter, Ihr Erzähler, Ihr »untouris- tischer Guide«. So darf ich Sie einladen, zugegebenermaßen etwas flapsig – frei nach Ex-Bundeskanzler Bruno Kreisky, Kurzzeitkanzler

6 Christian Kern und Bundespräsident Alexander van der Bellen –, mit mir »ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen« … oder wie Bundes- kanzler Sebastian Kurz es formulierte, »Zusammen. Neue Wege gehen.« Wortwörtlich, wohlgemerkt. Nicht nur symbolisch-sinnbildlich. Ich lade Sie ein zu einem Spaziergang durch Wien auf den Spuren von Otto Wagner. Jugendstilprachtbauten wie die , die Postsparkasse, die Naschmarkt-Häuser und seine Villen dürfen natür- lich nicht fehlen, ins Auge gefasst ist aber auch eine Begegnung mit Otto Wagners Lebenswelt, eine feuilletonistische Expedition zu und mit einer der wesentlichsten Persönlichkeiten des Wiener Fin de Siècle. Entlang biografischer, topografischer, literarischer und künstlerischer Eckpunkte wie Geburtsdatum, Sterbedatum, Schul- und Studienzeit, Wohnadressen, Wirkungsstätten und Orten, an denen bis heute Spuren unseres Protagonisten zu entdecken sind. Auf der Suche nach dem, was er hinterlassen hat – und auf der Fährte dessen, was daraus wurde – was geschätzt und verehrt wird, und was im Nebel des Zeitgeistes miss- achtet wurde, verloren gegangen und in Vergessenheit geraten ist. Auf der Suche nach der Seele, der Inspiration. Und seien Sie versichert, den Fährten der Vita des auf ein Gesamt- kunstwerk bedachten begnadeten Netzwerkers – heute würde man ihn als Lobbyist in Sachen Ego bezeichnen – zu folgen, ist wie ein Blick durch ein äußerst buntes Kaleidoskop im Universum des Wiener Fin de Siècle, ergibt ein üppiges Bouquet an Impressionen interessanter Lebens- welten. Ich lade Sie herzlich ein … Genehmigen Sie sich, beobachtet von Biedermeierlibellen und Medusen, gemeinsam mit Gustav Klimt ein Glas Champagner, ein Tschopperlwossa mit Emilie Flöge, genießen Sie einen Cognac mit Berta Zuckerkandl, ein Glas Wasser mit dem asketi- schen Gustav Mahler, eine Schale Gold mit Adolf Loos und Karl Lueger, ein Kohlwürstel mit Franz Werfel, einen Schnaps mit Schiele und einen Sellerie-Vogerlsalat mit Alban Berg im Salon der femme fatale Alma Mahler. Besuchen Sie mit uns die Werkstätten der Gebrüder Thonet, der Flöge-Sisters, der Gebrüder Schwadron, von Portois & Fix, von Ignaz Gridl u. v. a. Folgen Sie mir bitte bei Abstechern in fremde Länder, bei gewagten Seitensprüngen. Lassen Sie sich verführen an Orte der Virtuosität so- wie zu virtuellen Rösselsprüngen … Folgen Sie mir unauffällig – oder auffällig – ja nach Geschmack und Interesse … Darf ich bitten …

Gregor Auenhammer, Wien, anno domini 2018

7 Intro

»Artis sola domina necessitas.« Gottfried Semper »Etwas Unpraktisches kann nie schön sein.« Otto Wagner, 1903 »Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.« Elias Canetti, Masse und Macht »Politische Korrektheit ist der Ausdruck fundamentaler Unbildung.« Konrad-Paul Liessmann, 2017 »Der Fortschritt schritt so lange fort, bis er fort schritt ...« Johann Nepomuk Nestroy »Alles modern Geschaffene muss unser eigenes besseres, demokratisches, selbstbewusstes, unser scharf denkendes Wesen veranschaulichen.« Otto Wagner, 1913

Einstiegsfrage

Kennen Sie das Otto-Wagner-Denkmal? Nein, gemeint ist nicht etwa eines der unzähligen Baudenkmäler, die er als Architekt und Baumeis- ter, als Stadtplaner und Designer, als intellektueller Visionär selbst ge- schaffen und der Nachwelt hinterlassen hat, sondern ein Denkmal zu seinen Ehren? Ist Ihnen nicht bekannt? – Macht nix, es zahlt sich näm- lich nicht wirklich aus. Zudem hat die Kulturnation es posthum zu- nächst an einem durchaus zentralen Ort aufgestellt, dann abgebaut und verstaut – und erst viele Jahre später wieder woanders aufgepflanzt. Ziemlich versteckt. Aber auch das sagt etwas aus über den Umgang und die Wertschätzung in der »Heimat großer Töchter, Söhne«. Nähe- res später, vor Ort.

Geschichten aus dem Wienerwald. Wie, wo & wann alles begann → 14, /Baumgarten

Wäre Sigmund Freud nicht erst später geboren worden und hätte er dem- entsprechend seine Thesen um Es, Ich und Über-Ich, seine Analysen zur Sexualität sowie die gesamte Lehre der Psychoanalyse nicht erst ent- sprechend später verfassen können, wäre es gut möglich gewesen, dass er bei Otto Wagner einen ödipalen Mutter-Vater-Komplex diagnosti- ziert hätte. Wagner hegte zu seiner Mutter nämlich eine nahezu »abgöt- tische Liebe«. Diese manifestierte sich in einer intensiven Abhängigkeit

8 von ihr zu Lebzeiten, in der völligen Unterordnung seines Privatlebens unter ihre persönlichen, sozialen, moralischen und familiären Vorstel- lungen, im Bau einer imposanten, ja majestätischen Familiengruft ihr zu Ehren und in der Übertragung dieser abgöttischen Liebe auf seine zweite Ehefrau Louise. Übrigens: Wieder vereint sind Otto Wagner und seine geliebte Mutter seit seinem Tod 1918 in der Familiengruft am Hietzinger Friedhof. Begründet war diese, wie Wagner es selbst des Öfteren nannte, »ab- göttische Liebe« zur Mutter mit Sicherheit im frühen Verlust des Vaters. Sein Vater Rudolf Simeon Wagner (1800–1846) starb nämlich an einem Lungenleiden, als Otto erst fünf Jahre alt war. So wuchsen Otto Koloman und sein Bruder Adolf Emmerich (1839–1921) alleine bei ihrer Mutter Susanne Wagner, geborener Huber, adoptierter Helferstorfer (1804– 1880) auf. Trotz des frühen Todes des Vaters verbrachten sie ihre Kindheit und Jugend wohlbehütet in großbürgerlichen Verhältnissen. Vater Rudolf Simeon Wagner war königlich-ungarischer Hofnotar an der Ungarischen Hofkanzlei in Wien gewesen; sein Tod zog zwar eine finanzielle Krise der Familie nach sich, dennoch erhielten die beiden Wagner-Buben eine hervorragende Ausbildung. Sie wurden in jungen Jahren zu Hause von Privatlehrern unterrichtet, ab 1850 besuchte Otto Wagner das Akademische Gymnasium in der Innenstadt, anschließend das Stiftsgymnasium der Benediktiner in Kremsmünster, danach das Polytechnikum in Wien, die Königliche Bauakademie in Berlin und in den Jahren 1861/62 die Akademie der bildenden Künste in Wien, wo er bei August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll Architektur studierte. Nebenbei absolvierte Wagner beim Wiener Stadtbaumeister eine Lehre als Maurer – praxisorientierte Ausbildung nennt sich das heute. Zurück aber noch einmal zu seinem kind- lichen Umfeld. Geboren ist Otto Wagner am 13. Juli 1841 in Penzing, damals noch ein klei- ner Vorort im Westen von Wien. Aufgrund der komplizierten Familienverhältnisse, die sich in jungen Jahren mit unehelichen Verhältnissen und ebensolchen Kindern Otto Wagners fort- Otto Wagners Mutter setzen sollten, sind manche biografische Anga- Susanne, geborene Huber, adoptierte Helferstorfer. ben unklar, teilweise widersprüchlich und un- genau. So ist zum Beispiel die Wohnadresse der Familie nicht exakt bekannt, ebenso existierte – heute ist dies als unwahr geklärt – die Meinung, dass Otto Wagners Mutter die leibliche Tochter des Hof-

9 archivars von Helferstorfer gewesen sein soll. In Wahrheit war sie die Adoptivtochter des angesehenen Beamten. Fest steht jedenfalls, dass aufgrund des Verwandtschaftsverhältnisses mit Helferstorfer und des beruflichen Umfeldes des Vaters die nicht nur gutbürgerliche, sondern großbürgerliche Versorgung der Witwe Wagner und ihrer Söhne ge- währleistet war. Was auch Auswirkungen auf deren Ausbildung, deren Werdegang und spätere Karriere hatte. Penzing, der Ort, in dem Wagners Eltern sich nach ihrer Heirat angesiedelt hatten, gehörte damals gar nicht zur Residenzhauptstadt Wien. Noch nicht. Die Eingemeindung in den 13. Bezirk Hietzing er- folgte erst mit 1. Jänner 1892, am 15. Oktober 1938 wurde Hietzing per »Reichsgesetz« geteilt und der nördlich des Wienflusses gelegene Teil zum neuen Bezirk Penzing erklärt. Der Vorort entsprach damals wohl jener Biedermeieridylle, wie man sie heute aus alten Filmen kennt. Dörflich noch im Charakter, seinem Wesen nach eine Melange aus bürgerlicher und bäuerlicher Tradition. Das entsprach eigentlich nicht dem Naturell Otto Wagners, dennoch sollte er, der visionäre Stadtpla- ner und Pionier der urbanen Moderne, immer wieder in jene Gegend zurückkehren. Ganz in der Nähe seines Geburtsortes sollte er später zwei Villen für sich und seine Familie erbauen, als persönliche, kon- templative Refugien. Auch heute ist Penzing ein weitgehend grüner Bezirk; nicht nur weil die »Grün-Weißen«, also die Rapidler, pardon, die Anhänger des Fuß- ballvereins SK Rapid, hier residieren und regieren, sondern weil der Anteil der Grünflächen mit über 62 Prozent der zweithöchste unter den Wiener Bezirken ist – nur Hietzing ist noch »grüner«. Die heute so pittoresk anmutenden, wunderschönen Biedermeierhäuser zeugen da- von, dass der Ort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer beliebten Wohngegend des Großbürgertums aufstieg.

Otto-Wagner-Spital → 14, Baumgartner Höhe 1

»Wann’st spinnst, geh’st liegen. Wann’st no länger spinnst, kommst noch Steinhof, auf de Baumgartner Höh!«, lautet auch heute noch ein be- liebter Spruch bei »echten Wienern«. Nun, was hat das aber mit Otto Wagner zu tun? Viel, meine sehr verehrten Herrschaften! Denn nicht nur dass das Spital heute, exactement seit dem Millennium, also seit dem Jahr 2000, den Namen »Otto-Wagner-Spital« trägt – es wurde seinerzeit auch von Otto Wagner erdacht und erbaut. 1902 wurde Otto Wagner mit der Gestaltung, Planung und Bau der »Niederösterreichischen Landesirrenanstalt am Steinhof« vulgo »Irren-

10 anstalt Steinhof« beauftragt. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich am Zenit seines Schaffens. Planerisch, stilistisch, bautechnisch, künstle- risch. Die Anstalt, bestehend aus Dutzenden Pavillons, einem riesigen Areal zur Genesung, zur Heilung, perfekt ausgestattet und durchdacht, am Stand der Technik der Zeit, in Kombination mit der weltweit ge- schätzten und führenden Medizin der Wiener Schule, mit OP-Sälen, Küchenarealen und einer eigenen Anstaltsbahn zur Versorgung der komplexen Infrastruktur, Gebetsräumen für alle damals anerkannten Konfessionen und, last but not least, der Kirche zum heiligen Leopold alias Kirche am Steinhof, wird zu Wagners Hauptwerken gerechnet. Nicht nur das. Die »Kirche am Steinhof«, wie sie der Volksmund bis heute unisono nennt, gilt als Meisterwerk des Jugendstils, als das archi- tektonische Meisterstück Otto Wagners. Die 1907 vollendete, auf der Hügelkante der Steinhofgründe, nördlich des Wientals thronende, weithin sichtbare Kirche mit der vergoldeten Kuppel zählt heute zu den Wahrzeichen der Stadt. Schon 1903 waren in der erste Entwürfe der Kirche erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Bis zur Realisierung aber dauerte es dann doch. Zudem hatte Wagner die Kirche als konfessionsneutrales Gotteshaus konzipiert. Mit dieser pro- vokanten Idee aber war Wagner seiner Zeit weit voraus – und überfor- derte sie wohl auch. »Etwas Unpraktisches kann nie schön sein«, lautet ein Postulat Otto Wagners. Bereits Mitte der 1890er-Jahre hatte Wagner große Skepsis gegenüber dem Historismus gehegt. Die eklektizistische Formensprache des Historismus wurde für ihn angesichts neuer Aufgaben – unter ihnen Aufträge für Warenhäuser, Bahnhöfe, Fabriken und Wohnungen – zunehmend als nicht mehr zeitgemäß erkannt. Er bezeichnete sie als »verlogenen Maskenball der Stile«, qualifizierte sie ab und wandte sich – ab 1899 Mitglied der Secession – der Moderne zu. Konfrontiert mit der zunehmenden Bedeutung von Technik und Ingenieurwesen, die sich auch in neuen Werkstoffen und Konstruktionen manifestierte, versuchte er, die Form dem Inhalt bzw. der Funktion unterzuordnen. Gewiss, realiter dauerte die Umsetzung dieser theoretischen Über- legungen noch etwas länger. Gott sei Dank, denn auf dem Weg zum reinen Utilitarismus und zur formalen Nüchternheit lagen noch die großen Würfe der Belle Époque, die ganz großen Werke Wagners: die Postsparkasse, die Trias der Jugendstilhäuser am Naschmarkt mit dem Majolikahaus und eben die Kirche am Steinhof. In seiner 1895 publizierten Streitschrift Moderne Architektur lehnte er den Eklektizismus ab und postulierte, gemäß den Thesen von Gott- fried Semper, eine Naissance mittels eines »Nutzstiles«, dessen Formen

11 »Etwas Unpraktisches kann nie schön sein«: Otto Wagner schuf 1902 die richtungsweisende, bis heute innovative »Landesirrenanstalt am Steinhof«. Seit dem Jahr 2000 trägt die Heilstätte seinen Namen. Ihre Zukunft aber ist ungewiss.

sich aus Konstruktion und Funktion ergäben. Im Bruch mit der Ästhetik des Historismus setzte Wagner wesentliche Akzente, mit vielen seiner Bauwerke gelang Wagner eine perfekte Synthese von klassischem Ideal und technoider Ästhetik, die bis heute das Stadtbild Wiens prägt. Auf Grund der enormen Ausstrahlung, die sein Werk und seine Schriften und auch sein Wirken als Lehrer an der Akademie der bilden- den Künste hatten, zog er die kreativsten Köpfe aus den Kronländern der Monarchie an. Viele seiner Schüler wurden später zu herausragenden Architekten und Begründern einer Moderne, die weit über Europa hi- nauswirkte. Selbst Frank Lloyd Wright war indirekt von Wagner beein- flusst. Zurück zum Otto-Wagner-Spital. Gleichgültig, ob man den Eingang mit dem Bus der Linie 48 A, mit dem Auto, dem Taxi oder zu Fuß er- reicht – man ist sofort beeindruckt. Allein das Entrée, der Park und der Blick auf das sich öffnende Hauptgebäude erinnern an das Sommer- schloss eines Renaissancefürsten. Die Krankenanstalt, geprägt von der Philosophie des Secessionismus, präsentiert sich als Ort kontempla- tiver Ruhe und Hort der Genesung. Demut erfasst den Besucher. Es

12 herrscht Betriebsamkeit und Beflissenheit. Wagner schuf eine Atmo- sphäre, die mit dem Ort selbst zusammenhängt. Er entwarf einzelne Pavillons, kleine Einheiten, die er aber zu verbinden verstand. Bis in die 1960er-Jahre führten Schienen einer Schmalspurbahn durch das Gelände. Heute sind es LKWs oder auch kleine Golfwagerln, die das Gelände kreuzen, die Stationen beliefern und helfen, Patienten von hier nach da zu chauffieren. Je eine Garnitur der Original-Dampf- lokomotiven mit Waggons der Schmalspurbahn befindet sich seit ihrer Einstellung 1965 im Technischen Museum und im Eisenbahnmuseum Schwechat. In der heutigen Form existiert das Otto-Wagner-Spital (ganz genau das »Sozialmedizinische Zentrum Baumgartner Höhe Otto-Wagner- Spital und Pflegezentrum«) seit dem Jahr 2000. Fünf bis dahin selbst- ständige Einrichtungen des Wiener Gesundheitswesens wurden zusam- mengelegt: das Förderpflegeheim (jetzt Sozialpädagogisches Zentrum) Baumgartner Höhe, das Neurologische Krankenhaus der Stadt Wien Maria-Theresien-Schlössel, das Pflegeheim Sanatoriumstraße, das Psy- chiatrische Krankenhaus Baumgartner Höhe und das Pulmologische Zentrum Baumgartner Höhe. Die Abteilungen blieben unverändert und wurden zu Zentren zusammengefasst. Die weitläufige Anlage des früheren Psychiatrischen Krankenhauses, die mit 26 Krankenpavillons und ihren Nebengebäuden den östlichen Teil des Geländes einnimmt, ist am Südhang des Gallitzinbergs terrassenförmig zu beiden Seiten einer Mittelachse errichtet. Hangaufwärts gelangt man zum Verwal- tungsgebäude, das einen Vorplatz in Art eines Ehrenhofs u-förmig umschließt, dahinter befinden sich das Gesellschaftshaus und das »Jugendstiltheater«, oberhalb davon der breit gelagerte Küchenbau und zuoberst die Kirche zum heiligen Leopold. Östlich und westlich der Mittelachse sind auf jeder Terrasse je drei Pavillons über vorwie- gend u-förmigen Grundrissen gruppiert, die in Rohziegelbauweise mit Anklängen an das Neobiedermeier sowie mit Rückgriffen auf den Klassi- zismus gestaltet sind, wobei glatte Flächen und klare Formen dominie- ren. Einige der Pavillons weisen an der Südseite Gitterveranden auf, die über ein bis zwei Geschosse reichen. Die mittig angeordneten Eingänge sind durch originale Vordächer geschützt. Gittertüren und Stiegen- hausgitter sind in secessionistischen Formen ausgeführt. Der ursprünglich als Sanatorium für begüterte Kranke konzipierte Teil der Heil- und Pflegeanstalt, später wurde daraus das Pulmologische Zentrum, nimmt den westlichen Bereich des Areals ein. Zehn Pavillons sind in Grundriss und Gliederung ähnlich denen des Psychiatrischen Krankenhauses, aber wie die Hauptgebäude mit Putzfassaden und

13 Fliesenapplikationen ausgeführt. Eine entlang des Heschwegs verlau- fende Mauer umgibt die Steinhofgründe, die sich nördlich des Otto- Wagner-Spitals erstrecken. Sie wurde, wie die ganze Anlage, zwischen 1904 und 1907 errichtet. Ein schöner Backsteinziegelbau!

Halleluja! Die Kirche zum heiligen Leopold am Steinhof → 14, Baumgartner Höhe 1

Zur Kirche gelangt man am besten zu Fuß. Wir machen uns beim Haupteingang auf den Weg nach oben. In vor sich hin mäandernden Schlangenlinien führen mehrere Wege auf den Hügel. Zentral thront die Kirche zum heiligen Leopold auf dem Gipfel des Hügels. Von weit her ist sie sichtbar. Die goldene Kuppel leuchtet einem entgegen. Aus der Ferne. Paradox ist nur, dass, wenn man unten am Eingang zum Gelände steht, man die Kirche gar nicht sieht. Nicht einmal die goldene Kuppel, nicht das Kreuz an der Spitze, nicht einmal die Statuen des hei- ligen Severin oder des heiligen Leopold, der als Schutzpatron von Stadt und Land auf einem der stilisierten Türmchen sitzt und, ein Modell der Kirche in der linken Hand, das Wappen Niederösterreichs in der rechten, über die Stadt wacht – als wäre er Gottvater höchstpersönlich. Auf dem Weg nach oben passiert man zunächst ein paar Jugendstil- pavillons. Seitlich des Hauptgebäudes, des Sitzes der Verwaltung und der Direktion, gehen wir rechter Hand bergauf. Wir erblicken das in einen Dornröschenschlaf versunkene Theater, umrahmt von Jugend- stilgeländern und grünen Kandelabern mit riesigen Laternenköpfen. Flankiert und geschmückt von Lianen und floralen Ornamenten. Der Weg wird etwas steiler. Ein Bankerl zum Ausruhen wäre jetzt ange- nehm, aber es ist keines zu finden. Wir gehen daher weiter. Dichte Bäume, dichtes Buschwerk, duftendes Gras am Wegesrand. Unter den Schritten knirschen Tausende weiße Kieselsteine. Plötzlich, zwischen dem dichten Geäst von Föhren, den dichten Blättern von Kastanien und Platanen, blitzt golden die Spitze der Kuppel hervor. Ich mache einen Schritt zur Seite, strecke mich. Ja, die Kuppel der Kirche ist zu sehen. Und der heilige Severin, der so wie sein Pendant Leopold auf einem breiten Fauteuil zu sitzen scheint. Leicht gebeugt, wachsam. Aufmerksam. Einen Bischofsstab in der linken Hand, ein Kreuz in der rechten. Ich gehe weiter. Schritt für Schritt ist mehr von der Kirche zu sehen. Es folgt eine Biegung. Die Kirche gerät aus dem Gesichtsfeld. Aber dann, dann steht sie in voller Pracht vor einem. Perfekt inszeniert, denke ich mir. Nicht nur als Architekt, auch als Dramaturg kann Otto Wagner also gelten.

14 Man ist wie geblendet. Die Fassade reflektiert gleißend die glänzende Sonne, die vergoldete Kuppel reflektiert schimmernd das Sonnenlicht. Die goldenen Flügel der Jugendstilengel an der Front leuchten hell und klar. Eine sakrale Stimmung erfasst den Besucher. Eine Aura der Ruhe. Jetzt fällt mir auf, es ist ganz ruhig. Man hört keinen Straßenlärm mehr, man hört keine Stimmen, keine Musik, nichts. Nur das Zwitschern zweier die Heiligenstatuen umkreisenden Vögel. Wagner schuf hier einen Ort der Ein- kehr, der Spiritualität. Wie erstarrt drehe ich einige Run- den um den Bau. Vom Typus ist die Kirche ein Zentralkuppelbau, fast qua- dratisch angeordnet. Wagner konzi- pierte einen mit weißem Marmor verkleideten Kubus, strahlend, hell, Reinheit vermittelnd, Wahrheit dar- bringend, bekrönt mit einer vergol- deten Kuppel. Die Fenster sind mit sakralen Darstellungen verziert. Bun- tes Glas, das den Innenraum in warme Töne kleidet. Das Innere der Kirche Vom grantelnden Volksmund ist von Funktionalität geprägt, die An- als »Lemoniberg« verunglimpft: die Kirche zum hl. Leopold. staltskirche ist bis ins kleinste Detail geplant. Detailreich, schön. Ruhig, trotz der Ornamente. Kolo Moser und weitere befreundete Künstler- kollegen waren mit der Innenausstattung, mit dem Altarraum, der Sakristei und den Interieurs befasst. Das über dem Portal befindliche Fenster stellt den Sündenfall im Paradies dar, die Evangelienseite zeigt sieben Heilige für die leiblichen, die Epistelseite sieben Heilige für die geistigen Werke der Barmherzigkeit, durch deren Fürbitten das ver- lorene Paradies wiedergewonnen werden kann. Das riesige Bild am Hochaltar, gestaltet von Remigius Geyling, stellt den von zahlreichen Heiligen umgebenen segnenden Heiland dar. Aber selbst ohne einen Schritt in das Innere des Allerheiligsten gemacht zu haben, nimmt einen allein die Fassade in Beschlag, zieht einen in seinen Bann. Im- posant die zentimeterdicken Platten aus Carrara-Marmor, die mit Kupfernägeln am Mauerwerk befestigt sind. Die Heiligenfiguren und Engel, die goldenen Lorbeerkränze und stilisierten Kreuze, sie alle bil- den ein zu Ehren des Schöpfers. Eine Schöpfung zu Ehren der Schöpfung, Halleluja!

15 Bildnachweis

Angerer, Ludwig/ÖNB-Bildarchiv/picturedesk.com: großes Umschlagbild, 3 Gerhard Trumler: Cover (hinten links und Mitte links), 2, 4, 20, 23, 32, 37, 41, 52, 54 (Mitte), 69, 71, 74, 78, 108, 110, 115, 119, 120, 122, 124, 125 Gregor Auenhammer: Cover (hinten rechts und Mitte rechts), Seiten 12, 15, 21, 25, 27, 29, 31, 43, 46, 63, 65, 67, 76, 81, 88, 92, 94, 95, 98, 99, 100, 105, 107, 112, 117 Wien Museum: Seiten 9 (Foto: Julius Gertinger), 49, 101 (Porträt Otto Wagners von Gottlieb Theodor Kempf von Hartenkampf), 104 (Porträt von Gottlieb Theodor Kempf von Hartenkampf) Winkler, Ruck & Certov/Wien Museum: Seite 54 (Bild unten) Wikimedia Commons: Umschlag vorne unten, (Foto: Thomas Ledl), 34, 39, 54 (Bild oben), 57, 61, 85, 90, 91, 93, 111, 116, 126

ISBN 978-3-222-13611-5

© 2018 by Styria Verlag in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG Wien – Graz – Klagenfurt

Alle Rechte vorbehalten

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Umschlaggestaltung und Layout: Emanuel Mauthe Produktion: Johanna Uhrmann Lektorat: Johannes Sachslehner Druck und Bindung: ADU

7 6 5 4 3 2 1 Printed in the EU Spuren von Gustav Klimt«. erschien von bereits ihm derBand »Auf den den-Strich-Gebürsteten Schürfrechte verliehen.« Außerseiterischen, desVerschrobenen, desGegen- Tiefen derösterreichischen Verwerfungen des Purpurmiststierler. Talent Sein hat die für ihm undGold- Katzengoldgräber, gelegentlich auch der sich imJahrhundert hat«, geirrt »von Beruf »höflichkeitssüchtige« Herr Auenhammer »einer, geschichte, Kunst und Fotografie. Autor und Rezensent mit Schwerpunkt Zeit- derTageszeitung1988 bei Standard«. »Der Philosophie und Psychologie und arbeitet seit studierte an derUniversität Wien Geschichte, Gregor Auenhammer, geboren 1966inWien,

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e r → I www.styriabooks.at SB Wohnungen N 978-3-222-13611-5 Lebenswelten desgenialen Visionärs? metropole bis heute. Was weiß aber man von den Geländern prägtgrünen dasStadtbild derDonau- Tunneln, Stationen und –last but not least –den die von erbaute ihm Stadtbahn mit ihren Viadukten, und Stadtplaners Otto Wagner durch Wien. Allein ziehen sich desgroßen dieLebenslinien Architekten Wie einroter, nein, pardon, Faden eingrüner wie auf denSpuren Spaziergänge durch Wien Kreativität … Kreativität Auf derSuche derVirtuosität nach derSeele und sich an dieFersen desMenschen Otto Wagner. des genialen Jugendstilarchitekten, sondern heftet ßelten und gegossenen inStahl Hinterlassenschaften und Vergessenen –nicht nur zudeninStein gemei- in derSchnelllebigkeit unserer Vernachlässigten Zeit Gregor Auenhammer des Bewahrer –als entführt

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Auf den Spuren von Otto Wagner

Gregor Auenhammer Spaziergänge Durch Wien Auf denSpurenvon Wagner Otto »Die Straßen WienssindmitKultur gepflastert, Ateliers und Interieurs. lich Idyllischen und dokumentiert Straßenzüge, Karl Kraus (1874 Kraus Karl die Str der Autor durch Wien, dekuvriert Reste desvermeint- geflechte. und Petitessen, Exaltiertheiten und Beziehungs- hammer denBlick auf Umstände, soziale Galanterien Als passionierternieder? Fußgänger richtet Auen- Musen? Und schlug wie sich Werk diesinseinem Verhältnis Mutter zuseiner Frauen, –seinen seinen Vorlieben? Versteckte Obsessionen? Wie war sein Wo hat ergespeist und Hatte getrunken? erbizarre WoLebens: hat Wagner gelernt, geliebt, gearbeitet? Gregor Auenhammer an desWirkens Orte und amouröser und künstlerischer Eckdaten entführt Wien manch Diskussion peinliche erspart geblieben. was der Visionär derModerne ersonnen hatte, wäre HätteBestand? erbaut, alles man Lebens seines Zeit Architekten Was Zeit. seiner ist erhalten? Was hat Schaffens. größtenbezeichneteals ihn Loos Adolf Entsprechend funkelnd ist das Kaleidoskop seines o W Fixstern imUniversum desWiener FindeSiècle. O tt Zusammen mit Fotograf Gerhard Trumler flaniert Entlang biografischer, topografischer, literarischer, aßen anderer Städte mitAsphalt.« a gner (1841–1918) war zweifellos ein

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