Caroline Rudolphi und der kulturgeschichtliche Ort des Landsgemeindeliedes

Autor(en): Eisenhut, Heidi

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Appenzeller Kalender

Band (Jahr): 288 (2009)

PDF erstellt am: 28.09.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-377376

Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. Die systematische Speicherung von Teilen des elektronischen Angebots auf anderen Servern bedarf ebenfalls des schriftlichen Einverständnisses der Rechteinhaber.

Haftungsausschluss Alle Angaben erfolgen ohne Gewähr für Vollständigkeit oder Richtigkeit. Es wird keine Haftung übernommen für Schäden durch die Verwendung von Informationen aus diesem Online-Angebot oder durch das Fehlen von Informationen. Dies gilt auch für Inhalte Dritter, die über dieses Angebot zugänglich sind.

Ein Dienst der ETH-Bibliothek ETH Zürich, Rämistrasse 101, 8092 Zürich, Schweiz, www.library.ethz.ch

http://www.e-periodica.ch Caroline Rudolphi und der kulturgeschichtliche Ort des Landsgemeindeliedes Heidi Eisenhut

«Zu Beginn der Landsgemeinde «Alles Leben etc.», um Viertel Rückseite der Geschäftsordnung wurde von Stimmvolk und vor 11 Uhr auf dem Platz in der Landsgemeinde abgedruckt: Regierung das Appenzeller gemässigtem Tempo zu singen. bis 1985 unter dem Namen von Landsgemeindelied gesungen (Text: Dies ist der älteste Beleg, der Johann Heinrich Tobler, 1986 von Karoline die «Ode an Gott» mit der mit beigedrucktem «Text: Karoline Rudolphi, Musik: Johann Heinrich Landsgemeinde verbunden zeigt. Es Rudolphi», 1987 ohne Tobler).» - Diese Worte findet dauerte aber noch 39 Jahre, bis Rudolphi und zwischen 1988 und die eilige Leserin auf Wikipedia, das Lied 1877 als einziges 1997 mit Tobler und Rudolphi, wenn sie sich in der Online-Enzyklopädie Landsgemeindelied bestimmt wurde. ab 1990 zusätzlich unter über Appenzell Ab 1896 finden sich die Worte Nennung von Albrecht Tunger, Ausserrhoden informieren möchte. und zwischen 1905 und 1997 Kantonaldirigent des Appenzellischen Der Begriff «Landsgemeindelied» zusätzlich die Noten auf der Kantonalsängerver- ist mit einer MP3-Audio- datei hinterlegt, die dem PC die 3ufcfjrift an bie ©dnger beo 2ani>e$. ; vierstrophige «Ode an Gott» in der Vertonung von Johann Heinrich SSertbe ©anger! ber SanoSgemeinbe na&t. ÜJiönnergefang er« Tobler (1777 bis 1838) aus Ser Sag ©rofer SDian fût) man*ma( SKü&e, einen dem Jahre 1825 entlockt. &ö&t bie geier bereiten. gab f*on einen @efang ebne Zum 20-Jahr-Jubiläum der 9?ation«f0efang, allgemeinen fcerjuftellen, baß ein befonberê geglütft batte. SEftan fctjfeppt baft nic&t gerne Einführung des Frauenstimmrechts foirer fo fruì) an Ort unb auf kantonaler Ebene in #efte mit, begie&t ft* au* ni*t gernr ©teile; bieg mß*ten »ir affo »ermejten. Seit 14 Sabren bat man man* Appenzell Ausserrhoden reizt es *eê Sieb gelernt, einige fino in aßen 3 Sanbeêtbeilen ä" Sieb« mich, einerseits die grosse geworben, biefe fennte man auêmenbtg, biefe Unbekannte vorzustellen, deren Worte lingêhe&ern fotfte man einanber fingen &elfen, gleitetet, »ón mem fie angefan* im Zusammenspiel mit Toblers mürben. ®of*e Sieber ftab: Melodie Generationen von gen allgemeine 5Bo firaft unb Söiutt) je. Landsgemeindebesuchern in Slfleg geben lt. Rührung versetzt haben und 2Bir fommen, unâ îc auch nach der Abschaffung der 3Baê jie&en fo freubtg jc. ' Landsgemeinde nicht verklungen JWufe mein Sßaterianb 2C. sind, und andererseits din aSiertel »or 11 lît)r begiebt man fi* auf ben <})la£ unb aufzuzeigen, wie stark «unser» Lied fttmmt etnee tiefer Sieber in gemäßigtem Sempo an. ©oDte etwa in der abendländischen Kultur mogli* fein? s^be baè nur ale 35orf*Iag unb mö*te wurzelt. iat nt*t 3* »ernebmen, ob baS überall 23etfaU ftnbe unb auäfübrbar betrachtet 1838 machte «ein Freund des merbe. Sine Slntmort tur* bie 3eitung märe mir febr willfom« Gesangs» in einem Leserbrief in mm. Sin greunb beê ©efangô. der Appenzeller Zeitung die Anregung, an der Landsgemeinde Leserbrief in der Appenzeller Zeitung vom 21. April 1838 (Kantonsbibliothek verschiedene Lieder, darunter Appenzell Ausserrhoden).

57 bandes, der 1988 eine scheidenen Holzhäuschen nach vierstimmige Bearbeitung für dem Vorbild des bekannten Gemischten Chor herausgab. Erziehers Wilhelms von Humboldt Dabei wäre die Dichterin seit und Schulreformers Joachim 1938 bekannt, seit der Literar- Heinrich Campe ein Mädcheninstitut und Musikhistoriker Walter betrieb. 1784 zog sie Rüsch im Vorfeld der Enthüllung nach Billwerder bei Hamburg des Toblerdenkmals auf der und begründete dort ein eigenes Vögelinsegg die Verfasserschaft der Erziehungsinstitut für Mädchen, «Ode an Gott» aufgedeckt hatte. womit sie als Vorreiterin auf dem Dieser Enthüllung vor der Gebiet der Erziehung des Denkmalsenthüllung widmet der weiblichen Geschlechts hervortrat. Speicherer Chronist Arnold 1785 siedelte sie mit diesem Eugster eineinhalb Seiten der Institut nach Hamm bei Hamburg Festschrift zu Toblers 100. Todestag: um, wo sie Zugang zu den Rüsch zeigt und Eugster bekanntesten Familien der Hansestadt wiederholt, dass das Gedicht Profilbildnis von Caroline Rudolphi fand. In den folgenden 20 ursprünglich neun Strophen hatte (in: Schriftlicher Nachlass). Jahren verkehrten in ihrem Haus und 1787 erstmals abgedruckt zahlreiche bekannte worden war. In welchem Rahmen sich bei Nachbarn mit den Werken Gelehrtenpersönlichkeiten des 18. dies geschah, zeigen die nachfolgenden Gleims, Kleists, Klopstocks, Jahrhunderts. Ihr Biograph Otto Aufzeichnungen zum Goethes und Wielands zu befassen, Rüdiger schreibt: «In C. Rudolphis Leben und Werk der Dichterin. was sie offensichtlich Leben spiegelt sich unsere ganze inspirierte, selbst erste - schwärmerische klassische Literaturperiode.» Gedichte zu Tatsächlich zählte sie nicht nur Caroline Rudolphi - erzeugen. Ihr Talent wurde durch den Friedrich Gottlieb Klopstock An einem 24. August zwischen Kapellmeister und Goethes (1724 bis 1803), dessen Morgenritte 1750 und 1754 in musikalischen Mentor Johann Friedrich zum Institut fast legendär oder Berlin geboren, verbrachte Reichardt entdeckt; ein wurden, sondern auch Matthias Caroline Rudolphi ihre Jugend Glücksfall, denn Reichardt Claudius, Johann Wilhelm Ludwig in ärmlichen Verhältnissen in vertonte eine Reihe ihrer Gedichte Gleim, Gotthold Ephraim Potsdam. Nach dem frühen Tod und fand für eine erste Lessings Freundin Elise Reima- des Vaters wuchs sie bei der Mutter Gedichtsammlung, die im Jahre 1781 rus, den Schwiegersohn von auf und müsste bald für den herausgegeben wurde, zahlreiche Christoph Martin Wieland und Unterhalt des Bruders Ludwig Subskribenten. Kantianer Karl Leonhard Reinhold sorgen, der nach dem Besuch der Caroline Rudolphi wählte ein und Friedrich Jacobi zu Lateinschule auf die Universität Leben als unverheiratete Frau, ihren Freunden. Der Zürcher nach Halle geschickt wurde. Ihre was ihren beruflichen Weg Johann Caspar Lavater versöhnte literarische Kinderstube bestand vorzeichnete: Sie wurde Erzieherin. sich im Juni 1793 im aus der Bibellektüre und dem Zunächst lebte sie als Gouvernante Rudolphischen Institut mit Klopstock. Vorlesen aus Andachtsbüchern. in einer Familie in Trollenhagen Allein diese Episode zeigt die Caroline war Autodidaktin. Sie (Mecklenburg), von der vernetzende Funktion, die das hatte, wie sie in ihrer Autobiographie sie 1783 vier Töchter nach Trit- Institut in der damaligen festhält, ab dem tau in die Nähe von Hamburg Gelehrtenwelt innehatte. Die Lite- dreizehnten Lebensjahr Gelegenheit, mitnahm, wo sie in einem be¬ raturwissenschafterin Gudrun

58 Loster-Schneider nennt es einen In dieser zweiten Sammlung Das Schicksal von Text und «Knotenpunkt im soziokultu- ist auf Seite 10 das neunstro- Melodie lässt sich in den rellen und intertextuellen um 1800». Der strömt aus dir» abgedruckt. nachzeichnen: Campe hat alle neun erwähnte Philosoph Reinhold Dem aber nicht genug: Wie Strophen des Gedichts in seine prägte für Caroline die Bezeichnung Rüsch herausgefunden hat, wurde «Kleine Kinderbibliothek» «weiblicher Sokrates». In das Gedicht vor Tobler übernommen. Von dort aus fanden Caroline Rudolphis engstem bereits zweimal vertont. Der Text und Melodie 1791 als Nr. Umfeld befanden sich ihr Bruder erwähnten zweiten Gedichtsammlung 227 und im Kapitel «Freude an Ludwig und Campe, der 1787 die sind drei grosse Notenblätter der Erkenntniß Gottes» Eingang erneute Auflage der ersten beigelegt, auf denen sich die in das «Gesangbuch zur öffentlichen Gedichtsammlung und gleichzeitig erste Vertonung der Ode durch und häuslichen Andacht die Herausgabe der zweiten Johann Georg Witthauer (1751 für das Herzogthum Oldenburg». Sammlung besorgte. bis 1802) findet. - Die zweite Vertonung

Erste Vertonung finì» t>wt des Gedichts eàmtim WldMm «um éwteit $i)etl 3. ©. SBittM«^. «An Gott» durch Johann grübttngslteb. ©• 4. Georg Witthauer

.' '" ' ..-' ,•'. - .a. r, i/T 1. _ (Ci.. ft.. < UiA Otni Iw.lfi U Itt Ctn.i ..-I. :n » liu~in, fj(>, {tl ia $rlty>llng~ IH it <ö» fco t><3 Sflt Ift ftcrc unt i|j tic (Herzog-August-Bibliothek »t fft raj, g„ la>4nit Wolfenbüttel).

N f» > ss ^ SN_J*_a—^——u.

iàm*nul iï^^^mmStimmt!, die fitlf* fé fu jnïltj. fo lau« ted ©c Ht ïflf te nun fÜBt. -*- te^ a :»: #_ £-, ^t ^

EïÇa6cn iN .r I -^ j. i===^=Éf^3si==j SU '> 1(8 fie s 6tn In SBel * li fïtftnf au3 bit uno tmrdj t wallt (au * f(,ti S5£ Ä (f,(lï âB t,ie ten ; ' g^Jlf^V»!^^^^^^^^^^^^^^±=t* eJÜ?# k S5i

-^rp=rrp Lu

filet s U $in; !i|| £dn * te SBerf pi» wit

59 a besorgte und edierte der Leipziger Musikdirektor Johann / i Crû <ÌH Nû^c~:.- Adam Hiller (1728 bis 1804). 3fìcltgiófe Sein Werk mit Melodien zum Singen beim Klavier zeigt £ M n unì) £ t e î> e t eindrücklich, dass Caroline Rudolphi ber 6ej{en beutfcften Siajter unb Stotterinnen, um 1790 aufdem Höhepunkt mii n\ 6 i n g e n der Anerkennung als Dichterin gelobten b m s; I a ie t ï) tu r e, stand - von 51 Gedichten in Hillers Oden- und Liederbuch 3 o f> a n n 2t î> a m Çatitte ber unb SHujiffnttfrorfiller,b.c In $. E. tfapfllmcifkr, tjotn«fdju[t ttiijbm Jjouplfirrtjri lfip)fg. stammen 14 von ihr. Halten wir also fest, dass «Alles Leben strömt aus dir» W:* --¦% / zwischen 1787 und 1790 zweimal vertont worden war und in den erwähnten Liederbüchern immer der ganze Text abgedruckt ist. Caroline Rudolphi stand in jener Zeit einerseits auf der Höhe j^4^' ihrer Dichtkunst und gehörte andererseits mit ihrem Institut aPi^fâS% zu den pädagogischen Pionierinnen der Mädchenerziehung. gambuti/ &'9 *'" öt&eübern £ et oft. 1730. Gleichzeitig bildete ihr Haus eines der kulturellen Zentren der geistigen Elite des deutschsprachigen Raums. Die zuletzt teteu» 40 an. Sut t. genannte Funktion behielt das i-J-jj JViJ -J-4 —i, d ra—; :tes==&~ Institut auch nach dem Umzug von .—t«-L-^ Pr=fteter mm^mm Evnûbflft, iti» majt Itiugrair il. bm filimi »t Mr Hamm bei Hamburg nach bei, wo Caroline Rudolphi nach dem Tode Klopstocks J. -¦Y 1803 die letzten Jahre ihres Y V î(i 1 nit M IDiiê (ine Lebens verbrachte. Hier verkehrte sie regelmässig mit Sophie und

Clemens Brentano, Achim von Bai bu hfr, M§ immitcai Hfl> Blnn (arm mein jjiijrt e(?n, Etint Stall mis) Wir uns ndjrt Sil mein J6un unb all mein SBefw Theologen 0F)nr N* fna EDtjt f* ngit, Ini« Me tuibnfi flircifrn. Arnim, Jean Paul, mit dem Itnfmn fiaupl mtflü! fruì i>j,ir; Srelfl blr eniÇûilt wiib fifn : Friedrich S*i6! et fid fcirae dur ml* und Pädagogen «u4 Un IropFdi berner QutBt — UnO mir roatb »it Siipfurin. ftiUf, Heinrich Christian Schwarz und Uns li« trtr uri». Milt bi*. Sal I* fB<, Cafj 1* bio, SOtt* lin Wait, ba( «uf btn ffirunb »finir «ea"™«r Wlîjl mit Johann Heinrich Voß und »06 f(b m. &u etojic, hiutt, Un» hin gacftbitlitf butAbrmgrr, Siu mita (Jnflil, bit inf* leilf, Bag irli tini, tl* Haue ninni — »le [M (dn fflibanr eitf{4iatWI, »aj mun fttiMi&ie gufc nl«t gltlu, O 1$ finie bit $ln. Unb dessen Söhnen Heinrich und nu fein îaul auf unferra TOnno! S)i*i trii.re ten bm 31(1. Abraham. 1810 unternahm sie RamHfk KlK^lpfcf. eine Schweizerreise mit einem Besuch bei Johann Heinrich Titelbild von Johann Adam Hillers Liedersammlung und zweite Vertonung des Pestalozzi in Yverdon. Von dieser Gedichts «An Gott» (Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel).

60 Reise sollte sich die knapp werden, sondern über Sprach- Sechzigjährige nicht mehr erholen. und Landesgrenzen hinaus Helmine von Chézy, eine junge bekannt sind. Einige Beispiele: Schriftstellerin, schreibt anlässlich 1894 fand das Landsgemeindelied eines Besuches bei Rudolphi, Eingang in das Liederbuch "^SS^ dass es die übermenschlichen für Schweizerschulen, 1918 in Anstrengungen beim Bergsteigen eine vom Schweizerischen gewesen seien, die sie Generalstab veranlasste zerstört hätten. Caroline Rudolphi Soldatenliedersammlung, 1969 neben verstarb am 15. April 1811 in dem Schweizerpsalm, neben Heidelberg. «Rufst du, mein Vaterland» und dem Beresinalied in das vom Bundesrat beauftragte Buch Die Erfolgsgeschichte «Zivilverteidigung», 1998 in das v Walter Rüsch und Arnold Eugster Gesangbuch der Evangelisch-re- sind der Meinung, dass das formierten Kirchen der Verdienst Toblers, aus der deutschsprachigen Schweiz und 2004 in «neunstrophige[n] Verherrlichung das Gesangbuch für die Menno- Gottes» die besten vier nitengemeinden in Deutschland Strophen herausgezogen und und in der deutschsprachigen mit einer «herrliche[n] Schweiz. Denkmal für Johann Heinrich Tobler Tongestaltung» versehen zu haben, Die «Ode an Gott» wurde und auf der Vögelinsegg, 1938 (Kantonsbibliothek Ausserrhoden). nicht genug gerühmt werden wird in der Toblerschen Vertonung Appenzell dürfe, dass letztlich er es gewesen für Männerchor (1825), in sei, welcher der Dichterin zu der Bearbeitung für gleiche Stimmen - als gewachsenes Produkt - in unsterblichem Ruhm verholfen durch den Appenzeller der heute rezipierten Form den habe. In einem Artikel in den Alfred Tobler (1845 bis 1923) und Status eines Klassikers einnimmt. nationalen Heften (1943) den Frankfurter August Glück Andererseits ist sie ein Beweis unterstreicht Rüsch: «Die prachtvolle um 1896, im vierstimmigen Satz für die Existenz, aber auch für Konzentration des für Gemischten Chor 1988 von die Wichtigkeit des kulturellen Landsgemeindetextes ist der Kürzung Albrecht Tunger, 1926 in Sachsen Austauschs über geographische auf die vier bekannten Strophen geboren, seit 1984 Bürger und politische Grenzen hinweg zu danken, in denen sich die von Trogen, und nicht zuletzt und für die Offenheit gegenüber Kerngedanken des ursprünglichen auch in der Orchesterbearbeitung Einflüssen von aussen. Gedichts vollkommen zu von 1984 durch den einer Einheit zusammenschließen.» Dortmunder Gustav Kilmer (""1915) Die Wurzeln Tatsächlich hat Toblers quer durch unterschiedlichste Verwendung des Textes für seine gesellschaftliche Gruppen Das Gedankengut, das der Text Komposition, die Albrecht hindurch rezipiert. des Gedichts in verdichteter Tunger treffend als «der Die Erfolgsgeschichte, in der Form zum Ausdruck bringt, ist unnachahmliche grosse Wurf seines Caroline Rudolphi und Johann nichts ursprünglich Musikerlebens» beschreibt, Heinrich Tobler die Norddeutsches oder gar Appenzel- dafür gesorgt, dass wenigstens Schlüsselpositionen besetzen, ist einerseits lisches, sondern Teil der Teile des Gedichts rezipiert und ein herausragendes Beispiel abendländischen Kulturgeschichte. nicht nur hierzulande gesungen für eine kulturelle Leistung, die Die Wurzeln dieses Gedanken-

61 mwmmmm^^mV&B^^m^^^^^^^^^m^m^m^^^m^^Kl

guts sind in der von Bibellektüre freie Bürger (und im 18. allgemein bekannten Ausdrucksformen und von der Lektüre Gleims, Jahrhundert ein Stück weit auch die eine Voraussetzung für Kleists, Klopstocks, Goethes und Bürgerin), der als Individuum das Verständnis. Wie stark in Wielands geprägten Kindheit Erfahrungen macht, als Träger Rudolphis Gedicht «absorbiert und Jugend Caroline Rudolphis von Vernunft darüber nachdenkt und transformiert» wird, soll am zu suchen. Es sind die beiden im und die Ergebnisse zur Darstellung Beispiel eines Vergleichs mit Zeitalter der Aufklärung sich bringt. Mit Hilfe von ausgewählten Bibelstellen (B) verbindenden Kulturtraditionen, Vernunft will er klären, was sich und Stellen aus Klopstocks (K) einerseits die eigentlich nicht in Worte kleiden epischem Lebenswerk «Messias» jüdischchristliche und andererseits die lässt: das individuell Empfundene, veranschaulicht werden. Die

griechisch-hellenistische, aus die Seelenbewegungen Toblersche Auswahl ist synoptisch denen die Autorinnen und und -regungen eines Einzelnen. neben Rudolphis Urfas- Autoren der literarischen Epoche Dabei ist ein Rückgriff auf sung gesetzt; die wenigen der «Empfindsamkeit» überlieferte Bilder in Form von Eingriffe in den Originaltext mit schöpften. Im Zentrum steht der Textbruchstücken, Wendungen und Fettdruck hervorgehoben.

Caroline Rudolphi Johann Heinrich Tobler

An Gott Ode an Gott

1 Alles Leben strömt aus dir, Alles Leben strömt aus dir, Und durchwallt in tausend Bächen Und durchwallt in tausend Bächen Alle Welten; alle sprechen: Alle Welten, alle sprechen: Deiner Hände Werk sind wir! Deiner Hände Werk sind wir.

B Bibelstelle/n: Und wir sind alle Deiner Hände Werk. (Jesaja 64,7) K= Stelle/n in Klopstocks Werk «Messias»: Mitten in dieser Versammlung der Sonnen erhebt sich der

Himmel, \ Rund, unermeßlich, das Urbild der Welten, die Fülle \ Aller sichtbaren Schönheit, die sich, gleich

flüchtigen Bächen, \ Um ihn, durch den unendlichen Raum nachahmend, ergiesset. (Messias, Erster Gesang)

2 Ach! es floß herab auf mich Auch ein Tropfen deiner Quelle - Und mir ward die Schöpfung helle, Und ich lebt' und fühlte dich.

B: Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Licht sehen wir das Licht. (Psalm 36,10)

3 Daß ich fühle, daß ich bin, Daß ich fühle, daß ich bin, Daß ich dich, du Großer, kenne, Daß ich dich, du Großer, kenne, Daß ich dich, dich Vater nenne - Daß ich froh dich Vater nenne, O ich sinke vor dir hin. O, ich sinke vor dir hin.

B: Derhalben beuge ich meine Kniee vor dem Vater unsers Herrn Jesu Christi [...]. (Epheser 3,14) K: Gott sprach: «Nenne mich Vater!» [...]. (Messias, Fünfter Gesang) K: [...] sinke vor Dir in niedrigen Staub hin. (Messias, Erster Gesang)

62 4 Daß du bist, daß immerdar Deine Kraft mich hält und traget, Ohne dich kein West sich reget, Unserm Haupt entfallt kein Haar; —

B: [...] und der Herr wird dich immerdarführen. (Jesaja 58,11) B: [...] denn es wird euer keinem ein Haar von dem Haupt entfallen. (Apostelgeschichte 27,34) K: Du bist ewig! [...]. (Messias, Erster Gesang) 5 Welch ein Trost! - Und unbegrenzt Welch ein Trost und unbegrenzt Und unnennbar ist die Wonne, Und unnennbar ist die Wonne, Daß, gleich deiner milden Sonne, Daß, gleich deiner milden Sonne, Uns dein Vateraug' umglänzt. Mich dein Vateraug' umglänzt.

B: [...] und du tränkest sie mit Wonne als mit einem Strom. (Psalm 36,9) B: Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild [...]. (Psalm 84,12)

6 Welch ein Wort, daß auf den Grund Uns dein Forscheblick durchdringet, Dir sich kein Gedank' entschwinget, Und kein Laut aus unserm Mund!

B: Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir. Von fern erkennst du meine Gedanken. (Psalm 139,2) K: Aber Du blickst mich nicht an; doch kennst Du mein innerstes Denken! (Messias, Fünfter Gesang)

7 Ach wenn dann mein ganzes Seyn, All mein Thun und all mein Wesen Ewig dir entdeckt gewesen, Ewig dir enthüllt wird seyn:

B: Und keine Kreatur ist vor ihm unsichtbar, es ist aber alles bloß und entdeckt vor seinen Augen. [...] (Hebräer 4,13)

8 O so gib, daß rein und wahr, Frey von Künsteley und Ränken, All mein Thun und all mein Denken Vor dir bleibe immerdar.

B: Die mit bösen Ränken umgehen, werden fehlgehen; die aber Gutes denken, denen wird Treue und Güte widerfahren. (Sprüche 14,22)

9 Deiner Gegenwart Gefühl Deiner Gegenwart Gefühl Sey mein Engel, der mich leite, Sei mein Engel, der mich leite, Daß mein schwacher Fuß nicht gleite, Daß mein schwacher Fuß nicht gleite, Nicht verirre von dem Ziel. Nicht sich irre von dem Ziel.

B: Gott sei mit euch aufdem Wege, und sein Engel geleite euch! (Tobias 5,23) K: Dicht, denn dicht um mich her strömt Deiner Allgegenwart Fülle! (Messias, Achtzehnter Gesang) K: Sei sein Engel! [...]. (Messias, Vierter Gesang) K: Auch hier ist, wo Gott lohnt, am Ziel lohnt mit Vollendung! (Messias, Zwanzigster Gesang)

63 Das neunstrophige Gedicht Dadurch dass der Mensch sich mit der Verwendung der besteht aus vier Versen pro Strophe, durch Gott ist und dies auch letzten Strophe, in der Gott in die im Reimschema abba erkennt, muss er Demut zeigen Gestalt eines Engels als Wegweisender (umarmender Reim) angeordnet («O ich sinke vor dir hin»). angerufen wird. sind. Der verwendete Versfuss Demut und Masshalten im Angesicht Im ganzen Gedicht ist ist der Trochäus, in dem auf eine Gottes, dessen Kraft nicht nirgends von Vergebung von Schuld betonte jeweils eine unbetonte nur alle Menschen «hält und und einem Erlösen die Rede, Silbe folgt («Alles Leben strömt traget» und ihnen Schutz sondern der Inhalt ist konzentriert aus dir»). Die Versenden sind im gewährt, sondern der auch die auf die Erkenntnis der ersten und letzten Vers (a) betont, Naturgewalten wie den West(wind) göttlichen Abkunft des man nennt sie männlich oder beherrscht, ermöglichen Trost. Menschen und einem daraus abgeleiteten stumpf, und in den mittleren beiden Das Göttliche wird nicht der moralischen Handeln des Versen (b) unbetont, man versengenden und Gluthitze Menschen, der die Hoffnung nennt sie weiblich oder klingend. verursachenden Sonne gleichgestellt, haben darf, dass all sein Tun und Ohne ins Detail gehen zu können, sondern den milden, Wärme Denken (Rudolphi) beziehungsweise seien die wichtigsten inhaltlichen und Leben spendenden wenigstens sein Tun (Tobler) Grundgedanken erläutert: Sonnenstrahlen. mit Gottes Lenkung auf dem Das Leben, so der Anfang des In den Strophen 6 bis 8, die bei «richtigen Weg» bleibt. Gedichts, strömt aus, von einem Tobler nicht berücksichtigt sind, Gott, einem Schöpfer, der schon kommt das bei Klopstock immer Ausblick im Titel «An Gott» und wieder thematisierte Öffnen des anschliessend als «Du» und «Vater» Innern besonders stark zum Die Frage, wie Johann Heinrich angesprochen wird. Tobler hat Ausdruck: Das Göttliche kennt Tobler zu Caroline Rudolphis «An Gott» zu «Ode an Gott» nicht nur die Bewegungen und Gedicht gekommen ist, wurde verändert, womit er die Regungen des Menschen im Alltag, schon mehrmals gestellt. Bis Feierlichkeit und Erhabenheit des sondern durchdringt mit heute konnte kein Hinweis auf Textes betont. Mit den Begriffen seinem «Forsche[r]blick» - also Toblers Besitz eines der genannten «Ausströmen», «Bächen», «Tropfen» wie der Forscher, der sich mit der Lyrikbände oder Liederbücher, und «Quelle» wird auf das Physiognomik befasst - die Hülle in denen das Gedicht Bild des lebensspendenden Wassers des Körpers und kennt die abgedruckt ist, gefunden werden. zurückgegriffen. seelischen Eigenschaften des Tunger konnte aber nachweisen, Bemerkenswert an diesem starken Bild Menschen: Selbst das Denken dass Tobler für seine ist dessen Verwandtschaft mit liegt offen vor Gott, «all mein Vertonungen häufig Texte aus der neuplatonischen Philosophie, Thun und all mein Wesen» ist Musenalmanachen verwendet hat: Unter die das Universum als Aus- enthüllt; dem allsehenden Auge diesen Texten begegnen die fluss (emanatio) aus einem alles Gottes entgeht nichts. Es ist eine Autorschaften von Christian umfassenden göttlichen Urquell logische Folge, dass in Strophe 8 Fürchtegott Geliert, Johann Caspar versteht. zum ersten Mal eine Bitte formuliert Lavater, Johann Wilhelm Als Menschen sind wir das ist, Gott möge darum Ludwig Gleim, Matthias Claudius Werk des angesprochenen Du besorgt sein, dass sowohl das Tun und und wir sind dazu befähigt, dies als auch das Denken «rein» und gleich mehrmals; auch die Vertonung zu erkennen, darüber zu sprechen «wahr» seien und blieben. Diese eines Gedichts von und das Göttliche zu fühlen. Bitte schien Tobler bei seiner Helmine von Chézy ist zu finden. Wie das Göttliche «zu leben» Auswahl der Strophen zu weit Angesichts der Präsenz Rudol- J ist (2. Strophe), wird nicht klar. gegangen zu sein; er begnügte phis in mehrerern wichtigen Lie- 64 « « «:

derbüchern des ausgehenden Im Rückblick auf meine eigene Gedanke fasziniert mich auch 18. Jahrhunderts (Campes «Kleine Erfahrung als insofern, als der enge Vertraute Kinderbibliothek», «Oldenburger Landsgemeindeteilnehmerin fasziniert mich der Dichterin, Friedrich Gottlieb Gesangbuch», Hillers der Gedanke, dass ich unter freiem Klopstock, durch den Trogner «Religiöse Oden und Lieder der Himmel ein Lied gesungen Arzt Laurenz Zellweger besten deutschen Dichter und habe, das durch Klopstocks Messias (1692 bis 1764) vermittelt, das Dichterinnen») hat die Frage an inspiriert, durch eine Dichterin Appenzellerland kannte und in Bedeutung verloren. Wichtig ist und Pionierin der seinen Schriften lobte. Er konnte höchstens die Feststellung, dass Mädchenerziehung aus damals noch nicht wissen, dass «An Gott» gemäss heutigem Norddeutschland in Verse gekleidet seine Grundhaltung später Forschungsstand das einzige und knapp vierzig Jahre später ausgerechnet im Ausserrhoder Gedicht Rudolphis ist, das Tobler durch einen Appenzeller Landsgemeindelied einen Spiegel vertont hatte. Komponisten vertont worden ist. Der finden würde.

Wichtigste Quellen und Literatur Religiöse Oden und Lieder der besten deutschen Dichter und Dichte¬ rinnen. Mit Melodien zum Singen beym Claviere, hg. von Johann Eugster, Arnold: Johann Heinrich Tobler. Festschrift zur Enthüllung Adam Hiller, 1790 [S. 40]. des Tobler-Denkmals auf Vögelinsegg, Teufen 1938 [S. 60f.]. Hamburg Rüdiger, Otto: Caroline Rudolphi. Eine deutsche Dichterin und Erzie¬ Eugster, Arnold: Johann Heinrich Tobler. Der Komponist des herin, Klopstocks Freundin, Hamburg 1903 [S. 44f„ S. 104-111, appenzellischen Landsgemeindeliedes, in: Mitteilungen des S. 138f.,S. 146, S. 237, S. 239]. Kantonsschulvereins Trogen 22 (1943), S. 31-44. Rusch, Walter: Alles Leben strömt dir. Wer ist der Dichter? Faessler, Peter: Johann Heinrich Tobler im Lichte der literarischen aus - Karoline in: Neue Zürcher Jg. 159 (1938), Nr. Überlieferung. Worte gesprochen anlässlich der Gedenkfeier für Rudolphi, Zeitung, 1090(19. Juni), BL 3. J. H. Tobler (1778[sic]-1838) am 29. Mai 1988 in der Pfarrkirche Wald, Herisau 1988, Bogendruck [4 S.J (auch ersch. in: Wochenspiegel, Rüsch, Walter: Karoline Rudolphi. Die Dichterin des Appenzeller 29. April 1989). Landsgemeindeliedes, in: Nationale Hefte 10 (1943/1), S. 30-33. Gedichte von Karoline Christiane Louise Rudolphi. Sammlung 2: Scheidle, Ilona: «Ein weiblicher Sokrates». Die Pädagogin Caroline Nebst einigen Melodien, hg. von Joachim Heinrich Campe, Rudolphi (ca. 1750-1811), in: dies.: Heidelbergerinnen, die Braunschweig 1787 [S. 101'.]. Geschichte schrieben, Kreuzungen 2006, S. 38-50. Kanton Appenzell Ausserrhoden, http://de.wikipedia.org/wiki/Kan- Schlüpfer, Walter: Appenzeller Geschichte, Bd. 2: Appenzell ton_Appenzell_Ausserrhoden (12. Mai 2008). Ausserrhoden (von 1597 bis zur Gegenwart), hg. vom Regierungsrat des Kantons Appenzell A.Rh., Herisau 1972 [S. 440f.]. Kleine Kinderbibliothek, hg. von Joachim Heinrich Campe, Braunschweig 1789, und Gesangbuch zur öffentlichen und häuslichen Schömer, Frank: Autobiografische Körper-Geschichten. Sozialer Andacht für das Herzogthum Oldenburg, nebst einem Anhange Aufstieg zwischen 1800 und 2000, Göttingen 2007 [S. 46-50], S. von Gebeten, Oldenburg 1791 [Nr. 227, 178f.J. Schriftlicher Nachlaß von Caroline Rudolphi, hg. von Abraham Voß, Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias, hg. von Elisabeth Höpker- Heidelberg 1835 [S. 15f.]. 6 1974-1999 Hist.-kritische Herberg, Bde., Berlin [= Ausgabe]. Steidele, Angela: «Als wenn Du mein Geliebter wärest». Liebe und [Leserbrief], in: Appenzeller Zeitung, Jg. 11 (1838), Nr. 32 (21. April), Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur S. 132. 1750-1850, Stuttgart, Weimar 2003 [S. 117-124: Sappho incognita: Caroline Rudolphi]. Loster-Schneider, Gudrun: «Laß mir noch | Manch kleines Liedchen

glücken, | das weiche Schwesterseelen einst | An ihren Busen Tobler, Johann Heinrich: Alles Leben strömt aus dir: Lieder für drücken». Zur Lyrik der Caroline Rudolphi, in: Männerchor, Frauenchor und Gemischten Chor, hg. von Albrecht Johann Friedrich Reichardt und die Literatur. Komponieren, Tunger, Trogen 1988 [S. 20f.]. korrespondieren, Walter Sahnen, Hildesheim, publizieren, hg. von Tunger, Albrecht: Johann Heinrich Tobler. Chorgesang als Volkskunst, Zürich 2003, S. 271-290. Herisau 1989 [S. lOlf., S. 141-144, S. 151-182]. Gudrun: Caroline Eine in Perrey, Rudolphi. Trittau, Unvergessenes. Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Helmina von 2004. in: Stormarner Tageblatt, 28. August Chézy von ihr selbst erzählt, Leipzig 1858 [S. 4|.

65