Jochen Schmidt Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen >Friedensfeier< — >Der Einzige< — >Patmos<
Jochen Schmidt
Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen >Friedensfeier< — >Der Einzige< >Patmos<
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt Einbandgestaltung: Neil McBeath, Stuttgart. Einbandbild: Friedrich Hölderlin. Getuschter Schattenriß, wohl 1797.
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Schmidt, Jochen: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen: „Friedensfeier" - „Der Einzige" - „Patmos" / Jochen Schmidt. - Darmstadt: Wiss. Buchges., 1990 ISBN 3-534-10869-8
Bestellnummer 10869-8
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0 1990 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier Satz: Setzerei Gutowski, Weiterstadt Druck und Einband: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Printed in Germany Schrift: Linotype Times, 9.5/11
ISBN 3-534-10869-8 INHALT
Vorwort IX
Einleitung. Vom zyklischen zum eschatologischen Geschichts- denken 1
>Friedensfeien. Einführung in das wörtliche Verständnis und in die Struktur der Hymne 9 I. Die erste Strophentrias 10 II. Der Gesamtaufbau der Hymne 25 III. Die zweite Strophentrias 27 IV. Die dritte Strophentrias 41 V. Die vierte Strophentrias 65
Friedensidee und chiliastisches Geschichtsdenken in der >Frie- densfeier< 75 I. Systematische und historische Einordnung von Hölder- lins Friedensidee 75 II. Die konstitutive Bedeutung des idealistischen Ge- schichtsverständnisses und der ihm zugrundeliegenden Bewußtseinsfunktion 81 III. Der Dichter als bevorzugter Träger der geschichtebil- denden Bewußtseinsfunktion 83 IV. Chiliasmus als zentrales Strukturmoment 86 1. Die chiliastische Friedensvorstellung 87 2. Die eschatologische Perspektivierung des Ge- schichtsdenkens 88 3. Die chiliastische Geschichtsinterpretation als Theo- dizee 90 4. Apokatastasis panton 92 5. Pleroma 98 V. Säkularisierende Verwandlung von Heilsgeschichte in Naturgeschichte 101
Zur Funktion synkretistischer Mythologie in Hölderlins Dich- tung: >Der Einzige< (Erste Fassung) 106 VI Inhalt I. Der Pluralismus der „Götter" gegen den christlichen Ausschließlichkeitsanspruch 106 II. Polytheismus als ausdifferenzierter Pantheismus in stoischer Tradition 109 III. Die typologische Einheit der drei Soter- Gestalten Dio- nysos — Herakles — Christus im Horizont der Überliefe- rung 116 IV. Der Gegensatz zwischen dem plastisch-realen Prinzip der antiken Religion und dem pneumatisch-idealen Prinzip Christi 130 V. Vermittlung des Gegensatzes durch die drei Soter-Ge- stalten. Deren existentielle Spannung zwischen Realität und Idealität als mythologische Figuration der Dichter- Problematik 137
Die hermetisch-geschichtsphilosophische Hymne >Der Ein- zige‹. Erstmalige Erschließung der zweiten Fassung . . 146 I. Der handschriftliche Befund und das Problem der Text- konstitution 149 II. Deutung des Textes 156
Hölderlins Patmos-Hymne, Hegels Frühschriften und das Jo- hannesevangelium. Zur Entstehung der idealistischen Ge- schichtsphilosophie und Hermeneutik 185 I. Voraussetzungen 185 1. Anlaß und Widmung der Patmos-Hymne . . . 185 2. Patmos als Kennwort pietistischer Bibelfrömmigkeit 190 3. Patmos als Chiffre eines eschatologischen Geschichts- verständnisses 193 4. Patmos und das Johannesevangelium 195 II. Die Bedeutung des pneumatischen Evangeliums für das Denken Hegels, Schellings und Hölderlins . . . . 197 III. Der geschichtliche Übergang vom plastischen Prinzip der Antike zum pneumatischen Prinzip des Christen- tums und die geschichtsphilosophische Schlüsselfunktion der Theodizee: 1.-6. Strophe 216 IV. Der geschichtliche Vergeistigungsprozeß als Leidens- erfahrung. Verlust der Sinn-Evidenz und pneumatischer Trost: 7.-12. Strophe 234 1. Die Aufhebung des „Positiven" in der Geschichte durch den Geist 237 Inhalt VII 2. Die Entstehung der „Gemeinde" durch die verbin- dende und universalisierende Kraft des Geistes. Dif- ferenz Hegels und Hölderlins 250 3. Die „Schrift" als Halt und als Medium des Geistes 256 V. Pneumatisch vermittelte Universalität: „Gesang" und „Schrift": 13.-15. Strophe 262 1. Die vergeistigende Wirkung von Gesang und Schrift 264 2. Weltgeschichtliche Universalität der Vermittlungs- instanzen, aber Vorzug der Schrift in der Gegenwart 273 3. Geist und Buchstabe. Das hermeneutische Problem bei Hegel und Hölderlin 281
Register 289 Namen 289 Sachen 292
VORWORT
Seit jeher gelten die in den Jahren 1801 bis 1803 entstandenen Hymnen Hölderlins als ein Höhepunkt, wenn nicht als der Höhepunkt seines Werks. Manchen von diesen esoterischen Texten, die zu den schwierigsten in deutscher Sprache gehören, hat sich die Forschung schon ergebnisreich zugewandt, einigen aber erst ansatzweise, vieles blieb im Dunkel und vor allem fehlt es an übergreifenden strukturbil- denden Untersuchungen. Während sich die Wissenschaft mit Erfolg um Hölderlins Bedeutung in der Geschichte des deutschen Idealismus bis zur Jahrhundertwende bemüht, d. h. in der Zeit, in welcher der ›Hyperion<, der >Empedokles< und die theoretischen Schriften ent- standen, blieben die Jahre nach 1800 und damit das überragende lyri- sche Spätwerk weitgehend außerhalb des philosophischen und histori- schen Fragehorizonts. Lyrik, mochte sie von noch so hoher geistiger Intensität zeugen, schien trotz der gerade bei Hölderlin schon immer naheliegenden Einsicht in den inneren Zusammenhang von Denken und Dichten in kein Kontinuum der Reflexion und in keinen systema- tisch beschreibbaren Horizont integrierbar. Das hatte nicht nur zur Folge, daß das Spätwerk in dieser Hinsicht beinahe eine terra incognita blieb; man glaubte auch Erkenntnisse, die sich aus der Analyse des früheren Werks ergaben, einfach auf das spätere übertragen und es im übrigen vernachlässigen zu können. Nicht zuletzt ging so die Frage nach einer möglichen weiteren Ent- wicklung von Hölderlins dichterischem Denken fast verloren — nach einer Entwicklung, die sich doch für die ebenfalls nur knapp bemes- senen Schaffensj ahre vor der Jahrhundertwende klar abzeichnete. Mit diesem Buch, das auf einen Vorlesungszyklus an der Acole Nor- male Sup6rieure in Paris zurückgeht, hoffe ich in mehrfacher Hinsicht Vorstudien zu geben. Es soll die noch längst nicht genügend erhellten Texte durch philologische Analyse weiter aufschließen — wer allein übergreifende geschichtsphilosophische Perspektiven darin sucht, wird sich durch die kommentierenden und fundierenden exegetischen Partien mit ihren genauen Detail-Nachweisen enttäuscht sehen. Es soll, zweitens, eine Reihe der wichtigsten späten Hymnen erstmals in einem denkerischen Zusammenhang zeigen und, drittens, diesen Zu- sammenhang sowohl systematisch wie vor allem historisch vertiefen — X Vorwort auch durch den Versuch, Hölderlins bisher fast ganz unbekanntes theologisches Erbe und dessen Bedeutung für seine geschichtsphilo- sophische Konzeption zu eruieren und zugleich den Synkretismus antiker und christlicher Vorstellungen zu erfassen, durch den das Toleranzdenken der Aufklärung den Horizont idealistisch universa- lisierender Vergeistigung erreicht. Hölderlin, wie kaum ein anderer ein poeta doctus, der sich selbst in den geschichtsphilosophischen Hymnen zum poeta vates stilisiert, dennoch aus seinem poetischen Dialog mit der Überlieferung sowie aus den Problemstellungen und geistigen Tendenzen seiner Zeit als historisch verständliche Gestalt wiederzugewinnen, ist ein Hauptziel der hier vorgelegten Unter- suchungen. Ich habe mich von der Überzeugung leiten lassen, daß Hölderlins Hymnen, so wesentlich ihre geschichtsphilosophische Grunddimen- sion ist, sich doch nicht auf Geschichtsphilosophie reduzieren lassen und daß ihnen eine bloß philosophische Lektüre sowenig gerecht wird wie eine bloß historische, psychologische oder ästhetische. Daß sich aber geschichtsphilosophisches Denken hier poetisch, hochpoetisch, artikuliert, dürfte nicht nur den individuellen Grund haben, daß Höl- derlin ein Dichter war. Es scheint auch eine historische, allen bloßen Theoriegebilden überlegene Wahrheit darin zu liegen: Geschichtsphi- losophie, als teleologisch geprägte Vorstellung von der Geschichte in einer schon längst hereingebrochenen Krise des teleologischen Den- kens, nun aufgehoben zu sehen in der poetischen Fiktion und im Gewande mythischer Metaphern. Für wertvolle Hilfe bei der Druckvorbereitung dieses Buches danke ich Gabriele Schulz, Stephanie Schwarz, Katrin Seebacher, Thomas Greiner, Thomas Pittrof und Burkhard Wahle.
Freiburg, in meinem 50. Jahr J. S. EINLEITUNG
Vom zyklischen zum eschatologischen Geschichtsdenken
Zum allgemeinen Horizont von Hölderlins geschichtsphilosophi- schen Hymnen gehören ihre deutlich hervortretenden theologisch- heilsgeschichtlichen Voraussetzungen, die geschichtliche Dimensio- nierung der Theodizee, ferner die Wandlung des geschichtsphiloso- phischen Denkens von Vokal= über Herder bis Hegel und das sich be- reits abzeichnende Ende der Geschichtsphilosophie in der nachideali- stischen Epoche des 19. Jahrhunderts. Ihr spezieller historischer Ort ist derjenige der idealistischen Geistphilosophie. Für sie ist die Ge- schichte die Selbstverwirklichung des Geistes und die Geschichtsbe- trachtung selbst, wie Hegel wiederholt betont, eine säkulare Form der Theodizee, welche den denkenden Geist mit dem Negativen in der Geschichte versöhnt. Fundamental ist ein entschieden teleologisches Denken, dem sich Geschichte noch nicht resignativ, wie später für Jacob Burckhardt, auf bloße Kontinuität reduziert, und erst recht nicht, wie für Goethe, als ein „Gewebe von Unsinn für den höheren Denker" und als eine „ungeheure Empirie" darbietet, deren Unge- heures in einem jede Sinnwahrnehmung obstruierenden Pluralismus weitgehend isolierter, jedenfalls aber sich nicht in eine Gesamtord- nung fügender Geschehnisse liegt; ein teleologisches Denken, das sich vielmehr gerade angesichts der säkularen Skepsis und auch des scharfen Bruchs, den das epochale Ereignis der Französischen Revo- lution für das historische Bewußtsein bedeutete, bei Hölderlin noch einmal in einer äußersten Anstrengung artikuliert. Wie keine der auf möglichst reine Begrifflichkeit angelegten und daher immer schon reduzierenden geschichtsphilosophischen Theo- rien bewahren Hölderlins Hymnen den Reichtum von mythologi- schen und theologischen Vorstellungen auf, die dieses Denken nicht nur seit langem und bis zurück zu den eschatologischen Ursprüngen illustrieren, vielmehr es strukturieren und seine Wirkung miterzeugt haben — ja in gewissem Sinne dieses Denken sind. Die Esoterik der hymnischen Sprache, die keine leichte Wiedergewinnung all dessen er- laubt, was in ihr mehr aufgehoben als ausgesprochen ist, beruht auf der intensiven Einschmelzung dieser Welt von Vorstellungen; sie folgt 2 Einleitung aber auch dem Impuls spekulativer Vergeistigung, wie sie für den deutschen Idealismus charakteristisch ist. In Hölderlins Werk selbst bezeichnen die geschichtsphilosophi- schen Hymnen der Jahre 1802 und 1803 das Ende, doch repräsen- tieren sie nicht abschließend noch einmal eine bereits früher ausge- prägte Denkform und Vorstellungswelt. Im Gegenteil. Ein Rückblick auf das frühere Werk zeigt eine deutliche Wandlung des Geschichts- denkens. Noch bis in das Jahr 1801 hinein ist es nicht eschatologisch, sondern zyklisch strukturiert, wenn auch immer wieder von finalisie- renden Perspektiven mitbestimmt. Oft spricht Hölderlin in seinen früheren Dichtungen von dem periodischen Wechsel von „Tag" und „Nacht", d. h. von erfüllten und unerfüllten Zeiten. Den Wandel vermag am besten ein Vergleich zwischen der >Friedensfeier< und der Rhein-Hymne zu erhellen. Auch in der Rhein-Hymne ist von einem vollendenden „Fest" die Rede, und auch dort ist die mythische Meta- pher dieses festlichen Vollendungsgeschehens die Einkehr der Götter bei den Menschen. In Anspielung auf den hieros gamos spricht Höl- derlin vom „Brautfest", das sie mit den Menschen feiern (V. 180). Doch signalisiert dieses Fest nicht wie in der >Friedensfeier< das Ende der Zeit und damit der Geschichte. Wohl ist es ein Vollendungsge- schehen, aber es dauert, wie es wörtlich heißt, nur „eine Weile" lang (V. 183). Lediglich um eine binnengeschichtliche Gipfelzeit zwischen geschichtlich dunklen Zeiten handelt es sich. Sie kann „schnell vor- über" gehen (V. 196). Während in der eschatologischen Sicht der >Frie- densfeier< das „Fest" der vollendeten Zeit zugleich die Aufhebung von Zeit und Geschichte bedeutet, ist es in der Rhein-Hymne selbst der Zeit unterworfen und wird daher noch im eigentlichen Sinne histo- risch begriffen. Die Rhein-Hymne reflektiert die geschichtlichen Bedingungen, unter denen sich Gipfelzeiten ereignen können. In der Schlußpartie versucht sie, eben weil das geschichtliche Geschehen ewig veränder- lich ist und sich weder beherrschen noch in eine teleologische Perspek- tive bringen läßt, aus stoisch-philosophischem Geist sich über alles Zeitliche zu erheben — durch die Herausbildung eines souveränen Be- wußtseins. Als höchstes Ziel erscheint eine vom geschichtlichen Ge- schehen unabhängige Existenz, die zu bestehen vermag, ganz gleich, wie die geschichtliche Situation aussieht: zu bestehen „Bei Tage , wenn / Es fieberhaft und angekettet das! Lebendige scheinet oder auch / Bei Nacht, wenn alles gemischt / Ist ordnungslos und wiederkehrt / Uralte Verwirrung" (V. 216-221). Doch versucht Hölderlin innerhalb der be- liebig vielen und nicht „sinnvoll" aneinandergereihten Zyklen Gesetz- Einleitung 3 mäßigkeiten aufzudecken. Nur aufgrund solcher Gesetzmäßigkeiten und ihrer auf Wiederkehr angelegten Struktur kann das Geschichts- bild der Rhein-Hymne als zyklisch erscheinen. Hölderlin geht von einem Gegensatz und seiner vorübergehenden Vermittlung aus: von dem auch für Hegel entscheidenden Gegensatz von „Positivem" und „Negativem". Alles Geschehen nimmt, wie am Anfang der Hymne der Rheinstrom, seinen Ausgang von reiner Nega- tivität, d. h. von einer noch chaotischen, aber schöpferisch unmittel- baren Ursprungssphäre, um sich dann immer mehr ins „Positive" fe- ster Formen und Bindungen hineinzubegeben. In der Mitte zwischen den Extremen liegt der Zustand der geschichtlichen Erfüllung: des harmonischen Ausgleichs von Unendlichem und Endlichem, den Hölderlin mythisierend als Brautfest der Götter und Menschen bezeichnet. Aber diese ideale Mitte und Vermittlung läßt sich nicht stabilisieren. Sie wird überschritten durch den unaufhaltsam zum „Positiven" drängenden geschichtlichen Prozeß. Der am Ende dieses Prozesses erreichte einseitig-„positive" — Nietzsche wird später sagen: apollinische — Zustand aber produziert den dialektischen Umschlag in die reine Negativität. In dieser Denkform versucht Hölderlin auch die geschichtliche Notwendigkeit von Revolutionen zu fassen. Nach dem dialektischen, revolutionären Umschlag in die reine Negativität wie- derholt sich der gleiche Vorgang, bis wieder, nach dem idealen Mittel- zustand des harmonischen Ausgleichs, das Stadium der Erstarrung im einseitig „Positiven" folgt, und so fort. So stellt sich die zyklische Struktur der Geschichte her. Die Einsicht in diese Struktur der Geschichte rettet aus blinder Des- orientierung, ja sie vermittelt ein Bewußtsein, das über das jeweils unmittelbare Geschehen erhebt, weil es dieses in den größeren Zu- sammenhang einzuordnen vermag. Indem die Rhein-Hymne auf solche geistige Unabhängigkeit zielt, extrapoliert sie das Bewußtsein aus dem Geschichtsprozeß, durch den es sich gebildet hat. In der >Frie- densfeier< dagegen bleibt der Bewußtseinsprozeß immer in den — nun- mehr linearen — Geschichtsprozeß integriert, weil nun, und dies ist das Entscheidende, der Geschichtsprozeß selbst als ein Vergeistigungs- prozeß aufgefaßt wird. Deshalb auch verläuft er linear und eschatolo- gisch. Es ist der „Geist", der am Ende dieses geschichtlichen Vergeisti- gungsprozesses den Menschen in höchster und zugleich universaler Weise offenbar wird; und schon vorher, im Geschichtsprozeß selbst war er am Werk. „Der hohe, der Geist! Der Welt" (V. 77f.) neigt sich zu den Menschen, heißt es im Hinblick auf die Vollendung. Die noch nicht vollendete, aber durch den Geist und im Geist zur Vollendung 4 Einleitung geführte Geschichte ist gleichsam sein „Tagewerk" (V. 81). In diesen vergeistigenden und zu einer Vollendung im reinen Geist hinstre- benden Geschichtsprozeß ist die Bewegung des menschlichen Be- wußtseins ganz miteinbezogen: „Wo aber wirkt der Geist, sind wir auch mit, und streiten, /Was wohl das Beste sei" (V. 85f.). Ein solches Denken im linearen Kontinuum tendiert, im Unterschied zum zyk- lischen Geschichtsmodell, nicht nur zur Aufhebung der Zeit. Es ist auch ein Versuch, Geschichte ohne die Notwendigkeit von Revolu- tionen zu konzipieren, wie sie für das zyklische Modell mit seinem dia- lektischen Umschlag vom „Positiven", Erstarrten in die reine Negati- vität charakteristisch sind. Doch läßt sich daraus nicht folgern, daß das neue Geschichts- denken, wie es sich in der >Friedensfeier< abzeichnet, von einer prinzi- piellen Ablehnung revolutionärer Prozesse motiviert wird. Denn er- stens hätte dann auch schon die 1801 entstandene Rhein-Hymne, die Hölderlin nach seiner Enttäuschung durch die Französische Revolu- tion und nach der Hinwendung von revolutionären zu evolutionären Hoffnungen 1 schrieb, ein auf der periodischen Notwendigkeit von Re- volutionen beruhendes Geschichtsbild nicht mehr entwerfen dürfen. Und zweitens hätte Hölderlin nicht noch später, in den 'Anmer- kungen zu Antigonä< das revolutionäre Modell zugrunde gelegt. In der >Antigonä< repräsentiert ihm Kreon mit seinem Edikt die Sphäre des „Positiven" im Zustand inhumaner Erstarrung und Antigone die darauf folgende Reaktion: den dialektischen Umschlag in die radikale Negativität. Diesen Umschlag bezeichnet Hölderlin als „vaterländi- sche Umkehr", wobei „Umkehr" das deutsche Wort für „Revolution" ist. Er definiert sie als eine totale Revolution: als eine „Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen" ("V, 271, Z. 5) 2 , und sieht sie nach Art einer „Reaction" verlaufen: „das unförmliche entzündet sich an allzu- förmlichem" (V, 271, Z. 21 f.). Das „Unförmliche" ist das gegen die be- stehende Form gerichtete „Negative", während das „Allzuförmliche" das im einseitig „Positiven" Erstarrte ist. Daraus ergibt sich, daß das linear-eschatologische Geschichtsbild der >Friedensfeier< nicht etwa das zyklisch-revolutionäre schlicht ablöst. Das Nebeneinander beider Denkmodelle läßt sich am ehesten ver- stehen, wenn man darauf achtet, daß Hölderlin die Art des Hergangs in der >Antigonä< als „tragisch" bezeichnet. Deshalb demonstriert er
1 Hierzu: Jochen Schmidt, „Hölderlins Entwurf der Zukunft", Hölderlin- Jahrbuch 16 (1969-70), S.110-122, bes. 117-120. 2 Zitate nach der Großen Stuttgarter Ausgabe, hrsg. v. Friedrich Beißner. Einleitung 5 ihn ja gerade an einer Tragödie. Nicht also um eine optimistische Beja- hung revolutionärer Prozesse handelt es sich, was nach der schon längst vollzogenen und von einer schweren Enttäuschung gekenn- zeichneten Abwendung von der Französischen Revolution ohnehin nicht mehr möglich gewesen wäre. Aber Hölderlin sieht nach wie vor die unter bestimmten historischen Voraussetzungen gegebene Unaus- weichlichkeit von Revolutionen. Das ist dann der „tragische" Verlauf von Geschichte, weil in ihm Tod und Vernichtung Bedingung für die Entstehung einer neuen lebendigen Ordnung sind. Den Vorrang ge- genüber solch „tragisch"-revolutionären Verläufen erhält nun aber der Gedanke an die Möglichkeit evolutionärer Prozesse. Hölderlin entwirft sie in zwei Varianten. Die frühere Variante ist die vor allem in den Deutschland-Gedichten — in den Oden >An die Deutschen< und >Gesang des Deutschen< sowie in der Hymne >Germanien< — zum Tragen kommende Idee einer naturhaft organischen Entwicklung, die weitgehend dem Vorbild von Herders organologischer Geschichts- interpretation folgt. Die spätere Variante, deren erstes großes Zeugnis die >Friedensfeier< ist, zeigt ein Geschichtsbild, das zwar die Geschichte, wie besonders aus der Schlußtrias hervorgeht, auch in der Natur und in einem naturhaften Reifeprozeß begründet, sie aber zu- gleich idealistisch als einen Vergeistigungs- und Bewußtseinsprozeß zu begreifen sucht. Gemeinsam allerdings haben beide Geschichtsmodelle Hölderlins, das zyklisch-revolutionäre und das linear-eschatologische, die Ten- denz zum Absoluten und Totalen, wenn auch in unterschiedlicher Weise. In den >Anmerkungen zur Antigonä< spricht er von der „Um- kehr aller Vorstellungsarten und Formen", und des weiteren ver- wendet er Kategorien, die auf das Unendliche, in seiner Unendlich- keit geradezu Undenkbare und deshalb nur dämonisch Erfahrbare eines solchen revolutionären Hergangs zielen — was weit jenseits real- politischer Vorstellungen von Revolutionen liegt. In der >Friedens- feier< steht am Ende der „allversammelnde" Festtag als Zeichen der All-Versöhnung. In dieser Tendenz, Geschichte in jedem Fall, sowohl durch das vollendende Ende wie durch die innere Unendlichkeit eines revolutionären Augenblicks, zum Totalen und Absoluten zu transzen- dieren, zeigt sich am deutlichsten das religiös-metaphysische Erbe des Idealismus. Während in der optimistischen Vision der >Friedensfeier< der „Gott" in der Rolle des All-Versöhners als Pleroma und kosmolo- gisches Optimum der Vermittlung vorgestellt wird und das „Fest" den endzeitlich gesicherten Kosmos glanzvoll repräsentiert, kennt selbst noch die „tragische" Vision der nicht vermittlungsfähigen Geschichte 6 Einleitung in der >Antigonä< den zwar zerstörerischen, aber doch zugleich beseli- gend-„ungeheuren": den „göttlich" totalen Moment der reinen Nega- tivität. Voll erkennbar wird der Stellenwert des zuerst in der >Friedens- feier< entworfenen Geschichtsbildes erst, wenn man ihn nicht nur zum zyklisch-revolutionären Geschichtsmodell, sondern auch zu den Wei- terentwicklungen des linear-eschatologischen Geschichtsmodells ins Verhältnis setzt. Die auf die >Friedensfeier< folgende Patmos-Hymne und die zweite Fassung des >Einzigen<, Hölderlins letzte Geschichts- dichtung, gehen von dem neuen, eschatologischen Geschichtsver- ständnis aus. Sie sind auf das „Ende" hin perspektiviert. Mit den lapidaren Worten „Ist aber geendet" schließt die 2. Fassung des >Ein- zigen< , indem sie das Ende des in ihr dargestellten Geschichtsverlaufs konstatiert. „... und eilend geht es zu Ende", heißt es in der Patmos- Hymne (V. 178) von dem „Werk" der Geschichte. In beiden Hymnen ist, wie schon in der >Friedensfeier<, die Gestalt Christi von außeror- dentlicher Bedeutung. Es ist kein Zufall, daß Hölderlin gerade in diesen drei im Zeichen Christi stehenden, wenn auch von jedem kirch- lich-orthodoxen Christentum weit entfernten Hymnen das linear- eschatologische, im weitesten Sinn heilsgeschichtliche Geschichtsver- ständnis entwickelt. Ihm war bewußt, daß dieses Geschichtsver- ständnis seiner Grundstruktur nach der christlich-heilsgeschichtlichen Tradition verpflichtet ist. Doch wechselt er nicht einfach zu diesem Geschichtsverständnis über. Das eigentlich Interessante ist, wie er den Wechsel begründet: Er beruft sich auf das mit Christus in die Welt gekommene pneumati- sche Prinzip. Im Zentrum der Patmos-Hymne steht die Aussendung des Geistes. Sie ist nicht ein einmaliges Ereignis, vielmehr beginnt damit ein immer weiter wirkender Vergeistigungsprozeß, der über alles Beschränkt-Positive, auch des religiösen Lebens selbst, zur Voll- endung der Geschichte in einem Zustand universal vermittelnder Gei- stigkeit führt.3 Dieses pneumatische Prinzip des Geschehens läßt nun aber nicht mehr zu, daß es — wie in der zyklischen Geschichtsauffas- sung — immer wieder zu einer Erstarrung im Einseitig-„Positiven" kommt, die dann ihrerseits per reactionem den chaotisch-revolutio- nären Umschlag in die Negativität heraufbeschwört. Denn da es sich um einen immer weiter fortschreitenden Vorgang der Vergeistigung handelt, wird das Positive, das am Anfang der christlichen Ära noch dominierte, immer weiter aufgelöst. Das wichtigste Symbol dafür ist