APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 40±41/2007 ´ 1. Oktober 2007

1977 und die RAF

Christian Semler Die radikale Linke und die RAF

Bettina Ræhl Die RAFund die Bundesrepublik

Anne Siemens Die Opfer der RAF

Eckhard Jesse Ursachen des RAF-Terrorismus und sein Scheitern

Tobias Wunschik Baader-Meinhof international?

Helmut Kury Mehr Sicherheit durch mehr Strafe?

Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Editorial

Die Historisierung der Roten Armee Fraktion (RAF) ist in vollem Gange. Die Biographien der Tåter und ihre Motive sind lange bekannt; der ¹Mythos RAFª ist entzaubert. Nun rçcken die Opfer des deutschen Linksterrorismus stårker ins æffentliche Bewusstsein. Anfang dieses Jahres entbrannte zudem eine De- batte çber die Begnadigung der letzten verurteilten RAF-Terro- risten. Viele Fragen sind noch offen. Wer hat Generalbundesan- walt im April 1977 erschossen? Und wer ist fçr die Morde und anderen Gewalttaten der 1980er und 1990er Jahre verantwortlich? Dabei geråt auch die DDR in den Blick, ge- wåhrte die Staatssicherheit doch in den 1980er Jahren steckbrief- lich gesuchten Terroristen Unterschlupf.

Von der Entfçhrung bis zur Ermordung des Arbeitgeberpråsi- denten Hanns Martin Schleyer und den Selbstmorden der inhaf- tierten RAF-Galionsfiguren in -Stammheim im Herbst 1977 vergingen sechs Wochen. Dazwischen lagen die Flugzeug- entfçhrung der ¹Landshutª und die Befreiung der Geiseln in Mogadischu. Die alte Bundesrepublik hatte im so genannten Deutschen Herbst ihre schwerste innenpolitische Krise zu be- stehen. Der Rechtsstaat lieû sich nicht erpressen. Bundeskanzler Helmut Schmidt blieb hart, Regierung und Opposition rçckten zusammen.

Kænnen die Reaktionen des Staates wåhrend der ¹bleiernen Zeitª vor 30 Jahren als Rezepte dafçr dienen, den globalen si- cherheitspolitischen Gefåhrdungen zu begegnen? Lauschangriff, Rasterfahndung und Kontaktsperre haben das Sanktionsreper- toire des Rechtsstaates beståndig erweitert. Mit der aus Sicher- heitserwågungen erfolgten Preisgabe verbriefter Freiheitsrechte steht indes auf dem Spiel, was den Rechtsstaat im Kern aus- macht.

Hans-Georg Golz Christian Semler gung nicht in Frage kommen. Das Gnadenge- such wurde verworfen. Die radikale Linke Der Angriff der Konservativen und der ¹Bildª-Zeitung auf das Recht zur freien Meinungsåuûerung auch eines Verurteilten und die RAF hatte nicht nur das taktische Ziel, eine Be- gnadigung zu verhindern. Offensichtlich diente die Intervention auch dem Versuch, Essay die Gegnerschaft zum Kapitalismus und zum ¹imperialistischen Weltsystemª per se mit terroristischen Aktionen in Verbindung nfang dieses Jahres schien es so, als zu bringen. Solche Anwçrfe sind zum einen A wçrde die dreiûigjåhrige Wiederkehr des gegen globalisierungskritische Organisatio- Schreckensjahres 1977 zum Anlass fçr Ge- nen wie Attac gerichtet, deren Analysen denkroutine. Der ¹linke Terrorismusª der zwar nichts mit Klars Holzschnitzerei zu RAF schien zwischen den Buchdeckeln eines tun haben, wohl aber in kritischer Absicht zweibåndigen, dick- ¹das Ganzeª der kapitalistischen Welt be- leibigen Werkes seine treffen. Den Begnadigungsgegnern kam es Christian Semler endgçltige Ruhe ge- aber auch darauf an, geschichtspolitisch zu Geb. 1938; Aktivist des Sozialis- funden zu haben. wirken, indem sie den antiimperialistischen tischen Deutschen Studenten- Wolfgang Kraushaar, Kampf der Linken in den 1960er und bundes (SDS); Mitgründer der der nimmermçde 1970er Jahren in die Nåhe terroristischer maoistischen Kommunistischen Chronist, hatte es her- Gewalt rçckten oder ihm zumindest eine Partei Deutschlands (KPD); ausgegeben. Aber die sympathisierende Wahlverwandtschaft mit Mitarbeiter der ¹tageszeitungª letzte Ruhe der RAF der RAF attestierten. Solche Auffassungen (taz), Postfach 610229, war Schein. Die Unto- grassieren auch im linksliberalen Milieu. So 10923 Berlin. ten, sie sind mitten kam den Autoren der ¹Sçddeutschen Zei- [email protected] unter uns. Jetzt kann tungª beim Abhæren der Bånder des man die Gespenster Stammheimer Prozesses die Einsicht, der sogar hæren ± auf den Tonbåndern des Stamm- Angeklagte Baader argumentiere der Form heimer Prozesses, deren Texte allerdings seit nach sachlich ± und befinde sich ¹ganz auf langem bekannt sind. der Hæhe des (damaligen) zeitgenæssischen Imperialismus-Geschwafelsª. Die Debatte um die Begnadigung des ehe- maligen Terroristen hatte die Wenn wir çber das seinerzeitige Verhåltnis Geisterbeschwærung eingeleitet. Konservati- der Linken zur Gewalt reden, gilt es, zwei ve Politiker bedrångten den Bundespråsiden- Gemeinplåtze zu beachten. Der eine betrifft ten, entgegen geltendem Recht die Begnadi- ¹die Linkenª. Im Folgenden steht die antiim- gung von einem vorgångigen Reuebekenntnis perialistische und antikapitalistische Linke im Klars und von einer Entschuldigung bei den Zentrum, wie sie im Sozialistischen Deut- Hinterbliebenen seiner Mordtaten abhångig schen Studentenbund (SDS) versammelt war zu machen. Ganz so, als ob solchen Gesten bzw. aus ihm hervorging. Das Bild der Au- eines Menschen, der im Gefångnis sitzt, ir- ûerparlamentarischen Opposition war jedoch gendeine moralische oder politische Bedeu- viel bunter. Zum zweiten gilt es, das Verhålt- tung zukomme. Besonders hysterische Reak- nis zur Gewalt nicht als ein fçr allemal fest- tionen in der Boulevardpresse und bei Politi- stehend, sondern im Rahmen eines histori- kern rief eine in der ¹Jungen Weltª schen Prozesses zu betrachten. Halten wir abgedruckte Gruûbotschaft Klars hervor, die fest, dass die erste Phase der Studentenbewe- aus seinem ¹Antiimperialismusª kein Hehl gung bis zum gewaltsamen Tod von Benno machte. Obwohl sich in Klars Erklårung Ohnesorg am 2. Juni 1967 gånzlich im Zei- keine Spur eines Aufrufs zu irgendeiner Ak- chen des ¹zivilen Ungehorsamsª stand. Ge- tion, geschweige denn zur Gewaltanwendung meint sind kalkulierte Regelçbertretungen fand, enthielt sie nach Meinung des bayeri- um eines als hæher bewerteten Rechtsguts schen Innenministers die Quintessenz des willen, also Verteidigung der Meinungsfrei- RAF-Terrorismus. Daher dçrfe eine Begnadi- heit auf dem Campus oder Protest gegen den

APuZ 40±41/2007 3 amerikanischen Krieg in Vietnam. Es ging um kalation polizeilicher Gewalt eskalierte auch Sitzstreiks, Besetzungsaktionen, Blockaden, die Gegenwehr und mit ihr ein Begriff der nicht genehmigte Demos, illegale Plakatak- Militanz, der im erfolgreichen Widerstand tionen, Sachbeschådigungen vermittels Farb- gegen die Polizeigewalt seinen Ursprung eierwurf und vieles mehr, meist Importe aus hatte. Militanz meinte, sich nicht widerstands- den USA. Gewaltanwendung war sorgsam los verprçgeln oder festnehmen zu lassen. Das dosiert, wie bei der Stærung des Straûenver- Problem dieser und anderer verwandter Be- kehrs oder dem Úffnen von Rektoratstçren. griffe war, dass sie von Gegnern wie von An- Varianten zivilen Ungehorsams waren die po- hångern der Linken im Sinn bewaffneter Ak- litischen Happenings. Das Problem all dieser tionen missverstanden werden konnten. Bis Aktionen war, dass auf Seiten der Staatsmacht zur Krise und zur Auflæsung der Studenten- und der Medien der Mitspieler fehlte. Es bewegung 1969/70 konnte zum Gewaltkom- wurde ein Antagonismus aufgebaut, dem es plex innerhalb der Linken keine Klårung er- auf Ausgrenzung ankam. reicht werden. Dazu wåre eine Denkpause nætig gewesen. Fçr Leute, die das Eisen Nach dem Fanal des 2. Juni 1967 verloren schmieden wollten, so lange es glçhte, war das die linken studentischen Aktionen die Leich- kein akzeptabler Vorschlag. tigkeit der ersten Phase. Unter dem Eindruck der drohenden Notstandsgesetzgebung ziel- Den Schwierigkeiten der Gewaltdiskussion ten sie nun darauf ab, polizeiliche Reaktionen versuchte die in Gruppen und Bçnde zerfal- im Ûbermaû zu provozieren und damit das lende radikale Linke seit 1970 mit dem tradi- ¹wahre Gesichtª einer Repression zu zeigen, tionellen Utilitarismus der kommunistischen die sich nicht mehr um die Grenzen des Bewegung beizukommen. Danach galt jede Rechtsstaats schert. Die antiimperialistischen, Gewalt als legitim, die das Proletariat bei sei- hauptsåchlich gegen den Krieg der Amerika- nem Emanzipationskampf voranbringt. Revo- ner in Vietnam gerichteten Demos und Ak- lutionåre Gewalt sollte ¹Gewalt durch die tionen wollten sich jetzt in einen internatio- Massenª sein. Deshalb wurde der individuelle nalen Rahmen einordnen und begriffen sich Terror abgelehnt ± nicht nur, weil der Zeit- als Bestandteil eines weltweiten Befreiungs- punkt fçr Gewaltanwendung nicht reif, son- kampfs. Dieses Gefçhl internationalistischer dern weil es die Ausgebeuteten selbst sein soll- Gleichzeitigkeit setzte beispielsweise die Er- ten, die sich ¹den alten Dreckª vom Hals stçrmung der Zitadelle von Hue durch den schaffen mçssten. Da die ¹revolutionåren Vietcong in zeitliche Beziehung zur (miss- Massenª auf sich warten lieûen, taugte das glçckten) Besetzung von Amerika-Håusern Kriterium ausschlieûlich zur Abgrenzung von hier in Deutschland. Aber trotz aller militan- der RAF. Deshalb kritisierte die RAF den ten Rhetorik gab es keine Forderungen, ¹Massenopportunismusª der Linksradikalen. Kampfformen der Befreiungsbewegungen auf Deutschland zu çbertragen. Sollte die Gewalt Mittel zum Zweck der Emanzipation sein, oder war sie selbst ein Unter amerikanischen Soldaten in Berlin emanzipatorischer Akt? Viele der radikalen wurde fçr die Desertion geworben, aber war Linken in der Bundesrepublik feierten den es noch zulåssig, auch amerikanische Militår- ¹Volkskriegª in Indochina, weil sie die Volks- einrichtungen wie die Sendemasten des AFN armee nach egalitår-sozialistischen Prinzipien anzugreifen, jenen Sender, der so manchen der organisiert sahen und weil in den befreiten radikalen Linken wåhrend eines Teils seiner Gebieten ± quasi als Antizipation ± sozialisti- Jugend begleitet hatte? Die Unterscheidung sche Einrichtungen und Projekte verwirklicht zwischen zulåssiger Gewalt gegen Sachen und wurden. Die Idee aber, der Griff zur Waffe unzulåssiger Gewalt gegen Personen war von und die Tætung des Gegners kænnten fçr sich Anfang an umstritten. Sie enthielt zwar die genommen Akte der Befreiung sein, fand bei Beziehung eingesetzter Mittel zu politischen der radikalen Linken kaum Anhånger. Zielen und verwarf den Angriff oder die Ge- fåhrdung von Menschen als mit humanen Zie- Zwischen der radikalen Linken in der Bun- len unvereinbar. Aber das Kriterium war desrepublik und in West-Berlin und der sich nicht trennscharf und thematisierte nicht die herausbildenden RAF gab es zwar enge per- mit Gewaltanwendung stets verbundenen po- sænliche, teilweise sogar freundschaftliche litischen und ethischen Probleme. Mit der Es- Beziehungen, aber auch tief greifende politi-

4 APuZ 40±41/2007 sche Unterschiede, nicht nur strategische. Die Solche Auffassungen waren sicher schema- radikalen Linken, ob maoistische K-Grup- tisch und verfehlten die Realitåt. Aber keines- pen, Spontis, Trotzkisten oder Anarchisten wegs war es so, dass die radikale Linke sich sahen ihre Aufgabe darin, der sozialistischen als Opfer der Entwicklung zum autoritåren Idee zu einer Massenbasis unter den Lohnab- Staat sah oder gar ihr Schicksal mit den Op- hångigen zu verhelfen. Nie wåre es ihnen, die fern des Nazi-Faschismus identifizierte. sich tagein, tagaus mit der Mçhsal sozialisti- Diese Linke arbeitete sich in den spåten scher Organisationsarbeit herumplagten, in 1960er und 1970er Jahren nicht mehr am Na- den Sinn gekommen, die Pistoleros der RAF zismus ab, wie auch der Generationenkon- zu beneiden oder gar zu bewundern. Damit flikt nicht mehr grundlegend war. Die Linken soll keineswegs klein geredet werden, dass waren voller Optimismus, voller Tatendrang, die RAF çber ein Unterstçtzungsmilieu ver- glaubten an keine geschichtliche Fatalitåt ± fçgte, aus dem sich auch ihre weiteren Gene- auch angesichts der ¹faschistischen Gefahrª. rationen rekrutierten. Auch in der Boheme Im Unterschied zu dieser ¹Und-der-Zukunft- wie in den Kreisen des akademischen Bçrger- zugewandtª-Mentalitåt war die Haltung von tums, den Kriegsgewinnlern der studenti- als fçhrendem theoretischen schen Revolte zumal, verfçgte sie çber Partei- Kopf der RAF geprågt von einem unglçckli- gånger aus der Ferne ± nicht aber bei den ra- chen Bewusstsein, das die Kontinuitåt des dikal linken Aktivisten der 1960er und 1970er Nazismus in der Bundesrepublik als entschei- Jahre. denden Faktor der politischen Entwicklung beschwor. Wåhrend die radikale Linke sich Gerade dies aber behaupten Wissenschaft- dem Internationalismus zuwandte und das ler, die sich in jçngsten Publikationen mit der deutsche an ihrer politischen Sozialisation RAF und der radikalen Linken auseinander- mæglichst ignorierte, haben die Mitglieder setzen. Jan Philipp Reemtsma meint, die RAF der RAF den Bannkreis des ¹deutschen Ver- habe unter diesen Linken fçr ein latent hångnissesª nie verlassen. Deshalb war es fçr schlechtes Gewissen gesorgt. Weil die RAF sie so naheliegend, sich als Gefangene mit den als Teil der radikalen Linken gesehen worden Nazi-Opfern gleichzusetzen, Stammheim mit sei, die ihre Ideale teile, nur leider die falsche Auschwitz zu parallelisieren. Diese Selbst- Mittel anwende, seien ihre Primitivitåt und Viktimisierung blieb der radikalen Linken Brutalitåt verleugnet worden. So sei die RAF vollkommen fremd. ein Teil der Verwirklichung des Selbstbilds der Linken geworden. Sie verbçrgte nach Als Ende der 1970er Jahre die ¹neuen so- Reemtsma auch deren Identitåt. zialen Bewegungenª das politische Feld zu dominieren begannen und sich die Grçnen Zweifellos existierte innerhalb der radika- zur Partei formierten, setzte sich mit erstaun- len Linken in den 1970er Jahren eine starke licher Leichtigkeit das Prinzip der Gewalt- Solidaritåtsbewegung mit den inhaftierten freiheit durch, eine der vier ursprçnglichen RAF-Mitgliedern vor allem der ersten Gene- Såulen grçnen Selbstverståndnisses. Dieser ration. Sie machte sich aber nicht an den Ak- Umstand erleichterte vielen der linken Radi- tionen der RAF fest, sondern an den Haftbe- kalen einen fliegenden Wechsel ins Lager der dingungen, insbesondere an der ¹Isolations- Gewaltfreien, ohne den Komplex der Ge- haftª. Hier ging es nicht um Phantasmen der waltanwendung als politisches Mittel ± auch Linken, um Verzerrungen eines funktionie- in Auseinandersetzung mit der RAF ± æffent- renden Rechtsstaats. Die Linken knçpften an lich zu çberdenken. In den 1970er Jahren eigene, sehr schmerzhafte Erfahrungen mit hatte es, trotz der manifesten Gegnerschaft Polizei und Justiz an. Allerdings interpretier- der meisten radikalen Linken zur RAF, an ten sie diese Erfahrungen im Rahmen einer einer solchen Debatte gefehlt. Wenn daher Theorie, die die Demokratie auf der schiefen heute ehemalige RAF-Mitglieder zu einer Bahn zum autoritåren Staat, auf dem gefåhrli- selbstkritischen Haltung aufgefordert wer- chen Weg in eine neue, modernisierte Form den, trifft dies nicht minder auf ihre ehemali- des Faschismus wåhnte. Die Haftbedingun- gen linksradikalen Antagonisten zu. gen der RAF-Gefangenen sahen groûe Teile der radikalen Linken, wie die Grundrechts- einschrånkungen im Namen der Sicherheit auch, als Indizien dieses Prozesses.

APuZ 40±41/2007 5 Bettina Ræhl kleistern und regelrecht unmæglich machen. Da konnten ein paar empærte, so genannte konservative Gegenstimmen, die glaubten, der Die RAF und die Ideologie resistent entgegenzutreten (meist aber selber schon durch die allgegenwårtige Propaganda angeschlagen waren), und oft Bundesrepublik nicht mit gleichwertigem, wettbewerbsfåhi- gem Insiderwissen ausgestattet, kaum Abhilfe schaffen. Hier muss auch die Tatsache deutlich Essay benannt werden, dass es zur erfolgreichen Strategie der Bewegung seit deren Entstehen gehært, jede Kritik und jede Benennung ¹stæ- renderª Fakten als Sakrileg zu ahnden. ie historische Einordnung der RAF D bleibt so lange ein Kampf gegen Wind- ¹68ª ist, anders als etwa die katholische mçhlen, wie die Bewegung, welche die RAF Kirche, die in den evangelischen und den hervorbrachte und die man gemeinhin APO/ Freikirchen ihre Widerparts hat, und anders 68 nennt, mit Wirkung fçr und gegen jeder- als die Philosophie, die unterschiedliche mann diktiert, was sich geschichtlich tatsåch- Schulen aufweist, in der Bundesrepublik lich ereignet habe. Die Tatsache ist nicht ernst- (West) noch immer eine Monopolveranstal- haft bestreitbar, dass die Deutungsmacht der tung ohne ernsthafte Konkurrenz. So låsst 68er-Ideologen in fast sich der Status quo der Geschichtsschreibung Bettina Ræhl allen gesellschaftlichen zur RAF nur mit dem vernichtenden Urteil Geb. 1962; Publizistin, Belangen und in ent- belegen: selektiv, fiktiv und in der Bewertung Hamburg. scheidenden Instituti- bis çber beide Ohren befangen; seit einem [email protected] onen wie den Medien, Dritteljahrhundert nichts Neues, gebetsmçh- http://bettinaroehl.blogs.com den Universitåten, den lenartige Wiederholung altbekannter Chimå- Schulen, dem Kunst- ren, geistiger Stillstand. betrieb und, last but not least, in Teilen der Justiz, seit 35 Jahren allumfassend ist. Die RAF als gewaltsame Speerspitze der 68er-Bewegung ist mit all ihren Vorlåufern Dabei stehen einer Historisierung, die die- und Nachahmern, von der ¹Bewegung 2. sen Namen verdient, weniger die sympathi- Juniª bis hin zu den Revolutionåren Zellen, sierenden Bewertungen einer permanenten ein gerade 40 Jahre altes Phånomen, das vom Nabelschau entgegen als vielmehr manipula- ersten Tag ihres Bestehens an massenmedial tive Eingriffe in den faktischen Gang der kommuniziert wurde, und dies mit Fernwir- Dinge, also in das, was in den 1960er und kung bis heute. Trotzdem ist kaum Licht in 1970er Jahren in West- und Ostdeutschland, diesen historischen Gegenstand zu bringen. in China, in Tibet, in den USA, in Vietnam, Zum einen beherrschen die Schilderungen der in der Sowjetunion, in Kuba und in den Lån- RAF-Tåter und die der damaligen Chefideo- dern der ¹Dritten Weltª passierte und wie die logen die Geschichtsschreibung in ganz unge- Ereignisse tatsåchlich miteinander zusam- bçhrlicher Weise, zum anderen gibt es einen menhingen. Da gibt es zwischen Schein und politisch korrekten Mainstream, der Tabus Sein, zwischen Wunsch und Wissenschaft, aus hårtestem Granit setzt und der selektiert, zwischen Ideologie und Realitåt, zwischen wer sich in den Medien und in der Ge- politisch korrekten Urteilen und der inkor- schichtsschreibung çberhaupt åuûern darf. rekten Wirklichkeit zum Teil erhebliche Dis- Neuerdings sind es vor allem die so genann- krepanzen. ten, håufig miteinander vernetzten Renegaten der Bewegung, die sich mit viel Sympathie Statt mit historischen Fakten und darauf ba- fçr ihre ideologisch bewegten Radaujahre als sierenden Einschåtzungen wird die Úffent- Historiker in eigener Sache betåtigen ± mit lichkeit seit Jahrzehnten routiniert mit unend- dem Makel, dass sie çber Jahrzehnte biogra- lich bedeutungslosen Details von Terroristen phisch tief verstrickt und ziemlich verblendet zu deren persænlichen Befindlichkeiten und waren. Daraus konstruieren sie in therapeu- Taten gefçttert, Details, welche die gesamtge- tisch anmutender Selbsteinschåtzung, dass sie sellschaftliche und politische Analyse ver- ihren Realitåtsverlust çberwunden håtten

6 APuZ 40±41/2007 und als ausgestiegene ¹Sektenmitgliederª Das Ganze mit Rollenverteilung und viel Ac- jetzt das absolute Wissen und den Durchblick tion, mit Bankçberfållen, Morden, Schieûe- besåûen. reien, Anschlågen, Hungerstreiks, Verhaftun- gen, Kampagnen, einem groûen Prozess und Das ist kein Kavaliersdelikt. Die Ge- einem Schlussakkord 1977 mit Flugzeugent- schichtsschreibung zur NS-Zeit hat man zu fçhrung und Erpressung der Regierung, Recht nicht braunen Tåtern çberlassen, son- Mord an einem fçhrenden Repråsentanten dern den Nachgeborenen, den Zeitzeugen auf der Wirtschaft und den klåglichen Selbstmor- der Opferseite und denen, die nachweislich den der Hauptdarsteller. Sieben Jahre Vollka- unbelastet waren. Unvergleichbar? Nicht racho in den Medien: Am Ende hatte die ganz, immerhin mçssen sich auch die heuti- RAF Kultstatus. gen Renegaten gefallen lassen, dass sie damals oft Fçhrungspositionen in einer Bewegung Die RAF als Legende und Mythos ± das ist inne hatten, die sich ± todernst gemeint ± den die Befindlichkeit von vielen Millionen, die Vælker- und Massenmærdern Mao Tse Tung, sich çber Jahre mit ihren medial gemachten Ho Tschi Minh und Lenin verschrieben hatte Idolen identifizierten, mit diesen hassten, und eben auch ein sympathisierenden Ver- liebten und revolutionierten. Die Opfer der håltnis zur RAF pflegte. RAF waren fçr sie ebenso nebensåchlich, wie die Medien und die RAF selbst die Opfer be- ¹68ª ist ein geschlossenes System, das alles handelten. Welch eine seit mehr als dreiûig und jeden bewertet und bis heute das Mono- Jahren stabile æffentliche Schizophrenie zwi- pol der Beurteilung seiner selbst als imma- schen der Realitåt der armseligen Bruchpilo- nente Græûe fçr sich reklamiert. Die geliebte ten, die in Kriminalitåt abgeglitten waren, eigene Pestbeule mit Namen RAF ist auf und den Phantasiebildern von den vermeintli- diese Weise zu einem perfekten, unantastba- chen Revolutionshelden in den Medien und ren Mythos geworden. Ihre toten und noch in den Kæpfen von Millionen Anhångern der lebenden, frçheren Mitglieder sind Fabelwe- 68er-Bewegung, die an ihren RAF-Ikonen sen zwischen Teufel und Engel. hången wie frçhere Generationen an der Ni- belungensage. Die jçngste RAF-Debatte ist eine Phan- tom-Debatte. Ein bisschen ballaballabumbum Wenn jetzt ein Eichinger-Action-Film die oder war es doch eher bumbumballaballa? RAF-Taten genauso abspult, wie sie damals Das war der Aktionismus der RAF. Viel wei- bereits zum Mythos verbråmt von den Me- ter reichte es nicht. Wenn die Gesellschaft der dien aufbereitet wurden, diesmal als Spiel- Bundesrepublik gelassen geblieben wåre und film, ist dies ein neuerlicher Beleg dafçr, dass die Medien abgewunken håtten, wåre bereits sich in Sachen RAF nichts bewegt hat. Dies die erste RAF-Generation in sich zusammen- ist insofern eine mittlere Katastrophe, als das gesackt, es håtte keine Nachfolgegeneratio- Thema erneut verfehlt und der Irrtum beflç- nen gegeben, und niemand mçsste sich mit gelt zurçckbleiben wird, als seien ein paar den in diesem Falle unbekannt gebliebenen RAF-Tåter mit ein paar Pistolen und Bom- Tåtern auseinandersetzen; es håtte keinen ben und ein paar plagiierten Politsprçchen Terrorismus in Deutschland gegeben. Inso- der Gegenstand, der seiner Erklårung harrt. fern muss festgehalten werden, dass die RAF Die RAF verfçgte çber kein eigenes Kænnen, von Beginn an ein nicht ungefåhrliches Me- kein Management, keine Idee, kein politi- dienprodukt war. Die Medien waren die sches Konzept, keine Vision, mittels derer sie Conditio sine qua non fçr das Entstehen und in der Lage gewesen wåre, die genannten Ge- die Fortexistenz der RAF, und dabei haben nerationen in ihren Bann zu ziehen. Sie war sie verantwortungslos die Terroristen zu ein Medienfake. Kultfiguren gemacht: eine Art Dallas-Show in Sachen Weltrevolution. Der Irrtum ganzer Generationen, die RAF habe ¹Politikª gemacht, das Nachlaufen, das Aus der RAF wurde ein urbaner Reality- Hinterherlaufen, die sympathisierende An- Western: Fiesling Baader, bæse Ensslin, Iden- hångerschaft, auch der feige Nervenkitzel tifikationsfigur Meinhof, Chefideologe Mah- und selbst die kokette Kritik ± dieses Massen- ler, Hungeropfer Meins, der liebe Raspe und, phånomen ist der Gegenstand, der noch nicht zu vergessen, die roten Star-Advokaten. immer einer soliden Historisierung harrt. Es

APuZ 40±41/2007 7 darf nicht verloren gehen, dass die vællig sinn- Medien aufzuspielen, muss es als einigerma- losen Taten der RAF nicht deren singulår ûen realitåtsverlustig bezeichnet werden, fehlgeleitetem Geist entsprungen sind. Viel- wenn sich eine Jugendrevolte in den nicht nur mehr war es so, dass Phantasien von Tyran- satten, sondern auch demokratisch, rechts- nenmorden in vielen Zirkeln und Kneipen bei staatlich und sozialstaatlich geradezu çber- Rotwein und Drogen zu fortgeschrittener bordenden 1970er Jahren anheischig macht, Stunde ein beliebtes Thema gewesen sind. diese Bundesrepublik nach Maos oder Che Dabei wurden viele Tyrannen in der Bundes- Guevaras oder Lenins Vorbild gewaltsam in republik, darunter auch der damals amtieren- einen Zustand versetzen zu wollen, der da- de Bundeskanzler Willy Brandt, ausgemacht, mals in allen kommunistischen Låndern zu weshalb die jçngste Aufregung darçber, dass besichtigen war. Die Bundesrepublik mit auch Brandt auf der Entfçhrungsliste der ihrem Kanzler Brandt als ¹faschistisches RAF gestanden habe, ziemlich artifiziell ist. Monsterª zu bezeichnen, das mit Terror und Revolution einer Umerziehung zu unterzie- Die Kriminalitåt der RAF war Katalysator. hen sei, war irrsinnig. Die RAF als terroristische Speerspitze ent- stand von unten, von der Basis getrieben, und Der ¹Linksfaschismusª (Jçrgen Haber- wurde von oben, von ein paar Chefideologen mas), den der Paradigmenwechsel produziert gezogen. Die RAF-Tåter waren nicht Opfer und hoffåhig gemacht hat, fçhrt zu einer ge- der kapitalistischen Gesellschaft, wie sie sich waltbewehrten Versiegelung gegen jede rea- frei nach Marx und Mao gern gesehen haben, listische Bewertung der RAF und erzeugt sondern sie waren Opfer eines ideologischen auch eine Schieflage in der Beurteilung ande- Zeitgeistes, der nach Terror und Gewalt ver- rer historischer Aspekte. Der jetzt ¹aufgefun- langte und Zerstærung als solche forderte. deneª kleine Schieûbefehl der DDR etwa, so Ideelle moralische, ethische Ûberhæhungen, der auf dem Kopf stehende Mainstream, sei die routinemåûig den RAF-Tåtern und der doch peinlicherweise ein alter Hut ± den al- Bewegung insgesamt angedichtet werden, lerdings tatsåchlich niemand kannte. Die sind historisch fehl am Platz. Frage mçsste lauten: Woran liegt das? Etwa daran, dass ein so brisantes Dokument seit Der geistig-strukturelle Paradigmenwech- zehn Jahren keine Chance gegen den kopf- sel, den das Jahr 1968 der (west-)deutschen ståndigen Mainstream hat? Gesellschaft bescherte, hat die Sicht auf die Welt nachhaltig auf den Kopf gestellt. Einer Die Ikonenindustrie rund um die RAF Bewertung der 68er-Bewegung steht weniger låuft wellenfærmig auf Hochtouren und das Individuum mit all seinen Vergangen- spuckt unbeanstandet immer wieder die sel- heitsvergoldungen entgegen als viel mehr die ben Quietschentchen aus, die Samthose von Denkstruktur, die man mit der Zahl 68 be- Baader, die rote Lederjacke seiner Braut ± da nennen kann. Die RAF-Formel ¹Schwein schreit der Mainstream nicht: Mein Gott, das oder Menschª, eine durch und durch inhu- kennen wir doch millionenfach seit dem- mane terroristische Erpressung, konnte in nåchst einem halben Jahrhundert! Jeder legt diesem Kontext zu einem geradezu morali- seine Lieblingsschallplatte gern auf, auch schen Aufruf an die Bevælkerung zum Mittun wenn er sie schon kennt. So ist das mit dem avancieren. Das Schwein Terrorist wurde Lieblingsspielzeug der 68er, und das heiût durch den genannten Paradigmenwechsel eben RAF. zum Menschen und der Mensch zum Schwein, um es in der Hårte und Konsequenz Die Bundesrepublik ist durch den Paradig- zu sagen, mit der die Terrorpropaganda in die menwechsel von 68 mit einem nebulæsen gesellschaftlichen Denkstrukturen eingriff. Makel behaftet worden. Die hoffnungslose Kein Wunder, dass die Gesellschaft der Bun- Ûberrepråsentanz des Themas RAF in den desrepublik dreiûig Jahre lang unfåhig war, Medien ist ein klares Indiz fçr die Tatsache, die Opfer der RAF zu wçrdigen. dass die ideologische Sympathisantenschaft fçr die Terrorgruppe und der damit einherge- Abgesehen davon, dass es keine groûe Hel- hende Generalverdacht gegen die Bundesre- dentat war, sich fçnfundzwanzig Jahre nach publik noch immer nicht entzaubert sind. Hitlers Tod als mutige, antifaschistische Wi- derstandskåmpfer vor sich selber und vor den

8 APuZ 40±41/2007 Anne Siemens Bristol, Frank H. Scarton, Prof. Dr. Karl- Heinz Beckurts, Eckhard Groppler, Dr. Ge- rold von Braunmçhl, Dr. Alfred Herrhausen, Die Opfer der Dr. Detlev Carsten Rohwedder und Michael Newrzella.

RAF Die Terroristen ermordeten Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Finanzwelt, deren Fahrer sowie Polizisten, Personenschçtzer n der Nacht zum 14. Oktober 1977 erfåhrt und Soldaten. Edith Kletzhåndler etwa I Gabriele von Lutzau, dass im Austausch wurde nach einem Bankçberfall in Zçrich zu- gegen sie und die çbrigen 90 Geiseln an Bord fållig zum Opfer. Zum Zeitpunkt der Tat war der Lufthansa-Maschine ¹Landshutª inhaf- aus dem, was als studentische Rebellion tierte Mitglieder der Roten Armee Fraktion gegen çberholte Universitåtsstrukturen und (RAF) freigepresst werden sollen. Sie ist Ste- den Vietnamkrieg begonnen hatte, ein gna- wardess, damals 23 Jahre alt. Das Flugzeug denloser Kampf gegen die Bundesrepublik steht auf dem Flughafen von Bahrain, an und ihre Institutionen geworden. Bedin- Bord verångstigte, verzweifelte Menschen. Es gungslos glaubten die Mitglieder der RAF ist heiû in der Maschine. Die Toiletten sind daran, revolutionåre Avantgarde zu sein. Ge- verstopft, es stinkt nach Fåkalien. Der Ge- waltsam wollten sie die Verhåltnisse im Land, ruch dringt in Klei- ja, der ganzen Welt veråndern. Es ist ein dung, Haare, Nase ± dunkles Kapitel bundesdeutscher Geschichte, Anne Siemens und wird ein Leben dessen Ereignisse bis heute pråsent sind und Dr. phil., geb. 1974; Politikwis- lang in Erinnerung Politik und Gesellschaft immer wieder be- senschaftlerin und Journalistin, bleiben, so wie die schåftigen. c/o Piper Verlag, Georgen- Angst. straûe 4, 80799 München. Ûber die Biographien der Tåter und ihre [email protected] Bis heute, sagt Ga- Ûberzeugungen ist vieles bekannt. Die Frage briele von Lutzau nach den Opfern ist dagegen meist im Hinter- (52), sei der bleibende Eindruck der Entfçh- grund geblieben. Wer waren die Menschen, rung die Hilflosigkeit: ¹Das Lamm auf der die zu Opfern der Terroristen wurden? Wie Schlachtbank zu sein, dem gleich die Kehle dachten sie çber Politik und Gesellschaft, durchgeschnitten wird ± und man sieht, wie çber die Bundesrepublik in der Nachkriegs- die Messer schon gewetzt werden.ª Die Ste- zeit? wardess, die in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 schlieûlich von der GSG 9 im somalischen Mogadischu befreit wird, ist eines von zahlreichen Opfern der RAF. Auch Selbstverklårung und Verharmlosung wenn die Taten Jahrzehnte zurçckliegen, wir- ken sie nach ± bei den çberlebenden Opfern Die ¹Landshutª-Stewardess Gabriele von wie bei den Angehærigen der Toten. Lutzau erinnert sich: ¹Die Gefangenen aus der RAF in Stammheim waren Leute in mei- Durch die RAF wurden in den 28 Jahren nem Alter oder nur unwesentlich ålter als ich. ihres ¹bewaffneten Kampfesª 34 Menschen Ihre Wurzeln hatten sie in der Bewegung, die getætet: Norbert Schmid, Herbert Schoner, ich vor wenigen Jahren noch von ganzem Hans Eckhardt, Paul A. Bloomquist, Clyde Herzen bewundert hatte.ª Dem Protest R. Bonner, Ronald A. Woodward, Charles L. gegen den Vietnamkrieg, der Forderung, die Peck, Andreas Baron von Mirbach, Dr. Tåter fçr die Verbrechen im ¹Dritten Reichª Heinz Hillegaart, Fritz Sippel, Siegfried Bu- zur Rechenschaft zu ziehen ± diesen Zielen back, Wolfgang Gæbel, Georg Wurster, Jçr- der Studentenbewegung hatte Gabriele von gen Ponto, Heinz Marcisz, Reinhold Bråndle, Lutzau zugestimmt. Der Bruch kam fçr sie Helmut Ulmer, Roland Pieler, Arie Kranen- mit der zunehmenden Gewalt. burg, Dr. Hanns Martin Schleyer, Hans-Wil- helm Hansen, Dionysius de Jong, Johannes Dieser Beitrag beruht auf: Anne Siemens, Fçr die RAF Goemans, Edith Kletzhåndler, Dr. Ernst war er das System, fçr mich der Vater. Die andere Ge- Zimmermann, Edward Pimental, Becky Jo schichte des deutschen Terrorismus, Mçnchen 2007.

APuZ 40±41/2007 9 Diese Sicht und Kritik teilten viele der anfånglichen Schwierigkeiten ein guter Aus- Menschen, die zu Opfern der RAF wurden. tausch gewesen ± und man mçsse mit dieser Der Verteidigungsattach an der deutschen Generation mehr reden. Drei Tage spåter Botschaft in Stockholm, Andreas von Mir- nehmen Siegfried Hausner, Lutz Taufer, bach, den die RAF 1975 ermordete, hatte Ver- Hanna Krabbe, Ulrich Wessel, Karl-Heinz ståndnis fçr die Forderung der Studenten Dellwo und Bernhard Ræssner, mit Pistolen nach Aufarbeitung. Seine Witwe, Christa von und Sprengstoff bewaffnet, elf Geiseln in der Mirbach, sagt: ¹Ab Mitte der 1960er Jahre deutschen Botschaft. Sie fordern die Freilas- hatten sich an den Universitåten die ersten sung von , Gudrun Ensslin, Stimmen geregt, das Verschweigen der Taten Ulrike Meinhof und 23 weiteren Terroristen. und der persænlichen Verantwortungen im In der ersten Hålfte der 1970er Jahre waren Dritten Reich mçsse ein Ende haben. Diese die fçhrenden Kæpfe der RAF in der Bundes- Forderung begrçûte Andreas. (. . .) Es war in republik festgenommen worden ± so wie die seinen Augen ein wichtiger Schritt fçr die Mehrzahl der Mitglieder der ersten Generati- Gesellschaft, sich ehrlich und tiefgehend mit on. Die Spirale der Gewalt drehte sich den- der eigenen Verantwortung auseinander zu noch weiter. Denn in der ¹zweiten Generati- setzen ± daraus zu lernen und neu zu begin- onª der RAF, die in dieser Zeit nachrçckte, nen.ª hatte sich die Ûberzeugung gefestigt, ihre in- haftierten Genossen befreien zu mçssen. Das Auch der Botschaftsrat fçr Wirtschaft in wurde in den folgenden Jahren zum Haupt- Stockholm, Heinz Hillegaart, der am 24. ziel. April 1975 wåhrend des Ûberfalls und der Geiselnahme nach Andreas von Mirbach zum 24. April 1975, mittags: Um die schwedi- zweiten Opfer der RAF wurde, hatte Ver- schen Polizeibeamten, die sich in den unteren ståndnis fçr die Forderung der Studenten Etagen des Gebåudes aufhalten, zum Rçck- nach Aufarbeitung, fçr ihren Protest gegen zug aus der Botschaft zu zwingen, droht das den Vietnamkrieg und ihren Einsatz fçr Ver- RAF-Kommando, Andreas von Mirbach zu ånderungen der Universitåtsstrukturen. Seine erschieûen. Seit Herbst 1974 hatte er ernstzu- Tochter Claudia Hillegaart: ¹Unser Vater war nehmende Warnungen erhalten, das Leben zwar im Krieg gewesen, aber nie Mitglied der der Botschaftsangehærigen in Stockholm sei NSDAP. Daher brach fçr ihn nach dem Ende bedroht. Das Bundeskriminalamt hatte die Si- des Dritten Reichs kein ideologisches Glau- cherheitsmaûnahmen in der Botschaft trotz bensgerçst zusammen. Das machte es ihm dieser Anzeichen der Bedrohung nicht er- leichter als anderen seiner Generation, sich hæht. Nachdem sich die schwedische Polizei mit der Vergangenheit auseinander zu setzen. auch nach erneuter Aufforderung nicht zu- Er erkannte, dass ein Groûteil seiner Genera- rçckgezogen hat, feuern zwei Terroristen tion verdrångte und so tat, als håtte es die mehrere Schçsse auf Andreas von Mirbach zwælf Jahre unter Hitler nicht gegeben. Die ab. Er stirbt am spåten Nachmittag in der Menschen richteten sich gemçtlich in ihren Stockholmer Universitåtsklinik. Heinz Hille- bçrgerlichen Moralvorstellungen ein und gaart wird, nachdem der Krisenstab unter blendeten die Frage nach Mitschuld aus. Es Bundeskanzler Helmut Schmidt die Forde- verblçffte unseren Vater nicht, dass manche rungen der RAF ablehnt, von den Terroristen der Jçngeren sich mit diesen in ihren Augen an ein Fenster der Botschaft gefçhrt und er- verlogenen Vorstellungen von Moral nicht schossen. Wenige Stunden spåter explodiert anfreunden konnten. (. . .) Den Formen ihres der von dem RAF-Kommando in der Bot- Protests stand er allerdings teils kritisch ge- schaft installierte Sprengstoff. Ulrich Wessel gençber, doch er akzeptierte ihr Recht darauf, kommt bei der Explosion ums Leben. Bis ihre Meinung frei åuûern zu dçrfen.ª heute ist nicht geklårt, wer sie ausgelæst hat. Eine der Thesen lautet, die Tåter håtten es Noch wenige Tage vor seiner Ermordung versehentlich selbst getan. Siegfried Hausner hatte Hillegaart mit Studenten aus der Bun- erliegt einige Wochen nach der Explosion sei- desrepublik diskutiert, die sich vor der Bot- nen Verletzungen. Die çberlebenden Terror- schaft zum Protest versammelt hatten, sagt isten Dellwo, Ræssner, Krabbe und Taufer seine Tochter. Abends sei er zufrieden nach werden wegen gemeinschaftlichen Mordes in Hause gekommen: Er habe sich mit den jun- zwei Fållen sowie Geiselnahme und versuch- gen Leuten unterhalten kænnen, es sei nach ter Nætigung eines Verfassungsorgans zu

10 APuZ 40±41/2007 zweimal lebenslånglicher Freiheitsstrafe ver- harmlosungen entschiedener entgegentråte. urteilt. Ungeklårt ist bis heute ± wie in vielen Rechtsradikalen Tåtern lieûe man derlei aus Mordfållen der RAF ±, wer von den Tåtern gutem Grund nicht durchgehen, Linksradi- geschossen hat. Ræssner wird 1994 von Bun- kale umweht eine nicht gerechtfertigte Aura despråsident Richard von Weizsåcker begna- der Nachsicht und des Verståndnisses. Auch digt. Taufer und Dellwo kommen 1995 vor- rechtsradikale Tåter versuchen, sich als Opfer zeitig aus der Haft; Krabbe wird 1996 vorzei- zu gerieren; gleichwohl sind die Opfer ande- tig entlassen. re, und sie sollten bei aller Tåterfixiertheit nicht vergessen werden. Fçr meinen Vater In dem 2003 gedrehten Dokumentarfilm war das Leben mit dem Ûberfall auf die Bot- des schwedischen Regisseurs David Arono- schaft fçr immer zu Ende. Seine Angehærigen witsch schildert Dellwo seine Version der erhielten auf ihre Weise ,lebenslang`, nicht im Geschichte. Er spricht von den Idealen, mit rechtlichen Sinne wie die Mærder, sondern im denen er nach Stockholm gereist sei, und von buchståblichen Sinne. Auslæser war der der Gerechtigkeit, fçr die er kåmpfen wollte. Mordentschluss von Menschen, die meinen Zur Ermordung der beiden Botschaftsange- Vater nicht einmal kannten. Es reichte, in ihm hærigen gibt er an, es sei ein politischer und einen Repråsentanten des ,Schweinesystems` moralischer Fehler gewesen, dass die Diplo- zu sehen. Er war aber kein ,Schwein`, er hatte maten Andreas von Mirbach und Heinz Hil- nie in seinem Leben jemandem etwas zuleide legaart erschossen wurden. Clais von Mir- getan, schon gar nicht den Tåtern selber. Er bach, der Sohn, sagt dazu: ¹Ganz so ,harm- hatte es sich im Gegenteil zur Aufgabe ge- los`, wie es der Begriff ,erschieûen` nahe legen macht, auch ihre Freiheitsrechte notfalls mit mæchte, war es aber nicht. Zwar ist jeder der Waffe in der Hand zu verteidigen.ª Mord bereits an sich grausam, doch macht es auch einen Unterschied, wie er geschieht. Dagegen håtten alle çberlebenden Mærder Meinem Vater haben die Mærder Kugeln in seines Vaters die Mæglichkeit, nach der Haft Kopf und Rçcken, Arme und Beine geschos- noch einmal neu anzufangen, so von Mir- sen, ihn kopfçber eine Steintreppe hinunter- bach: ¹Die Mærder zeigen dies selber ganz of- geworfen und dort halbtot liegen und leiden fensiv. Im Film ,Stockholm '75` gewåhrt lassen. Heinz Hillegaart haben sie theatralisch Karl-Heinz Dellwo dem Zuschauer auch zum Fenster marschieren lassen, um ihn in Einblick in seinen Alltag. Er zeigt seine Le- Todesangst angeblich eine Botschaft ausrich- bensgefåhrtin, die aus dem gleichen Umfeld ten zu lassen, wåhrend sie ihn kaltblçtig von kommt wie er. Das Signet der RAF ist wåh- hinten in den Kopf schossen. Diese Fakten rend des Interviews minutenlang in seiner fçhren die Selbstdarstellung der Terroristen Kçche zu sehen. Man stelle sich einen rechts- als menschenfreundliche Idealisten, die hæ- radikalen Mærder vor, der in seiner Wohnung herer Ideale zuliebe gegen ihren eigenen Wil- einschlågige Zeichen aus der Naziszene vor- len geradezu zum Kampf gezwungen wur- zeigt. Diese plakative Verklårung des Revolu- den, ad absurdum.ª tionåren wird bekråftigt durch seine aktuellen æffentlichen Øuûerungen zu politischen Er- Zu einer Øuûerung Ræssners wåhrend eignissen. Dellwo stellt sich nicht nur in eines Fernsehinterviews im ZDF im Jahr Fernsehinterviews und Filmen dar, er gibt 1994, er empfinde keine Reue und kein Be- Radiointerviews zu allgemeinen Themen, hålt dauern gegençber den Opfern und ihren An- Vortråge çber ,politischen Widerstand in der gehærigen ± ¹Krieg ist Krieg und vorbei ist Nachkriegszeit` und diskutiert æffentlich vorbeiª, und wer seien çberhaupt die Opfer? çber Hartz IV. Dellwo sieht sich offenbar Die Opfer seien die Armen und die Vernach- immer noch auf einer moralisch hæheren låssigten dieser Gesellschaft, heute sei Ge- Stufe als den Groûteil der Gesellschaft, als waltanwendung allerdings die falsche Metho- einer, der Ungerechtigkeiten aufdeckt und de, politische Ziele zu erreichen ±, erklårt diese von seiner çberlegenen Warte herab Clais von Mirbach: ¹Ich bin sehr dafçr, dass kommentiert. In jedem Moment profitiert er jeder seine Meinung æffentlich sagen darf, dabei von den rechtsstaatlichen Grundsåtzen auch wenn sie abwegig ist. Das soll fçr jeden unseres Landes, die er zwar vor rund dreiûig gelten, auch fçr die Mærder meines Vaters. Jahren noch zerstæren wollte, die aber seine Ich wçnschte mir aber, dass die Úffentlich- vorzeitige Haftentlassung ermæglichten und keit solchen Selbstverklårungen und Ver- die ihm Unterstçtzung durch æffentliche Gel-

APuZ 40±41/2007 11 der gewåhren. Ich will nicht missverstanden inhaftierten RAF-Mitglieder Andreas Baader, werden: Ich gænne Karl-Heinz Dellwo seinen Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe, Verena Neuanfang. Ich bekomme meinen Vater nicht Becker, Werner Hoppe, Karl-Heinz Dellwo, dadurch zurçck, dass es den Tåtern schlecht Hanna Krabbe, Bernhard Ræssner, Ingrid geht. Doch mich wundert, dass ehemalige Schubert, Irmgard Mæller und Gçnter Son- oder Noch-Mitglieder der RAF auf diese nenberg. Der Krisenstab im Bundeskanzler- Weise Selbstdarstellung betreiben kænnen, amt spielt in den Verhandlungen mit den Ent- ohne dass die Gesellschaft sie in ihre Schran- fçhrern auf Zeit und hofft, dass in der Zwi- ken weist.ª schenzeit das Versteck Schleyers entdeckt und die Geisel befreit werden kann. Die Er- eignisse eskalieren und zwingen zum Han- Die Verantwortung der Intellektuellen deln, als ein vierkæpfiges arabisches Entfçh- rerkommando zur Unterstçtzung der Forde- Corinna Ponto, die Tochter des am 30. Juli rungen am 13. Oktober 1977 das Lufthansa- 1977 ermordeten Vorstandsvorsitzenden der Passagierflugzeug ¹Landshutª auf dem Weg Deutschen Bank, Jçrgen Ponto, sagt: ¹Wer von Mallorca nach Frankfurt am Main ent- einmal Opfer wurde, kann nie Ex-Opfer sein. fçhrt. In Aden erschieût der Anfçhrer der Bei den Tåtern wird heute doch vielfach von Terroristen den Flugkapitån Jçrgen Schu- ,ehemaligen` Terroristen gesprochen. Dieses mann. Die Flugzeugentfçhrung endet am 18. ,Ex` ist ein Privileg. Ich kenne keinen Ex- Oktober 1977 in Mogadischu. Es gelingt Be- Mærder, auch keinen Ex-Kindesentfçhrer. amten der GSG 9, die Geiseln zu befreien. Ex-Terroristen nennen sie sich aber alle, die Bis auf ein Mitglied des Entfçhrerkomman- in der RAF waren und heute wieder in unse- dos werden die Terroristen wåhrend der rer Gesellschaft leben. Das Ex verwandelt so- Flugzeugerstçrmung erschossen. zusagen ein Minusvorzeichen in ein mir un- bekanntes, diffuses Plus. Hat denn ein ehe- Die in Stammheim inhaftierten RAF-Mit- maliger Terrorist einen klugen Appell an die glieder Baader, Ensslin und Raspe begehen nåchste Generation gerichtet? Oder hat ir- nach Bekanntwerden der Nachricht von der gendein Ex-Terrorist wahrnehmbar eine An- Geiselbefreiung in Mogadischu noch in der- titerrorismus-Bewegung in Gang gebracht?ª selben Nacht Selbstmord. Im Umfeld der RAF verbreitet sich die These von der staatli- Jçrgen Ponto wurde erschossen, als ein chen Hinrichtung. Am Abend des 19. Okto- Kommando der RAF am 30. Juli 1977 ver- ber 1977 wird die Leiche des erschossenen suchte, ihn zu entfçhren. Er hatte sich ge- Hanns Martin Schleyer im franzæsischen wehrt. Dem Kommando gehærten Christian Mçhlhausen im Kofferraum eines Autos ge- Klar, und Susanne Al- funden. Ûber Wochen hat die Entfçhrung brecht an. Es war die Perfektion der Heim- Schleyers, haben die Fotos seiner Geiselhaft, tçcke: Albrecht ist die Tochter eines alten mit denen die RAF belegt, dass er noch am Schulfreundes von Jçrgen Ponto. Dass sie Leben ist, die Titelseiten der Zeitungen ge- Mitglied der RAF war, ahnte er nicht. So fçllt: Die Bilder dokumentierten, wie leid- konnten sich die Terroristen unverdåchtig voll es fçr Schleyer war, auf eine Entschei- Eintritt zum Hause Ponto verschaffen. Sie dung der Bundesregierung zu warten. Am setzten nach der Ermordung Pontos und dem 19. Oktober 1977 gibt die RAF eine Erklå- verfehlten Ziel seiner Entfçhrung weiter alles rung ab: ¹Wir haben nach 43 Tagen Hanns daran, die inhaftierten Mitglieder der ersten Martin Schleyers klågliche und korrupte Generation der RAF, darunter Ensslin und Existenz beendet. Herr Schmidt, der in sei- Baader ± Ulrike Meinhof hatte im Mai 1976 nem Machtkalkçl von Anfang an mit Selbstmord begangen ±, freizupressen. Schleyers Tod spekulierte, kann ihn in der Rue Charles Pguy in Mçhlhausen in einem Wenig spåter, am 5. September 1977, wird grçnen Audi 100 mit Bad Homburger der Arbeitgeberpråsident, Pråsident des Bun- Kennzeichen abholen (. . .).ª desverbandes der deutschen Industrie (BDI) und Vorstandsmitglied von Daimler Benz, Hanns-Eberhard Schleyer, der ålteste Sohn, Hanns Martin Schleyer, entfçhrt. Im Aus- sagt heute: ¹Es gibt die ganz persænliche Be- tausch gegen ihn verlangt das RAF-Komman- wåltigung von Verlust, eine emotionale Auf- do ¹Siegfried Hausnerª die Freilassung der arbeitung der Geschehnisse, die fçr die Úf-

12 APuZ 40±41/2007 fentlichkeit verborgen in einem selbst und theoretisch mit den Mitscherlichs, mit Mar- mit der Familie stattfindet. Sicht- und hærbar cuse und Adorno beschåftigt, es gab auch die wollte ich mich allerdings mit den Intellek- eine oder andere Debatte im Feuilleton, aber tuellen auseinandersetzen, die in den Jahren eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den vor der Ermordung meines Vaters zur zuneh- Meinungsbildnern der Studentenbewegung menden Radikalisierung der Studentenbewe- war ausgeblieben. Sie begann erst nach den gung beigetragen hatten. Auch das war neben Morden des Jahres 1977. Bei vielen ± ich dem Persænlichen ein wichtiger Schritt der nenne sie Multiplikatoren ± haben erst diese Aufarbeitung fçr mich. Ich sprach nach dem Gewalttaten dazu gefçhrt, dass auf ihrer Seite Herbst 1977 mit vielen Literaten und Univer- çberhaupt eine Diskussionsbereitschaft auf- sitåtsprofessoren, die sicher keine klamm- keimte. Es hatte fçr mich etwas Versæhnliches heimliche Sympathie fçr die Ermordung mei- und Sinngebendes, dass Bewegung in die ge- nes Vaters empfanden, aber fçr sich immer in sellschaftliche Debatte kam. Nun wurde das Anspruch genommen hatten, man kænne nur Phånomen Terrorismus und politisch moti- aus einer radikalen Position heraus Verånde- vierte Gewalt auf einer viel breiteren Basis rungen herbeifçhren. Das war mein Vorwurf diskutiert, und viele der Intellektuellen, die an die Intellektuellen: nicht erkannt zu haben sich çber die 1950er bis 1970er Jahre nicht oder erkennen zu wollen, dass sie ± die Intel- nur fçr eine Aufarbeitung des Dritten Reichs lektuellen und geistigen Fçhrer der Studen- eingesetzt hatten, sondern auch fçr eine nach- tenbewegung ± mit ihren plakativen Positio- haltige Verånderung der gesellschaftlichen nen auch einen erheblichen Einfluss auf Teile Strukturen in Deutschland, trennten sich im der studentischen Jugend ausgeçbt und damit Zuge dieser Debatte von einer bestimmten eine besondere Verantwortung hatten. Was Radikalisierung ihrer Positionen und råumten sie gesagt und geschrieben hatten, war Bau- ein: ,Nein, so kann das nicht funktionieren. stein des ideologischen Fundaments der RAF Wir mçssen akzeptieren, dass Demokratie geworden, die sich als revolutionåre Avant- nach Mehrheiten funktioniert.` Der Deutsche garde sah ± legitimiert, mit allen Mitteln das Herbst war eine Zåsur in der Geschichte der bestehende System anzugreifen. Eines meiner Bundesrepublik. Denn ich bin davon çber- Argumente in all diesen Erærterungen mit In- zeugt, dass sich nach dem Herbst 1977 die tellektuellen war immer wieder: ,Wie reagiert Art, wie die RAF, die Bewegung 2. Juni oder ihr denn, wenn Menschen aus dem rechtsex- die Revolutionåren Zellen wahrgenommen tremen Umfeld fçr sich in Anspruch nehmen wurden, verånderte. Die æffentliche Auf- wçrden: Dieser Staat ist so repressiv ± wir merksamkeit und vor allem die Bereitschaft kænnen ihn gar nicht mehr auf einem demo- junger Menschen im Sympathisantenfeld, zu- kratischen Wege zu åndern versuchen. Wir zuhæren und Solidaritåt mit Baader-Meinhof kænnen es nur noch mit Gewalt. Wçrdet ihr zu demonstrieren und zu praktizieren, sie auch in ihrer Position unterstçtzen?` Mit schwanden. Auch im linken Umfeld wurde dem Publizisten Jean Amry hatte ich einmal erkannt, dass die behauptete Logik revolutio- eine æffentliche Diskussion, und gegen Ende nårer Gewalt ein Irrweg war. Und es wurde råumte er ein, er sei sich nicht bewusst gewe- bis ins Sympathisantenfeld hinein erkannt, sen, welchen Einfluss er auf die jungen Leute dass mit Schçssen oder Bomben auf jemand gehabt habe: ,Ich håtte wissen mçssen, dass wie Gerold von Braunmçhl oder Alfred bestimmte Thesen und Aussagen in ihrer pla- Herrhausen allein die Angehærigen und kativen Form so ernst genommen werden Freunde der Ermordeten getroffen wurden, wçrden, dass daraus bestimmte Handlungen nicht aber der Staat.ª entstehen. Und das bedauere ich zutiefst`, sagte er mir. Auch mit Heinrich Bæll gab es ein Gespråch, auch er ånderte seine Hal- Moral und Heldennimbus tung.ª Das RAF-Grundsatzpapier ¹Guerilla, Wider- Diese Form der intellektuellen Auseinan- stand und antiimperialistische Frontª leitete dersetzung habe es vor 1977 nicht gegeben, zu Beginn der 1980er Jahre eine neue Phase so Schleyer ± und vor allem seien die geisti- des Terrors ein. Eine ¹dritte Generationª gen Våter der Studentenbewegung nicht be- hatte sich gebildet. Die meisten Mitglieder reit gewesen, Verantwortung zu çbernehmen: der zweiten Generation waren mittlerweile in ¹Man hatte sich vor dem Deutschen Herbst Haft. Fortan sollte sich der behauptete Be-

APuZ 40±41/2007 13 freiungskampf der RAF ¹gegen den Imperia- Fçr mich war und ist es unglaublich, dass die lismus in Europaª richten. Ziel der Terroris- RAF, die angeblich fçr eine gerechtere Welt ten war die Bildung einer antiimperialisti- kåmpfte, einen Mord begeht an meinem schen Front ± grenzçberschreitend in ganz Vater, den ich stets als politischen Idealisten Europa. gesehen habe. Die Berufswahl meines Vaters hatte sehr viel mit seinem eigenen Schicksal Am 10. Oktober 1986 wird Gerold von zu tun ± dem Erleben des Zweiten Weltkriegs Braunmçhl, Politischer Direktor im Auswår- als Kind und der Zeit danach. Die Familie tigen Amt in Bonn, von zwei vermummten lebte damals in Schlesien im heutigen Polen. Personen vor seinem Haus erschossen. Das Die Gråuel der Deutschen wåhrend des RAF-Kommando ¹Ingrid Schubertª bekennt Kriegs und die Hass- und Rachegefçhle der sich zu dem Attentat und begrçndet den Polen in der Folgezeit, die die deutsche Zivil- Mord unter anderem damit, von Braunmçhl bevælkerung wåhrend der Vertreibung zu sei ein ¹Vertreter des militårisch-industriellen spçren bekamen, prågten ihn. Er wollte daran Komplexesª gewesen. Einen Monat nach arbeiten, dass ein solcher Krieg nie wieder dem Mord veræffentlicht die Familie von vorkommt, und sich fçr den Dialog zwischen Braunmçhl den von den Brçdern unterzeich- den Vælkern einsetzen. Da lag der Wunsch neten offenen Brief ¹An die Mærder unseres nahe, im Auswårtigen Dienst zu arbeiten. Bruders.ª Die ¹tageszeitungª druckt den Dieser Wunsch hatte sich bei ihm schon zu Brief. Schulzeiten entwickelt. Er war ein sehr poli- tisch denkender Mensch, dem die Aufarbei- ¹Dort war die Wahrscheinlichkeit groû, tung der Nazivergangenheit ein wichtiges dass der Brief von den Tåtern und von Men- Anliegen war. Er hat sich oft çber das Groû- schen aus dem Sympathisantenfeld gelesen machtgehabe der USA geårgert und deren wird,ª erklårt der Sohn des Ermordeten, Pa- Militåreinsåtze damals in Grenada und Liby- trick von Braunmçhl. Ûber das Motiv seiner en sehr verurteilt. In seinem Beruf hat sich Familie sagt er: ¹Da es kein natçrlicher Tod mein Vater sehr engagiert. Sein Leben hat er war, den mein Vater gestorben ist, ist automa- ganz der politischen Arbeit gewidmet. Das tisch auch das Bedçrfnis da, sich mit den Tå- war kein Karrierestreben. Es ging meinem tern und den Motiven ± der Frage des Vater wirklich um die Sache, und er hat sich ,Warum` auseinander zu setzen. Aus diesem mit jedem politisch Andersdenkenden auch Bedçrfnis wuchs der Wunsch, das auch æf- gern und intensiv auseinandergesetzt. Er fentlich zu tun. Wir wollten die Terroristen håtte vielleicht sogar mit den Terroristen dis- zur Rede stellen und ihren Argumenten im kutiert, wenn sie nicht gleich geschossen håt- Bekennerschreiben etwas entgegensetzen, ten.ª ihnen aufzeigen: ,Euer Weltbild ist absurd.` Wir wollten die Argumente der Tåter, ihre Am 20. April 1998 erklårt die RAF ihre avantgardistische Moral und ihren Helden- Auflæsung. ¹Heute beenden wir dieses Pro- nimbus entlarven. Die Art, in der sie meinen jekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist Vater im Bekennerschreiben dargestellt hat- nun Geschichte (. . .). Ab jetzt sind wir (. . .) ten ± als Geheimdiplomat im Zentrum des ehemalige Militante der RAFª, steht in dem militårisch-industriellen Komplexes des im- bei der Nachrichtenagentur Reuters einge- perialistischen Gesamtsystems ±, hatte nichts gangenen Schreiben. Es wird von Experten mit seiner Person gemein. (. . .) Wir wollten als authentisch bewertet. Die Bilanz von 28 den Tåtern auch klar sagen: ,Ihr habt jeman- Jahren bewaffnetem Kampf: viele Tote und dem das Leben genommen, der eine Familie Verletzte. 500 Millionen Mark Sachschaden. hat, und damit habt ihr auch im persænlichen 31 Bankçberfålle, Beute: sieben Millionen Umkreis des Opfers Schlimmes angerichtet` ± Mark. 104 von der Polizei entdeckte konspi- es war uns wichtig, auch diese Dimension der rative Wohnungen. 180 gestohlene PKW, Tat aufzuzeigen.ª dazu çber eine Million Asservate ± Geld, Waffen, Sprengstoff, Ausweise. Sein Vater, sagt Patrick von Braunmçhl, sei ein Mensch gewesen, bei dem Meinung und Zu den Folgen des Terrorismus zåhlen weit Handeln stets çbereinstimmten. ¹Er war ein reichende Eingriffe in das Rechtssystem der sehr integrer Mensch, mit analytischem Bundesrepublik Deutschland und eine Verån- Scharfsinn und groûer Gespråchsbereitschaft. derung des innenpolitischen Klimas. Die

14 APuZ 40±41/2007 Auflæsungserklårung der RAF enthålt das Eckhard Jesse Eingeståndnis der Terroristen, keinen Weg zur Befreiung aufgezeigt zu haben ± den Toten aus den eigenen Reihen wird gedacht Die Ursachen des und Helfern und Sympathisanten gedankt. Fçr die RAF endet die Geschichte hier. Auch RAF-Terrorismus zum Zeitpunkt der Auflæsung beruft sie sich darauf, in der Bundesrepublik gewalttåtige Verhåltnisse vorgefunden zu haben, die nur und sein mit der Gewalt der Revolte zu beantworten gewesen seien. Scheitern Ûber die RAF und ihre behauptete Legiti- mation sagt Patrick von Braunmçhl: ¹Wie man in einen solch weltfremden politischen ie Schreckensbilder und Schrecken des Mikrokosmos hineingeraten kann wie die D so genannten ¹Deutschen Herbstesª 1 RAF, das ist fçr mich nicht nachvollziehbar. vor 30 Jahren haben sich tief im kollektiven (. . .) Es ist absurd, wie die Bundesrepublik, Gedåchtnis der Bundesrepublik Deutschland die im Vergleich zu vielen anderen Staaten festgesetzt. Erschçtternde Bilder von Toten doch eine relativ gut funktionierende Demo- stehen den Zeitzeugen vor Augen: die zum kratie ist, derart verteufelt werden konnte ± Schutz des Arbeitge- und das sich daraus die Idee, in den Wider- berpråsidenten Hanns stand gehen zu mçssen, entwickelt hat. (. . .) Martin Schleyer ab- Eckhard Jesse Die einzige wirkliche Konsequenz sind der kommandierten drei Dr. phil. habil., geb. 1948; Schmerz und der Verlust fçr die Angehæri- Polizeibeamten und Professor für Politikwissen- gen.ª dessen Chauffeur; der schaft an der Technischen Kapitån der Lufthansa- Universität Chemnitz, Maschine ¹Landshutª Reichenhainer Straûe 41, und deren Entfçhrer; 09126 Chemnitz. die Terroristen in [email protected] Stammheim; schlieûlich chemnitz.de Schleyer selbst. Kom- mende Ereignisse, heiût es, werfen ihre Schat- ten voraus. Dies gilt auch fçr die Erinnerung an frçhere Ereignisse: Die Zahl der jçngst pu- blizierten Bçcher zur 30. Wiederkehr des ¹Deutschen Herbstesª ist nahezu unçber- schaubar, von der çberbordenden Fçlle an Zeitungsartikeln gar nicht zu reden. 2

Mit dem voluminæsen zweibåndigen Werk zur Roten Armee Fraktion (RAF), wie sie sich selbst çberheblich nannte, um Kombat- tantenstatus zu beanspruchen, ist unter der Øgide von Wolfgang Kraushaar ein groûer Wurf gelungen. 3 Es spart so gut wie keinen Aspekt des deutschen Linksterrorismus aus und dçrfte auf unabsehbare Zeit das Stan-

1 Zur Problematik dieses Begriffs vgl. Eckhard Jesse, ¹Deutscher Herbstª? Die RAF und der linke Terro- rismus, in: Mut, (2007) 9, S. 6±13. 2 Vgl. etwa das Interview von Giovanni di Lorenzo mit Helmut Schmidt, ¹Ich bin in Schuld verstricktª, in: Die Zeit vom 30. 8. 2007, S. 17±21. 3 Vgl. Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Mçnchen 2006.

APuZ 40±41/2007 15 dardwerk zum Thema sein. Butz Peters hat Wie diese Titel verdeutlichen, ist die Zeit seine umfassende, faktenreiche Gesamtdar- des Terrorismus der RAF einerseits weit ent- stellung zur RAF aktualisiert vorgelegt, Willi fernt, andererseits bedrçckend nah. Weit ent- Winkler eine eher meinungsfreudige. 4 Die fernt mutet die Zeit an, da heute kein Ernst- Biographien çber Andreas Baader und Ulrike zunehmender mehr auf den Gedanken Meinhof, 5 nach denen die Gruppe benannt kommt, das Gewaltmonopol des Staates in war, kænnen bei allem Bemçhen nicht recht Frage zu stellen und fahrlåssig oder gar vor- erklåren, wieso die als sensibel geltende såtzlich ¹Gewalt gegen Sachenª zu propagie- Linksintellektuelle Meinhof von einem ren. Revolutionåre Phrasendrescherei ist so nichtsnutzigen Boh me-Typ wie Baader fas- gut wie verhallt. Die Bereitschaft, Verståndnis ziniert war und seinem machohaften Kom- fçr die hehren Motive der Terroristen kund mando gehorchte. Werfen Martin Knobbe zu tun, ist eine Generation spåter kaum mehr und Stefan Schmitz in kompakter Form einen begreifbar. Manche wollen nicht gerne an das Blick auf das ¹Terrorjahr 1977ª, so will Sven erinnert werden, was sie einst zu Papier gege- Felix Kellerhoff Legenden entlarven, die sich ben haben. Der terroristische Schrecken um die RAF ranken. 6 Angelika Holderberg reicht in die heutige Zeit hinein, weil die Er- låsst ehemalige RAF-Terroristen zu Wort innerung an ihn Wunden aufreiût, wie etwa kommen, Anne Siemens, das geschieht zu sel- im Frçhjahr des Jahres bei der aufgeregten ten, die Angehærigen von (prominenten) Op- Diskussion um eine mægliche Begnadigung fern. 7 Hat Kurt Oesterle den wahrlich nicht Christian Klars zum Vorschein kam. Sie schikanæsen Alltag der Håftlinge in Stamm- bleibt noch aus einem anderen Grund nahe. heim geschildert, stellt nun Ulf G. Stuberger, Vor dem islamistischen Terrorismus, der be- der seinerzeit keinen Verhandlungstag ver- sonders spektakulår am 11. September 2001 såumt hatte, den mitunter hitzigen Prozess- sein gewalttåtiges Gesicht gezeigt hat, ist verlauf zwischen 1975 und 1977 minutiæs auch Deutschland nicht gefeit, gibt es doch dar. 8 Wåhrend Susanne Kailitz mægliche Ver- fçr terroristische Islamisten nicht nur den bindungslinien zwischen der Frankfurter nahen Feind, den regionalen, sondern auch Schule, der Studentenbewegung und der RAF den fernen Feind, den transnationalen. 10 prçft, analysiert Mario Petri die Anti-Terro- rismus-Strategien auf die Herausforderung Dieser Beitrag spçrt den Hintergrçnden fçr durch die RAF. 9 den ¹Aufstand im Schlaraffenlandª 11 nach. Was waren die Ursachen fçr die Bildung der 4 Vgl. Butz Peters, Tædlicher Irrtum. Die Geschichte RAF? Wieso ging der Terrorismus nach der der RAF, Neuausgabe, Frankfurt/M. 2007; Willi Festnahme der ersten Generation weiter? Wo- Winkler, Die Geschichte der RAF, Berlin 2007. durch unterschieden sich die ¹drei Generatio- 5 Vgl. Klaus Stern/Jærg Herrmann, Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes, Mçnchen 2007; Kristin nenª der RAF? An welchen inneren und åuûe- Wesemann, Ulrike Meinhof. Kommunistin, Jour- ren Konstellationen scheiterte der hiesige, die nalistin, Terroristin ± eine politische Biographie, Ba- Tætung von Repråsentanten des ¹Systemsª den-Baden 2007. anstrebende Terrorismus? 6 Vgl. Martin Knobbe/Stefan Schmitz, Terrorjahr 1977. Wie die RAF Deutschland verånderte, Mçnchen 2007; Sven Felix Kellerhoff, Was stimmt? RAF. Die Entstehungsursachen der RAF wichtigsten Antworten, Freiburg/Br. 2007. 7 Vgl. Angelika Holderberg (Hrsg.), Nach dem be- Wer Antworten auf die Ursachen des deut- waffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten çber ihre schen Terrorismus sucht, nicht in Nordirland, Vergangenheit, Gieûen 2007; Anne Siemens, Fçr die nicht in Katalonien, darf keineswegs mono- RAF war er das System, fçr mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus, Mçnchen± Terrorismusphånomens und Analyse zur Existenz ei- Zçrich 2007. ner strategischen Konzeption staatlicher Gegen- 8 Vgl. Kurt Oesterle, Stammheim. Der Vollzugs- maûnahmen am Beispiel der Roten Armee Fraktion in beamte Horst Bubeck und die RAF-Håftlinge, Neu- der Bundesrepublik Deutschland, Mçnchen 2007. auflage, Mçnchen 2007; Ulf G. Stuberger, Die Tage von 10 Vgl. Guido Steinberg, Der nahe und der ferne Stammheim. Als Augenzeuge beim RAF-Prozess, Feind. Die Netzwerke des islamistischen Terrorismus, Mçnchen 2007. Mçnchen 2005. 9 Vgl. Susanne Kailitz, Von den Worten zu den Waf- 11 So Matthias Horx, Aufstand im Schlaraffenland. fen? Frankfurter Schule, Studentenbewegung, RAF Selbsterkenntnisse einer rebellischen Generation, und die Gewaltfrage, Wiesbaden 2007; Mario Petri, Mçnchen-Wien 1989. Der Titel meint allerdings die Terrorismus und Staat. Versuch einer Definition des 68er-Generation in toto.

16 APuZ 40±41/2007 kausal argumentieren. In Buchtiteln heiût es: Der Begriff ¹Hitlers Kinderª zielt zum ¹Hitlers Kinderª 12 (gemçnzt auf die analoge einen in die Richtung, der Linksterrorismus Gewalttåtigkeit), ¹Hitlers Enkelª 13 (bezogen habe in seiner Brutalitåt der Vernichtungspo- auf die ¹çbersteigerte Ideologisierung der litik des Nationalsozialismus geglichen. Zum 68er-Bewegung als eine unbewusste Antwort andern stellt der Terminus auf das ± tatsåchli- auf die Verleugnung der nationalsozialisti- che oder auch nur vermeintliche ± Versagen schen Vergangenheitª 14), ¹Hitlers Urenkelª 15 bei der ¹Vergangenheitsbewåltigungª nach (mit Blick auf rechtsextremistische Gewalttå- 1945 ab. Terroristen jedenfalls der ersten ter). Gewiss ist ohne die prågende Vorge- RAF-Generation sollen von dem behaupteten schichte der NS-Barbarei manche Auseinan- Versagen und nachtråglichen Schweigen ihrer dersetzung in der Bundesrepublik Deutsch- Eltern so angewidert gewesen sein und sich land nicht zu verstehen. So betitelt Peter Graf zum ¹Widerstandª ermåchtigt gefçhlt haben, Kielmansegg sein groûes Buch çber die Ge- um einen ¹neuen Faschismusª zu verhçten. schichte Deutschlands von 1945 bis 1990 In diesem Sinne sprach der Publizist Walter ¹Nach der Katastropheª, wobei das ¹nachª Boehlich von ¹Schleyers Kindernª, auf des- nicht nur eine temporale, sondern auch eine sen SS-Mitgliedschaft anspielend. 18 kausale Bedeutung hat: ¹Wenn ein durch eine selbst verschuldete historische Katastrophe Die Wendung von ¹Erhards Kindernª ist traumatisiertes Volk sich mit der Demokratie erstens so zu verstehen, als habe der Wohl- vertraut macht ± mægen die Bedingungen auch stand zu Verdruss bei einem Teil der jungen vergleichsweise gçnstig sein ±, dann ist zu er- Leute gefçhrt. Jedenfalls speiste sich der hie- warten, dass vernçnftiges Lernen aus der Ver- sige Terrorismus nicht aus sozialen Defiziten, gangenheit und neurotische Prågung durch im Gegenteil war die Kritik am ¹Konsum- die Vergangenheit eine eigentçmliche Verbin- rauschª der Eltern verbreitet. Bekannt ist das dung eingehen, und das nicht nur vorçberge- Diktum von : ¹Ich hatte die 19 hend.ª 16 In diesem Sinne wåren die Terroris- dauernde Kaviar- und Lachsfresserei satt.ª ten auch ¹Hitlers Kinderª. 17 Das Diktum zielt zweitens auf eine als restau- rativ empfundene Situation, in der sich wenig Vielleicht fçhren zehn plakativ-symbol- zu bewegen schien. Aufbaumentalitåt çberla- tråchtige Charakterisierungen weiter, die sich gerte politische Neuordnungen. Unter dem zum Teil ergånzen, zum Teil ausschlieûen, Motto ¹Keine Experimenteª war die Union um die Vielfalt der Ursachen einzufangen: Adenauers und Erhards 1957 in den Wahl- Die Terroristen der RAF waren nicht nur kampf gezogen; sie kam auf 50,2 Prozent der ¹Hitlers Kinderª, sondern auch ¹Erhardsª, Stimmen. ¹Brandtsª, ¹Kennedysª, ¹Albertz'ª, ¹Marcu- ¹Brandts Kinderª ± diese Metapher bezieht sesª, ¹Dutschkesª, ¹Guevarasª, ¹Habaschsª sich einerseits auf die græûere Liberalitåt zur und ¹Mielkes Kinderª. Solchen, auf den ers- Zeit der sozialliberalen Koalition in vielen Be- ten Blick paradox anmutenden Zuschreibun- reichen. Die Experimentierfreudigkeit gewann gen wohnt jeweils eine doppelte Konnotation an Bedeutung, die Reformbereitschaft nahm inne. Sie sind nicht im Sinne einer personellen ebenso zu wie politisches Engagement. Ande- Schuldzuweisung gemeint. Staatliche Ver- rerseits konnte Liberalitåt in Libertinage çber- såumnisse rechtfertigten es nicht, einem irra- gehen. Autoritåt schlechthin wurde in Frage tionalen Gewaltkult zu huldigen. gestellt und war verpænt. Gesinnungsethik tri- umphierte oft çber Verantwortungsethik. Der

12 Vgl. Jillian Becker, Hitlers Kinder? Der Baader- Zeitgeist stand links. Terroristen meinten, der Meinhof-Terrorismus, Frankfurt/M. 1978. hæhere Zweck heilige jedes Mittel. 13 Vgl. Hans-Jçrgen Wirth (Hrsg.), Hitlers Enkel oder Kinder der Demokratie? Die 68er, die RAF und die ¹Kennedys Kinderª ist eine Formel fçr Fischer-Debatte, Gieûen 2001. Amerikabegeisterung wie fçr blinden Anti- 14 Ders., Vorwort, in: ebd., S. 10. 15 Vgl. Andreas Marneros, Hitlers Urenkel. Rechts- radikale Gewalttåter ± Erfahrungen eines wahl- 18 Vgl. Walter Boehlich, Schleyers Kinder, in: Tatjana deutschen Gerichtsgutachters, Bern u. a. 2002. Botzat/Elisabeth Kiderlen/Frank Wolff (Hrsg.), Ein 16 Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. deutscher Herbst. Zustånde 1977, Neuausgabe, Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin Frankfurt/M. 1997, S. 73±75. 2000, S. 358. 19 Zit. in: Butz Peters, RAF. Terrorismus in Deutsch- 17 Vgl. sinngemåû ebd., S. 342. land, Mçnchen 19932, S. 229.

APuZ 40±41/2007 17 amerikanismus. Der anfånglich idealisierte Die Lesart von ¹Dutschkes Kindernª meint US-Pråsident John F. Kennedy repråsentierte zum einen den Befund, terroristisches Po- Aufbruchstimmung. In der zweiten Hålfte tenzial habe sich im Wesentlichen aus Teilen der 1960er Jahre wechselte das Lebensgefçhl der Studentenbewegung rekrutiert. ¹Gewalt eines Groûteils der Jugendlichen, nicht nur in gegen Sachenª wurde gepredigt, ¹Gewalt Deutschland (Woodstock-Generation). Der gegen Personenª musste die logische Folge weltweite Jugendprotest machte sich an The- dieser verhångnisvollen Parole sein. Rudi men wie dem Vietnamkrieg fest. Das Ameri- Dutschke etwa, obwohl prinzipieller Gegner kabild schlug wegen der Diskrepanz von des individuellen Terrorismus, kokettierte Wirklichkeit und Wahrnehmung um. Nun immer wieder damit (¹Stadtguerillaª), erst- galten fçr marxistisch inspirierte Kritiker die mals bei dem so genannten Organisationsre- USA als Prototyp des ausbeuterischen Spåt- ferat auf der SDS-Delegiertenkonferenz im kapitalismus, der andere Vælker unterdrçcke. September 1967. 23 Zum anderen war revolu- tionåre Systemçberwindung beabsichtigt. Die Das Wortpaar ¹Albertz' Kinderª berçck- RAF-Terroristen zeichneten sich ihrerseits sichtigt weniger die unglçckliche Rolle des durch eine groteske Fehlwahrnehmung der Regierenden Bçrgermeisters von Berlin im politischen Wirklichkeit aus. 24 Sie trauten in Zusammenhang mit dem Tod von Benno Oh- ihrer Paranoia dem Staat das zu, was ihrer nesorg am 2. Juni 1967 20 als vielmehr dessen Ideologie entsprach: kaltschnåuziges Ûber- gelebten Protestantismus. Moralischer Rigo- Leichen-Gehen. rismus war ebenso verbreitet wie ein zum Teil von Schuldgefçhlen getragenes Missions- ¹Guevaras Kinderª låuft zum einen auf das bewusstsein. Die protestantisch geprågte Wi- heroische Vorbild von ¹Cheª Guevara hin- derstandsattitçde gegen die Obrigkeit spru- aus, der seine hohen Ømter in Kuba niederge- delte vornehmlich aus zwei gegensåtzlichen legt hatte, um den Befreiungskampf zuerst im Quellen: dem Stolz auf den Widerstand der Kongo, dann in Bolivien eigenhåndig mit Elterngeneration, dem es nachzueifern gelte; dem Gewehr in der Hand zu unterstçtzen. und ihrem Versagen beim ¹Kampf gegen den Die ¹Propaganda der Schçsseª (Guevara) fas- Faschismusª. zinierte. Zum anderen weist der Topos auf die Notwendigkeit des antiimperialistischen Wer den Topos ¹Marcuses Kinderª ge- Befeiungskampfes hier und jetzt hin. Das braucht, richtet das Augenmerk darauf, dass ¹Schibboleth des Antiimperialismusª kenn- die Ideologie von Theoretikern wie Herbert zeichnete die RAF-Generation. Guevara galt Marcuse mit seinem ¹neuen Menschenª das als ¹såkularer Heilsbringer fçr die Dritte Argumentationsarsenal der Terroristen anrei- Weltª, 25 und nicht nur fçr diese. cherte. Die westliche Konsumgesellschaft galt ebenso als totalitår wie die æstliche. Diese Po- ¹Habaschs Kinderª erinnert an die wichti- sition trug zur Delegitimierung des demokra- ge, oft unterschåtzte Rolle der Palåstinenser tischen Verfassungsstaates bei. 21 Durch die vor allem fçr den Fortbestand des deutschen Koketterie mit der Gewalt und mit der Legi- Terrorismus. 26 George Habasch war (neben timitåt des Widerstandsbegriffs brachen die Wadi Haddad) lange Anfçhrer der terroristi- Dåmme. Andreas Baader berief sich nach der schen und marxistisch-leninistischen ¹Volks- Warenhausbrandstiftung 1968 vor Gericht auf Marcuses Autoritåt, sei es als Vorwand, 23 Vgl. Wolfgang Kraushaar, Rudi Dutschke und der sei es aus Ûberzeugung. 22 bewaffnete Kampf, in: ders./Karin Wieland/Jan Phi- lipp Reemtsma, Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburg 2005, S. 13±50. 24 Vgl. Uwe Backes, Geistige Wurzeln des Links- terrorismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (1992) 20 Vgl. Uwe Soukop, Wie starb Benno Ohnesorg?, 3±4,S.40±46. Berlin 2007. 25 So Ingo Juchler, Trikontinentale und Studenten- 21 Vgl. Eckhard Jesse, Die Totalitarismuskonzeption bewegung. Antiimperialismus als Schibboleth, in: von Herbert Marcuse, in: Mike Schmeitzner (Hrsg.), W. Kraushaar (Anm. 3), Bd. 1, S. 205, S. 215. Totalitarismuskritik von links. Deutsche Diskurse im 26 Vgl. nun die aus den Quellen gearbeitete Studie von 20. Jahrhundert, Gættingen 2007, S. 355±375. Thomas Skelton Robinson, Im Netz verheddert. Die 22 Vgl. Sara Hakemi/Thomas Hecken, Die Waren- Beziehungen des bundesdeutschen Linksterrorismus hausbrandstifter, in: W. Kraushaar (Anm. 3), Bd. 1, zur Volksfront fçr die Befreiung Palåstinas (1969± S. 327 f. 1980), in: W. Kraushaar (Anm. 3), Bd. 2, S. 828±904.

18 APuZ 40±41/2007 front fçr die Befreiung Palåstinasª (PFLP). waltanwendung zur Verantwortung zu zie- Zum einen boten palåstinensische Kråfte den hen sucht, verkennt das komplizierte Wech- deutschen Terroristen mannigfache Hilfe im selverhåltnis von Theorie und Wirklichkeit, Bereich der Logistik (Unterstçtzung bei Ak- zumal ein fçhrender Verfechter der mitunter tionen; Gewåhrung von Rçckzugsråumen); gescholtenen Frankfurter Schule wie Jçrgen zum anderen machte sich eine antizionisti- Habermas frçh den (spåter zurçckgenomme- sche Ideologie mit flieûenden Ûbergången nen) Vorwurf des ¹Linksfaschismusª artiku- zum Antisemitismus breit. 27 So rechtfertigte lierte; die charismatische Gestalt Rudi Ulrike Meinhof, die dabei ebenfalls frei- Dutschke schlieûlich war nicht bereit, den gepresst werden sollte, 1972 den Ûberfall Weg in den Untergrund zu beschreiten, pro- des palåstinensischen ¹Schwarzen Septem- pagierte statt dessen den ¹Marsch durch die berª auf das Quartier der israelischen Olym- Institutionenª; fçr die Anwendung von Gue- piamannschaft. varas Guerilla-Konzept, das sich auf rurale Zonen bezog, lagen in den ¹Metropolenª ¹Mielkes Kinderª steht zum einen fçr die keine hinlånglichen Voraussetzungen vor, vielfåltige klandestine Hilfe der DDR (z. B. fehlte es doch an einer revolutionåren Situati- durch die Benutzung des Flughafens Schæne- on; der Zusammenarbeit mit dubiosen palås- feld), die Zutråger aus den Reihen der Terro- tinensischen Kråften, die zum Teil aus Sæld- risten besaû, zum anderen fçr die ideologi- nern bestanden, mangelte es an moralischer schen Rçckgriffe der Terroristen auf das mar- Glaubwçrdigkeit fçr den beanspruchten ¹In- xistisch-leninistische Lehrgebåude. Dabei ternationalismusª; die Staatsicherheit der spielte der hehre Grundsatz des Antifaschis- DDR versuchte, den Terrorismus unter Kon- mus eine durchgångig groûe Rolle. Das trolle zu halten und ihn nicht anzustacheln, Motto ¹Der Feind meines Feindes ist mein so dass allenfalls von einem Zweckbçndnis Freundª machte ungeachtet beiderseitigen die Rede sein kann. Misstrauens partielle Zusammenarbeit mæg- lich. 28 Der kleinste gemeinsame Nenner: die Ob eine Person tatsåchlich den Schritt in Destabilisierung der westlichen Welt. den Untergrund wagte, hing håufig von Zu- fallskonstellationen und von persænlichen Be- Alle genannten Faktoren mægen eine erklå- ziehungsgeflechten ab. Wie biographische rende Funktion haben. Allerdings sind die Auswertungen ergeben, stammt ein groûer Zuschreibungen insofern ambivalent, als sie Teil der månnlichen und, nicht zu vergessen, jeweils auch eine gegenlåufige Tendenz auf- weiblichen Terroristen, zu denen çberdurch- weisen. Die Kehrseite lautet in nuce wie schnittlich viele Studienabbrecher zåhlten, aus folgt: Die Verbrechen der NS-Zeit waren der- gut situierten, aber zerrçtteten Familien. 29 art monstræs, dass viele deswegen jeglicher Terroristische Lebenswege haben viele Ursa- Gewalt ohne Wenn und Aber entsagt hatten; chen. Daneben gab es Helfershelfer der ersten das ¹Wirtschaftswunderª fçhrte zu groûer RAF-Generation und ein so breites wie diffu- Zufriedenheit bei den Menschen, hemmte re- ses Sympathisantenumfeld. Dieses speiste sich volutionåren Enthusiasmus; die Reformzeit aus den beschriebenen Motivbçndeln. der Øra Brandt stand eher dafçr, dass sich po- litisches Engagement innerhalb des etablier- ten Politikbetriebs auszahlt; die Kennedy- DiezweiteunddiedritteGeneration Zeit fçhrte gerade zur Integration eines Teils der Jugend; der Linksprotestantismus schçrte Die Abgrenzung der drei RAF-Generationen nicht den Konflikt, sondern wollte måûigend voneinander ist zwar nicht ganz trennscharf, auf die Terroristen einwirken, ohne sich mit aber doch mæglich. Unterscheidet man nach ihnen gemein zu machen; wer politische einer çberwiegend neuen Zusammensetzung Theoretiker wie Herbert Marcuse fçr Ge- und einem Strategiewandel, so entstand die zweite Generation zu Beginn des Jahres 1975, 27 Vgl. Wolfgang Kraushaar, Antisemitismus als troja- nisches Pferd. Zur antisemitischen Dimension in den 29 Vgl. Gerhard Schmidtchen, Terroristische Karrie- Kooperationen von Tupamaros West-Berlin, RAF und ren. Soziologische Analyse anhand von Fahndungs- RZ mit den Palåstinensern, in: ders. (Anm. 3), Bd. 1, unterlagen und Prozessakten, in: Herbert Jåger/Ger- S. 676±695. hard Schmidtchen/Lieselotte Sçllwold, unter Mitarbeit 28 Vgl. Michael Mçller/Andreas Kanonenberg, Die von Lorenz Bællinger, Lebenslaufanalysen (Analysen RAF-Stasi-Connection, Berlin 1992. zum Terrorismus 2), Opladen 1981, S. 29.

APuZ 40±41/2007 19 als sich die Gruppe dazu entschloss, ihre kri- Suggestion hervorzurufen war Absicht. Einen minelle Energie auf die Freipressung der Mit- Tag nach dem 9. November 1974, dem Todes- glieder der ersten Generation zu setzen und tag von Meins, erschoss die terroristische dabei die gezielte Tætung von Personen in Er- ¹Bewegung 2. Juniª den Berliner Kammerge- wågung zog, anders als dies bei den Begrçn- richtspråsidenten Gçnter von Drenkmann. dern der RAF der Fall gewesen war. Der Be- ginn der dritten Generation dçrfte auf das Brigitte Mohnhaupt bildete das Bindeglied Jahr 1982 mit der Veræffentlichung des ¹Mai- zwischen der ersten und zweiten RAF-Gene- papiersª (¹Guerilla, Widerstand und antiim- ration. In der Haftanstalt von Baader und perialistische Frontª) zu datieren sein. Nach Ensslin instruiert, ging sie nach ihrer Entlas- einem groûen personellen Aderlass ging die sung im Februar 1977 sofort wieder in den Gruppe zu Tætungsanschlågen auf måchtige Untergrund und trug maûgeblich zu den Ab- Prominente aus Politik, Wirtschaft und dem scheu erregenden Aktivitåten des Jahres 1977 ¹militårisch-industriellen Komplexª çber. bei (ªoffensive 77ª). Die zweite Generation setzte sich als wesentliches Ziel, die Mitglie- Nach der Festnahme der ersten RAF-Ge- der der ersten Generation aus den Haftanstal- neration 1972 schwor diese ihrem so aus- ten zu holen. Insofern ist das Wort von ¹Baa- sichtslosen wie verderblichen Kampf gegen der-Meinhofs Kindernª çberaus treffend. 32 das demokratische Gemeinwesen nicht ab. Stattdessen entfachte sie Diskussionen çber Die dritte RAF-Generation zeichnete sich die ¹mærderischenª Haftbedingungen, ¹un- durch einen betråchtlichen Wandel gegençber wçrdigenª Zellendurchsuchungen, ¹inhuma- ihren beiden Vorgångern aus. Alexander nenª Kontaktsperren und ¹unzumutbarenª Straûner hat dies mit den Begriffen der ¹Ent- Leibesvisitationen. ¹Komitees gegen Folterª ideologisierungª, ¹Isolierungª, Professionali- waren ein Rekrutierungsfeld fçr den Terroris- sierung und ¹Internationalisierungª um- mus. Der franzæsische Philosoph Jean-Paul schrieben. 33 Er siedelt die dritte Generation Sartre hatte sich nach einem Gefångnisbesuch aufgrund der kaum bestimmbaren Organisa- bei Andreas Baader in Stuttgart-Stammheim tion, der schwer identifizierbaren Operati- im Dezember 1974 fçr die Kampagnen der onsziele und des rçcklåufigen Rechtferti- RAF einspannen lassen. Der franzæsische gungsbedçrfnisses zwischen dem traditionel- Dichter Jean Genet åuûerte drei Tage vor der len und dem neuen Terrorismus an. Das Schleyer-Entfçhrung in ¹Le Mondeª, der geringe Wissen çber diese Terroristen bot Propaganda des spåter als Zutråger der willkommenen Anlass fçr bizarre Verschwæ- DDR-Staatssicherheit enttarnten RAF-An- rungstheorien im Sinne eines ¹RAF-Phan- walts Klaus Croissant glåubig vertrauend, tomsª. 34 Unter dem Deckmantel des Terro- einen kçhnen Satz: ¹Wir verdanken es Andre- rismus kænnten finstere Måchte aus der Poli- as Baader, Ulrike Meinhof, tik und der Wirtschaft operieren. Als 1993 und der RAF im allgemeinen, uns klarge- auf dem Bahnhof in Bad Kleinen Wolfgang macht zu haben ± nicht nur durch Worte, Grams und Brigitte Hogefeld gestellt wur- sondern durch ihre Aktionen auûerhalb oder den, brach diese ohnehin vællig unglaubwçr- innerhalb des Gefångnisses ±, dass nur die dige Behauptung wie ein Kartenhaus zusam- Gewalt die Brutalitåt der Menschen brechen kann.ª 30 Der selbst verschuldete Hungertod Opferbilder ± Tåterbilder. Die Fotografie als Medium von Holger Meins diente zur weiteren Mobi- linksterroristischer Selbstermåchtigung in Deutsch- lisierung. ¹Das Bild des toten Holger Meins land und Italien wåhrend der siebziger Jahre, in: Ge- werden die meisten, die es kennen, ihr Leben schichte in Wissenschaft und Unterricht, 58 (2007), lang nicht vergessen ± sicher auch deshalb, S. 380±399. 32 Tobias Wunschik, Baader-Meinhofs Kinder. Die weil dieser ausgemergelte Mensch so viel zweite Generation der RAF, Opladen 1997. Øhnlichkeit mit KZ-Håftlingen, mit den 33 Vgl. Alexander Straûner, Die dritte Generation der Toten von Auschwitz hat.ª 31 Eine solche ¹Roten Armee Fraktionª. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Orga- nisation, Wiesbaden 2003, insbes. S. 278±324. 30 Zit. in: Ruthard Stçblein, Der Tempel der Gewalt. 34 Vgl. Gerhard Wisnewski/Wolfgang Landgraeber/ Sartre, Genet und die RAF, in: Die Neue Gesellschaft/ Ekkehard Sieker, Das RAF-Phantom. Wozu Staat und Frankfurter Hefte, 44 (1997), S. 719 f. Wirtschaft Terroristen brauchen, Mçnchen 1992; vgl. 31 , Zur Geschichte der RAF, in: H.-J. auch im åhnlichen Jargon dies., Operation RAF. Was Wirth (Anm. 13), S. 106. Vgl. auch Petra Terhoeven, geschah wirklich in Bad Kleinen?, Mçnchen 1994.

20 APuZ 40±41/2007 men. Diese beiden Personen sind nahezu die Die inneren und åuûeren Grçnde fçr das einzigen, von denen mit Sicherheit die Zuge- Scheitern liegen auf der Hand. Die Taten hærigkeit zur RAF der dritten Generation wurden selbst im linksextremistischen Milieu, feststeht. 1985 wurde der MTU-Chef Ernst das das Avantgarde-Konzept der RAF zuneh- Zimmermann ermordet, 1986 das Siemens- mend als unglaubwçrdig ansah, kaum mehr Vorstandsmitglied Karl-Heinz Beckurts und ¹vermittelbarª, die Begrçndungen dafçr Gerold von Braunmçhl, Abteilungsleiter im immer dçrftiger. Durch die Konzentration Auswårtigen Amt, 1989 Alfred Herrhausen, der zweiten Generation auf die Gefangenen- der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, befreiung (¹big Rausholeª) konnte der Ein- und 1991 Detlev Karsten Rohwedder, der druck entstehen, als kreise alles nur um die Vorsitzende der Treuhandanstalt, jeweils mit RAF. Dies hinterlieû ebenso wenig positive waffentechnischer Pråzision. Der Anschlag Wirkung im immer schwåcher gewordenen im Jahr 1993 auf den Gefångnisneubau in Sympathisantenumfeld wie die Ermordung Weiterstadt, der einen Schaden von çber 100 fçhrender Vertreter aus Wirtschaft und Poli- Millionen DM anrichtete, war die letzte spek- tik zur Zeit der dritten Generation. takulåre Aktion der RAF. Die transnationalen Kontakte des Terroris- Charakteristisch fçr alle drei Generationen mus zeigten eine paradoxe Januskæpfigkeit. der RAF ± und mit steigender Tendenz ± war Auf der einen Seite gewann die RAF durch eine ¹Durchhalte-ª und ¹Genickschuss-Men- vorçbergehenden Rçckzug in fremde Gefilde talitåtª. 35 Gerne versuchte sie sich in die Tra- græûere Stabilitåt (zumal nach Festnahmen), dition der entrechteten und verfolgten Juden auf der anderen Seite kamen Sonderkonflikte zu stellen: ¹Es ist der RAF gelungen, die Ge- zur Geltung, die dem angestrebten ¹Interna- schichte der vernichteten Juden fçr ihre tionalismusª Hohn sprachen. ¹Die interna- Zwecke zu nutzen. Mit einer besonderen Sen- tionale Kooperation machte die RAF stark, sibilitåt gegençber der deutschen Vergangen- aber auch verwundbar.ª 37 Sie verlangsamte heit oder dem Beschweigen des Holocausts zunåchst den Prozess der Auflæsung, spåter hat dies nichts zu tun. Es handelt sich dabei beschleunigte sie ihn. um eine wohlkalkulierte Strategie, die allein der Absicht folgt, Nachfolger fçr den bewaff- Der Zusammenbruch des kommunisti- neten Kampf zu finden. Das gelang. Auf den schen Weltsystems war ein schwerer Schlag Tod der ersten folgten eine zweite und dritte fçr den Terrorismus, nachdem das politische Generation Terroristen.ª 36 Establishment anfangs befçrchten musste, der ¹Anschlussª der DDR kænne mobilisierend wirken. Als 1990 Terroristen, die Anfang der 1980er Jahre als ¹Aussteigerª in der DDR Das Scheitern des RAF-Terrorismus Aufnahme gefunden hatten, unter einer fal- schen Identitåt gestellt wurden, verschlim- Die Geschichte der RAF ist die Geschichte merte sich die Lage fçr die ¹Illegalenª weiter, ihres Scheiterns. ¹Scheiternª meint dabei zumal die ¹Aussteigerª von der Kronzeugen- zweierlei. Die RAF war politisch schon nach regelung Gebrauch machten und die Infor- kurzer Zeit gescheitert, stellte sich doch mation preisgaben, der ¹harte Kernª habe am schnell ihre Isolation heraus, moralisch von Selbstmord von Baader, Ensslin und Raspe Anfang an: Es gab keinen, aber auch wirklich nicht gezweifelt. Selbst fçr die militante keinen Grund, in einem demokratischen Ver- Szene wurde nun ein Festhalten an der Mord- fassungsstaat der ¹Propaganda der Tatª das version immer schwerer. Das Ende der SED- Wort zu reden ± der Sprache der Knarre nåm- Diktatur beschleunigte das Ende des RAF- lich. Terrorismus.

35 Wolfgang Kraushaar, Die Aura der Gewalt. Die Die internen Konflikte der RAF, die långst ¹Rote Armee Fraktionª als Entmischungsprodukt der keine Einheit mehr bildete, wie z. B. heftige Studentenbewegung. Wolfgang Kraushaar im Ge- Konflikte zwischen den Inhaftierten signali- språch mit Jærg Herrmann, in: ders., Fischer in Frank- furt. Karriere eines Auûenseiters, Hamburg 2001, S. 245, S. 253. 37 Christopher Daase, Die RAF und die internationale 36 Karin Wieland, Andreas Baader, in: W. Kraushaar Kooperation. Zur transnationalen Kooperation klan- (Anm. 3), Bd. 1, S. 349. destiner Organisationen, in: ebd., S. 929.

APuZ 40±41/2007 21 sierten, nahmen zu. Hatte sie bereits 1992 be- Erwiesen ist die Herkunft vieler Terroris- kannt gegeben, die Angriffe auf Repråsentan- ten aus dem gehobenen Mittelstand. Die ten aus Staat und Wirtschaft unter bestimm- Schlussfolgerung, es habe sich damit nicht um ten Voraussetzungen einzustellen, so erklårte einen Linksextremismus gehandelt, sondern sie 1998 formell ihre Auflæsung. Die Bekun- um einen Extremismus der Mitte, ist aller- dung war voller Selbstgerechtigkeit, nicht frei dings deplatziert. Wolfgang Kraushaar, von von Zynismus; auch ¹strategische Fehlerª dem die Aussage stammt, liefert das entschei- wie der Verzicht auf den Aufbau einer poli- dende Gegenargument selber mit: Wer diese tisch-sozialen Organisation kamen zur Spra- These teilt, mçsse ¹die soziale Herkunft von che, allerdings nur halbherzig. 38 RAF-Mitgliedern wichtiger (nehmen) als ihre ideologische Selbstexplikationenª. 41 Davon Die Geschichte der RAF ist die Geschichte aber kann keine Rede sein. Die Aussage, ¹die des demokratischen Rechtsstaates, ungeachtet RAF kam aus der Mitte der Gesellschaftª, 42 von Ûberreaktionen und Schlampereien. stellt eine Banalitåt dar. 43 Woher sollte sie Selbst wenn die Parteien çber die angemes- denn sonst kommen? sene Art der Auseinandersetzung zuweilen stritten, kam es weder zu Verstæûen gegen Die Begriffe ¹Isolationsfolterª und ¹Psy- rechtsstaatliche Prinzipien auf der einen Seite choterrorª benutzten zum Teil auch jene, die noch zu Anbiederung an terroristische Kreise den Terrorismus verwarfen ± sei es aus prinzi- auf der anderen. Auf beides hatte die RAF ge- piellen Grçnden, sei es aus strategischen setzt. Zu keiner Zeit zeigte der herausgefor- Ûberlegungen. Wer den Konflikt zwischen derte Staat die ¹Fratze des Faschismusª. dem Staat und den Terroristen als eine Ge- schichte wechselseitiger Aufschaukelung in- terpretierte, als unentwirrbare Geschichte Fazit und Perspektiven von Aktion und Reaktion, unterschlug leicht die Frage nach der Verantwortung und sugge- Der Hæhepunkt terroristischer Entschlossen- rierte zudem eine Øquidistanz. Und manche heit 1977 leitete in mancher Hinsicht zugleich trauten dem Staat gar einen Mord an den den Niedergang des Terrorismus ein. Nicht, Stammheimer Terroristen zu. Die Propagan- dass das Morden aufgehært håtte, im Gegen- da der RAF fiel zeitweise auf fruchtbaren teil. Aber das Sympathisantenumfeld lichtete Boden. Doch war sie niemals in der Lage, bei sich angesichts der Standhaftigkeit des Staates den gesellschaftlich tragenden Kråften græûe- und der in der ¹Szeneª kaum noch nachvoll- re Resonanz zu finden. Je aggressiver die ziehbaren Taten immer mehr. Insofern hat RAF vorging, umso enger hielten die demo- Gerd Koenen Recht, wenn er das ¹rote Jahr- kratischen Parteien zusammen. zehntª auf die Zeit zwischen 1967 und 1977 Die Bilanz fållt dçster aus: Von den Mit- bezieht. 39 Gleichsam im Zeitraffer durchlief gliedern der ersten Generation lebt kaum die Protestszene einen fulminanten Wand- noch jemand. Entweder wurden sie getætet, lungsprozess: Die antiautoritår geprågte Stu- oder sie schieden durch Freitod aus dem dentenbewegung spaltete sich auf. Das Spek- Leben, sei es aus Resignation, sei es zur An- trum reichte von Kråften, die in demokrati- stachelung des ¹revolutionåren Klassenkamp- schen Parteien mitarbeiten wollten, çber fesª. Rechtsanwalt , Grçn- extrem autoritår ausgerichtete maoistische K- dungsmitglied der RAF, trat nach seiner Gruppen und die SED-hærige DKP bis hin RAF-Zeit zur maoistischen KPD çber, im zu terroristischen Zusammenschlçssen, von Jahre 2000 zur aggressiv rechtsextremisti- denen die RAF, deren Entstehung und Exis- schen NPD, die er spåter wieder wegen deren tenz einer Vielzahl an Ursachen entsprang, ± behaupteter ± mangelnder Radikalitåt ver- die bekannteste war. 40 lieû. Heutzutage verficht Mahler, dem Kon-

38 Die Erklårung ist u. a. abgedruckt in: Uwe Backes/ 41 Wolfgang Kraushaar, Zur Topologie des RAF-Ter- Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & De- rorismus, in: ders. (Anm. 3), Bd. 1, S. 25. mokratie, Bd. 11, Baden-Baden 1999, S. 130±144. 42 Ebd., S. 26. 39 Vgl. Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere 43 Insofern handelt es sich bei den fremdenfeindlichen kleine Kulturrevolution, Kæln 2001. Exzessen ebenso nicht um einen ¹Extremismus der 40 Man denke an die ¹Bewegung 2. Juniª oder an die Mitteª, wiewohl die Tåter meistens keinem verfestig- ¹Revolutionåren Zellenª. ten rechtsextremistischen Milieu entstammen.

22 APuZ 40±41/2007 takte zum islamistischen Fundamentalismus Tobias Wunschik nachgesagt werden, bizarre Behauptungen, die an seiner Zurechnungsfåhigkeit zweifeln lassen. Er saû kçrzlich eine neunmonatige Baader-Meinhof Freiheitsstrafe wegen Volksverhetzung ab. Nun steht er wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisa- international? tionen (Hitler-Gruû) erneut vor Gericht. Bei allem Wandel seines politischen Koordinaten- systems: Der Hass auf die USA ist die Grundkonstante seiner wirren Ideologie. ange vor den Terroranschlågen der Al- L Qaida in den USA am 11. September Auch wenn die RAF nicht mehr besteht, 2001 erschçtterte in den 1970er und 1980er gibt es linksterroristische Ansåtze, ohne dass Jahren ein ¹hausgemachterª Terrorismus die Repråsentanten des ¹Systemsª nach dem Bundesrepublik Deutschland. Die internatio- Leben getrachtet wird. Im August dieses Jah- nale Dimension des deutschen Linksterroris- res etwa nahm die Polizei mutmaûliche Mit- mus nimmt sich auf den ersten Blick beschei- glieder einer ¹militanten gruppeª fest, die den aus, verglichen mit den Anschlågen von 2001 an fçr Aufruhr gesorgt hatte. Die des islamistischen Terrornetzwerks auf fast Ermittlungsbehærden werfen ihr çber zwei allen Kontinenten, seinen weltweit rekrutier- Dutzend Brandanschlåge gegen æffentliche ten Kadern und seinen Nachrichtenwegen Einrichtungen und das ¹Abfackelnª von çber das World-wide- ¹Nobelkarossenª vor, vor allem im Berliner web. 1 Die Wurzeln Tobias Wunschik Raum. In ausfçhrlichen Selbstbezichtigungs- der politisch moti- Dr. phil., geb. 1967; wissen- schreiben sorgte sie fçr ¹Vermittelbarkeitª im vierten Gewalt lagen schaftlicher Mitarbeiter der Ab- ¹autonomenª Milieu; daher lehnte sie ¹Ge- groûenteils in der teilung Bildung und Forschung walt gegen Personenª strikt ab. Bundesrepublik, die der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicher- Wies diese Gruppe terroristische Struktu- RAF-Mitglieder wa- heitsdienstes der ehemaligen ren auf, so gilt das nicht fçr den ¹Schwarzen ren Deutsche, und DDR (BStU), Postfach 218, Blockª, der sich bei Demonstrationen ver- nur selten kam es zu mummt (und dabei gegen das Versammlungs- Anschlågen jenseits 10106 Berlin. [email protected] recht verstæût), durch Aggressivitåt auffållt, der Landesgrenzen. håufig auch durch Straftaten. Der ¹Schwarze Blockª, ein Teil der militanten ¹autonomen Doch auch das Vorgehen von Roter Armee Szeneª, der nach Angaben der Sicherheitsbe- Fraktion (RAF), der ¹Bewegung 2. Juniª und hærden etwa 6000 Personen zuzurechnen Revolutionåren Zellen (RZ) besaû eine inter- sind, 44 agi(ti)ert oft bei Groûdemonstratio- nationale Dimension. Die politisch motivierte nen und liefert der Polizei Straûenschlachten Gewalt gilt zumeist weniger den unmittelbar (¹Massenmilitanzª heiût der beschænigende Angegriffenen selbst, sondern dem dahinter Ausdruck), wie zuletzt in Heiligendamm im vermuteten Gegner 2 ± etwa den westlichen Juni 2007 beim G8-Gipfel. Demokratien und der amerikanischen Fçh- rungsmacht (dem ¹Imperialismusª). 3 Gerade Wer den linksextremistischen ¹Schwarzen die RAF betrachtete sich als Teil einer welt- Blockª, der seit Anfang der 1980er Jahre exis- weiten Front und pflegte intensive Kontakte tiert, in die Nåhe des Terrorismus rçckt, be- zu anderen (links-)terroristischen Organisa- treibt indes eine Entgrenzung des Terroris- tionen in Westeuropa, was in gemeinsamen musbegriffs. Die ¹Autonomenª sind eine Bekennerschreiben und Strategiepapieren Terra incognita der Forschung. Von der RAF, zum Ausdruck kam. die Vergangenheit ist, låsst sich dies, wie ge- zeigt, nicht behaupten. 1 Vgl. Ulrich Schneckener, Transnationaler Terroris- mus. Charakter und Hintergrçnde des ¹neuenª Terro- rismus, Frankfurt/M. 2006, S. 12±14. 2 Vgl. u. a. Peter Waldmann, Terrorismus. Provoka- 44 Vgl. Verfassungsschutzbericht 2006, hrsg. vom tion der Macht, Mçnchen 1998, S. 12±13. Bundesministerium des Innern, Berlin 2007, S. 152. 3 Vgl. u. a. Oliver Tolmein, Vom Deutschen Herbst zum 11. September. Die RAF, der Terrorismus und der Staat, Hamburg 2002.

APuZ 40±41/2007 23 Die internationalen Verbindungen nåhrten ¹Bewegung 2. Juniª zu den Palåstinensern Motivation und Selbstverståndnis (bzw. war der linksrevolutionåre Sçdjemen dann Selbstçberschåtzung) der Terroristen und auch bereit, jene Terroristen aufzunehmen, waren vor allem von praktischem Nutzen. So die durch die Entfçhrung des Berliner CDU- wurden gelegentlich knappe Ressourcen wie Vorsitzenden Peter Lorenz im Februar 1975 Waffen, Sprengstoff oder Geld miteinander ge- freigepresst worden waren. teilt. Vielfach wurde im Ausland ein militåri- sches Training absolviert und verfolgungsfreier Die RZ suchten seit ihrer Bildung im Jahr Aufenthalt gesucht ± meist im Nahen Osten, 1973 die Kooperation mit der Volksfront fçr zeitweilig aber auch in der DDR. Nachfolgend die Befreiung Palåstinas (PFLP), der zweit- gilt es zu prçfen, wie eng und bedeutsam die stårksten Fraktion innerhalb der PLO. Nach internationale ¹Anbindungª der deutschen einer gemeinsamen, jedoch umstrittenen ¹Stadtguerillaª tatsåchlich war, wurde darçber Flugzeugentfçhrung im Jahr 1976 nach Ent- doch schon vielfach spekuliert. 4 ebbe in Uganda kam es çber die Frage der in- ternationalen Koordination zur Spaltung. Jo- hannes Weinrich und Magdalena Kopp Dimensionen der Verflechtung schlossen sich der Gruppe des Top-Terroris- ten ¹Carlosª an. 9 Die deutschen Linksterroristen der 1970er und 1980er Jahre erklårten wie die studenti- Die hierarchischen Strukturen der RAF sche Protestbewegung von 1968, 5 gegen die sowie ihre konspirative Abschottung håtten Ausbeutung in der ¹Dritten Weltª zu kåmp- einer internationalen Vernetzung abtråglich fen, 6 und engagierten sich international in sein mçssen. Jedoch existierte die Gruppe unterschiedlichem Maûe. Insgesamt blieb die vergleichsweise lange, so dass sich internatio- ¹Bewegung 2. Juniª am stårksten auf ihr lo- nale Bande entwickeln und festigen konn- kales Umfeld (in West-Berlin) konzentriert, ten. 10 So erklårte sich die RAF zur Verbçn- suchte aber dennoch Unterstçtzung im deten der nordvietnamesischen FNL, der Nahen Osten. Fçr ihre Vorlåuferorganisation, PLO, der nordirischen IRA und der mosam- die ¹Tupamaros Westberlinª, hatte die palås- bikanischen Frelimo. 11 Der RAF-Angehæri- tinensische Befreiungsbewegung sogar die ge Volker Speitel traf auûerdem Vertreter der Rolle eines ¹Geburtshelfersª gespielt. Denn baskischen Terrorgruppe ETA. 12 Besonders der Anfçhrer der ¹Tupamarosª, Rainer Kun- die dritte Generation der RAF pflegte mit zelmann, hatte im September 1969 zusammen ¹wechselndem Erfolgª Kontakte zu Gesin- mit anderen bei der Al-Fatah in Jordanien nungsgenossen in Frankreich, Belgien und 7 den Umgang mit Waffen erlernt. Auch die Italien. 13 Ideologisch gerechtfertigt wurde Ideologie der Gruppe wurde dadurch beein- dies im so genannten Mai-Papier von 1982 flusst, und fortan war ihr der palåstinensisch- mit dem angeblich notwendigen Aufbau israelische Konflikt wichtiger als der Viet- einer gemeinsamen ¹antiimperialistischen nam-Krieg. 8 Aufgrund von Kontakten der Frontª in Westeuropa. Doch nicht immer waren die Annåherungsversuche von Erfolg 4 Vgl. die teilweise spekulativen Studien von Michael gekrænt. So benannte die RAF das Komman- Mçller/Andreas Kanonenberg, Die RAF-Stasi-Con- nection, Berlin 1992, sowie Claire Sterling, The terror do beim Anschlag auf Ernst Zimmermann im network. The secret war of international terrorism, Jahr 1985 nach dem getæteten IRA-Aktivisten New York 1981. Vgl. dazu Bob Woodward, Ge- heimcode Veil. Reagan und die geheimen Kriege der 9 Vgl. u. a. Oliver Schræm, Im Schatten des Schakals. CIA, Mçnchen 1987, S. 150±154. Carlos und die Wegbereiter des internationalen Terro- 5 Vgl. Konrad Hobe, Zur ideologischen Begrçndung rismus, Berlin 2002, S. 125. des Terrorismus (hrsg. vom Bundesministerium der 10 Vgl. Christopher Daase, Die RAF und der inter- Justiz), Bonn 1979, S. 23. nationale Terrorismus, in: Wolfgang Kraushaar 6 Wanda von Baeyer-Katte, Agitatorischer Terror und (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., dessen Wirkung in sozial-psychologischer Sicht, in: Hamburg 2006, S. 905. Hans Maier (Hrsg.), Terrorismus. Beitråge zur gei- 11 Vgl. O. Tolmein (Anm. 3), S. 70. stigen Auseinandersetzung, Mainz 1979, S. 17. 12 Vgl. Volker Speitel, Wir wollten alles und gleich- 7 Vgl. Ralf Reinders/Ronald Fritzsch, Die Bewegung zeitig nichts, in: Der Spiegel, (1980) 33, S. 33. 2. Juni. Gespråche çber Haschrebellen, Lorenzentfçh- 13 Vgl. Alexander Straûner, Die dritte Generation der rung, Knast, Berlin 1995, S. 29. Roten Armee Fraktion. Entstehung, Struktur und 8 Vgl. Der Blues. Gesammelte Texte der Bewegung 2. Zerfall einer terroristischen Organisation, Wiesbaden Juni, o.O., o. J., Bd. 1, S. 82 f. 2003, S. 299.

24 APuZ 40±41/2007 Patsy O'Hara. Die nordirische Terrororgani- Meinhof, Gudrun Ensslin und andere zum sation wies dies jedoch als ¹Schåndung des Training bei der Al-Fatah nach Jordanien. 19 Namensª zurçck. 14 Spåter suchte die RAF enge Kontakte insbe- sondere zum Chef der PFLP, Wadi Haddad, Verbindungen zum Nahen Osten der vom sowjetischen KGB unterstçtzt wur- de. 20 In palåstinensischen Trainingscamps in Jordanien, spåter im Sçdjemen und zuletzt im Da die deutsche ¹Stadtguerillaª ein potenziel- Libanon wurden RAF-Angehærige militå- les ¹revolutionåres Subjektª hierzulande risch ausgebildet ± neben Angehærigen der kaum finden konnte, boten sich Befreiungs- ETA, IRA und der Irischen Nationalen Be- bewegungen in der ¹Dritten Weltª als natçrli- freiungsarmee. 21 Bereits 1981 wurde ange- che Verbçndete an. Diese waren Adressaten nommen, dass mindestens jeder zehnte deut- (und Empfånger) von Zuspruch und Beståti- sche Terrorist eine Ausbildung in einem palås- gung, sie waren Vorbilder und Objekte der tinensischen Lager durchlaufen hatte 22 ± der Identifikation. Die deutschen Linksterroris- tatsåchliche Anteil dçrfte weit hæher liegen. ten stçtzten ihre Weltanschauung neben einem stark selektiv rezipierten Marxismus- Im Mai 1972 kam es angeblich zu einer Leninismus insbesondere auf die Befreiungs- Ûbereinkunft der RAF mit palåstinensischen 15 ideologie aus der ¹Dritten Weltª, etwa von (sowie japanischen) Terroristen, sich fortan Che Guevara, Ho Chi Minh, Carlos Marig- gegenseitig zu unterstçtzen. 23 Als die palåsti- 16 hella und Rgis Debray. Zu Fehlwahrneh- nensische Terrorgruppe ¹Schwarzer Septem- mung und Selbstçberschåtzung neigend, sah berª kurz darauf die israelische Olympia- die RAF in der Entstehung teilweise måchti- mannschaft in Mçnchen çberfiel, forderte sie ger Befreiungsbewegungen einen untrçgli- die Freilassung von 234 Palåstinensern aus is- chen Beweis dafçr, dass der globale gesell- raelischer Haft, wollte aber auch Baader und schaftliche Umsturz nicht mehr lange auf sich Meinhof auf freiem Fuû sehen. Im Jahre 1976 warten lassen wçrde. Durch ihre Anschlåge sollte dann in Nairobi ein gemischtes auf den ¹Imperialismusª glaubte die RAF deutsch-palåstinensisches Kommando ein is- den ¹Sieg im Volkskriegª in entfernten Erd- raelisches Flugzeug abschieûen. Mit der Ent- teilen befærdern zu kænnen ± und sah sich fçhrung eines Lufthansa-Verkehrsflugzeuges umgekehrt durch das Agieren der Befreiungs- im Herbst 1977 griff die PFLP der deutschen bewegungen hierzulande im Aufwind. 17 Seite erneut massiv unter die Arme. 24

In der Praxis schåtzte die RAF, von der ers- Kooperation mit palåstinensischen Grup- 18 ten bis zur dritten Generation, besonders pen bedeutete vor allem punktuelle Zusam- die Kooperation mit der palåstinensischen menarbeit bei Anschlågen und der Aus- Befreiungsbewegung. Bereits wenige Wochen bildung ± nicht so sehr weltanschauliche nach der Baader-Befreiung, dem inoffiziellen Grçndungsdatum der RAF, reisten neben Andreas Baader auch Horst Mahler, Ulrike 19 Vgl. Stefan Aust, Der Baader Meinhof Komplex, 14 Zit. in: Der Spiegel, (1986) 29, S. 28. Hamburg 1986, S. 103±105. 15 Vgl. u. a. Alex Schubert, Stadtguerilla. Tupamaros in 20 Vgl. Christopher Andrew/Wassili Mitrochin, Das Uruguay. Rote Armee Fraktion in der Bundesrepublik, Schwarzbuch des KGB II. Moskaus Geheim- Berlin 1971, S. 7±26. operationen im Kalten Krieg, Berlin 2006, S. 360±378. 16 Vgl. Gerd Langguth, Guerilla und Terror als links- 21 Protokoll der Vernehmung von Peter-Jçrgen Boock extremistische Kampfmittel. Rezeption und Kritik, in: am 1. 4. 1992. Manfred Funke (Hrsg.), Extremismus im demokrati- 22 Vgl. Gerhard Schmidtchen, Terroristische Karrie- schen Rechtsstaat. Ausgewåhlte Texte und Materialien, ren. Soziologische Analyse anhand von Fahndungs- Dçsseldorf 1978 (Schriftenreihe der bpb 122), S. 114. unterlagen und Prozessakten, in: Herbert Jåger/ders./ 17 Vgl. Friedhelm Neidhardt, Soziale Bedingungen Lieselotte Sçllwold, Lebenslaufanalysen (Analysen terroristischen Handelns. Das Beispiel der ¹Baader- zum Terrorismus 2, hrsg. vom BMI), Opladen 1981, Meinhof-Gruppeª (RAF), in: Wanda von Baeyer-Kat- S. 54. te/Dieter Claessens/Hubert Feger u. a. (Hrsg.), Grup- 23 Vgl. Simon Reeve, Ein Tag im September. Die Ge- penprozesse (Analysen zum Terrorismus 3, hrsg. v. schichte des Geiseldramas bei den Olympischen Spie- Bundesministerium des Innern/BMI), Opladen 1982, len in Mçnchen 1972, Mçnchen 2006, S. 67. S. 357. 24 Vgl. Tobias Wunschik, Baader-Meinhofs Kinder. 18 Vgl. Butz Peters, Tædlicher Irrtum. Die Geschichte Die zweite Generation der RAF, Opladen 1997, der RAF, Berlin 2004, S. 732. S. 264±275.

APuZ 40±41/2007 25 Auseinandersetzung. 25 Dass palåstinensische endet. Die Verhaftung von vier Anfçhrern der Waffenbrçder Seite an Seite mit ihnen kåmpf- AD im Jahr 1987 setzte den Schlussstrich ten, bestårkte die deutschen Linksterroristen unter die Kooperation. Bereits zwei Jahre in ihrer Motivation. Dabei waren die Kråfte- zuvor hatte ebenfalls ein groûer Fahndungser- verhåltnisse eindeutig: Die PFLP hielt tausen- folg zum weitgehenden Abbruch der Bezie- de junger Månner unter Waffen, wohingegen hungen zwischen der RAF und den belgischen die RAF wohl zu keinem Zeitpunkt mit mehr Cellules Communistes Combattantes (CCC) als einem Dutzend Mitglieder gleichzeitig im gefçhrt, die in den Jahren zuvor gemeinsame Nahen Osten pråsent war. Allerdings waren Erklårungen unterzeichnet und Sprengstoff die palåstinensischen Terrorgruppen an west- gleicher Herkunft verwendet hatten. 30 lichen Verbçndeten interessiert, denn diese konnten zur Vorbereitung von Anschlågen Einen vergleichsweise langen, doch nicht viel unauffålliger durch Europa reisen. 26 nur von Erfolg gekrænten Kontakt pflegte die RAF zu den italienischen Roten Brigaden. Bei den teilweise mehrmonatigen Trai- Bereits Anfang der siebziger Jahre war es zu ningsaufenthalten in palåstinensischen Camps ersten Treffen gekommen, doch war offenbar kam es bisweilen zu konkurrierenden Loyali- keine gemeinsame Linie gefunden worden. 31 tåten. So schied Friederike Krabbe aus der Die weltanschaulichen Dissonanzen resultier- RAF aus und blieb im Nahen Osten, weil sie ten wohl daraus, dass der Terrorismus insge- sich in einen Palåstinenser verliebt hatte. samt ¹in Italien stårker in der Gesellschaft Krabbe ist bis heute verschwunden. verwurzelt (war) als in Deutschlandª, 32 und so fçhlten sich italienische Linksterroristen Waffenbrçder in Westeuropa eher zur ¹Bewegung 2. Juniª hingezogen, die stårkere Bindungen in die linksextreme Szene Anders als gegençber den Palåstinensern ent- besaû als die RAF. 33 wickelten sich die Kontakte der RAF zur franzæsischen Action Directe (AD) zunåchst Die Entfçhrung von Schleyer durch die auf einer theoretischen Ebene, bevor es in der RAF verårgerte den fçhrenden Vertreter der Praxis zu gemeinsamen Aktionen kam. 27 Be- italienischen Terrororganisation, Mario Mo- reits ihre Entstehung im Frçhjahr 1979 fçhr- retti, denn angesichts der bevorstehenden ten die franzæsischen Linksterroristen auch Entfçhrung des frçheren Ministerpråsidenten auf die als ¹vorbildlichª verstandene Entfçh- Aldo Moro war ihm ¹die Show gestohlenª rung des Arbeitgeberpråsidenten Hanns Mar- worden. 34 Im Jahr 1978 wollte die RAF ge- tin Schleyer zurçck. Neben persænlichen Bin- meinsam mit den Roten Brigaden den dungen kam es zu gegenseitiger logistischer NATO-Oberbefehlshaber Alexander Haig Hilfestellung wie etwa dem Austausch von entfçhren, doch letztlich kam es zu keiner Sprengstoff oder gefålschten Ausweisen. 28 Vereinbarung. Auch als sich im Folgejahr Bri- gitte Mohnhaupt, Werner Lotze und zwei Ein gemeinsames Strategiepapier von 1985 weitere RAF-Mitglieder mit Moretti trafen, war auf deutsch verfasst und dann schlecht ins forderte dieser ¹Parteistrukturenª von der Franzæsische çbersetzt worden, was eine RAF. Dem hatte die deutsche Seite nichts ent- ¹ideologische Hegemonieª der RAF und eine gegenzusetzen, weswegen das Gespråch ein ¹weitgehende Unterordnungª der AD erken- ¹vælliges Desasterª war. 35 Trotz weiterer Be- nen lieû. 29 In diesem Jahr bekannten sich die gegnungen blieb es bei ¹Tauschaktionen fal- Gruppierungen gemeinsam zu zwei Mordan- scher Papiereª sowie finanziellen Transaktio- schlågen in Deutschland und Frankreich, und auch ein Hungerstreik der inhaftierten Mit- 30 Vgl. A. Straûner (Anm. 13), S. 304, S. 307. glieder beider Gruppen wurde zeitgleich be- 31 Vgl. Alberto Franceschini/Pier Vittorio Buffa/ Franco Giustolisi, ¹Das Herz des Staates treffenª, 25 Vgl. Ch. Daase (Anm. 10), S. 909. Wien 1990, S. 62±64. 26 Vgl. Protokoll (Anm. 21). 32 Henner Hess, Italien: Die ambivalente Revolte, in: 27 Vgl. Ch. Daase (Anm. 10), S. 910. ders. (Anm. 29), S. 14. 28 Vgl. A. Straûner (Anm. 13), S. 623. 33 Vgl. A. Franceschini (Anm. 31), S. 63. 29 Vgl. Dieter Pass, Frankreich: Der integrierte Links- 34 Vgl. Valerio Morucci, ¹Die RAF und wir ± feind- radikalismus, in: Henner Hess (Hrsg.), Angriff auf das liche Konkurrentenª, in: Der Spiegel, (1986) 31, Herz des Staates. Soziale Entwicklung und Terroris- S. 106±114. mus, Bd. 2, Frankfurt/M. 1988, S. 267. 35 Vgl. T. Wunschik (Anm. 24), S. 387±389.

26 APuZ 40±41/2007 nen im Rahmen einer ¹gewissen Solidaritåtª, August vom militårischen Training in Jorda- wie Moretti spåter erklårte. 36 Noch 1986/87 nien zurçckkehrte, traf Hans-Jçrgen Båcker wurden Terrorkommandos nach gefallenen als erster in Berlin-Schænefeld ein. Dort Angehærigen der jeweils anderen Gruppe be- wurde er wegen einer mitgefçhrten Pistole nannt; im Jahre 1988 wurde zudem ein Be- zwar festgenommen, berichtete anschlieûend kennerschreiben von beiden Seiten unter- jedoch freizçgig çber die Tatbeteiligungen zeichnet. 37 Dann jedoch entzweiten ideologi- wie auch çber die weiteren Plåne der Gruppe sche Differenzen und der Fçhrungsanspruch und wurde freigelassen. 41 der RAF die deutschen und die italienischen Linksterroristen. Meinhof selbst flog ein paar Tage spåter zu- rçck und ersuchte beim Zentralrat der FDJ RAF und DDR-Staatssicherheit darum, die ¹Organisierung des Widerstandes in West-Berlinª von der DDR aus betreiben Auf der Suche nach Verbçndeten richtete die zu kænnen. Doch Meinhof wurde hingehalten RAF verstohlene Blicke auch auf das andere und am nåchsten Tag nicht mehr çber die Deutschland. Die Linksterroristen und der Grenze gelassen ± zu einem Pakt war das SED-Staat teilten einen weltanschaulichen SED-Regime (noch) nicht bereit. Håtte es Grundkonsens und politische Interpretati- Meinhof erneut versucht, wåre sie vermutlich onsmuster in einer ¹unçbersehbaren Geistes- ebenfalls verhært und abgeschæpft worden. 42 verwandtschaftª. 38 Beide sahen sich an der Trotz der Ablehnung lieû die Baader-Mein- Seite der Befreiungsbewegungen und kåmpf- hof-Gruppe die Hoffnung jedenfalls nicht ten gegen ¹Imperialismusª und ¹Kapitalis- fahren und schrieb zwei Jahre spåter, ihr Ziel musª. Aus marxistisch-leninistischer Sicht sei ¹ein einheitliches sozialistisches Deutsch- blieb Ost-Berlin allerdings skeptisch, was die land, mit der Arbeiterklasse der DDR und Kampfform des ¹individuellen Terrorismusª ihrer Partei, und niemals gegen sieª. 43 betraf. Und die sowjetische Maûgabe der ¹friedlichen Koexistenzª respektierte die Die zweite Generation der RAF stand Ost- RAF ebenso wenig wie die fçhrende Rolle Berlin zunåchst gleichgçltig, teilweise sogar der kommunistischen Parteien. 39 kritisch gegençber. 44 Weiterhin profitierten die steckbrieflich gesuchten Terroristen je- Als im April 1970 in Guatemala eine links- doch von den Reisemæglichkeiten çber Schæ- gerichtete Guerilla den bundesdeutschen Bot- nefeld. Weil sie gefålschte Personaldoku- schafter, Karl Graf Spreti, ermordete, be- mente verwendeten, schlçpften sie manchmal grçûte dies das ¹Neue Deutschlandª ± und sogar unerkannt durch die Grenze. 45 Das die Baader-Meinhof-Gruppe fasste dies wie- RAF-Mitglied Willy Peter Stoll wurde zwar derum als Beståtigung auf. 40 Als die RAF im einmal angehalten, nach Feststellung seiner wahren Identitåt jedoch umgehend freige- 36 Rossana Rossanda/Carla Mosca, Mario Moretti. lassen. 46 Øhnliche Erfahrungen machte im Eine italienische Geschichte, Hamburg 1996, S. 211; vgl. auch Anna Laura Braghetti, ¹Die Antwort hieû: Mordª, in: Der Spiegel, (1998) 11, S. 150±152. 37 Vgl. B. Peters (Anm. 18), S. 640, S. 743. 41 Vgl. Die Bundesbeauftragte fçr die Stasi-Unter- 38 Uwe Backes, Bleierne Jahre. Baader-Meinhof und lagen (BStU), MfS, Hauptabteilung (HA) IX 16906; danach, Erlangen 1991, S. 200. S. Aust (Anm. 19), S. 114. 39 Vgl. Martin Jander, Differenzen im anti- 42 Vgl. BStU, Zentralarchiv (ZA), HA XX AIG496, imperialistischen Kampf. Zu den Verbindungen des Bl. 17±19; AKK 10454/76, Bl. 27. Ministeriums fçr Staatssicherheit mit der RAF und 43 RAF, unveræff. Ms. (Anm. 40). dem bundesdeutschen Linksterrorismus, in: W. Kraus- 44 Vgl. Gert Schneider/Christof Wackernagel, Der haar (Anm. 10), S. 698, S. 705. Prozeû gegen Christof und Gert ist ein Prozess gegen 40 Vgl. Neues Deutschland (ND) vom 7. 4. 1970, S. 6; die RAF. Dokumentation zum Dçsseldorfer RAF- ND vom 8. 4. 2007, S. 6. Zur Reaktion der RAF: un- Prozess, Teil III, hrsg. v. M.A.W. Hanegraaff van de veræff. Ms., Mai 1972, zit. in: Iring Fetscher/Herfried Colff, Amsterdam 1980, S. 19. Mçnkler/Hannelore Ludwig, Ideologien der Terro- 45 A[auswerungs und]I[nformations]G[ruppe] der risten in der Bundesrepublik Deutschland, in: Iring Hauptabteilung P[ersonen]S[chutz], Operativer Aus- Fetscher/Gçnter Rohrmoser (Hrsg.), Ideologien und kunftsbericht çber anarchistische Gruppierungen in Strategien (Analysen zum Terrorismus 1, hrsg. vom Westberlin vom 12. 2. 1975; BStU, ZA, ZAIG14967, BMI), Opladen 1981, S. 217. Es ist unklar, ob der an die Bl. 68±77. Partei der Arbeit Nordkoreas gerichtete Brief abge- 46 Vgl. Volker Speitel, Ich mach das Affentheater nicht sendet wurde. mehr mit, in: Stern, (1981) 35, S. 141.

APuZ 40±41/2007 27 Frçhjahr 1978 Inge Viett. 47 Ihr wurde Reise- so ein dafçr Verantwortlicher. 52 Die Staatssi- freiheit zugesichert. Als ihr Kampfgefåhrte cherheit habe zudem çber geheimpolizeiliche Till Meyer im Mai 1978 gewaltsam aus dem Kanåle in den Fahndungscomputern des Bun- Gefångnis in Moabit befreit wurde, konnten deskriminalamts prçfen lassen, welche ge- die Tåter so çber Ost-Berlin entkommen. 48 fålschten Ausweise der Linksterroristen im Und als Viett einen Monat spåter in Prag fest- Westen zu einer Verhaftung fçhren kænnten, genommen wurde, organisierte das Ministeri- und sie vor deren weiterer Verwendung ge- um fçr Staatssicherheit der DDR (MfS) sogar warnt. Als ¹vertrauensbildende Maûnahmeª ihre Freilassung. 49 habe das MfS mindestens zweimal ein militå- risches Training organisiert: ¹Inge Viett hat Die mittlerweile zur RAF gewechselte gut geschossen, Pohl hat schlecht geschossen Viett wurde zur Mittelsperson, als zunåchst und Klar normal.ª Bei den Schieûçbungen acht Gruppenmitglieder Anfang 1980 ein si- wurde ein Schåferhund in einem Mercedes cheres Aufnahmeland suchten. Viett sollte angekettet, um die Wirkung einer Panzerfaust mit Hilfe Ost-Berlins den Kontakt zu einem auf lebende Objekte zu testen. linksrevolutionåren Staat (wie Algerien, Mo- sambik oder den Kapverdischen Inseln) her- Aus Furcht, die DDR kænne der Unter- stellen. Nun bot das MfS an, die Betreffenden stçtzung des internationalen Terrorismus be- in die DDR aufzunehmen. Werner Lotze, zichtigt werden, tendierte das MfS zuneh- Silke Maier-Witt, Susanne Albrecht, Monika mend zu einer vorsichtigeren Linie 53 ± und Helbing, Ekkehard von Seckendorff-Gudent, hielt die Linksterroristen hin. ¹Wir håtten ± Christine Dçmlein, Sigrid Sternebeck und statt mit ihnen zu reden ± [zuletzt] auch das Ralf Baptist Friedrich erhielten im Oktober ,Neue Deutschland` lesen kænnenª, stellte 1980 in der DDR eine neue Identitåt. Als Helmut Pohl enttåuscht fest. 54 So ging die Nachzçgler folgten Henning Beer und Viett. ¹RAF-Stasi-Connectionª 1983/84 teilweise Zunåchst wurden die Aussteiger in so ge- in die Brçche. Gegençber der dritten Genera- nannten Operativen Personenkontrollen be- tion der RAF lautete jetzt die Maxime, neu arbeitet, dann teilweise als Inoffizielle Mitar- bekannt gewordene Mitglieder ¹zur Verhin- beiter (IM) angeworben. 50 derung von Diskriminierungs- und Diffamie- rungsmaûnahmen des Gegners gegençber der Die problemlose Aufnahme weckte ¹das DDR unter operative Personenkontrolleª zu politische und materielle Interesse der stellen. 55 Um die Verbindungen zu verschlei- RAFª. 51 Zwischen 1980 und 1982 kamen so ern, kamen Inoffizielle Mitarbeiter wie der zwei- bis dreimal jåhrlich die RAF-Angehæ- Ex-Terrorist Till Meyer zum Einsatz. Er rigen Christian Klar, , Hel- sollte im Auftrag des MfS ¹falsche Fåhrtenª mut Pohl und die damals noch aktive Inge legen, wenn Journalisten den Aufenthalt der Viett in die DDR. Die Untergrundkåmpfer RAF-Aussteiger recherchieren wollten und seien dort regelrecht ¹aufgepåppeltª worden, ihn deswegen als ¹Insiderª kontaktierten. 56

52 So die Aussagen des vormaligen Mitarbeiters der 47 Vgl. u. a. Peter Siebenmorgen, ¹Staatssicherheitª MfS-Abteilung XXII Walter Lindner. Vgl. Zeugen- der DDR. Der Westen im Fadenkreuz der Stasi, Bonn vernehmung von Walter Lindner vom 24. 1. 1991; HIS, 1993, S. 227. Archiv, We,J/115,009, o. Pag.; dort auch die folgenden 48 Vgl. Inge Viett, Nie war ich furchtloser. Autobio- Informationen. Vgl. auch Sçddeutsche Zeitung vom graphie, Hamburg 1996, S. 196. 10. 1. 1992. Fçr seine Aussagen im Prozess gegen Viett 49 Information zu Aktivitåten von Vertretern der pa- vgl. Wolfhard Klein, ¹Nix, oder wie's warª, in: Kon- låstinensischen Befreiungsorganisation in Verbindung kret, (1992) 10, S. 32±33. mit internationalen Terroristen zur Einbeziehung der 53 Vgl. Tobias Wunschik, Die Bewegung 2. Juni und DDR bei der Vorbereitung von Gewaltakten in Lån- ihre Protektion durch den Staatssicherheitsdienst der dern Westeuropas, Berlin 3. 5. 1979, in: BStU, ZA, HA DDR, in: Deutschland Archiv, 40 (2007) 6 (i. E.). XXII 18613, Bl. 287. 54 Vgl. Helmut Pohl, ¹Fçr uns hatte es den Zweck, 50 Vgl. Tobias Wunschik, Magdeburg statt Mosambi- Fragen zur Spreng- und Schieûtechnik zu klårenª, in: que, Kæthen statt Kap Verden. Die RAF-Aussteiger in Frankfurter Rundschau (FR) vom 2. 7. 1991, S. 7±8. der DDR, in: Klaus Biesenbach (Hrsg.), Zur Vor- 55 Vgl. Abschluûbericht MfS-Abteilung XXII/8 zum stellung des Terrors: Die RAF-Ausstellung, Bd. 2, Hungerstreik der Gefangenen der RAF vom 21. 3. Gættingen 2005, S. 236±240. 1985; BStU, ZA, HA XXII 19179, Bl. 111±115. 51 Inge Viett, Wahr bleibt . . ., in: Konkret, (1992) 3, 56 Vgl. Till Meyer, Staatsfeind. Erinnerungen, Ham- S. 28±29. burg 1996.

28 APuZ 40±41/2007 Trotz dieser Absicherung wurde 1986 die Fahndungserfolge in mehreren europå- Identitåt von Maier-Witt, Albrecht und Viett ischen Staaten Ende der 1980er Jahre be- bekannt. Maier-Witt waren westliche Ge- schnitten die internationalen Verbindungen heimdienste auf die Spur gekommen. Daher der RAF. Von den inhaftierten Gesinnungsge- musste sie ihr bisheriges Umfeld çber Nacht nossen waren nur noch Solidaritåtsadressen verlassen und abermals eine neue Identitåt zu erwarten, jedoch keine praktische Unter- annehmen. Im Jahr 1987 fragte das Bundes- stçtzung mehr. Endgçltig in die Isolation ge- kriminalamt in Ost-Berlin nach, 1988 sogar riet die RAF aber erst, als sie nach der so ge- die Bundesregierung, ohne jedoch çber Be- nannten Kinkel-Initiative auf eine moderatere weise zu verfçgen. Auch im Umfeld von Al- Linie einschwenkte und im Jahr 1992 auf Ge- brecht wucherten 1986 Gerçchte, doch die walt gegen Menschen verzichtete. Diesen Staatssicherheit drohte ihren misstrauischen Kurswechsel geiûelten die Action Directe, Arbeitskollegen mit strafrechtlicher Verfol- die Roten Brigaden und die Cellules Com- gung. Viett wurde 1986 von einer Bekannten munistes Combattantes als konterrevolutio- bei einer Westreise auf einem Fahndungspla- nåres Einknicken vor dem Gegner. 61 kat erkannt ± und erhielt von der Staatssicher- heit eine neue Identitåt. 57

Wåhrend sich die RAF offen zu ihren Ver- bindungen mit palåstinensischen und anderen ¹Befreiungsbewegungenª bekannte, stellte sie die Unterstçtzung durch das MfS auch nach dem Untergang der DDR in Abrede. 58 Die deutschen Linksterroristen wollten wohl als politisch unabhångig gelten und mit der Spieûbçrgerlichkeit sowie dem Dogmatismus des erstarrten Einheitssozialismus nicht in Verbindung gebracht werden. Schluss

Die internationalen Kontakte der RAF waren weltanschaulich, psychologisch und praktisch bedeutsam: Ihre Kampfgefåhrten suggerierten die Einbindung in eine weltweite Front (die nie existierte). Die Trainingscamps waren un- verzichtbar, um den Umgang mit Waffen zu erlernen. Die Unterstçtzung durch palåsti- nensische Kråfte hat den Aufbau einer deut- schen Stadtguerilla erheblich erleichtert, und die spåtere Protektion durch das MfS der DDR hat ihren Fortbestand mit ermæglicht. Trotzdem operierte die RAF ¹immer selb- ståndigª und hat ¹ihre Unabhångigkeit nie beschrånktª. 59 Die externe Unterstçtzung kann nicht als primåre Ursache des Linkster- rorismus in der Bundesrepublik gelten. 60

57 Vgl. T. Wunschik (Anm. 53). 58 Vgl. FR vom 2. 7. 1991, S. 8; die tageszeitung (taz) vom 12. 6. 1992, S. 2. 59 Hans Josef Horchem, Auch Spione werden pensio- niert, Herford 1993, S. 100. 60 Vgl. allg. Richard E. Rubenstein, The noncauses of modern terrorism, in: Charles W. Kegley (Ed.), Inter- 61 Vgl. A. Straûner (Anm. 13), S. 305, S. 307, S. 313 f. national Terrorism: Characteristics, Causes, Controls, New York 1990, S. 127±134.

APuZ 40±41/2007 29 Helmut Kury reichen, deutlich gestiegenen Punitivitåt, ein zentraler kriminologischer Fachbegriff, der im Folgenden erlåutert werden soll. Die Mei- Mehr Sicherheit nungen çber diesen Anstieg gehen allerdings teilweise deutlich auseinander. 2 Die teilweise kontroverse Diskussion zur Entwicklung der durch mehr Punitivitåt hångt deutlich davon ab, dass man sich vielfach auf unterschiedliche Aspekte des Strafe? terminologischen Konstrukts bezieht. Es soll- ten zumindest drei Dimensionen von Puniti- vitåt unterschieden werden: die Einstellungen in der Bevælkerung zu Sanktionen, die Ent- n den vergangenen Monaten ist eine hitzi- wicklung in der Gesetzgebung sowie in der I ge Diskussion darçber ausgebrochen, ob Rechtsprechung. die letzten noch einsitzenden Linksterroris- ten, ehemalige Mitglieder der Roten Armee Sanktionseinstellungen der Bevælkerung Fraktion (RAF), nach Verbçûung von langen Haftstrafen aufgrund schwerer Straftaten nun Sanktionseinstellungen werden von wissen- aus der Haft entlassen, oder ± wie im Falle schaftlicher Seite im Rahmen von Opferstu- Christian Klars ± vom Bundespråsidenten be- dien (mit)erfasst. Gefragt wird unter anderem gnadigt werden sollten. Insbesondere das mit dem ¹Standarditemª nach der Einstellung Gnadengesuch Klars zur bzw. der Befçrwortung der Todesstrafe Helmut Kury heizte die Debatte an, fçr schwere Straftaten sowie mit in einzelnen Prof. Dr., Prof. h.c. mult., geb. gerade auch auf politi- Studien enthaltenen, meist unterschiedlich 1941; bis 2006 wissenschaftli- scher Ebene, wobei ei- formulierten Fragen nach der Zufriedenheit cher Referent am Max-Planck- nerseits betont wurde, mit der Strafzumessung der Gerichte bzw. Institut für ausländisches und man solle die Ent- der Sanktionsorgane. Ein aussagekråftiger internationales Strafrecht in scheidung dem Staats- Långsschnittvergleich zur Entwicklung der Freiburg/Br.; Arbeitsschwer- oberhaupt çberlassen Sanktionseinstellungen in der deutschen Be- punkte u. a.: Resozialisierung und sich nicht einmi- vælkerung ist bislang nur schwer mæglich. von Straftätern, Kriminalpräven- schen, man anderer- Einzig das Institut fçr Demoskopie in Allens- tion, Opferforschung, Einstel- seits jedoch Letzteres bach fragt seit 1950 regelmåûig nach Einstel- lungen zu Sanktionen und Straf- mit teilweise groûer lungen zur Todesstrafe. Hier zeigt sich, dass taten, Forensische Psychologie, Intensitåt tat. Dabei deren Befçrwortung in Westdeutschland ins- in diesem Zusammenhang Er- wurden vor allem Ar- besondere ab Mitte bis Ende der 1960er Jahre stellung des jüngsten Prognose- gumente vorgebracht, bis Anfang der 1970er Jahre deutlich abnahm, gutachtens zu Christian Klar. die gegen einen Gna- dann bis in die zweite Hålfte der 1970er Jahre [email protected] denerweis sprechen aufgrund des Linksterrorismus wieder an- sollten. Politiker ins- stieg, um dann bis Mitte der 1980er Jahre besondere der groûen Parteien åuûerten sich wieder zu fallen. Im Zusammenhang mit der eher ablehnend zu einer Begnadigung und Vereinigung der beiden deutschen Staaten, drçckten damit offenbar die Ansicht der gro- der Grenzæffnung und dem Ende der Block- ûen Mehrheit der Bevælkerung aus. Hierbei ist zu beachten, dass beides nicht unabhångig 1 Vgl. Jo Reichertz, Die Medien als selbståndige Ak- voneinander zu sehen ist: Politiker werden teure, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), sich in ihrer Meinungsåuûerung danach rich- (2007) 12, S. 13±24; Katherine Beckett/Theodore Sas- ten, was die Bevælkerung, zumindest ihre son, The Politics of Injustice. Crime and Punishment in America, Thousand Oaks±London±New Delhi Wåhlerschaft, von ihnen ¹erwartetª; ihre Mei- 2004. nungsåuûerungen, vor allem die Pråsentation 2 Vgl. Fritz Sack, Deutsche Kriminologie: auf eigenen in den Medien, werden wiederum die Einstel- (Sonder)Pfaden? Zur deutschen Diskussion der krimi- lungen in der Bevælkerung beeinflussen. 1 nalpolitischen Wende, in: Joachim Obergfell-Fuchs/ Martin Brandenstein (Hrsg.), Nationale und inter- Die Diskussion um die Entlassung der letz- nationale Entwicklungen in der Kriminologie. Fest- schrift fçr Helmut Kury zum 65. Geburtstag, Frank- ten inhaftierten ehemaligen RAF-Terroristen furt/M. 2006, S. 35±71; Helmut Kury, Zur Punitivitåt fållt zusammen mit einer in Deutschland in in Deutschland, in: Soziale Probleme, 17 (2006), im den vergangenen Jahren, zumindest in Teilbe- Druck.

30 APuZ 40±41/2007 konfrontation in Europa, der wachsenden deutschen eine im Vergleich zu Westdeutsch- Globalisierung sowie der hiervon ausgehen- land bemerkenswert hæhere Unterstçtzung den Verunsicherungen 3 stiegen die Werte bis der Todesstrafe, was darauf verweist, dass sol- Mitte der 1990er Jahre wieder leicht an, um che Einstellungsmuster auch vom Diskussi- seitdem erneut zu sinken. 4 In den vergange- onsstand in einer Gesellschaft zu dem erfass- nen zehn Jahren haben in Westdeutschland ten Problem beeinflusst werden, aber auch etwa 20 bis 30 % der Befragten die Todesstra- von der Sanktionspraxis. In der DDR wurde fe fçr schwere Straftaten befçrwortet. die Todesstrafe bis 1981 praktiziert; abge- schafft wurde sie erst 1987, wåhrend sie in In Bochum wurden in den Jahren 1975, der Bundesrepublik bereits 1949 aus dem 1986 und 1998 mit jeweils vergleichbaren Er- Sanktionskatalog gestrichen worden war. hebungsinstrumenten Umfragen durchge- fçhrt, in denen u. a. nach Sinn und Zweck der In drei vergleichbaren Umfragen in Ost- Freiheitsstrafe gefragt wurde. 5 Hier zeigt deutschland in den Jahren 1991, 1995 und sich ein deutlicher Rçckgang der Befçrwor- 2001 wurden auch die Sanktionseinstellungen tung der Resozialisierung von Rechtsbre- der Bevælkerung erfasst. 7 Eine Differenzie- chern, und zwar von 70,2 % im Jahr 1976 auf rung der Sanktionspraxis, vor allem die Ein- nur noch 42,2 % 1999, wåhrend im selben fçhrung neuer, weniger eingriffsintensiver Zeitraum die Idee einer Abschreckung der Strafen und die ¹Erfahrungenª der Bevælke- Tåter deutlich an Zustimmung gewann (von rung hiermit, etwa çber (positive) Berichte in 13,5 auf 23,3 %); die Unterstçtzung von den Medien, fçhren dazu, dass die Sanktions- Sçhne und Vergeltung stieg gar von 16,3 auf einstellungen in der Úffentlichkeit differen- 34,5 %. In einer anderen Erhebung wurden zierter werden. So sahen bei der ersten Befra- çber Jahre hinweg Studierende der Rechts- gung 32,2 % den im frçheren sozialistischen wissenschaft befragt; auch hier wurden Hin- System der DDR kaum praktizierten Tåter- weise auf eine zunehmende Sanktionsorien- Opfer-Ausgleich als akzeptable Reaktion auf tierung bei den angehenden Juristen festge- einen Teil des straffålligen Verhaltens an, bei stellt. 6 der zweiten Befragung waren es 32,9 % und bei der dritten 38,4 %, also deutlich mehr. In- Die Umfragen des Instituts fçr Demosko- zwischen haben die Bçrger diese Sanktion pie Allensbach zur Einstellung gegençber der also offenbar ¹kennen gelerntª. Todesstrafe fçr schwere Straftaten wurden nach der deutschen Wiedervereinigung auch Wie sehr Sanktionseinstellungen von Unsi- in den ostdeutschen Bundeslåndern durchge- cherheitserleben, Verbrechensfurcht bzw. fçhrt. Hier zeigt sich bis heute bei den Ost- Informationen çber eine tatsåchliche oder vermeintliche Zunahme von Kriminalitåt ab- 3 Vgl. Peter Stegmaier, ¹Vernetzungª als neuer Effek- hången, zeigen Vergleiche hinsichtlich der tivitåtsmythos fçr die ¹innere Sicherheitª, in: APuZ, Strafeinstellungen zu den in den Befragungen (2007) 12, S. 7±19. erfassten 21 Delikten çber die drei Zeitråume. 4 Vgl. Helmut Kury/Harald Kania/Joachim Ober- Nahm vom ersten zum zweiten Messzeit- gfell-Fuchs, Worçber sprechen wir, wenn wir çber punkt die erfasste Strafhårte hinsichtlich 15 Punitivitåt sprechen? Versuch einer konzeptionellen und empirischen Begriffsbestimmung, in: Rçdiger der Delikte statistisch signifikant ab ± und in Lautmann/Daniela Klimke (Hrsg.), Punitivitåt, Kri- keinem Deliktsbereich entsprechend bedeut- minologisches Journal, 8. Beiheft (2004), S. 51±88. sam zu ±, sieht die Situation vom zweiten 5 Vgl. Hans-Dieter Schwind/Detlef Fetchenhauer/ zum dritten Messzeitpunkt umgekehrt aus. Wilfried Ahlborn/Rçdiger Weiû, Kriminalitåts- Der Rçckgang der Sanktionseinstellungen in phånomene im Langzeitvergleich am Beispiel einer der ersten Hålfte der 1990er Jahre war, so die Deutschen Groûstadt (Bochum) 1975±1986±1998, Neuwied 2001. Autoren, von drei Verånderungszusammen- 6 Vgl. Franz Streng, Strafmentalitåt und gesellschaft- hången getragen: ¹der Zunahme von Entkri- liche Entwicklung ± Aspekte zunehmender Punitivitåt, minalisierungstendenzen, der Zunahme einer in: Rafael Behr/Helga Cremer-Schåfer/Sebastian Betonung ausgleichender Reaktionen, der Scheerer, Kriminalitåts-Geschichten. Ein Lesebuch çber Geschåftigkeiten am Rande der Gesellschaft, Hamburg 2006, S. 211±222; ders., Sanktionsein- 7 Vgl. Heike Ludwig/Gçnther Kråupl, Viktimisie- stellung bei Jurastudenten im Wandel, in: Helmut rung, Sanktionen und Strafverfolgung. Jenaer Krimi- Kury (Hrsg.), Hårtere Strafen ± weniger Kriminalitåt, nalitåtsbefragung çber ein Jahrzehnt gesellschaftlicher in: Soziale Probleme, 17 (2006), im Druck. Transformation, Mænchengladbach 2005.

APuZ 40±41/2007 31 Rçcknahme von Strafvollzug zugunsten von der håuslichen Gewalt: Wurde diese bis in die Bewåhrung und Geldstrafeª. 8 Zwischen dem 1970er Jahre ± auch in den USA± kaum breit zweiten und dritten Messzeitpunkt zeigte diskutiert, hat sich das vor allem unter dem sich nur noch bei einem Delikt (Kindesmiss- Einfluss der Frauenbewegung und entspre- handlung) ein statistisch bedeutsamer Rçck- chender Untersuchungsresultate inzwischen gang in den Sanktionserwartungen, aber bei grçndlich gewandelt, insbesondere in westli- 17 der 21 Delikte ein bedeutsamer Anstieg. 9 chen, weniger traditionell gebundenen Ge- sellschaften. Diese wieder ansteigende Strafhårte ist im Kontext einer im selben Zeitraum gestiege- Einen internationalen Vergleich zur Sankti- nen, erlebten und vielfach erfahrenen eigenen onseinstellung erlauben, zumindest einge- Problembelastung sowie den breit diskutier- schrånkt, die Ergebnisse des International ten Problemen in der Gesellschaft im Zusam- Crime and Victimization Surveys. 13 Die Be- menhang mit den gewaltigen Verånderungen fragung wurde seit 1989 in zahlreichen Lån- zu sehen. Neben ¹Verbrechensfurchtª, die im dern durchgefçhrt und 1992, 1996, 2000 und Laufe der Jahre zumindest im Vergleich zu zuletzt 2004 wiederholt. Deutschland nahm anderen Øngsten eher abnahm, traten Be- nur an der ersten und an der bisher letzten fçrchtungen, welche die Angst, selbst zum Befragung teil (1989 und 2004). Diese Opfer- Opfer einer Straftat zu werden, bald ¹çber- studie erfasst Sanktionseinstellungen relativ holtenª, etwa die steigende Arbeitslosigkeit, kursorisch, in einem einzigen Item, in wel- die Angst, selbst den Arbeitsplatz und den chem stichwortartig der Fall eines 21-jåhrigen sozialen Status zu verlieren, ferner die Be- Mannes geschildert wird, der zum zweiten fçrchtung, dass die Renten oder die Kosten Mal einen Einbruch begangen und bei dieser fçr das Gesundheitssystem kçnftig nicht Tat ein Farbfernsehgeråt gestohlen hat. Die mehr bezahlt werden kænnten oder dass man Probanden wurden gefragt, welche der fol- im Alter verarmen wçrde. Hier handelt es genden Sanktionen sie als angemessene Reak- sich um Probleme, die in der æffentlichen tion betrachten wçrden: Geldstrafe, Gefång- Diskussion, von den Medien geprågt, immer nisstrafe, gemeinnçtzige Arbeit (community wieder dargestellt wurden. Die Verbrechens- service), zur Bewåhrung ausgesetzte Frei- furcht trat dabei fast zwangslåufig in den heitsstrafe, irgendeine andere Strafe oder Hintergrund, wobei nicht çbersehen werden ¹weiû nichtª. Vergleicht man die Ergebnisse darf, dass es sich um ein wenig klares Kon- von 1989 mit denen von 2004 hinsichtlich der strukt mit bislang wenig valider Operationa- vorgeschlagenen Sanktionen, zeigt sich fçr lisierung handelt. 10 Deutschland, dass der Anteil derjenigen, die eine ambulante Sanktion ± also keine Frei- Die Ergebnisse der Untersuchung von heitsstrafe ± fçr ausreichend halten, von 87,6 Ludwig und Kråupl 11 machen auch die Ab- auf 79,1 % zurçckgegangen ist. Entsprechend hångigkeit der Sanktionseinstellungen vom ging der Anteil derjenigen, die gemeinnçtzige Diskussionsstand zur ¹Verwerflichkeitª ein- Arbeit als Sanktion fçr angemessen halten, zelner Straftaten in der Gesellschaft deutlich. von 62,5 auf 53,2 % zurçck. Schlugen 1989 Wie ¹schlimmª eine Straftat von der Úffent- noch 12,4 % eine Gefångnisstrafe vor, waren lichkeit eingeschåtzt wird, wird erheblich es 2004 immerhin 20,9 %. Lag Deutschland durch die æffentliche Diskussion und die po- 1989 von den in der Befragung erfassten 14 litische Kultur in einem Land beeinflusst. 12 Låndern hinsichtlich des Vorschlages einer Das wird, um nur ein Beispiel zu nennen, ambulanten Sanktion neben Norwegen an deutlich an der Einschåtzung des Problems zweiter Stelle ± lediglich in der Schweiz schlug ein noch græûerer Anteil (91,6 %)

8 Ebd., S. 61. diese Sanktion vor ±, rutschte es 2004 von 9 Vgl. ebd., S. 58. den hier berçcksichtigten 18 Låndern auf 10 Vgl. in diesem Zusammenhang die jåhrlichen Um- einen mittleren Platz ab. Wåhrend in fragen der R+V-Versicherungen; vgl. auch Helmut Kury (Hrsg.), Fear of Crime and Attitudes to Pu- nishment. New Developments in Theory and Re- 13 Vgl. Jan van Dijk/Robert Manchin/John van Kes- search, Bochum 2007, im Druck. teren/Sami Nevala/Gergely Hideg, The Burden of 11 Vgl. H. Ludwig/G. Kråupl (Anm. 7), S. 58. Crime in the EU. Research Report: AComparative 12 Vgl. David Green, Political Culture and Incentives Analysis of the European Crime and Safety Survey to Penal Populism, in: H. Kury (Anm. 10). (EU ICS) 2005, Brçssel 2007.

32 APuZ 40±41/2007 Deutschland 20,9 % eine Gefångnisstrafe selbst aufweist, der solche Taten begeht ± dies vorschlugen, waren es in Groûbritannien wåre fçr das eigene Selbstbild zu bedrohlich ±, 50,4 %, in Frankreich dagegen lediglich sondern das ¹Monsterª, die Bestie, die voll- 12,7 %. kommen fremd und anders ist. Wåre kein Pu- blikum fçr solche Nachrichten vorhanden, Das kann als Hinweis fçr eine gestiegene wçrde auch nicht darçber berichtet, denn ge- Punitivitåt in der deutschen Bevælkerung ge- rade bei Boulevardmedien zåhlen in erster deutet werden. Allerdings dçrfen die Ergeb- Linie Verkaufszahlen. So kann leicht ein nisse nicht çberinterpretiert werden, da die Kreislauf entstehen: Einerseits werden puni- Aussagekraft der Studien in der Regel durch tiv eingestellte Personen durch einschlågige methodische Probleme eingeschrånkt ist. Ver- Medienberichte immer wieder in ihren Mei- gleiche zwischen einzelnen Staaten zeigen nungen beståtigt, andererseits sorgt eine ent- einen deutlichen Zusammenhang zwischen sprechende Nachfrage bei den Medien immer Verbrechensfurcht und Punitivitåt: Je hæher wieder fçr einseitige und stereotype Bericht- die Kriminalitåtsfurcht in einem Land ist, erstattung. (Natçrlich kænnen ¹dieª Medien umso deutlicher ist auch die Befçrwortung nicht auf Boulevardzeitungen reduziert wer- hårterer Sanktionen. 14 Die Meinung, dass den; andere berichten durchaus differenziert Kriminalitåt çberhaupt zunehme, zeigt eben- und kritisch und leisten teilweise einen gro- falls einen Zusammenhang mit den Sankti- ûen Beitrag zum Verståndnis von Kriminali- onseinstellungen. Diese werden sehr stark tåt und dem Umgang damit. 15) von der Medienberichterstattung und der po- litischen Diskussion beeinflusst. In einer emotionalisierten, pauschalen und klischee- Gesetzgebung und Sanktionierung haften Medienberichterstattung çber Krimi- nalitåt wird oft ein komplexes Geschehen Am deutlichsten låsst sich eine Zunahme der ¹dargestelltª. Dabei wird insbesondere von Punitivitåt im Bereich der Gesetzgebung den Boulevardmedien (Print und Rundfunk) nachweisen, und zwar in zahlreichen Lån- vielfach nicht einmal der Versuch unternom- dern. Wenn es zu Gesetzesånderungen im men, ein minimales Verståndnis fçr das Ge- Strafrecht gekommen ist, hat das in aller schehen und dessen Hintergrçnde zu wecken. Regel zu einer Verschårfung von Sanktionen In konstanter Regelmåûigkeit wird von man- gefçhrt. Vor allem im Sexualstrafrecht kam es chen Medien einem breiten Publikum vermit- bis heute zu erheblichen Sanktionsverschår- telt, Straftåter, vor allem Sexualtåter, seien fungen. Die Liste entsprechender Gesetzes- ¹unverbesserliche Bestienª, die ¹fçr immer ånderungen setzt sich fort, etwa was die weggeschlossenª werden sollten; die deutsche nachtrågliche Verhångung der Sicherungsver- Justiz sei jedoch zu ¹lasch und nachgiebigª. wahrung oder die Strafbarkeit des ¹Stalkingsª betrifft. Auch die Jugendstrafvollzugsgesetze, Wenn von diesen Botschaften bei den Rezi- die nach hæchstrichterlicher Entscheidung bis pienten auch nur wenig ¹hången bleibtª, Ende 2007 von den einzelnen Bundeslåndern dçrfte eine sich çber Jahre hinziehende Be- geschaffen werden mçssen, zeigen gegençber einflussung nicht ohne Wirkung bleiben, vor dem 1997 in Kraft getretenen Strafvollzugs- allem bei Lesern, die solchen Informationen gesetz, das nur fçr erwachsene Straftåter gilt, offen gegençberstehen. Die Dåmonisierung eine deutliche Trendwende: Wird im Straf- von Straftåtern, insbesondere bestimmter vollzugsgesetz von 1977 in Paragraph 2 die Straftåtergruppen, wird von breiten Leser- Befåhigung des Gefangenen, ¹kçnftig in so- schichten willig, nahezu begierig, aufgenom- zialer Verantwortung ein Leben ohne Strafta- men, bietet sie doch die Mæglichkeit, schwer ten zu fçhrenª, noch als erstes ¹Vollzugszielª verståndliche Taten, z. B. Sexualmorde an bezeichnet, hinter dem der ¹Schutz der Allge- Kindern, leichter ¹erklårbarª zu machen. Es meinheit vor weiteren Straftatenª an zweiter ist dann eben nicht der ¹nette Nachbar von Stelle genannt wird, hat sich das bei den Ge- nebenanª, der groûe Øhnlichkeit zu einem setzentwçrfen fçr den Jugendstrafvollzug vor

15 Vgl. z. B. Sabine Rçckert, Ab in den Knast. Die Zahl 14 Vgl. Dietrich Oberwittler/Sven Hæfer, Crime and der Verbrechen sinkt, doch das Strafrecht wird syste- Justice in Germany. An analysis of recent trends in re- matisch verschårft. Und immer mehr Menschen wer- search, in: European Journal of Criminology, 2 (2005), den zu immer långeren Gefångnisstrafen verurteilt, in: S. 465±508. Die Zeit, Nr. 22 vom 24. 5. 2006, S. 15±18.

APuZ 40±41/2007 33 dem Hintergrund der gegenwårtigen Stim- Dies deutet darauf hin, dass die Gerichte mung nun weitgehend umgedreht. einer zunehmenden Tendenz folgen, hårtere Strafen zu verhången. Im Vergleich zur Sank- Im 2. Periodischen Sicherheitsbericht des tionierung etwa von Sexualstraftåtern fållt Bundes 16 wird betont, dass in den vergange- diese Zunahme eher moderat aus. Insgesamt nen Jahren sowohl im Jugendstrafrecht als der stårkste Anstieg kann in der Kategorie ein auch im allgemeinen Strafrecht die Zahl der bis zwei Jahre, und zwar mit dem Faktor 1,6, zu einer mittel- bzw. langfristigen Freiheits- beobachtet werden. Innerhalb der hårtesten strafe Verurteilten ± bezogen auf die Zahl Strafkategorie von fçnf Jahren bis lebenslang aller Verurteilten ± zugenommen habe, so- ist der Anstiegsfaktor mit 1,2 deutlich mode- wohl absolut als auch relativ. Weiterhin wird rater. Dabei darf nicht çbersehen werden, darauf hingewiesen, dass in den vergangenen dass der Anteil langer Haftstrafen insgesamt zwei Jahrzehnten von freiheitsentziehenden eher gering ist. Im Jahr 2004 waren nur 1,5 % Maûregeln der Besserung und Sicherung aller verhångten Freiheitsstrafen långer als ¹deutlich mehr Gebrauch gemachtª werde. fçnf Jahre, wohingegen 45,5 % weniger als sechs Monate betrugen. Diese Aussagen werden in einer eigenen Untersuchung beståtigt. 17 Hierzu analysier- Es darf nicht unberçcksichtigt bleiben, ten wir die Sanktionspraxis der Strafgerichte dass neben dieser scheinbar gestiegenen jus- in Deutschland. Da die allgemeine Entwick- tiziellen Punitivitåt auch eine Entwicklung in lung der Strafzumessung im Vordergrund die entgegengesetzte Richtung zu beobachten steht, wurden Urteile zu Freiheitsstrafen çber ist. Wåhrend 1980 65,7 % aller Freiheitsstra- alle Straftaten hinweg summiert (andere fen zur Bewåhrung ausgesetzt wurden, stieg Sanktionen, z. B. Geldstrafen, wurden nicht dieser Wert bis zum Jahr 2004 auf 69,5 %. berçcksichtigt). Es wurden insgesamt sieben Die Zahlen deuten darauf hin, dass es inner- Kategorien gebildet, beginnend mit milden halb der deutschen Justiz einen Trend gibt, Urteilen von bis zu sechs Monaten Freiheits- Freiheitsstrafen, insbesondere kurze Frei- strafe, gefolgt von sechs bis neun Monaten, heitsstrafen von weniger als zwei Jahren, neun bis zwælf Monaten und einem bis zwei ganz zu vermeiden. Diese Tendenz gilt auch Jahren. Diesen Urteilen ist gemeinsam, dass fçr Straftaten, die in der Úffentlichkeit inten- die verhångten Freiheitsstrafen zur Bewåh- siv diskutiert werden, so z. B. Vergewaltigung rung ausgesetzt werden kænnen. Der obere und sexueller Missbrauch von Kindern. Bereich freiheitsentziehender Sanktionen wird durch Strafen markiert, die nicht zur Be- Einen weiteren Indikator justizieller Puni- wåhrung ausgesetzt werden kænnen, begin- tivitåt stellt der Anteil der Sicherungsver- nend mit der Kategorie zwei bis drei Jahre, wahrten dar. Diese Maûnahme kann Straftå- gefolgt von den Kategorien drei bis fçnf Jahre ter treffen, die zuvor bereits mindestens ein und fçnf Jahre bis lebenslang, dabei ist letzt- Mal wegen einer einschlågigen oder schweren genannte Sanktion die hårtest mægliche in Straftat auffållig geworden sind und von Deutschland. denen angenommen wird, dass sie weiterhin gefåhrlich sind. Sicherungsverwahrung ist in Es zeigt sich, dass der Anteil der drei kçr- diesem Sinne keine Strafe, sondern eine Maû- zesten Kategorien von Freiheitsstrafen (bis nahme der Sicherung, um einen potenziell ge- sechs Monate, sechs bis neun Monate und fåhrlichen Straftåter von der Úffentlichkeit neun bis zwælf Monate) zwischen 1980 und fern zu halten und so einen mæglichen Rçck- 2004 zurçckgegangen ist, wåhrend der relati- fall zu verhindern. Der Anteil der Sicherungs- ve Anteil aller långeren Freiheitsstrafen zu- verwahrten an allen Inhaftierten ging zwi- nahm. Dies gilt nicht nur fçr solche Freiheits- schen 1970 und 1984 stark zurçck. Es kam strafen, die nicht zur Bewåhrung ausgesetzt dann zu einem kurzen Anstieg gegen Ende werden kænnen, sondern auch und insbeson- der 1980er Jahre und zu einem erneuten dere fçr die Kategorie ein bis zwei Jahre. Rçckgang bis etwa 1999. Ende der 1990er Jahre ånderte sich die Situation erneut: Aus- gelæst durch eine Reihe schwerer Sexualmor- 16 Vgl. Bundesministerium des Innern/Bundes- ministerium der Justiz, Zweiter Periodischer Sicher- de an Kindern entstand, nicht zuletzt ange- heitsbericht, Berlin 2006, S. 549. heizt durch eine entsprechende Medienbe- 17 Vgl. H. Kury/H. Kania/J. Obergfell-Fuchs (Anm. 4). richterstattung, ein erhebliches æffentliches

34 APuZ 40±41/2007 Interesse an der Thematik des Umgangs mit santerweise den tatsåchlich gefållten Urteilen Sexualstraftåtern und des Schutzes der Ge- mehr und mehr an. 20 sellschaft vor ihnen. Nur kurze Zeit spåter verabschiedete der Deutsche Bundestag ein In einer Methodenstudie zur Erfassung Gesetz, das unter anderem die Anwendung von Sanktionseinstellungen wurde geprçft, der Sicherungsverwahrung erleichterte. Seit inwieweit die gefundenen Resultate vom me- dieser Zeit stieg die Zahl der Sicherungsver- thodischen Vorgehen abhången bzw. wie wahrten in Deutschland kontinuierlich an. genau eine Messung der Punitivitåt in der Be- Mittlerweile gehen die meisten sicherungsver- vælkerung mit den çblichen quantitativen Er- wahrten Sexualstraftåter auf die neue Gesetz- hebungsinstrumenten (Fragebogen) mæglich gebung zurçck. 18 ist. 21 Die Ergebnisse zeigen eine deutliche Abhångigkeit der Resultate vom methodi- Eine erhæhte Punitivitåt der Sanktionsor- schen Vorgehen. Im Gegensatz zur pauscha- gane kann sich auch in der Sanktionspraxis, len schriftlichen Abfrage zeigte sich in etwa am Anteil vorzeitig aus der Haft Entlas- den differenzierteren mçndlichen Interviews sener, ausdrçcken. Ingesamt zeigen die deutlich weniger Punitivitåt. Standardisierte Daten, dass sowohl fçr nach allgemeinem wie Fragebægen fçhren offensichtlich vor allem in auch nach Jugendstrafrecht verurteilte Insas- dem Bereich, in dem die Bçrger wenig kon- sen die Praxis der vorzeitigen Entlassung aus krete Vorstellungen haben, zu çberhæhten dem Strafvollzug zurçckgegangen ist. Werten. Das trifft vielfach fçr das Phånomen ¹Kriminalitåtª zu. Zur Verbrechensfurcht Methodenprobleme bzw. Punitivitåt haben die Bçrger oft keine konkreten Einstellungen (non-attitudes). Probleme der Definition und klaren Abgren- Werden sie trotzdem mittels standardisierter zung von Punitivitåt wirken sich auch auf die Erhebungsinstrumente danach gefragt, schlie- empirische Forschung aus. Die Datenerhe- ûen sie sich leicht der vermuteten Mehrheit bung erfolgt in aller Regel mit selbst entwi- an, kreuzen somit etwa an, dass sie ¹Angstª ckelten, mehr oder weniger validierten Erhe- håtten, zum Opfer einer Straftat zu werden, bungsinstrumenten. Zahlreiche Studien konn- oder dass sie fçr harte Strafen eintråten. ten zeigen, dass die Ergebnisse von Umfragen, z. B. zur Verbrechensfurcht, erheblich vom Wirken Strafen? methodischen Vorgehen abhångig sind und dass die Annahme begrçndet ist, dass die er- In der steigenden Punitivitåt drçckt sich vor fassten Ausprågungen teilweise erheblich allem die Vorstellung aus, dass man mit (hår- çberschåtzt werden. 19 So konnte in mehreren teren) Strafen die Kriminalitåtsbelastung re- Untersuchungen nachgewiesen werden, dass duzieren kænne. Das verwundert nicht, rea- die in der Bevælkerung gemessenen Sanktions- gieren wir doch seit Menschengedenken auf einstellungen erheblich vom Informations- abweichendes Verhalten mit Strafen. Die stand der Befragten çber einen Strafrechtsfall USAsetzen ± insbesondere seit Beginn der abhången: Je mehr Informationen sie hatten, 1970er Jahre ± vor allem auf harte Sanktionen, umso milder wurden sie in ihren Sanktions- um die Kriminalitåt zurçckzudrången. Die vorschlågen und nåherten sich dabei interes- Zahl der Inhaftierten hat dort seit 1973 ge- radezu dramatisch zugenommen. 2004 stieg 18 Vgl. Joachim Obergfell-Fuchs, Sinn und Unsinn die Inhaftiertenquote (Zahl der Inhaftierten kriminalpråventiver Ansåtze bei Sexualstraftåtern, in: pro 100 000 der Wohnbevælkerung) auf 724 ders./M. Brandenstein (Anm. 2), S. 599±632. 19 Vgl. Frauke Kreuter, Kriminalitåtsfurcht. Messung (Russland: 581). Im Vergleich zu den USAlag und methodische Probleme, Opladen 2002; Helmut die Inhaftiertenquote in Deutschland 2003 Kury/Andrea Lichtblau/Andr Neumaier, Was messen wir, wenn wir Kriminalitåtsfurcht messen?, in: Krimi- 20 Vgl. Anthony Doob/Julian Roberts, Public puni- nalistik, 7 (2004), S. 457±465; Helmut Kury/Andrea tiveness and public knowledge of the facts: Some Ca- Lichtblau/Andr Neumaier/Joachim Obergfell-Fuchs, nadian surveys, in: Nigel Walker/Mike Hough (Eds.), Zur Validitåt der Erfassung von Kriminalitåtsfurcht, in: Public attitudes to sentencing: Surveys from five Soziale Probleme, 15 (2004), S. 141±165; Emily Gray/ countries, Aldershot 1988, S. 175±189. Jonathan Jackson/Stephen Farrall, Researching 21 Vgl. Helmut Kury/Julia Bergmann/Joachim Ober- Everyday Emotions: Towards a Muilti-disciplinary gfell-Fuchs/Ellen Schill, Zur Abhångigkeit der Mes- Investigation of the Fear of Crime, in: H. Kury sung von Sanktionseinstellungen vom methodischen (Anm. 10). Vorgehen, Freiburg (unveræff. Ms.) 2007.

APuZ 40±41/2007 35 bei 97. Inzwischen sind in den USAçber Um sich den anderen nordischen Låndern an- zwei Millionen Bçrger inhaftiert, relativ gese- zugleichen und vor allem auch, um die erheb- hen mehr als in jedem anderen Land. Westeu- lichen Kosten der Inhaftierung zu sparen, re- ropåische Lånder rangieren in der Inhaftier- duzierte Finnland in den folgenden 40 Jahren, tenquote zwischen Werten von 143 (Luxem- also bis etwa 1990, die Inhaftiertenquote auf burg) und 39 (Island). Das macht die enorme ein Drittel des Ausgangswertes, senkte sie Spannbreite der Verhångung und Praktizie- somit auf das Niveau der anderen Lånder. rung von Freiheitsstrafen deutlich und weist Håtten harte Strafen ± die Freiheitsstrafe ist gleichzeitig auf die Unterschiedlichkeit von die hårteste Sanktion in Finnland ± einen kri- Kriminalpolitik und Sanktionskultur in den minalpråventiven Effekt, wåre zu erwarten, einzelnen Låndern hin. dass mit dieser bedeutenden Reduzierung der schweren Sanktionen die (Schwer-)Kriminali- Vergleicht man die Inhaftiertenquoten mit tåt çberdimensional steigen wçrde. Das ist je- der Kriminalitåtsbelastung der US-Bundes- doch nicht der Fall. Die Kriminalitåtsbelas- staaten, zeigt sich erwartungsgemåû ein Zu- tung in Finnland stieg nur in den Jahren nach sammenhang in der Weise, dass Bundesstaa- dem Zweiten Weltkrieg an. Wie in den ande- ten mit einer hæheren Kriminalitåtsbelastung ren westeuropåischen Låndern zeigte sie den- tendenziell auch eine hæhere Inhaftiertenquo- selben Trend wie in den çbrigen (nord)euro- te haben. Allerdings ist der Zusammenhang påischen Låndern, bei denen eine vergleich- nicht einheitlich, es ergeben sich auch erheb- bare Verånderung der Inhaftierungspolitik liche Unterschiede. So hatte beispielsweise nicht stattfand, wobei der Anstieg allerdings der Bundesstaat Louisiana 2004 trotz hæchs- weniger deutlich ist als im Durchschnitt der ter Inhaftiertenquote von 816 eine Kriminali- çbrigen Lånder. Auch das weist darauf hin, tåtsbelastung von 5098 registrierten Strafta- dass sich harte Sanktionen kaum bzw. çber- ten, North Carolina inhaftierte im Vergleich haupt nicht auf die registrierte Kriminalitåts- dazu weniger als die Hålfte (357) und hatte entwicklung auswirken. Offensichtlich ist der trotzdem eine niedrigere Kriminalitåtsbelas- Zusammenhang zwischen (harter) Bestrafung tung von 4721. Utah hatte eine noch niedrige- und Kriminalitåtsbelastung, vor allem, was re Inhaftiertenquote von 246 bei niedrigerer schwerere Straftaten angeht, niedrig bzw. Kriminalitåtsbelastung (4452). Maine hatte çberhaupt nicht vorhanden. 22 Besonders eine Inhaftiertenquote von lediglich 148 bei schwere Kriminalitåt kann durch entspre- einer Kriminalitåtsbelastung von 2656. Die chende harte Strafen offensichtlich, wenn deutlich hæhere Inhaftiertenquote etwa in çberhaupt, nur geringfçgig reduziert werden. Texas (694) im Vergleich zu Washington State (264) bewirkte offensichtlich keineswegs, Dass (harte) Sanktionen in ihrer Wirksam- dass in Texas die Kriminalitåtsrate niedriger keit nicht çberschåtzt werden dçrfen, belegt ist als in Washington (5190 im Vergleich zu auch ein Blick in die Geschichte. Die Zahl 5107 Straftaten): Sie liegt in beiden Staaten der schweren, grausamen Straftaten war im etwa gleich hoch. Offensichtlich wird die Mittelalter deutlich hæher als heute. Bei der Kriminalitåtsbelastung also nicht wesentlich Berechnung der Homizidraten in fçnf euro- von der Sanktionsstruktur bestimmt, sondern påischen Regionen fçr die Zeit von 1200 bis von anderen gesellschaftlichen Faktoren, 2000 findet man einheitlich einen erheblichen worauf auch so gut wie alle Kriminalitåts- Rçckgang dieser Gewalttaten auf etwa fçnf theorien hinweisen. Prozent im Vergleich zum 13. und 14. Jahr- hundert. 23 Das bedeutet, dass im Mittelalter Ein weiteres Beispiel dafçr, dass eine Stei- etwa 20-mal so viele oder noch mehr Men- gerung der Inhaftiertenquote, d. h. die Ver-

hångung hårterer Strafen, wenig bzw. keinen 22 Vgl. Dieter Dælling/Horst Entorf/Dieter Her- Einfluss auf die Kriminalitåtsbelastung eines mann/Armando Håring/Thomas Rupp/Andreas Woll, Landes hat, insbesondere was schwere Straf- Zur generalpråventiven Abschreckungswirkung des taten betrifft, ist Finnland. Nach dem Zwei- Strafrechts ± Befunde einer Metaanalyse, in: Helmut ten Weltkrieg hatte Finnland im Vergleich zu Kury (Hrsg.), Hårtere Strafen ± weniger Kriminalitåt? den anderen nordeuropåischen Låndern Nor- Zur Verschårfung der Sanktionseinstellungen, in: So- ziale Probleme, 17 (2006), im Druck. wegen, Schweden und Dånemark eine etwa 23 Vgl. Manuel Eisner, Individuelle Gewalt und Mo- dreimal so hohe Inhaftiertenquote, trotzdem dernisierung in Europa. 1200±2000, in: Gçnter Al- eine etwa gleich hohe Kriminalitåtsbelastung. brecht/Otto Backes/Wolfgang Kçhnel (Hrsg.), Ge-

36 APuZ 40±41/2007 schen durch Straftaten getætet wurden als werden muss und die Frçchte in aller Regel heute. Gleichzeitig waren aber, wie bekannt, erst Jahre spåter (vom Nachfolger im Amt) die Kriminalstrafen unvorstellbar streng und geerntet werden kænnen. 25 grausam: Es wurde gekæpft, gerådert, ver- brannt, gepfåhlt, ertrånkt, gekreuzigt, ge- Internationale Forschungen belegen deut- hångt, zu Tode geschleift, verstçmmelt; die lich, dass (harte) Strafen nicht das wirksamste Tåter wurden æffentlich gebrandmarkt und Mittel darstellen, um Kriminalitåt zu verhin- als solche ausgestellt, selbst noch nach ihrem dern. Das kann nicht etwa bedeuten, dass auf Tode, sowie teilweise zusåtzlich noch zu ewi- Kriminalitåt gar nicht reagiert werden sollte. ger Hællenpein verdammt. 24 Offensichtlich Die Frage ist aber, wie diese Sanktionen aus- haben selbst diese Sanktionen, die kaum noch gestaltet werden sollten. Primårpråventive zu çbertrumpfen sind, nicht zu einer wesent- Maûnahmen ± etwa in problembehafteten Fa- lichen Reduzierung der schweren Gewalt- milien, in Schulen und Jugendgruppen ± zei- kriminalitåt beigetragen. Es waren vielmehr gen mehr Wirkung, um dem Abgleiten in die Verånderungen der gesellschaftlichen Ver- straffålliges Verhalten mæglichst frçh vorzu- håltnisse und der Lebensbedingungen der beugen, das betonen auch die wichtigen Kri- Bçrger, die im Laufe der Jahrhunderte zu minalitåtstheorien. Vor allem sind solche prå- einer deutlichen Reduzierung der (Schwer-) ventiven Maûnahmen letztendlich auch er- Kriminalitåt beigetragen haben. heblich billiger.

Fçr Straftåter, auch fçr terroristische, sollte Schluss ein differenziertes Sanktions- und Hilfesys- tem aufgebaut werden. Freiheitsstrafen soll- In den vergangenen Jahren ist in der Krimi- ten, wenn keine konkrete Rçckfallgefahr be- nologie eine intensive Diskussion çber die steht, der Tåter somit fçr die Gesellschaft als mæglichen Hintergrçnde einer ¹neuen Puniti- nicht gefåhrlich angesehen werden kann, eher vitåtª, dem vermehrten Gebrauch harter und kurz sein und fçr die Wiedereingliederung langer Strafen, ausgebrochen. Die Diskussion des Straftåters in die Gesellschaft genutzt bezieht sich vor allem auf die Situation in den werden. Die Mitarbeitsbereitschaft des Tåters USA, zunehmend aber auch auf europåische fçr seine Wiedereingliederung in ein straffrei- Lånder wie Groûbritannien oder Deutsch- es Leben sollte gestårkt und unterstçtzt wer- land. Verwiesen wird etwa auf eine zuneh- den. Opfer sollten mæglichst umfånglich fçr mende Politisierung der Kriminalitåt bzw. die ihnen durch Straftaten entstandenen Schå- deren Vereinnahmung fçr politische Zwecke, den entschådigt werden. Ein mehr auf Krimi- etwa, um Wahlen zu gewinnen. In diesem Zu- nalpråvention durch Hilfe und Unterstçt- sammenhang spielt auch die Verbrechens- zung ausgerichtetes Reaktionssystem auf furcht bzw. das, was man darunter subsu- Straftaten ist auch kostengçnstiger als ein miert, eine zentrale Rolle. Kurzschlçssig wer- vornehmlich an Repression und langen Haft- den Sanktionen verschårft, wird damit einem strafen orientiertes Reaktionsmuster. Hierbei undifferenzierten ¹Wunschª der Bevælkerung ist zu beachten, dass ein (langer) Freiheitsent- nachgekommen, obwohl in der Kriminologie zug in aller Regel auch erhebliche zusåtzliche immer wieder gezeigt werden konnte, dass Schåden im Umfeld des Tåters (etwa der Fa- dadurch vor allem die die Bevælkerung beun- milie) hinterlåsst. Lange Freiheitsstrafen soll- ruhigende Schwerkriminalitåt kaum beein- ten letztlich dauerhaft gefåhrlichen Straftå- flusst werden kann. Differenziertere Maû- tern vorbehalten bleiben, die aus Sicherheits- nahmen, die an den Ursachen ansetzen, grçnden von der Gesellschaft ferngehalten warum einzelne Bçrger (schwer) straffållig werden mçssen. werden, wie z. B. im familiåren oder schuli- schen Bereich bzw. in der Jugendhilfe, sind in der Politik weniger populår, da sie weniger leicht umzusetzen sind, zunåchst investiert 25 Vgl. Lawrence W. Sherman/Denise Gottfredson/ waltkriminalitåt zwischen Mythos und Realitåt, Doris MacKenzie/John Eck/Peter Reuter/Shawn Frankfurt/M. 2001, S. 71±100. Bushway, Preventing Crime: What Works, What 24 Vgl. Wolfgang Schild, Alte Gerichtsbarkeit. Vom doesn't, What's Promising, Washington, D.C. 1998. Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Recht- sprechung, Mçnchen 1980.

APuZ 40±41/2007 37 Extremismus

Politischen Extremismus kennen wir in vielen Formen: Rechtes und linkes Gedan- kengut, religiöse und fun da- mentalistische Ideologien kön- nen in extreme, gewalttätige oder terroristische Handlungen abgleiten. Diese Überblicks- darstellung informiert über Begriffe und Hintergründe sowie, als Voraussetzung für € 2,–* das Verständnis der künftigen Entwicklung des politischen Extremismus, über dessen Historie und Gegenwart.

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Redaktion Dr. Katharina Belwe Dr. Hans-Georg Golz (verantwortlich fçr diese Ausgabe) Dr. Ludwig Watzal Sabine Klingelhæfer Redaktionelle Mitarbeit: Johannes Piepenbrink (Volontår) Telefon: (0 18 88) 5 15-0 oder (02 28) 9 95 15-0

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Christine Hagen ´ Bårbel-Maria Kurth Fçr Unterrichtszwecke dçrfen Gesundheit von Kindern alleinerziehender Mçtter Kopien in Klassensatzstårke herge- stellt werden. Ines Heindl Ernåhrung, Gesundheit und soziale Ungleichheit ISSN 0479-611 X 1977 und die RAF APuZ 40±41/2007

Christian Semler 3-5 Die radikale Linke und die RAF In den 1970er Jahren fehlte es trotz der Gegnerschaft der meisten radikalen Lin- ken zur RAF an einer Debatte çber Gewalt als politisches Mittel. Wenn ehemali- ge RAF-Mitglieder zu einer selbstkritischen Haltung aufgefordert werden, trifft dies auch auf ihre ehemaligen linksradikalen Antagonisten zu.

Bettina Ræhl 6-8 Die RAF und die Bundesrepublik Die Historisierung der RAF bleibt so lange ein Kampf gegen Windmçhlen, wie die Protagonisten der APO/68 dekretieren, was sich tatsåchlich ereignet habe. Die ideologische Sympathisantenschaft fçr die RAF und der Generalverdacht gegen die Bundesrepublik sind noch immer nicht entzaubert.

Anne Siemens 9-15 Die Opfer der RAF Ûber die Biographien der RAF-Tåter und ihre Ûberzeugungen ist vieles be- kannt. Die Frage nach den Opfern ist dagegen meist im Hintergrund geblieben. Wer waren die Menschen, die zu Opfern der Terroristen wurden? Wie dachten sie çber Politik und Gesellschaft, çber die Bundesrepublik?

Eckhard Jesse 15-23 Die Ursachen des RAF-Terrorismus und sein Scheitern Die Hintergrçnde fçr den terroristischen ¹Aufstand im Schlaraffenlandª sind so vielfåltig wie die Ursachen seines Scheiterns. Auch wenn die ¹Rote Armee Frak- tionª nicht mehr besteht, gibt es heute andere terroristische Ansåtze, die aller- dings ¹Gewalt gegen Personenª verwerfen.

Tobias Wunschik 23-29 Baader-Meinhof international? Die RAF, die ¹Bewegung 2. Juniª und die Revolutionåren Zellen verfçgten çber enge internationale Verbindungen. Palåstinensische Gruppen trainierten die deutschen Linksterroristen militårisch. Zudem wurde die RAF Anfang der 1980er Jahre massiv vom MfS der DDR unterstçtzt.

Helmut Kury 30-37 Mehr Sicherheit durch mehr Strafe? In der Kriminologie wird international immer wieder eine Zunahme der Puniti- vitåt festgestellt: Die Úffentlichkeit verlangt hårtere Strafen. Die Forschungser- gebnisse werden vor dem Hintergrund der Erkenntnis diskutiert, dass Strafen nicht das wirksamste Mittel sind, um Kriminalitåt vorzubeugen.