Das Eingangstor des Fujimi-Inari-Schreins in , dahinter das Haupt- Die große Buddha-Statue von Kamakura, nahe . Sie zeigt den Bud- gebäude. Derartige Tore (jap. ) sind typisch für alle -Schreine. dha Amida, der im („Reines-Land-Buddhismus“) verehrt wird. Sie (Quelle: Wikimedia Commons/Chris Gladis) stammt aus dem 13. Jahrhundert, wurde aus Bronze gefertigt, ist 13,35 m hoch, 9,1m breit und 121 t schwer.

Religiöse und philosophische Kampfkünste

von Wolfgang Dax-Romswinkel

Teil 1: und Buddhismus

Einleitung Religion, Philosophie, Lehre, Weg? Sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der populären Litera- Gleich zu Beginn unserer Betrachtungen muss gesagt werden, dass der Begriff Religion in unserem abendländischen Sinn die spirituelle philosophischen Lehren - insbesondere dem Zen-Buddhismus - in Welt der Japaner nicht präzise trifft. Auch der westliche Begriff der Verbindung gesetzt. Der behauptete Grad der Verbindung schwankt Philosophie passt nur sehr bedingt. Neutraler von „religiös-philoso- zwischen Extremen wie „... basiert auf den Lehren des ...“ und „... ist phischer Lehre“ zu sprechen ist wohl angemessener. Bezogen auf das Individuum, das den Lehren folgt, erscheint der Begriff „Weg“ am passendsten - ein Begriff, der sich auch in den Kampfkünsten immer Hierdurch haftet den japanischen Kampfkünsten - und somit auch dem - die Aura einer philosophisch-religiösen Aktivität an. Gerade dieser Aspekt fasziniert viele Menschen - ein Grund, den In gibt es vier Hauptlehren, die die Spiritualität der Menschen Verbindungen zwischen Religion/Philosophie und den traditionellen prägten und prägen: Kampfkünsten einmal nachzugehen. Ziel der Bemühungen ist dabei, die teilweise sehr komplizierten und für Europäer fremdartig anmu- tenden Zusammenhänge in den Verständnishorizont abendländischer - Buddhismus Köpfe zu rücken. Schwerpunkte sollen dabei konkrete Theorien des - Daoismus - Konfuzianismus bzw. Neokonfuzianismus bzw. sich aus diesen ableiten. Außer dem gelangten alle anderen Lehren über China nach Die folgenden Ausführungen können aufgrund der Komplexität der Japan. Während und Buddhismus allgemein als Religion an- Zusammenhänge allerdings nur einen knappen Überblick geben, sol- gesehen werden, gilt dies weniger für den Konfuzianismus und Neo- len jedoch anregen, sich näher mit den geistigen Wegen Asiens im konfuzianismus. Der Daoismus als eigenständige geistige Strömung Allgemeinen und Japans im Speziellen zu befassen. Außerdem be- ist in Japan kaum anzutreffen. Viele seiner Ideen sind jedoch in die schränken wir uns im Wesentlichen auf die Zeit vom 16./17. Jahrhun- anderen Lehren integriert worden, weswegen daoistische Grundge- dert bis zur Meiji-Restauration (1868), lassen also die Entwicklungen danken auch in Japan allgegenwärtig sind. vor der Systematisierung der und auch des 20. Jahrhun- derts (Staats-, „Neureligionen“ usw.) außen vor. Trotz dieser Mischformen und Synkretismus Beschränkungen lässt es sich nicht vermeiden, die Thematik auf zwei Während sich in der westlichen und nahöstlichen Welt die meisten Folgen zu verteilen. Menschen zu genau einer Religion bekennen - i.d.R. Christentum, Ju- dentum oder Islam - und innerhalb dieser Religion auch genau einer Richtung angehören (z.B. römisch-katholisch, evangelisch-lutherisch oder griechisch-orthodox für das Christentum oder sunnitisch, schi- itisch oder alevitisch für den Islam), gilt dies nicht in gleicher Weise

der budoka 5/2012 25 für Japaner. Für sie ist es durchaus üblich, dass sich einzelne Men- Nach diesen Vorbemerkungen sollen nun die wichtigsten Lehren in schen einen persönlichen religiös-philosophischen Mix - nämlich den ihren Kernpunkten und Bezügen zu den Kampfkünsten vorgestellt eigenen Weg - heutzutage meist aus und Buddhismus zusam- werden. menstellen. Daher übersteigt die Summe der Anhänger von und Buddhismus in Japan derzeit die Gesamtzahl der japanischen Bevölkerung um ca. 50 Millionen. , auch oder deutsch „Weg der Götter“, hat sich Dies galt natürlich auch für die großen chinesischen und japanischen vermutlich zwischen dem 3. Jahrhundert vor und dem 3. Jahrhundert Philosophen und Denker, von denen viele im Laufe der Jahrhunder- nach unserer Zeitrechnung gebildet und gilt - obwohl es auch Fest- te versuchten, verschiedene Lehren zu einem Gesamtgefüge zu ver- einen (Synkretismus). Zwischen den verschiedenen Lehren gibt es , daher Überschneidungen, Vermischungen und gegenseitige Beein- der frühesten Chronik Japans. Weiteren gibt es innerhalb jeder der oben aufgeführten Lehren zahl- kennt weder einen Religionsbegründer noch heilige Schriften reiche Richtungen, die in unterschiedlichem Maß Anleihen bei an- noch Dogmen, weswegen von manchen Religionswissen- deren Strömungen genommen haben. Jede Lehre ist auf diese Weise schaftlern auch gar nicht als Religion betrachtet wird. Im Mittelpunkt in verschiedene Zweige und diese wiederum in Unterzweige ausdif- steht die Verehrung der Kami. Das sind entweder Natur- oder Ahnen- ferenziert - bis hin zu einer Vielzahl von kleinen und großen Sekten. gottheiten, von denen es mehrere Millionen gibt. Kami und Menschen entspringen gemeinsam dem „Geist der universellen Zeugung“, dem Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es vollkommen unmöglich, die . zahlreichen, im Laufe von rund 1.500 Jahren Geistesgeschichte ent- standenen Verbindungen auch nur ansatzweise aufzuzeigen und zu Die Kami nehmen ihren Sitz in besondern Plätzen der Natur (Ber- berücksichtigen. Ganz grob lässt sich jedoch folgende Hauptperspek- ge, Flüsse, Wasserfälle) oder in konkreten Objekten wie Schwerter, tive der einzelnen Lehren ausmachen: Spiegel oder ähnlichem, die so zu ihrem Leib werden und die als Kultobjekte - japanisch: Shintai - dienen. beschreibt eine von Gottheiten durchdrungene Welt und be- steht mehr aus Riten als aus theologischen Lehren. Solche Shintai werden in -Schreinen verhüllt und nicht für die - Buddhismus beschreibt den Weg der spirituellen Erleuchtung des Öffentlichkeit sichtbar aufbewahrt. Den Eingang eines Schreins bil- Menschen und seine Befreiung von Leid und Unzulänglichkeit. det ein charakteristisches Tor. Dahinter folgt eine Waschungsstätte, - (Neo-)Konfuzianismus beschreibt die Rolle des einzelnen in der denn die rituelle Reinigung unmittelbar nach Betreten des Schreins Gesellschaft und sein Verhältnis zu anderen. ist obligatorisch. - Daoismus nimmt die Welt und den „Gang der Dinge“, die Wandlun- Organisierter entwickelte sich erst ab dem 13. Jahrhundert gen und Gesetzmäßigkeiten des Laufs der Natur in den Blick. Diese Darstellung markiert lediglich Schwerpunkte, denn bei genaue- zu einer Art Zentrale für verschiedene Richtungen, wie z.B. dem rer Betrachtung werden von jeder Lehre auch die jeweils anderen Be- „Bergkönig-“ (), dem und anderen. reiche mit einbezogen. Sie zeigt aber auch, dass die Lehren im Kern Die Leitung der Schreine liegt bei Priestern, die mit ihren Familien innerhalb des Schreingeländes leben. Konkurrenz zueinander stehen müssen, sondern sich im Gegenteil Schreine kennen regelmäßige Feste, z.B. im Frühling oder im Herbst. für Synkretismus, also Mischformen bzw. die Integration des Gedan- Prozessionsfeste, bei denen der Shintai durch die Straßen getragen kenguts anderer Lehren, geradezu anboten. So waren insbesondere wird, gehören ebenfalls zu den regelmäßigen Aktivitäten. Im Rahmen und Buddhismus bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sehr eng dieser Feste gibt es Vorführungen, Tänze, Gebete und es werden Spei- miteinander verwoben, bevor aus politischen Gründen eine (vorüber- seopfer gebracht. Durch Eingrenzung, z.B. mit einem Seil können gehende) Trennung betrieben wurde. Plätze zu vorübergehenden Wohnstätten der Kami gemacht und diese so eingeladen werden.

-Prozession in Ausgelassene Stim- mung bei den Trä- gern des Shintai

26 der budoka 5/2012 In diesen Schreinfesten liegt auch der Ursprung des , das bis Das Streuen des heute fest mit dem verbunden ist. Der aus einem Seil geform- Salzes in den te Ring, in dem die Kämpfe ausgetragen werden, repräsentiert einen Ring dient der geheiligten Raum, ein über dem Ring angebrachtes Dach erinnert an Reinigung das eines -Schreins, der Ringrichter ist ein -Priester, das Werfen von Salz vor einem Kampf ist ein -Reinigungsritual (reinigende Wirkung des Salzes) und zu guter Letzt ist der gesamte Wettkampf von zahlreichen -Riten begleitet. In vielen Privathäusern und in traditionellen kleiner -Altar (), der in der Regel der Verehrung der Vorfahren dient und der die Götter milde stimmen soll. Interessant ist dabei, dass diese nach der Meiji-Restauration im Zuge eines aufkommenden Nationalismus, zu dem auch die Förderung des gehörte, per Erlass in den eingerichtet werden mussten. ein Kamiza meist gegenüber des Eingangs. Es ist der Ehrenplatz, von dem aus Zuschauer das Training verfolgen dürfen. Ob es sich dabei um einen „Göttersitz“ („Sitz der Oberen“) oder nur den „oberen Sitz“ handelt, ist zumindest umstritten und hängt wohl auch von der individuellen Betrachtung des - Eigentümers ab. Eine besondere -Tradition wird auch heute noch in vielen - so auch im Neujahrsfeier abgehaltene was wörtlich „Öffnen des Spiegels“ heißt. Der Spiegel ist dabei ein Symbol für die eigene See- le, die erhellt werden soll.

Die Kami und ihre göttliche Unterstützung in Kampf und Krieg Der Begriff allem durch die Flieger von bemannten Bomben im Zweiten Welt- krieg. Weit weniger bekannt ist jedoch, dass es sich dabei ursprünglich um die Bezeichnung von zwei Taifunen handelt, die die mongolische Flotte bei ihren Invasionsversuchen in den Jahren 1274 und 1281 je- weils so schwer schädigte, dass KUBLAI KHAN seine Eroberungspläne gegenüber Japan aufgeben musste. Schon an der Bezeichnung Ka

, der feierliche Ein- marsch der Rikishi: -Ring mit Dach und den Die erhobenen Hände der Rikishi zeigen an, Turnierteilnehmern (links); dass fair und ohne Waffen gekämpft wird. Höhepunkt eines - Turniers ist das der . Links der ranghöchste Schiedsrichter in -Tracht, daneben ein Schwertträger (), der und daneben der „Taufeger“ (Tsuyu-harai). Das vom bekannte mächtige Stampfen mit den Beinen, das ebenfalls Teil des der ist, soll die bösen Geister aus dem Ring vertrei- ben (unten). Alle -Bilder: Privatarchiv Dieter Born

der budoka 5/2012 27 Beispiel eines Zen-Gartens. Form und Anordnung der Steine und Wellen sind nur scheinbar zufällig.

kann man erkennen, dass den Kami eine große Bedeutung und der Versenkung/Meditation (8). Im Sinne des achtfachen Pfades für den Ausgang von Kämpfen zugemessen wurde. Vor Schlachten ist der Buddhismus also eine „Weg“-Lehre, auf japanisch sicherten sich daher oftmals die streitenden Parteien durch - („Weg des Buddha“). Riten das Wohlwollen der Götter, insbesondere des Schutzpatrons der Krieger und des Kriegsgottes . In diesem Zusammenhang Eine Besonderheit im Buddhismus ist der Glaube an den Kreislauf ist auch die Betrachtung von Waffen als Shintai zu sehen, woraus sich von Tod und Wiedergeburt (), der jedes Mal zu einer neuen die besondere Beziehung der Krieger insbesondere zu ihren Schwer- von geprägten Existenz führt. Der achtfache Pfad kann sich tern erklärt. über mehrere Zyklen der Wiedergeburt erstrecken, wobei sich die Wirkung des eigenen Handelns (Karma) auf die nachfolgende Exis- Die Gründungsmythen einiger haben ebenfalls starken tenz erstreckt. Am Ende des achtfachen Pfades steht die Befreiung -Bezug, so z.B. , einem der aus diesem Zyklus - und damit von - und der Eingang ins ältesten und bekanntesten Schwertstile Japans. Der des Katori- Nirvana, einem Zustand des ewigen Glücks und umfassenden Wis- Schreins ist demnach dem Gründer des Stils, , Mitte des 15. sens. Dann ist der Mensch zum geworden, was so viel wie Jahrhunderts im Traum erschienen und habe ihm die Geheimnisse „Erleuchteter“ bedeutet. des Kampfs übermittelt. Einen ähnlichen Gründungsmythos hat die -. Buddhistische Schulen in Japan Kämpferische Konzepte - Strategien, Übungsformen usw. - lassen In Japan sind wie oben schon erwähnt zahlreiche buddhistische Rich- sich aus dem jedoch nicht ableiten. Dafür mangelt es an der tungen vertreten, die sich in unterschiedlichen Epochen etabliert ha- - ben. Die drei wichtigsten sind: giosität der jeweiligen Stil-/Schulbegründer im -Alltag viele auf zurückgehende Spuren. - „Esoterischer Buddhismus“ (jap. ), der sich ab Anfang des 9. Jahrhunderts gebildet hat. Hauptzweige sind der - und der Buddhismus -Buddhismus. - „Reines-Land-Buddhismus“ (jap.: ), etabliert etwa Ende des Der ursprünglich aus Indien stammende Buddhismus gelangte im 6. 12. Jahrhunderts. Er fand vor allem in der einfacheren Bevölkerung Jahrhundert n. Chr. über China und Korea erstmals nach Japan. Auch großen Zuspruch. in Japan gibt es wie in den meisten anderen Ländern als Folge der -Buddhismus, der ebenfalls ab Ende des 12. in Japan Fuß fasste fast 1.500-jährigen Entwicklungsgeschichte mehrere Richtungen, die und weiter unten ausführlicher beschrieben wird. sich wiederum in jeweils zahlreiche Schulen untergliedern, so dass sich der japanische Buddhismus ausgesprochen vielfältig präsentiert. Die buddhistischen Klöster stellten bis zu Beginn der - Dennoch gibt es ein gemeinsames Fundament aller buddhistischen Zeit, also Anfang des 17. Jahrhunderts, einen erheblichen weltlichen Lehren, das vor allem durch die „Vier edlen Wahrheiten“ und den Machtfaktor dar. Deutlich wird dies an den , jenen japanischen „Achtfachen Pfad“ gebildet wird. Kriegermönchen verschiedener (meist )-Sekten, die vom 10. bis zum 16. Jahrhundert ganze Armeen mit zum Teil sogar stehendem Die vier edlen Wahrheiten beschreiben zunächst als erste Wahrheit Heer unterhielten. Die Klöster wurden somit wichtige Verbündete und das Leben als von gekennzeichnet, was sowohl Leiden gefürchtete Gegner streitender Fürsten und buhlten natürlich auch um (Krankheit, Schmerz, Trauer usw.) als auch allgemein „unerfüllt sein“ die Gunst der weltlichen Führer. Aus diesem Grund gab es vor der bedeutet. Die zweite Wahrheit lehrt, dass Begierden wie Verlangen, -Zeit auch zahlreiche bewaffnete Auseinandersetzungen Gier, Streben nach Ruhm usw. Ursache für sind. zwischen eifersüchtig konkurrierenden buddhistischen Sekten. selbst kann - und das ist die dritte Wahrheit - nur durch Beseitigung der Ursachen beendet werden. Die vierte Wahrheit besteht nun darin, Beim gehobenen Schwertadel der -Zeit fand der Zen-Bud- dass es einen Weg gibt, zu überwinden - nämlich den „Acht- dhismus den größten Zuspruch, weswegen seine Besonderheiten im fachen Pfad“. Folgenden vertieft werden sollen. Das bedeutet jedoch nicht, dass in den anderen Lehrrichtungen des Buddhismus keine Begriffe und Im achtfachen Pfad geht es um Erkenntnis (1) und Gesinnung (2), Konzepte auftauchen würden, die einen Bezug zu wenigstens einzel- also darum, dass man die vier edlen Wahrheiten erkannt und den Ent- nen Kampfkünsten haben. Dies gilt insbesondere für Systeme, die schluss gefasst hat, den achtfachen Pfad zu gehen. Es folgen Ver- ihren Ursprung auf die Zeit vor der Etablierung des Zen-Buddhismus haltensregeln im Bereich des Redens (3), des Handelns (4) und des in Japan datieren und die von daher naturgemäß durch andere geistige allgemeinen Lebenswandels (5), z.B. im Erwerb des Lebensunter- Quellen inspiriert wurden. halts. Anschließend folgt der Übungsweg der Geistesschulung (6, 7)

28 der budoka 5/2012 Satori im Zen-Buddhismus Auch vom Zen, der traditionell ein Kloster-Buddhismus ist, gibt es mehrere Schulrichtungen, die ab Ende des 12. Jahrhunderts in Japan Fuß gefasst haben. Entstanden ist Zen unter der Bezeichnung Ch´an in China als Kompilat aus Daoismus und Buddhismus, als letzterer etwa im 6. Jahrhundert von Indien nach China kam. Wesentlich beim Zen ist das Streben nach einer Satori genannten Er- leuchtungserfahrung, die man ihrem Wesen nach nicht beschreiben, sondern nur erleben kann. Ein Versuch, dennoch eine Erklärung zu geben, kann also von vorneherein nur begrenzt erfolgreich sein. Üblicherweise ist unser Geist in Form von Aufmerksamkeit auf ir- gendetwas gerichtet - auf etwas, was wir gerade sehen, was wir hören, auf einen Gedanken, eine Emotion, eine Wahrnehmung oder derglei- chen mehr. Indem unser Geist jedoch gerichtet ist, ist er gleichzeitig begrenzt. Indem wir z.B. etwas Bestimmtes bewusst sehen, sehen wir etwas anderes nicht. Ursächlich dafür ist, dass wir Dinge - nicht nur Gegenstände, sondern auch Ideen und Emotionen - nur beschreiben können, indem wir sie von anderen abgrenzen, denn nur durch eine solche Kontrastierung erlangen sie eine beschreibbare Kontur. Unser Intellekt arbeitet also stets unterscheidend. Satori ist nun ein Zustand, bei dem diese Grenzen der Unterscheidung aufgehoben sind. Die grundlegendste Erfahrung ist dabei das intuiti- ve und ganzheitliche Erkennen des eigenen Wesens - nicht nur ein- zelner momentan dominierender Emotionen oder Wahrnehmungen. Der Geist bzw. die Aufmerksamkeit ist in diesem Zustand nicht mehr auf Konkretes und damit nicht mehr auf Beschreibbares gerichtet und damit auch nicht mehr begrenzt und unterscheidend - ein Zustand, der sich aufgrund fehlender Abgrenzbarkeit von anderen Zuständen jeder Beschreibung entzieht. Aufgrund des Wesens des unterscheidenden Intellekts ist es daher unmöglich, dass der Zen-Weg durch theoretisches Studium oder lo- gisches (Nach-)Denken beschritten werden kann. Zen ist deshalb ein Buddhistischer Mönch des im (Quelle: Wikimedia Commons) praktischer Weg, für den die einzelnen Schulen unterschiedliche Me- thoden als Hilfsmittel entwickelt haben, denen eines gemeinsam ist: die Unterweisung erfolgt nicht mittels Worte und Diskurse, sondern durch einen Lehrer, der den Schüler anregt, ihm den Weg aufzeigt und ihn begleitet. Die Meditation im Kniesitz () ist die bekannteste Übungsme- thode, jedoch kann Satori auch in/durch Bewegung, z.B. dem me- ditierendem Gehen erfahren werden. Grundsätzlich ist dies sogar bei jeder körperlichen Aktivität, insbesondere aber bei ritualisierten und festgelegten Aktivitäten möglich. An diesem Punkt kommen die Kampfkünste ins Spiel: Intensives Üben von Kata in den Kampf- künsten kann zu Satori führen. Weitere formalisierte Aktivitäten, die zu Satori führen können, sind zum Beispiel Kalligraphie (), Malerei () oder die Teezeremonie (). Als weitere Hilfsmittel gibt es die . Dies sind kurze Fragen, Aus- sagen, Dialoge oder Sprüche, die dem Schüler zu lösen aufgegeben werden. Ein ergibt erst einmal überhaupt keinen oder nur wenig Sinn (wie z.B. die Frage „Welchen Schall erzeugt eine einzelne klat- schende Hand?“). Die Unmöglichkeit, ein logisch zu lösen, soll den Verstand an seine Grenzen führen und damit Voraussetzungen für einen Sprung zu Satori schaffen. Im Gegensatz zum Nirvana kann Satori im Hier und Jetzt erfahren werden. Satori kann dabei ein zeitlich sehr begrenztes kurzfristiges Erlebnis sein oder eine lang andauernde Erfahrung. (Anmerkung: Es gibt auch buddhistische Richtungen wie z.B. dem -Buddhis- mus, die die Möglichkeit einer Erleuchtung im Diesseits lehren).

Exkurs: Zen-Gärten Sichtbares Zeichen für Zen sind die charakteristischen Gärten, die Zen-Gärten sind Der „Goldene Pavillon“ (jap.: Kinkaku-Ji) ist eines der beliebtesten Fo- in der Regel recht karge Steingärten, in denen Steine im Raum plat- tomotive Japans. Es handelt sich dabei um einen buddhistischen Tempel ziert und darum herum Linien gezogen sind, die den Weg des Wassers des , den ASHIKAGA YOSHIMITSU 1397 nach seinem Rücktritt als durch die Natur symbolisieren. Die Linien sind dabei so angelegt, errichten ließ und der nach seinem Tod 1408 in den Besitz der Rin- dass weder Anfang noch Ende erkennbar sind und sich die Gedanken -Sekte überging. Das durch Brandstiftung 1950 völlig zerstörte Bauwerk des Betrachters im wahrsten Sinne des Wortes darin verlieren. wurde 1955 wieder aufgebaut und ist seit 1994 UNESCO Weltkulturerbe.

der budoka 5/2012 29 Zen und die Kampfkünste () und seine Aufmerksamkeit nicht auf eine Stelle zu heften ()“ steht in dieser deutschen Übersetzung der Begriff „unbe- Für den Zen-Meister ist es nach viel Übung möglich, seine den Geist wegt“. Üblicherweise wird dies auf japanisch mit oder der beschränkenden Emotionen und Gedanken regelrecht von sich abfal- „unbewegte Geist“ bezeichnet. Dieser Bewusstseinszustand ist Vo- len zu lassen. Dies machte Zen für den Kriegerstand äußerst interes- raussetzung für intuitives Handeln ( oder chinesisch ). sant, da man einen Geisteszustand erreichen kann, der intuitives und spontanes Handeln ermöglicht. Zen liefert also in diesem Sinn eine Die Methode der Bewusstseinsschulung. Im heutigen Sprachgebrauch Schwertschule des und damit zu einer der wichtigsten würde man wohl den Begriff „mentales Training“ verwenden. Schulen der überhaupt.

Doch dies beschreibt nur die Nutzbarmachung des Zen als Übungs- Isshin - etwas von ganzem Herzen tun methode für die Kampfkünste. Es gibt aber genauso den umgekehrten Weg, nämlich die Kampfkunst als Übungsmethode für Zen. Aus die- bezeichnet in erster Linie einen Bewusstseinszustand im Vor- ser Perspektive wird die Kampfkunst wie auch die oben angeführten feld einer Handlung, um frei und spontan agieren bzw. reagieren zu anderen Künste Kalligraphie (), Malerei () oder die Tee- können. Diese Aktionen/Reaktionen dürfen selbstverständlich nicht zeremonie () zu einem Zen-Weg. halbherzig erfolgen. Im Buddhismus gibt es hierfür den Ausdruck , was übersetzt „das eine Herz“ bedeutet. Es meint ein Agieren Die Verbindung zwischen Zen und den Kampfkünsten ist also eine mit maximalem Einsatz und in vollkommenem Zusammenspiel von wechselseitige - wenn die Kampfkunst entsprechend betrieben wird. Körper und Geist. kennt keine Zweifel - nur höchste Entschlos- senheit. - die Leere, die nicht leer ist Die Überschrift nennt drei wichtige Begriffe, die alle einen gemeinsa- Zanshin - aufmerksame Kontrolle auch nach der Aktion men Wortbestandteil haben: das , was „leer“ oder „ohne“ bedeutet. Während den Bewusstseinszustand während einer Aktion be- Grob übersetzt kann man folgendermaßen übersetzen: schreibt, bezieht sich auf die Phase nach einer Aktion. Es ist : ohne/kein Selbst ein Zustand von umfassender Aufmerksamkeit, der nach einer Aktion : ohne/kein Geist mit sofort wiederhergestellt werden muss, damit man im Falle : ohne/keine Absicht eines Falles einem neuerlichen Angriff begegnen kann. in diesem Sinn ist die mentale Komponente einer Kontrolle nach der Der letzte der drei Begriffe - - ist nicht genuin Zen, sondern eigenen Aktion und hat, was die Loslösung vom Konkreten betrifft, daoistisch und wird dort mit dem chinesischen bezeichnet. große Ähnlichkeit mit . Dies ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Zen ur- sprünglich in China aus einer Verbindung von Buddhismus und Dao- zeigt sich im Bogenschießen in der Beobachtung des Pfeils ismus entstanden ist. nach dem Abschuss, im Schwertkampf in der Beobachtung des Geg- ners nach einem Treffer und beim in der Kontrolle von nach Für den Ausgang eines Kampfes ist es von entscheidender Bedeu- dem Wurf oder einer . tung, dass man seine Emotionen so weit unter Kontrolle hat, dass sie (Fortsetzung folgt) man gar keine Emotionen, vor allem keine Angst zu verlieren. Denn Anmerkungen dies mag bei einem sportlichen Zweikampf nur zu einer Niederlage führen, auf dem Schlachtfeld oder bei einem Duell, insbesondere bei (1) Bei der Demonstration verschiedener Kampfkünste durch Ver- einem Schwertkampf, sind Emotionen wie Angst, aber auch Über- treter des im November 2011 in Düsseldorf wur- mut, jedoch unter Umständen tödlich. , das „Ohne-Selbst“, de auch , die Schwertschule s, beschreibt einen Zustand, in dem man sich von seinen Emotionen vom derzeitigen Oberhaupt demonstriert. vollkommen frei gemacht hat. Dies ist eine erste Voraussetzung für Im Programmheft wird der Stil folgendermaßen erläutert: erfolgreiches Kämpfen. Es ist eine Binsenweisheit, dass zu viel Denken beim Kämpfen mehr schadet als nützt. Während man sich fragt, was der Gegner wohl als nächstes tun wird und/oder man selbst dabei ist, eine Taktik oder eine Strategie zu entwickeln, ist man kaum in der Lage, auf überraschende Aktionen des Gegners zu reagieren bzw. diese intuitiv zu antizipie- ren. Das heißt aber nichts anderes, als der Niederlage Tür und Tor zu öffnen. , also „ohne-Geist“ zu sein, bedeutet einen Zustand, in dem der eigene Geist nicht an derartigen konkreten Gedanken haften bleibt. wird oft als Zustand vollkommener gedanklicher Stille beschrieben. Nach Ansicht des Verfassers kann man es aber eher mit einem permanenten Fluss des Geistes beschreiben, der ständig in Be- wegung ist, aber nirgendwo hängen bleibt und somit nicht als „kein Bewusstsein“, sondern als „kein festgelegtes Bewusstsein“ verstan- den werden sollte.

Einer der bedeutendsten Zen-Meister der -Periode, (1573-1645), schrieb in einem langen Brief an , den Schwertmeister des dritten Shoguns folgende Erläuterung: (aus 1994).

fasst hier wunderbar prägnant den idealen Bewusststeinszu- demonstriert vom derzeitigen Oberhaupt stand eines Kämpfers zusammen. Für „ohne Aufregung zu sein (links) am 10. November 2011 in Düsseldorf

30 der budoka 5/2012 IMPRESSUM „der budoka“ - Verbandsmagazin des Dachverbandes für Budotechniken Nordrhein-Westfalen e.V. 40. Jahrgang 2012 Die Formulierung ist natürlich neuzeitlich, jedoch wird im Text noch Herausgeber, Verlag, Redaktion, Anzeigen- und Abo- einmal sehr schön das Element spontaner Anpassung beschrieben. verwaltung: (2) Die Tatsache, dass einige Konzepte des Kämpfens aus Begriffen Dachverband für Budotechniken Nordrhein-Westfalen e.V. des Zen hergeleitet wurden, bedeutet nicht, dass alle Schüler und Postfach 10 15 06 Meister der Kampfkünste Anhänger und Praktizierende des Zen- 47015 Duisburg Buddhismus gewesen sind. Es bedeutet auch nicht, dass alle Schulen Friedrich-Alfred-Str. 25 diese Konzepte in ihre Lehren integriert haben. Es darf auch nicht un- 47055 Duisburg erwähnt bleiben, dass auch die anderen buddhistischen Schulen über Telefon: 02 03 / 73 81 - 6 26 eine Bewusstseinslehre und Methoden der Versenkung/Meditation Telefax: 02 03 / 73 81 - 6 24 (vgl. „Achtfacher Pfad“) verfügen. E-Mail: [email protected] www.budo-nrw.de Neue Forschungsergebnisse belegen z.B., dass westliche Veröffent- Redaktionsleitung: Erik Gruhn (verantwortlich) lichungen, wie z.B. s „Zen in der Kunst des Bo- genschießens“, die Verbindung zwischen Zen und den Kampfkünsten E-Mail: [email protected] Redaktionsschluss: der 1. des Vormonats Diese Befunde relativieren die Bedeutung des Zen für die Kampf- ISSN 0948-4124 künste lediglich - sie rütteln jedoch nicht daran, dass einige sehr bedeutende Schulen Zen-Gedanken in ganz erheblichem Maß in die Druck: eigene Lehre integriert haben. SET POINT Schiff & Kamp GmbH Moerser Str. 70 (3) Das längere Sitzen im Kniesitz () zu Beginn und am Ende 47475 Kamp-Lintfort eines Trainings im und in anderen Kampfkünsten ist eine geis- tige Einstimmung, bzw. ein geistiger Ausklang einer Übungseinheit, Anzeigenpreise: Preisliste Nr. 5 vom 1.5.2011 bei der ganz im Sinne des Zen Emotionen und Gedanken abgelegt Erscheinungsweise: monatlich, 10 x im Jahr und der Geist geöffnet werden soll. Mit Namen gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt (4) Die Abfolge - - beschreibt gewisserma- die Meinung der Redaktion wieder. Für unverlangt eingesandte ßen einen Zyklus von Bewusstseinszuständen, der auch beim Üben Manuskripte, Fotos und Datenträger wird keine Haftung übernom- von Kata im bedeutsam ist. Auf die innere Vorbereitung durch men. Ablegen von Emotionen und Gedanken () folgt die konzent- rierte Aktion () und danach die Entspannung bei gleichzeitiger Lieferbedingungen: Kon trolle der Situation (). Leider wird in der heute anzutref- Jahresabonnement 28,00 € fenden Praxis beim aufgrund der üblichen Eingebundenheit von Bei Bankeinzug ermäßigt sich der Preis für das Jahresabonnement Kata in Bewertungssitutionen (Prüfungen, Kata-Meisterschaften) auf 24,00 €. Bezugsgebühren werden jeweils für das Kalenderjahr eine Problematik geschaffen, in der die Sorge vor fehlerhaften Aus- erhoben. führungen die Übenden dabei eher behindert, ihr Bewusstsein ent- Einzelheftpreis: 3,50 € (zzgl. Versandkosten) sprechend zu entwickeln, als sie darin zu unterstützen. Diesem Trend sollte unbedingt entgegen gewirkt werden. Bei Bestellungen mehrerer Exemplare Konditionen auf Anfrage. (5) Die Sportpsychologie steht heute vor der Aufgabe, die Bewusst- Die Kündigung des Abos ist mit einer Frist von sechs seinszustände und die kognitiven Prozesse in Training und Wettkampf Wochen zum Ende des Kalenderjahres möglich. zu optimieren. Dabei kommt es auch darauf an, das Spannungsfeld „geplante Handlung versus intuitive Handlung“ zu beschreiben. Nach Urheberrechtlicher Hinweis: Erfahrung und Überzeugung des Verfassers ist erfolgreiches Kämp- Das Magazin, alle enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind ur- fen ohne grundlegende Strategie nicht möglich. Diese muss jedoch so heberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich weit verinnerlicht werden, dass sie im Kampf nur noch allenfalls in vom Urhebergesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustim- Form eines kurzen kognitiven „Blitzlichts“ in die Bewusstseinsebene mung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, dringt. Die Schulung der Intuition ist hierfür bedeutsam, jedoch sind derzeit in der Praxis kaum zielgerichtete Konzepte hierzu erkennbar. Verarbeitung in Datensystemen.

Literatur (Auswahl)

: Der gemeinsame Weg von Schwert und Pinsel: Philosophie und Ethik japanischer Kriegskunst der Tokugawa-Zeit (1603-1868); Dissertation Neue Vereine Tübingen 2006

: Philosophie Ethik und die Kunst des Kämpfens, 2007 in den Fachverbänden : Philosophie Ethik und die Kunst des Kämpfens, Bd. 2, 2008 Nordrhein-Westfälischer -Verband e.V. - chen Aspekte, Magisterarbeit Universität zu Köln, 1994 Neuaufnahme: , : Taschenwörterbuch der Kampfkünste Japans, Verlag Dieter 3001002 (Kreis Herford) Born, 2009 Sportverein Schnathorst 1925 , D.T.: Die große Befreiung, Fischer Taschenbuch-Verlag, 1975 Julia Köhler , S.: SUMO - Kampf der Giganten, Verlag Uhlandstr. 8 Dieter Born, 2000 32545 Bad Oeynhausen

Tipp: Die Artikel in der Wikipedia zu den religiösen und philosophischen Leh- ren Japans und ganz allgemein Asiens sind ein guter Einstiegspunkt für eine vertiefende Beschäftigung.

der budoka 5/2012 31 Religiöse und philosophische Kampfkünste Japans

von Wolfgang Dax-Romswinkel

Teil 2: Daoismus, Konfuzianismus und Neokonfuzianismus

In der letzten Folge haben wir uns mit den beiden großen religiö- HAYASHI RAZAN, einer sen Lehren in Japan, dem und dem Buddhismus befasst und der bedeutendsten die Bezüge zu den Kampfkünsten - soweit sie den Zeitraum bis zur Neokonfuzianischen Gelehrten der Edo-Zeit Meiji-Restauration (1868) betrafen - beleuchtet. In dieser Folge soll es nun nach einigen einführenden Anmerkungen über die Kultur der Samurai um die anderen großen geistigen Strömungen gehen, die die - ismus und den Konfuzianismus bzw. den Neokonfuzianismus.

Einleitung: Die Samurai und der gemeinsame Weg von Schwert und Pinsel Spätestens mit Einsetzen der langen Periode relativen Friedens zu Beginn des 17. Jahrhunderts stellte sich für die Kriegerklasse der Sa- murai die Frage nach dem Sinn ihres Daseins. Wozu sind Krieger in Friedenszeiten da? Auf der Suche nach ihrem Selbstverständnis wandten sich viele Samurai verstärkt der Philosophie und den Künsten zu. Hierdurch entstand eine sehr spezielle Kultur der Samurai, die neben den Die konfuzianischen Tugenden: Kampfkünsten unter anderem Theater, Malerei, Kalligraphie und - Menschlichkeit, Philosophie umfasste. Diese Kombination wurde als „“ - Gerechtigkeit, bezeichnet, den „gemeinsamen Weg von Schwert und Pinsel“, wobei - ethisches Verhalten, das Schwert als Metapher für den Kampf, der Pinsel als Metapher für - Weisheit und Kunst und Philosophie steht. - Güte Das Studium der chinesischen Klassiker des Konfuzianismus, Dao- - Loyalität, ismus und des Neokonfuzianismus war obligatorisch für die Ausbil- - kindliche Pietät und dung der Samurai und - Wahrung der Riten/Umgangsformen. Buddhismus, die das Weltbild der Samurai prägten. Kämpfen war für die Samurai ein wesentlicher Teil ihrer mensch- löst einen Ausbreitungseffekt auf Familie, Dorf, Provinz, Reich und lichen Existenz, die wiederum als Teil eines universellen Ganzen schließlich die Welt insgesamt aus. Das Verhalten des Einzelnen hat betrachtet wurde. So kann es nicht überraschen, dass das Üben der also immer Wirkung auf die Gesellschaft als Ganzes. Kampfkünste und die theoretischen Konzepte des Kämpfens aus universellen Grundprinzipien des menschlichen Seins und ihrer Ein- Besonders wichtig sind die „fünf menschlichen Elementarbeziehun- gebundenheit in die Grundgesetze des „großen Ganzen“ hergeleitet gen“, die mit Ausnahme der letzten jeweils hierarchische Über- bzw. wurden. Basis hierfür waren die entsprechenden philosophischen und Unterordnungsverhältnisse beschreiben, und für die es in beide Rich- religiösen Lehren, die für den Bereich des Kämpfens und der Strate- tungen klare Verhaltensregeln gibt: gie interpretiert und angewendet wurden. - Vater Sohn Konfuzianismus und Neokonfuzianismus - Herrscher Untertan - Ehemann Ehefrau Der Konfuzianismus blickt auf eine rund 2.500-jährige Tradition der - älterer Bruder jüngerer Bruder Lehre zurück. Begründer ist - wie schon der Name sagt - KONFUZIUS, - Freund Freund der vermutlich 551-479 v. Chr. gelebt hat und dessen Gedanken die ostasiatischen Gesellschaften maßgeblich geprägt haben. Ein weiterer wichtiger chinesischer Gelehrter war MENGZI (um 370-290 v. Chr.). Der Konfuzianismus ist im Kern eine philosophische Morallehre und beschreibt neben dem, was tugendhaftes Verhalten ausmacht, die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft. Grob vereinfacht kann man sagen, dass der Buddhismus mehr von der Entwicklung des In- dividuums her denkt (Ziel: Erleuchtung und Befreiung von Leid), der Konfuzianismus den Ansatz mehr von der Gesellschaft her hat (Ziel: der Entwicklung der Gesellschaft dienen). In Wirklichkeit sind Der lehrende aber beides ganzheitliche Lehren mit einigen Überschneidungen. Die Konfuzius Grundlagen der konfuzianischen Lehren lassen sich folgendermaßen (Bild aus dem 8. beschreiben: Jahrhundert)

der budoka 6/2012 17 Das Eingangstor zu Die großzügige Anlage war während der Edo-Zeit die höchste Ausbildungsstätte für Beamte, die jeweils dem Samurai- Stand angehörten. Hier wurden vor allem neokonfuzianische Lehren vermittelt. Es handelte sich um die erste höhere Bildungsstätte Japans.

Auf dieser Basis aufbauend konnten sich Gesellschaftslehren entwi- Ab dem Beginn des 17. Jahrhunderts wurde der Neokonfuzianismus ckeln, die nicht nur kleine soziale Gruppen betrafen, sondern auch das gesamte Staatswesen. Der Konfuzianismus entwickelte sich so der Gelehrten- und auch der Samurai-Bildung - nicht zuletzt um das zu einer Staatsphilosophie, aus der sich nicht nur das Ideal einer neue Herrschaftssystem der ideologisch zu legitimieren und Gesellschaft ableitete, sondern aus der Leitlinien für das politische um nach langen Phasen politischer Wirren eine stabile Gesellschafts- Handeln entnommen wurden. Insofern ist es strittig, ob man den Kon- form aufzubauen. fuzianismus als Religion bezeichnen sollte. Der Konfuzianismus hat jedoch schon sehr früh Elemente des Daoismus mit in seine Lehre aufgenommen - z.B. das Buch der Wandlungen als einen seiner 13 ka- begründbar ist. Konfuzianische Vorstellungen kommen in den Kampfkünsten im Ver- hältnis Lehrer Schüler (Sensei/Deshi), älterer Schüler jüngerer Schüler (Sempei/Kohei) und in der Etikette zum Ausdruck. Letztlich ist das gesamte soziale Gefüge und der Umgang miteinander konfu- zianisch geprägt.

Reform des Konfuzianismus und Entwicklung des Neokonfuzi- anismus Als Neokonfuzianismus werden umfassende Lehren bezeichnet, die sich ab dem 11. Jahrhundert in China aus dem Konfuzianismus unter - schiedene Strömungen unterscheiden sich vor allem in ihrem Verhält- nis zum Buddhismus. Ein wichtiges Element der Lehre ist die Vorstellung von einem „obersten, allumfassenden Prinzip“ Li (japanisch Ri) als Grundla- ge der Ordnung der Welt, die ihrerseits in der Wechselwirkung von Die Haupthalle von Auf dem Dach sind Großkatzen zu se- „Prinzip“ und „Materie“ ihre Gestalt erhält. hen, die die Dämonen fernhalten sollten. Die Halle ist eine Rekonstruktion, die nach dem großen Erdbeben von 1923 errichtet wurde.

18 der budoka 6/2012 HAYASHI RAZAN distanzierte sich mit zunehmendem Alter vom Bud- dhismus und versuchte stattdessen, konfuzianische Ideen mit zu verbinden. Außerdem setzte er sich kritisch mit dem Christentum auseinander. Christen - das sei nebenbei bemerkt - wurden während der -Zeit massiv verfolgt, da die Idee des „alle Menschen sind von Geburt an gleich“ nicht mit den Ideen der Ständegesellschaft kompatibel war und eine Verbreitung des Christentums eine große Gefahr für die damalige japanische Gesellschaftsordnung gewesen wäre. Einen wichtigen Beitrag zu Theorien des Kämpfens bietet der Neo- kunfuzianismus durch die Adaption daoistischer Gedanken. Diese sollen im Folgenden ausführlicher dargestellt werden.

Daoismus Der Daoismus (manchmal auch „Taoismus“) steht für eine große Vielfalt religiös-philosophischer Lehren, die sich etwa im 4./5. Jahr- Detailaufnahme einer Großkatze auf dem Dach der Haupthalle von hundert vor unserer Zeitrechnung in China gebildet haben. Das klassische Hauptwerk des Daoismus ist das „“ (chin: ), das dem chinesischen Gelehrten LAOTSE (chin), der vermutlich im 6. Jahrhundert vor Chr. gelebt hat, zugeschrieben wird. Eine weitere wichtige Textsammlung ist das bereits oben er- wähnte „Buch der Wandlungen“. Als eigenständige Religion („religiöser Daoismus“) mit einer ent- sprechenden Kloster-Kultur, Glauben an Götter und Geister, Wahrsa- gerei u.v.a.m. hat er sich in Japan im Gegensatz zu China allerdings nicht entwickelt. Kaum ein Japaner würde daher Daoismus als (seine) Religion bezeichnen. Jedoch sind einige Lehren des „philosophischen Daoismus“ auch in den anderen Systemen allgegenwärtig - vor allem, wie oben darge- legt, im Neokonfuzianismus.

Das Dao Im Kern der Lehre steht das Dao (oder Tao), das mit demselben Schriftzeichen geschrieben wird wie das japanische , das nebenbei bemerkt auch im Buddhismus Bedeutung erlangt hat oder als Wortteil des Dao steht: - für einen Weg, einen Prozess, einen Verlauf oder ganz allgemein für den „Gang der Zeit“ oder den „Lauf der Dinge“ und die in allem waltende Gesetzmäßigkeit Ri (chin. Li) - für das unbegrenzte Ganze, das sich aufgrund seiner Universalität nicht beschreiben lässt.

Die yin-yang-Lehre und die Wandlungen Zentrale Aspekte des Dao sind yin und (japanisch in und da aber das chinesischein Europa bekannter ist, wird im Folgenden die chinesische Schreibweise verwendet). Yin und stehen für die Dualität entgegen gesetzter Pole, die erst in einer sich ergänzenden Kombination das Ganze ergeben. In der daoistischen Mythologie entstanden yin und als sich Himmel und Erde ge- trennt haben. Die Welt, so wie sie vorgefunden wird, ist also eine Die Konfuziusstatue auf dem Gelände von Ausdifferenzierung des Dao in Objekte, die entweder yin- oder - Eigenschaften haben. Im „“ heißt es in Kapitel 42: Als einer der bedeutendsten Theoretiker des Neokonfuzianismus in Japan darf HAYASHI RAZAN (1583-1657) gelten. Er hatte zunächst im Kennin-Tempel Zen-Buddhismus studiert, entschied sich letztlich aber dennoch, kein Mönch zu werden. Als Schüler von FUJIWARA SEI- KA, einem weiteren Neokonfuzianer mit Zen-Hintergrund trat er in die Dienste des ein und diente den ersten vier steht dabei für das Helle, „Energetische“, Gebende und sich als Berater. Er gründete eine Eliteschule und Ausbildungsstätte für Ausbreitende, yin für das Dunkle, Empfangende und sich Konzentrie- Regierungsbeamte, deren Leitung später im Erbamt in seiner Familie rende. Gegensätzliche Begriffspaare werden diesem Konzept folgend weitergegeben wurde. Auch im Neokonfuzianismus waren die kon- je nach ihren Eigenschaften entweder yin oder zugeordnet. Der fuzianischen Tugenden zentrale Bestandteile der Morallehre - insbe- Tag ist also (hell), die Nacht ist yin (dunkel). Yin-Eigenschaften sondere für die Bildung und Erziehung der Samurai. Der hieraus ent- und -Eigenschaften der Dinge sind aber immer relativ und nicht wickelte Codex war der , der „Weg des Kriegers“. Der - absolut. Das Frühjahr ist z.B. gegenüber dem Winter (ener- zeitliche , der nicht mit der späteren -Interpretation giereicher), aber gegenüber dem Sommer yin. des 20. Jahrhunderts verwechselt werden darf, stand also auf neokon- fuzianischer Grundlage.

der budoka 6/2012 19 Das bekannte Symbol von yin yin und Der Kreis steht für das und aus der Balance und richtet damit Schaden an. Ganze, die helle Seite für yang, die dunkle für Die kleinen Kreise Bezogen auf die Kampfkünste meint ein Verhalten, dass sich deuten an, dass yang immer auch dadurch auszeichnet, nichts erzwingen zu wollen, sondern sein Han- yin in sich trägt und umgekehrt. deln in Einklang mit dem natürlichen Fluss der Bewegung - der eige- nen wie der des Gegners - zu bringen. Damit ist ein zentrales Element aller Lehren des Nicht-Widerstehens in den Kampfkünsten und hat - wie könnte es anders sein - eine körperliche und eine menta- le Seite. Um letztere zu entwickeln, kann Zen eine hilfreiche Methode sein.

Daoistische Vorstellungen in theoretischen Konzepten des Kämpfens Aus diesem Beispiel der Jahreszeiten folgt, dass yin und nicht Yin, Yang und der Gebrauch der vitalen Energie Ki auf zwei extreme Pole beschränkt sein müssen, sondern auch Zwi- schenstadien bilden können (kleines/großes yin bzw ). In den (Überlieferungsschriften) zahlreicher Schulen des wird auf yin und Bezug genommen. Aufgrund Die Anwendung von yin und auf die Jahreszeiten deutet schon der großen Bedeutung von für das soll im Folgenden an, dass Wandlungen zentral für die Lehre des Daoismus sind. Auf yin auf Texte des in der Übersetzung von JULIAN BRAUN (2007) folgt stets und umgekehrt. Seien es nun der Tag-Nacht-Rhyth- zurückgegriffen werden. So heißt es in der Schriftrolle des Himmels mus, die Jahreszeiten oder Bewegung und Ruhe. Aus dieser grundle- (Ame-no-maki): genden Erkenntnis entstand die Vorstellung der fünf Wandlungspha- sen (jap. ), die eine Ausdifferenzierung und Erweiterung des - dualen Modells von yin und auf fünf Zustände ist. Das „Buch - der Wandlungen“ () ist zentrales Werk dieser Lehre. Nach und nach wurden alle Naturvorgänge nach dem Schema der Wandlungen interpretiert, z.B. auch die Lebensvorgänge des Men- schen. Diese wurden zur Grundlage für die traditionelle chinesische Medizin, nach deren Vorstellung der Mensch gesund ist, wenn yin und im harmonischen Gleichgewicht sind. Sind yin und aus der Balance, bedeutet dies Krankheit.

Ki - „Motor“ der Wandlungen Die Vorstellungen von Ki (Chinesisch Qi oder Chi) sind ebenfalls zentral im Daoismus. In den japanischen Kampfkünsten begegnet uns das Ki z.B. als Teil zusammengesetzter Begriffe wie Kiai oder Aiki. Aus China stammen Systeme wie Tai-Chi oder . Ki/Qi/Chi ist also ein zentraler Begriff in den Kampfkünsten Chinas und Japans. Ki ist nach daoistischer Vorstellung allen Dingen des Universums eigen. Es wird oft als „vitale Energie“ oder auch als „Lebenskraft“ ständigem Wandel zwischen yin und begriffen sind (s.o.), kann man Ki aber auch als treibende Kraft der Wandlungen verstehen. Ki ist somit das allen Dingen innewohnende Potenzial zur Veränderung, das gleichsam einem Pendel zwischen yin und schwingt und so die Wandlungen herbeiführt. In diesem Sinn widerspricht die Vorstellung von Ki überraschender- weise nicht einmal unserem modernen naturwissenschaftlichen Ver- ständnis von Energie, denn diese wird in den Naturwissenschaften als physikalischen Sinn ist aber nichts anderes als eine Zustandsände- rung verbunden - also eine Form von Wandlung. In einem geschlos- senen System ist darüber hinaus die Menge an enthaltener Energie immer konstant, denn Energie wird bei Verrichtung von Arbeit stets nur von einer Form in eine andere umgewandelt.

Wu-wei (japanisch Mu´i) Der letzte zentrale Begriff des Daoismus, der an dieser Stelle behan- delt werden soll, ist . Es wird meist als „Handeln durch Nicht- Handeln“ oder als „absichtsloses Handeln“ übersetzt. Dies trifft aber die Natur von nur unzureichend. bezeichnet vielmehr ein Handeln in Übereinstimmung mit dem Dao, also ein den natürli- chen Wandlungen folgendes Agieren. ist der fernöstliche Gegensatz des „dominum terrae“, dem göttlichen Auftrag des Alten Testaments an den Menschen, sich die Erde Untertan zu machen und über sie zu herrschen. Gerade dies soll der Mensch nach daoistischer Auffassung nicht tun, sondern stets im

Einklang mit dem natürlichen Lauf der Dinge handeln. Es geht also LAOTSE darum, nichts Unnatürliches zu erzwingen und sich nicht gegen die diesem Bild hält er eine Schriftrolle mit dem „Tao-te-King“ in der Gesetze des Universums zu stellen - eine Geisteshaltung, die im Wes- Hand.

20 der budoka 6/2012 Diese im chinesischen Quanzhou vor rund 900 Jahren aus einem sieben Meter breiten und fünf Meter hohen Fels gehauene Sta- tue von LAOTSE war früher einmal Teil eines heute nicht mehr vor- handenen Tempels.

Schon dieser erste Satz weist deutlich auf den Daoismus als philoso- Lässt man einmal die esoterisch anmutenden Passagen beiseite, stellt phisches Bezugssystem hin. In der Schriftenrolle der Erde (Chi-no- man fest, dass der Kern der Aussagen darin besteht, dass die gegen maki) wird erklärt, was denn konkret in der Bewegung unter yin und einen Gegner einzusetzende Kraft aus dem ganzen Körper, insbeson- verstanden wird: dere aus der Körpermitte heraus entwickelt und aufgebaut werden muss. Körperhaltung, Körperspannung und Bewegungsverlauf - ins- besondere die Kontrolle des Körperzentrums - sind hierfür von ele- mentarer Bedeutung. Der Kraftverlauf einer idealen Technik nimmt daher in der Körpermitte ihren Ursprung. Es wird also auf zwei Zustände verwiesen, die mit einem unterschied- Das Fließen des Ki ist natürlich nur eine bildhafte Beschreibung, kein lichen Verhalten von Ki naturwissenschaftlicher Sachverhalt. Jedoch lassen sich die daraus in einer Abfolge zueinander stehen - oder anders ausgedrückt: sich abgeleiteten Konsequenzen auch mit physiologischen und biomecha- nischen Begriffen erklären. Analysiert man z.B. verschiedene Wurf- techniken oder Atemi-waza mit Hilfe der Newton´schen Mechanik und des Modells kinematischer Ketten, kommt man zu ähnlichen - Ergebnissen. Yin, Yang und der günstigste Moment des Angriffs Das Grundprinzip der Kampfführung nach der Vorstellung von yin und ist denkbar einfach. Wenn der Gegner angreift, weicht man Nach traditioneller Lehre konzentriert sich die Lebenskraft der Men- zurück, wenn sich der Gegner zurückzieht, greift man an. Man ver- schen (Ki) im Dantien, einem Punkt kurz unterhalb des Bauchnabels. hält sich also immer komplementär zu seinem Gegner oder als An- Kraftvolle Bewegungen - seien es Angriffs- oder Abwehraktionen - weisung ausgedrückt: „Wenn der Gegner ist, begegne ihm yin, nehmen ihren Ursprung daher in (wörtlich: „Bauch“). Erklärt wenn der Gegner yin ist, begegne ihm wird das damit, dass das Ki eines Menschen sich im Dantien - also sind dadurch alternierend und komplementär in stetigem Wandel zwi- in der Bauchregion - sammelt und von dort aus z.B. zur Hand oder schen yin und . zum Fuß „strömt“. Entsprechend gibt es Anweisungen, das Ki von Wenn sich beide immer entsprechend verhalten, neutralisieren sie sich gegenseitig und niemand kann gewinnen. Der Weg zum Sieg durchzuführen. In Chi-no-maki heißt es weiter: ergibt sich daher durch Variation des äußeren wie inneren Rhythmus. Jeder mit viel -/Kampferfahrung weiß, dass sich Pha- - sen abwechseln, in denen der Gegner angreifen kann oder auch nicht. So ist z.B. im Moment des Übergangs vom Ausatmen zum Einatmen Es wird auch erläutert, woran man erkennen kann, ob man eine Tech- ein kraftvoller Angriff nicht möglich. Wenn der Gegner also bis zum nik mit Ki oder mit Kraft durchgeführt hat: Beginn des Ausatmens nicht angegriffen hat, wird er es nicht tun, bevor er erneut eingeatmet hat. Dasselbe gilt natürlich auch für einen selbst. Erfahrene spüren dies genau. Für jeden der Kämpfenden gilt es nun, diesen „inneren Wandel“ des - Gegners zu spüren, ihn den eigenen Rhythmus umgekehrt jedoch nicht spüren zu lassen und dabei den eigenen Rhythmus so auf den des Partners abzustimmen, dass man im Zustand eigener Stärke den Gegner im Zustand von dessen Schwäche angreifen kann. Dabei gilt

der budoka 6/2012 21 es zu bedenken, dass ein Zustand von Schwäche und Angreifbarkeit oft auf einen Angriff oder auf die Verteidigung gegen einen Angriff Streuen des Salzes symbolisiert Reinheit (reinigende Wirkung des folgt. Dies ausnutzend lässt sich ein Gegner auskontern oder durch Salzes). Des Weiteren gehen viele traditionelle -Aktivitäten, wie Kombinationen überwinden. z.B. , auf -Bräuche zurück. Günstige Momente für einen Angriff kann man also recht gut durch Buddhismus setzt die Kampfkünste in den Kontext der Entwick- das Modell der Wandlungen beschreiben. lung des Menschen, verweist also auf die persönlichkeitsbildende Funktion der Kampfkünste. Durch Lösen vom Ego gelingt ein den Mu´i (Wu-wei) und das intuitive Handeln Umständen des Kampfes angepasstes Verhalten. Dieses setzt an der buddhistischen Bewusstseinslehre an. Zen-Buddhismus lieferte hier- Die oben beschriebene Kampfweise setzt voraus, dass man sich in zu Begriffe und Übungsmethoden. Gleichzeitig können Kampfkünste den Gegner hineinfühlt - körperlich, aber auch mental. Man spürt auch so betrieben werden, dass sie zu Zen-Wegen werden. sich, den Gegner und muss seine Aktionen komplementär mit dem Zustand des Gegners synchronisieren. Dies kann man unmöglich Konfuzianische Vorstellungen bestimmen das soziale Gefüge und erzwingen, sondern nur in einem natürlichen Fluss steuern. Hierzu muss man sich seiner Intuition anvertrauen. Voraussetzung dafür ist Etikette. Der Neokonfuzianismus integriert viele der anderen Lehren aber, dass man sich von seinen Gefühlen und Gedanken lösen kann und ist die philosophische Basis des des 17.-19. Jahrhun- (, s. letzte Folge). In diesem Zustand kann man nun derts. ganz der Situation angepasst agieren. Die Strategien des Kämpfens werden durch ursprünglich daoistisches , aiki und Kiai Gedankengut beschrieben. Im Mittelpunkt stehen dabei die Wandlun- gen (yin/) und die Vorstellung vom „Weichen, das das Harte“ - besiegt. Dies gelingt vor allem durch Mu´i (), dem Agieren im künsten allgemein als bezeichnet, was mit „weich“ oder „sanft“ Einklang mit dem natürlichen Lauf der Dinge. Da der Daoismus als nur unzureichend übersetzt wird. Unter Verwendung der Vorstellung eigenständige Lehre in Japan kaum Fuß gefasst hat, ist sein Gedan- von yin und kann man be- kengut durch Integration in den Neokonfuzianismus in die Gesell- deutet danach yin mit und mit yin begegnen. schaft transportiert worden. Dieser war wiederum als Staatsideologie in der Bildung der Samurai der -Zeit omnipräsent. Da yin und nichts weiter als Bezeichnungen für unterschiedliche Zustände von Ki sind, lässt sich nun auch der Begriff aiki (von Ai: Anmerkungen: Harmonie) erklären. Das eigene Ki muss mit dem des Partners in Har- monie gebracht werden. Harmonie meint damit das „Große Ganze“, (1) Einige Elemente des Daoismus gelangten bereits im 6./7. Jahr- das nur in der komplementären Ergänzung besteht. Letztlich sind und aiki dasselbe - nur die Perspektive der Betrachtung ist eine ande- daoistisches Gedankengut bereits in frühen Formen des und re. Klassischerweise wird über die äußeren Umstände der Aktion (Bewegung, Kraftrichtung usw.) beschrieben, während aiki auf die inneren Umstände der Aktion bezogen ist. (2) Ein zentrales Element des Daoismus und des (Zen-)Buddhismus ist Ganzheitlichkeit, die in den Begriffen Dao, und Satori Dreht man die Wortbestandteile von aiki in der Reihenfolge um, er- steckt. Allen drei ist gemeinsam, dass man sie nicht logisch-intellek- hält man Kiai. Wahrnehmbares Zeichen eines Kiai ist ein „Kampf- tuell erfassen und erklären kann. Schon Aristoteles wird die Erkennt- schrei“, der bei höchster körperlicher Anstrengung entsteht, wenn nis „das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ zugesprochen. schlagartig durch Kontraktion der Rumpfmuskulatur Luft aus der Der westlich-wissenschaftliche Ansatz ganzheitlicher Betrachtungen Lunge herausgepresst wird. Da wie oben dargelegt bei einem Einsatz - von Ki die Kraftentfaltung in der Körpermitte beginnt und von dort tungsobjekt möglichst genau und in ihren Wechselwirkungen zu er- Kiai in der Tat ein Zeichen da- fassen - ein Vorgehen, das nach fernöstlicher Philosophie fehlgehen für, dass die Aktion „aus heraus“ erfolgt ist. Mentale Vorausset- muss. Nach fernöstlicher Sichtweise steht hinter allem ein einziges zung für einen Kiai ist Isshin oder das „Handeln mit ganzem Herzen“. universelles Prinzip.

Zusammenfassung: Welche Lehren haben welche Bereiche der (3) Die Unterfütterung der Kampfkünste mit theoretischen Konzep- ten war erst möglich, nachdem ein entsprechender Bildungsstand bei den Samurai vorhanden war. Von daher ist es kein Zufall, dass der So, wie die unterschiedlichen Schwerpunkte der Lehren aufgrund ih- Beginn einer fortschreitenden Ausdifferenzierung der Kampfkünste rer zahlreichen Verknüpfungen nur sehr pauschal angegeben werden in die zahlreichen und die Entwicklung einer standestypischen können, so können auch die Bereiche der Kampfkünste, in denen sie Bildung der Samurai zeitlich in dieselbe Epoche - nämlich das 17. sich zeigen, nur allgemein angedeutet werden. Dennoch ergibt sich Jahrhundert - fällt. durchaus ein Bild von relativ klarer Struktur. (4) Das Kämpfen und damit die Kampfkünste wurden in der -Zeit begegnet uns zum Beispiel in der Gestaltung des klassischen durch die Theoriebildung aus den damaligen Welterklärungsmodel- , das einen für die Gäste und oft einen kleinen - len als Mikrokosmos des menschlichen Daseins betrachtet. Insofern Altar hat. Von allen Kampfkünsten am stärksten mit dem ver- wurde ihnen zumindest teilweise eine wichtige erzieherische Funkti- wurzelt ist das . Der Kampfrichter ist ein , die on zugesprochen.

Literatur (Auswahl)

JIGOR KAN mit Y. Y AMASHITA BRAUN, JULIAN: Der gemeinsame Weg von Schwert und Pinsel: Philosophie und (später 10. Dan) bei einer De- Ethik japanischer Kriegskunst der -Zeit (1603-1868); Dissertation monstration von Koshiki-no- Tübingen 2006 Kata, die aus in das übernommen BRAUN JULIAN: Philosophie Ethik und die Kunst des Kämpfens, 2007 hat. war sehr stark BRAUN JULIAN: Philosophie Ethik und die Kunst des Kämpfens, Bd. 2, 2008 GOERTZ, ERIK: die „weiche Kunst“, und die wichtigsten geistesgeschichtli- chen Aspekte, Magisterarbeit Universität zu Köln, 1994

HANELT, KLAUS: Taschenwörterbuch der Kampfkünste Japans, Verlag Dieter Born, 2009

WATTS, ALAN: Der Lauf des Wassers, Suhrkamp 1983

Tipp: Die Artikel in der Wikipedia zu den religiösen und philosophischen Leh- ren Japans und ganz allgemein Asiens sind ein guter Einstiegspunkt für eine vertiefende Beschäftigung.

22 der budoka 6/2012 Religiöse und philosophische Einüsse auf die traditionellen Kampfkünste Japans

von Wolfgang Dax-Romswinkel

Teil 3: im Wandel der Zeit

Nicht wenige Vereine und Dj im deutschsprachigen Raum tragen gewesen sei und die den Samurai auf ebenso klaren Wegen im Rah- Bushid oder auch Samurai im Namen, und den japanischen Kampf- men der Erziehung/Ausbildung vermittelt worden wäre. künsten wird immer wieder nachgesagt, durch Bushid beeinusst worden zu sein und/oder den „Geist des Bushid“ vermitteln zu wol- Jedoch ist es keineswegs so einfach wie man vielleicht erwarten len. Wer sich mit philosophischen Fragen rund um die japanischen würde, denn wie immer bei der Betrachtung von Wertevorstellun- Kampfkünste beschäftigt, kommt früher oder später daher nicht gen und Verhaltensnormen sind die zeitgeschichtlichen Umstände darum herum, sich mit einem der schwierigsten Begriffe in diesem zu beachten. Außerdem muss man selbstverständlich beachten, dass Feld auseinanderzusetzen: dem Bushid. eine Idealvorstellung nicht mit historisch realem Handeln verwech- selt werden darf. Passenden Beispielen stehen stets auch gegentei- Bevor wir in die eigentliche inhaltliche Auseinandersetzung ein- lige Beispiele gegenüber. Als historische Realität kann man daher steigen, erscheint es sinnvoll, einige japanische Begriffe und ihre lediglich die Existenz einer Idealvorstellung betrachten. Deren Ent- Schreibweise genau zu klären. wicklung vollzog sich in mehreren Etappen. Vereinfacht kann man bis zum zweiten Weltkrieg von drei Phasen der Bushid-Entwicklung Bushid wird durch Aneinanderreihung von drei Kanji geschrieben: sprechen: 武士道. Die ersten beiden Zeichen bilden den Begriff Bushi 武士, was einzeln ungefähr „kriegerisch“ (武) und „Experte“ (士) bedeutet. - 12. bis 16. Jahrhundert: Entwicklung erster Bushid-Konzepte vor Bushi sind also die Experten für das kriegerische - mit einem Wort: der Edo-Zeit (als die Krieger noch Krieger im Wortsinn waren), Krieger. Der Begriff Samurai wird übrigens auch mitunter mit dem - 1600/03 bis 1868: Bushid-Diskurse in der Edo-Zeit (als die Krieger Zeichen 士 geschrieben, üblicher ist jedoch 侍. Ein anderer Terminus keine Kriege mehr zu führen hatten), ist Buke 武家, und bedeutet so viel wie „kriegerisches Haus“, „kriege- - 1868 bis 1945: Bushid-Diskurse der Meiji-Zeit bis zum zweiten risches Geschlecht“ oder „Kriegerstand“. Ein Samurai - der Terminus Weltkrieg (als mit Einführung der Wehrpicht das Volk zu Krieg füh- leitet sich aus dem Verb „dienen“ ab - der keinen Herrn mehr hat, renden Soldaten herangebildet werden sollte). wurde zum Rnin (浪人). Rnin waren herrenlos durch die Lande zie- hende - man könnte auch sagen vagabundierende - Samurai, die zwar Ziel dieses dritten Teils über die philosophischen und religiösen As- frei waren, aber einen niedrigen sozialen Status hatten. pekte der japanischen Kampfkünste ist es, einen Abriss der histori- schen Entwicklung von Bushid-Konzeptionen zu geben und dabei Der Terminus Bushid fand vor Ende des 19. Jahrhunderts wenig Ver- darzulegen, warum Bushid ein so problematischer Begriff ist. Die wendung. Stattdessen waren jedoch andere Vokabeln und Begriffe, Breite der unterschiedlichen Vorstellungen soll nach einer Einfüh- die standesspezische Verhaltensnormen und Moralvorstellungen der rung in die Ursprünge und die grundlegende Literatur der Entwick- Bushi/Samurai bezeichneten - z.B. das weiter unten erläuterte Shid lung erster Bushid-Konzepte an drei Beispielen aufgezeigt werden: - mehr in Gebrauch, sodass dies lediglich ein sprachliches, aber kein inhaltliches Problem darstellt. - der Geschichte von der Rache der 47 Rnin von Ak (1701/02) - dem populären Buch „Bushid - the Soul of Japan“ von - Üblicherweise wird Bushid (wörtlich also etwa: „Weg des Krie- Anmerkung: Aufgrund der in Deutschland bekannteren gers“) als „Ehrenkodex der Samurai“ bezeichnet und somit der Ein- Schreibweise wird in diesem Artikel als einzige Person mit druck erweckt, als handele es sich dabei um eine verbindliche Verhal- vorangestelltem Vornamen geschrieben, bei den anderen Personen tensnorm, die historisch gesehen mit einem eindeutigen Inhalt gefüllt wird wie in Japan üblich der Familienname zuerst genannt - der Bushid-Konzeption von 1904/05.

Yasubame: Aus vollem Galopp schießt dieser Schütze auf eine Zielscheibe. Danach muss er sofort einen weiteren Pfeil aus dem Köcher nehmen, um einige Meter weiter auf das nächste Ziel schießen zu können.

40 der budoka 7-8/2012 Entwicklung erster -Konzepte vor der Edo-Zeit (12. bis 16. Jahrhundert) Standesspezische Vorstellungen über die Moral der Bushi entstan- den bereits mit der wachsenden Bedeutung des Kriegerstandes etwa ab dem 12. Jahrhundert unter der Bezeichnung Kba-no-michi („Der Weg des Bogens und des Pferdes“), auch wenn diese zunächst nicht schriftlich verfasst und systematisch verbreitet wurden. Die Haupt- waffe der Bushi war damals noch der typische japanische Langbogen, wie er im heutigen Kd verwendet wird. Die höheren Bushi waren zudem beritten. Es waren also im Wortsinn „Krieger mit Bogen und Pferd“, daher die Bezeichnung Kba-no-michi. (Anmerkung: Michi ist eine andere Lesung für das Zeichen 道, das im Kontext der Kampf- künste üblicherweise als D gelesen wird.) Noch heute ist die Tradition des Yasubame lebendig, bei dem aus vollem Galopp mit dem Bogen geschossen wird. Die Ogasawara- r, die derartige Wettkämpfe und Vorführungen jährlich veranstal- tet, war eine der ersten Schulen für Kriegskünste in Japan überhaupt Darstellung der Rache der 47 Rnin aus der Edo-Zeit (gegründet 1187). Die Oberhäupter dieser Schule dienten den ersten Shgunen nicht nur als Lehrer im Bogenschießen, sondern auch als oberste Protokollbeamte, sodass z.B. die Etikette dieser Schule später zu einem Standard für die Etikette anderer Schulen wurde. Die Ehre des Einzelnen war ferner auch gleichzeitig mit der Ehre des Clans bzw. der Familie verbunden. Verlor ein Mitglied seine Ehre, Frühe Werke, in denen es um das „richtige“, natürlich auch idealisier- waren damit auch die anderen entehrt, es sei denn, dass die indivi- te, Verhalten der Krieger ging, waren zum Beispiel das Heike Mono- duelle Ehre - und damit gleichzeitig die Ehre des Clans - z.B. durch gatan, ein episches Werk, das im 14. Jahrhundert verfasst wurde und Seppuku wieder hergestellt wurde. Auf den Betroffenen lastete also den Kampf der Taira und Minamoto in der zweiten Hälfte des 12. ein enormer sozialer Druck. Jahrhunderts thematisierte. Es lieferte, wie vergleichbare Literatur in anderen Kulturkreisen auch, literarische Vorbilder für nachfolgende Kodizierung der d-Konzepte in der Edo-Zeit Generationen von Kriegern. (1600/03 bis 1868) Für die Bushi bildeten Loyalität und Gehorsam gegenüber ihrem un- Nach den Wirren der Jahrhunderte zuvor war die Etablierung einer mittelbaren Herrn den Kern ihres moralischen Bewusstseins. Werte stabilen Gesellschaftsordnung, mit dem -Clan an der un- wie Ehre, Picht und als Gegenpol dazu Scham im Falle des Versa- angefochtenen Spitze der Macht, das wichtigste politische Vorhaben. gens standen hierbei im Mittelpunkt. Die Bereitschaft zur absoluten Hierzu musste zwangsläug neben vielen anderen Maßnahmen auch Aufopferung für den Herrn bis in den Tod war eine als selbstverständ- ein entsprechendes Standesethos für die Staatsdiener etabliert wer- lich erwartete Tugend. den, die im Idealfall - zumindest aus Sicht eines absoluten Regimes - Befehle befolgen, ohne sich hierzu irgendwelche eigenen Gedanken Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte von , einem zu machen, die diese Befehle in Frage stellen könnten. Kommandeur in Diensten von , der dessen Burg Fu- shimi im Jahr 1600, kurz vor der Entscheidungsschlacht bei Sekiga- , der erste Shgun der Edo-Zeit, ließ aus diesem hara, gegen eine große Übermacht verteidigte. Als er nach schwers- Grund das Buke-sho-hatto („Gesetze für den Kriegerstand“) nieder- ten Kämpfen mit nur noch etwa zehn übrig gebliebenen Mann ge- schreiben. Es beinhaltete eine Reihe von nunmehr gesetzlichen Ver- schlagen wurde, beging er aus Scham Seppuku (Selbsttötung durch haltensvorschriften für Fürsten und die Mitglieder der Samurai-Klas- Aufschlitzen des Bauches, im Westen besser bekannt als Hara-kiri), se, die sich nicht nur in den Kampfkünsten üben und sie verfeinern, da er seiner Auffassung nach bei der Verteidigung des Schlosses ver- sondern sich auch mit Literatur und Philosophie beschäftigen sollten. sagt und damit seine Ehre verloren hatte. Seppuku diente in diesem Die meisten Vorschriften dienten vor allem der Sicherung der Macht Fall der Wiederherstellung der Ehre, da er die höchste Konsequenz des Shgunats. aus dem eigenen Versagen auf sich nahm. Es gab natürlich auch Kritiker, wie z.B. (1622 bis 1685), ein Schüler von , dem führenden Neokonfuzi- aner der . brach jedoch mit der ofziellen Linie. SeineIdeologie basierte auf einem sehr fundamentalistischen Kon- fuzianismus, den er durch die verletzt sah. Da dies für die Machthaber gefährlich werden konnte, wurde er ins Exil nach Ak geschickt.

entwickelte eigene Vorstellungen vom Weg der Samurai, für den er den Begriff Shid (士道 wörtlich etwa „Weg des Samurai“, wenn man 士 als Samurai liest) verwendete. Für ihn waren die Samu- rai in erster Linie Wächter über die Einhaltung konfuzianischer Moral und hatten zum Beispiel die Aufgabe, jedes Mitglied eines niedrige- ren Standes für Fehlverhalten auf der Stelle zu bestrafen, während sie selbst gleichzeitig alle konfuzianischen Beziehungen (Herr-Untertan, Eltern-Kind, älterer Bruder-jüngerer Bruder, Ehemann-Ehefrau und Freund-Freund) streng beachten sollten. In mehreren weiteren zeitgenössischen Werken, wie z.B. dem zu Beginn des 18. Jahrhunderts vermutlich von verfassten Hagakure oder dem etwas älteren „Buch der fünf Ringe“ des Schwertmeisters (1584-1645), nden sich ebenfalls Erläuterungen zum Weg des Kriegers aus der subjektiven Sicht der jeweiligen Autoren. Insbesondere das Hagakure erlangte aufgrund der Glorizierung eines „ehrenvollen“ Todes als Lebensziel Darstellung eines Seppuku: Der Sekundant mit dem Schwert hat die Auf- der Samurai in der Neuzeit - z.B. unter Ofzieren im Zweiten Welt- gabe, den Kopf des sich Tötenden abzuschlagen, sobald der Oberkörper krieg - zweifelhafte Beachtung und Popularität. nach vorne kippt. Der Ablauf eines Seppuku war sehr detailliert geregelt.

der budoka 7-8/2012 41 In der Edo-Zeit entstanden also einige Schriften, die sich mit dem „Weg des Kriegers“ auseinandersetzten, sodass allmählich ein for- malisierter Kodex entstand. Sie alle verbindet die jeweils starke Betonung von Picht und Loyalität, von Ehre und Scham und die Bereitschaft zur absoluten Aufopferung für den Herrn. Unterschied- liche Vorstellungen treten aber in der Beurteilung eines besonderen Ereignisses zu Tage und zeigen, dass die Vorstellungen nicht im De- tail einheitlich waren.

Die Rache der 47 von Die auf historischen Tatsachen beruhende Geschichte der 47 Rnin aus Ak - es handelt sich also um eine Mischung aus ktionalen und historischen Elementen - gehört zu den bekanntesten Ereignissen aus der Edo-Zeit. Im Kern der Diskussion hierüber steht die Frage, ob sich die Rnin moralisch richtig und angemessen verhalten haben oder nicht. Das Dilemma war, dass die Rache der Rnin für den Tod ihres Herren einerseits gegen das damalige Gesetz verstieß, jedoch andererseits als vorbildlicher Akt der Treue betrach- tet werden konnte. Es ging also um den klassischen Konikt „Werte Die Gräber der 47 Rnin versus Gesetz“. Besonders problematisch und Anlass für den damali- gen Diskurs war, dass Rache als Ausdruck von Loyalität vor der Edo- Zeit im Moralbewusstsein der Krieger positiv besetzt, jedoch in der Edo-Zeit eine Straftat war, wenn sie sich gegen eine höher gestellte Obwohl klar war, dass eine Rache mit einer hohen Strafe - dem siche- Persönlichkeit richtete. Worum ging es - in der gebotenen Kürze und ren Tod - geahndet werden würde, beschlossen 47 dieser Rnin (aus der überlieferten Geschichte nach - genau? einem Gefolge von ursprünglich ca. 300 Samurai), den Tod s zu rächen. Nach umfangreichen Vorbereitungen und einem ausge- der oberste Protokollbeamte des Shgunats, sollte im feilten Plan töteten sie schließlich im Dezember 1702. Danach Jahr 1701 in der Durchführung einer Zeremonie unterweisen und for- überstellten sie sich selbst dem Shgunat und erwarteten ihre Strafe. derte hierfür als Gegenleistung wertvolle „Geschenke“. Verkürzt for- muliert kam den übermäßigen Forderungen nicht nach. Dies Die Aufarbeitung des Falles durch das Shgunat war problematisch hatte zur Folge, dass er permanent von beleidigt wurde. Als es und löste viele Debatten aus, denn die Rnin beriefen sich auf die für unerträglich wurde, griff er schließlich zur Waffe und ver- Treuepicht gegenüber ihrem Herrn, die ihnen nach ihrer Auffassung letzte damit leicht. Dieser Angriff auf einen der höchsten Be- die Rache an dessen Tod aufgrund des unwürdigen Verhaltens des amten des Shgunats - noch dazu in der Residenz des Shguns - war Hofbeamten ausdrücklich erlaubte, andererseits verstießen sie natür- aber dennoch so schwerwiegend, dass der Befehl zu Seppuku lich gegen das Gesetz und damit gegen das Gebot der Loyalität ge- gegeben wurde, eine damals übliche Form der Todesstrafe. Der Be- genüber dem Shgunat. sitz s wurde daraufhin eingezogen und seine Samurai wurden Letztlich wurden 46 der Rnin zum Tode durch Seppuku verurteilt durch die Entehrung des Herren ebenfalls entehrt und zu Rnin. (zum Verbleib des 47. Rnin gibt es unterschiedliche Versionen). Die Rnin wurden im Tempel Sengaku-ji im heutigen Tk bei ihrem Herrn begraben. Das Shgunat stand bei der Lösung des Problems unter einem nicht zu unterschätzenden Druck, denn die Rache der 47 Rnin wurde sehr schnell in Theaterstücken aufgearbeitet und fand großes Interesse und viel Sympathie bei der Bevölkerung. Die Meinungen über das Verhal- ten der Rnin waren aber durchaus gespalten. Dabei ging es nicht nur darum, ob die Rache selbst angemessen gewesen sei, sondern auch um die Art und Weise ihres Vollzugs. Unter anderem wurden über die Debatte „Loyalität versus Gesetz“ hinaus im Laufe der Zeit folgende Argumente vorgebracht:

- s Angriff war feige (es existiert auch die Variante der Ge- schichte, dass er von hinten angegriffen hätte) und deshalb hät- ten die Rnin die Strafe für hinnehmen müssen. - hat versagt und allein schon deshalb den Tod verdient. Auch das hätten die Rnin hinnehmen müssen. - Nach der zu akzeptierenden Entehrung s hätten die Rnin un- mittelbar Seppuko begehen müssen, da sie selbst hierdurch ebenfalls entehrt waren. - Der Racheplan sei zu ergebnisorientiert gewesen; wahre Samurai hätten unmittelbar zur Rechenschaft gezogen und dabei ein mögliches Scheitern in Kauf genommen. Unter anderem hätten die Rnin riskiert, dass der über 60-jährige im Verlaufe der Vorbe- reitungen eines anderen Todes hätte sterben können, was den Erfolg der Rachemission unmöglich gemacht hätte. - Die Selbsterniedrigung der Rnin im Verlauf der Vorbereitungen - um von ihren Racheplänen abzulenken, führten sie teilweise ein „Lot- terleben“ - waren für Samurai unwürdig. - Die Selbstüberstellung an die Behörden geschah in der Hoffnung auf Begnadigung aufgrund besonders ehrenvollen Verhaltens. Wahre Samurai hätten nach Vollendung der Tat von sich aus Seppuko began- gen und sich nicht in die Hände des Shgunats begeben.

Nachbildung eines der 47 Rnin, die heute im Sengaku-ji ausgestellt ist

42 der budoka 7-8/2012 Es gab aber auch „positive“ Bewertungen: Er entstammte einem alten Samurai-Clan aus Morioka im Norden der japanischen Hauptinsel Honsh. Seine Familie kümmerte sich - Ihre Tat war ein besonderer Akt der Loyalität, weil sie nach dem um die Entwicklung der Landwirtschaft in der Provinz. Entsprechend Scheitern ihres Herrn dessen „Werk“ - die Tötung s - zu Ende besuchte zunächst eine Landwirtschaftsschule in Sapporo, brachten. bevor er sich für vertiefende Studien der Landwirtschaft, Ökonomie - Durch die Selbsterniedrigung hätten die Rnin wahren Samurai- und englischen Literatur an der kaiserlichen Universität in Tk ein- Charakter gezeigt, da ihnen die Vollendung des Werks ihres Herrn schrieb. Weitere Studienstationen brachten ihn in die USA und auch wichtiger war als ihre persönliche Reputation. nach Deutschland. Er hielt mehrere Doktorate, promovierte unter - Um die Rache erfolgreich durchführen zu können, hätten die Rnin anderem in Halle, wurde als Professor an zahlreiche Universitäten die Picht gehabt, alles so zu planen, damit sie nicht den eigenen Tod in Japan und in den USA berufen und vertrat schließlich Japan von riskieren, bevor sie getötet haben. 1920 bis 1927 beim Völkerbund in Genf. Zurück in Japan wurde er Die Kontroversen zeigen unabhängig davon, wie man die Argumente anschließend Parlamentsabgeordneter. Als sich das Klima zwischen bewerten möchte, dass es weder in dieser Zeit noch danach wirklich Japan und dem Westen in den 1930er-Jahren zunehmend verschlech- einheitliche Vorstellungen über das „ehrenvolle“ Verhalten von Sa- terte, versuchte er - erfolglos - durch private diplomatische Missionen murai gab - denn sonst hätte man diese Fragen recht einfach und vor die Situation zu entspannen. allem einmütig beantworten können. war mehr westlich als östlich geprägt. Noch als Jugendlicher konvertierte er unter dem Einuss seines amerikanischen Lehrers d-Konzeptionen nach Abschaffung des Samurai-Standes an der Landwirtschaftsschule zum Christentum. Später in den USA in der Meiji-Zeit schloss er sich den Quäkern an. Außerdem heiratete er eine Ameri- In den ersten Jahren nach der Meiji-Restauration verloren die Samu- kanerin. rai nach und nach alle Privilegien, was letztlich 1877 zu einer großen Obwohl ein umfangreiches Lebenswerk an Aufsätzen und Bü- Revolte - der Satsuma-Rebellion unter - führte. Die chern hinterlassen hat, ist er der Öffentlichkeit praktisch ausschließ- Samurai kämpften überwiegend mit traditionellen Waffen gegen eine lich für „Bushid - the Soul of Japan“ bekannt. Als Motivation, das technisch und zahlenmäßig weit überlegene kaiserliche Armee. Von Buch im Jahr 1899 in englischer Sprache zu verfassen, gibt rund 40.000 Samurai überlebten am Ende nur etwa 400. Heute wird im Vorwort an, dem westlichen Publikum erläutern zu wollen, wie , in Japan als „tragischer Held“ verehrt, einem spezi- Moralerziehung in Japan funktioniere, obwohl es keinen Religions- ellen, aus dem Bushid abgeleiteten, Heldentypus in Japan, der sich unterricht wie im Westen gab. Das Werk, das in zahlreiche westli- dadurch auszeichnet, dass jemand in vollem Bewusstsein des Schei- che Sprachen und etwas später auch ins Japanische übersetzt wurde, terns seinen als richtig erkannten Weg konsequent bis zur Selbstauf- prägte nach seinem Erscheinen ganz erheblich das Bild von Japan opferung verfolgt. und den Japanern im Westen. Es muss jedoch vor dem persönlichen Nachdem die Samurai endgültig besiegt waren, folgte eine Phase des Hintergrund s als ein in erster Linie westlich geprägter Christ, Desinteresses an traditionellen Werten. Erst mit wieder steigendem Pazist und Mittler zwischen Ost und West gesehen werden. Nationalbewusstsein ab etwa den 1880er-Jahren gab es wieder eini- beschrieb den Bushid als ethisches System, das nicht schrift- ge Abhandlungen über Bushid. Hieran beteiligten sich Kapazitäten lich xiert, sondern durch konkrete Erziehung in den Familien wei- wie , einer der zentralen Reformer der Meiji-Zeit. tergegeben worden sei: Befeuert wurde die Debatte aber erst durch den Sieg im japanisch- chinesischen Krieg 1894/95 und anschließend in noch stärkerem Maß „Bushido, then, is the code of moral principles which the knights durch den Erfolg im russisch-japanischen Krieg 1904/05. were required or instructed to observe. It is not a written code; at best it consists of a few maxims handed down from mouth to mouth or co- s „uid - the Soul of Japan“ und die Rezeption ming from the pen of some well-known warrior or savant.“ (Bushid des uid im Westen ist ein Kodex von moralischen Prinzipien, dessen Befolgung für die Ritter verbindlich war. Es ist kein schriftlich verfasster Kodex, bes- Der japanische Gelehrte (1862-1933) gehört zu den in- tenfalls besteht er aus ein paar Maximen, die von Mund zu Mund teressantesten japanischen Persönlichkeiten seiner Zeit. Schon früh, vermittelt wurden, oder die von bekannten Kriegern oder Gelehrten als Student, formulierte er sein Credo, er wolle „eine Brücke über aufgeschrieben wurden.) dem Pazik“ sein und der Verständigung zwischen Ost und West die- nen. Als geistige Quellen des Bushid gibt Buddhismus, Shint und vor allem Konfuzianismus an. Als die oben erwähnten Maximen des Handelns beschreibt die wohlbekannten konfuzianischen Tugenden: - Gerechtigkeit - Mut - Güte - Höichkeit - Wahrhaftigkeit - Ehre - Loyalität Diese erläuterte er - ganz dem westlichen Publikum zugewandt - un- ter Verwendung zahlreicher Vergleiche und Analogien mit Konzepten altgriechischer, römischer, englischer, französischer sowie deutscher Philosophen. Auch führt er christliche Entsprechungen an. Seine Ausführungen zeugen dabei von einer ungeheuer breiten Kenntnis westlicher Philosophie und Literatur.

geht in seinen Darstellungen übrigens so weit, die Verände- rungen Japans Ende des 19. Jahrhunderts als Folge eines lebendigen Bushid zu beschreiben, von dem die großen Reformer beseelt gewe- sen seien. Folgt man , ist Bushid auf diese Weise zur tragen- mit einigen Ofzieren in Samurai-Rüstungen (Quelle un- bekannt) den Säule des japanischen „Volksgeists“ - eben „the soul of Japan“ - geworden. Auch führte er die militärischen Erfolge gegen China 1894/95 nicht auf Technologie oder Ausbildung zurück, sondern auf den Geist des Bushid, der das japanische Volk erfasst habe.

der budoka 7-8/2012 43 Das Titelbild Es gibt Forscher, die der Meinung sind, dass man Bushid als japa- der deutschen nische Volksmoral realisieren sollte. Jedoch sollte man nicht Bushid Ausgabe von in unbedachter Weise wiederbeleben, weil es die Moral der Krieger „Bushid - the Soul of ist, die in der Feudalzeit an Bedeutung gewann. Allein die verän- Japan“ derte Verwaltungsform in der heutigen Zeit sagt aus, dass es nicht möglich wäre, traditionelles Bushid zu praktizieren. Es kann so- gar dem japanischen Staat Schaden zufügen, weil die traditionelle Bushid-Konzeption aggressive Elemente umfasst. Beispielsweise wäre es sinnlos, die Rache sowie die Ausführung des Opfertodes in Form des Bauch-Aufschneidens in die Tat umzusetzen. Solche Hand- lungen gelten als Formalismus in der Bushid-Konzeption. Es sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass es zwei Elemente in der Bushid- Konzeption gibt, Formalismus und Idealismus im Sinne der japani- schen Gesinnung. Die Gesinnung ist stets präsent, jedoch ändert sich der Formalismus je nach den zeitgenössischen Umständen. Daher ist es unmöglich, formelle Elemente in der Bushid-Konzeption wieder- herzustellen. Sie sollen gar nicht zur Anwendung kommen.“ (Über- setzt aus: 1905, entnommen aus , S. 86).

Aus dieser Passage wird deutlich, dass sich in vollem Umfang darüber bewusst war, dass der traditionelle Bushid - wenn er über- haupt eine Funktion in der künftigen japanischen Moralerziehung spielen sollte - durch eine neukonstruierte Konzeption abgelöst wer- den musste, einer Neukonstruktion, die sich an der Gesinnung und nicht an formalen Aspekten orientiert. Zu dieser Gesinnung führt er aus: „In der Edo-Zeit leistete der Samurai gegenüber seinem Feldherrn in den jeweiligen Provinzen Loyalität. Doch in der heutigen Zeit ent- stand das organisierte Militär, sodass Bushid in Form der Loyali- tät des Militärs gegenüber dem Tenn und dem Volk existiert. Daher kann der Formalismus in der Bushid-Konzeption der Edo-Zeit nicht mit dem der heutigen Zeit gleichgestellt werden. Dem übergeordneten Kritikan Gegenüber, also dem, der die eigene Stellung überragt, loyal zu sein, Man muss deutlich sagen, dass sich bei ein erstaunlicher Man- ist eine Tat, die auch in unserer Zeit möglich ist. Verstand man un- gel an Wissen über japanische Geschichte und Literatur offenbart. So ter Bushid die Loyalität gegenüber dem eigenen Herrn im wahrsten ignorierte er völlig, dass es sehr wohl schriftliche Abhandlungen und Sinne des Wortes, so zeigte sich, dass der Erhalt der Loyalität landes- fundierte Konzepte zum Verhalten von Samurai gab, die über den weit in die Praxis umgesetzt wurde. Der loyale Geist, den das Militär Umfang von „ein paar Maximen“ deutlich hinausgingen, wie z.B. die Arbeiten von oder das Buk-sho-hatto.

differenzierte in seinen Ausführungen auch nicht nach Epo- Portrait von chen (vor/nach Edo-Zeit) und war sogar der Überzeugung, den Be- wurde nach dem zweiten Weltkrieg griff Bushid erfunden zu haben, kannte also die - zugegeben weni- die Ehre zuteil, auf 5.000-Yen- gen - bis dahin erschienenen Schriften, in denen der Terminus ver- Banknoten abgebildet zu werden. wendet wurde, ebenfalls nicht. Diese und weitere Ungereimtheiten waren Wasser auf die Mühlen ja- panischer Philosophen wie (1856 bis 1944) über des- sen Bushid-Konzeption weiter unten zu berichten sein wird. selbst spielte von daher in der japanischen Bushid-Diskussion kaum eine Rolle. Dem westlichen Publikum blieben diese Unzulänglichkei- ten jedoch verborgen, denn wer würde schon an den Ausführungen eines nach westlichen Maßstäben hoch gebildeten Japaners über die Geschichte und Philosophie seines eigenen Landes zweifeln?

und die Neukonzeption des uid um 1904/05

, der den Bushid mit westlichen Analogien erklärte und da-

durch indirekt auch mit westlicher „Ritterlichkeit“ gleichsetzte, wur- Portrait von , de auch dafür von konservativen Japanern heftig kritisiert. Insbeson- einem der führenden Philosophen dere , einer der führenden konfuzianischen Philoso- Japans in der ersten Hälfte des phen und Architekten der Kokutai-Ideologie, vertrat die Auffassung, 20. Jahrhunderts dass die westliche Welt nichts dem Bushid Vergleichbares hervor- gebracht hätte.

, der ebenfalls mehrere Jahre in Deutschland studiert hatte, lehnte im Gegensatz zum Quäker das Christentum als schäd- lich für Japan ab. Für ihn bildete Shint mit dem Gründungsmythos des japanischen Volkes als „Göttervolk“ (Shinkoku) und dem Tenn als Gott in Menschengestalt die Basis des japanischen Nationalwe- sens (Kokutai). Der Konfuzianismus bildete - wie bei - den Rahmen für tugendhaftes Verhalten. Zum Problem Bushid und Mo- ralerziehung äußert er sich folgendermaßen:

44 der budoka 7-8/2012 gegenüber dem Tenn aufrecht hält, entspricht der gleichen japani- Zusammenfassung schen Gesinnung, die die Krieger früherer Zeiten gegenüber dem ei- genen Herrn aufwiesen. Es handelt sich hier nur um unterschiedliche Der „Weg des Kriegers“ - und das muss man letztendlich festhalten - war bereits zur Zeit der Samurai nicht im Detail eindeutig festge- Bereiche.“ (Übersetzt aus: 1905, entnommen aus , S. 86). legt. Machtinteressen, die in Gesetze und in „ofzielle Erwartungen“ an den Samurai-Stand festgeschrieben wurden, standen persönlichen geht es also deutlich erkennbar um die Loyalitätsbeziehungen. und überkommenen Vorstellungen gegenüber. Der Edo-zeitliche Der „loyale Geist“, der unmittelbar der „japanischen Gesinnung“ ent- Bushid befand sich also - wie (2008) es bezeich- spränge, zeige sich also in der Einhaltung einer vom Tenn ausgehen- nete - in einem Spannungsgefüge aus „Öffentlichkeit“ (Gesetze und den Befehlskette bis hinunter zu jedem einzelnen Soldaten. öffentlicher Diskurs) und „Privatheit“ (individuelle Wertvorstellun- gen). Jedoch ziehen sich die Begriffe Picht, Loyalität, Ehre, Scham Der „japanische Geist“ (Yamato damashii) wurde somit mit dem und bedingungsloser Gehorsam bis in den Tod durch alle Vorstellun- Bushid nahezu gleichgesetzt. Damit war das ideologische Tor zum gen hindurch. späteren Ultranationalismus und Militarismus weit aufgestoßen. In der Einmaligkeit des japanischen Geistes zeigte sich nach dieser Vor- Der Bushid-Diskurs der Meiji-Zeit ist Ausdruck der Suche Japans stellung die Überlegenheit des japanischen Volkes, das obendrein nach seiner nationalen Identität und nach einer allgemeinen japani- durch die Abstammung des Tenn von der Sonnengöttin Amaterasu schen Volksmoral. Bushid wurde je nach ideologischer Grundhal- ein „göttliches“ Volk sei. tung unterschiedlich interpretiert. und können hierbei als die gegensätzlichen Pole gelten, die sich vor allem darin unter- Fatale Folgen für Japan und die Welt schieden, dass der Quäker konfuzianische Ideen in die Nähe des Christentums rückte und damit eine Art „christlichen Bushid“ Der neu konstruierte Bushid wurde auf diese Weise Teil der ideolo- initiierte, während in vollkommenem Gegensatz dazu den gischen Basis des japanischen Herrschaftsanspruchs im pazischen Bushid unter Ablehnung des Christentums mit radikalem Shint Raum, der mit ungeheurer Brutalität und Menschenverachtung durch- verband. gesetzt wurde, bis im Jahr 1945 - keinesfalls minder brutal - die bei- den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki dem ein Ende bereite- Der in Japan zur Meiji-Zeit - aus wissenschaftlicher Sicht mit Recht - ten. Von den Soldaten verlangte man eine Gesinnung des Gehorsams kritisierte hatte auf die japanische Diskussion wenig Einuss, bis in den sicheren Tod. Die Erziehung der Jugend wurde auf diese jedoch prägten seine Vorstellungen maßgeblich das Bild des Westens Opferbereitschaft hin ausgerichtet. Leider müssen auch weite Teile von Bushid. s Vorstellungen mündeten dagegen in den japani- der Diskussion um die Aufnahme der Kampfkünste in die schulische schen Ultranationalismus und Militarismus der ersten Hälfte des 20. Erziehung vor dem Zweiten Weltkrieg in diesem Zusammenhang ge- Jahrhunderts. sehen werden, denn die Erziehung im Geist dieses neu denierten Bushid war eine der ihnen zugedachten Funktionen. Wenn also von Bushid die Rede ist, muss man immer fragen, welche bzw. wessen Bushid-Vorstellung gemeint sei. Mehrere Ausprägun- In der Bushid-Diskussion der Meiji-Zeit und nachfolgend wurde die gen wurden oben kurz dargestellt - und dabei noch gar nicht erwähnt, Geschichte der 47 Rnin übrigens zu einem wichtigen propagandis- dass es auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine Bushid-Diskussion in tischen Faktor, nachdem der Tenn das Verhalten der Rnin als be- Japan gegeben hat und immer noch gibt. sonders vorbildlich darstellte und ihr Grab besuchte. Bücher mit der „wahren“ Geschichte der Rnin wurden veröffentlicht und der Stoff Und was soll man schließlich davon halten, wenn heutzutage erfolg- schließlich bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mehrfach verlmt. reiche Sportlerinnen und Sportler - nicht nur in den Kampfsportarten, sondern zum Beispiel auch im Baseball - in die „Tradition der Samu- uid der Meiji-Zeit - eine „invented tradition“ für eine rai“ und ihrer Philosophie gestellt werden? Nation auf der Suche nach sich selbst Leseempfehlungen Bushid wird heute häug als eine in der Meiji-Zeit entstandene Wer sich näher mit Bushid auseinandersetzen möchte, dem kann das „invented tradition“ nach betrachtet. Mit diesem Begriff wird ganz allgemein das Phänomen bezeichnet, dass eine Ge- Lesen der deutsch verfügbaren Werke „Hagakure“, „Buch der fünf sellschaft eine historisch nicht nachweisbare Tradition nach ihren ak- Ringe“ und „Bushid - die Seele Japans“ empfohlen werden. Jedoch tuellen Erfordernissen rückwirkend „erndet“ oder zumindest stark sollte dies durch Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Literatur verfälscht, um das gegenwärtige und zukünftige Handeln als in ver- - Vorsicht vor populären/populistischen Darstellungen (!) - begleitet meintlicher historischer Kontinuität stehend zu rechtfertigen. werden. Im Februar 2011 erschien die Dissertation von mit kann man, ohne einen Fehler zu riskieren, vorwerfen, Bushid nach seinen eigenen Ideen beschrieben und als japanischen Volks- dem Titel: „Bushid, the creation of martial ethic in the late Meiji geist „erfunden“ zu haben. Er macht viele wissenschaftliche Fehler Japan“ an der University of British Columbia in Vancouver. Die über und ist nicht in der Lage, historische Bushid-Konzepte in seine 300 Seiten starke Arbeit ist als Volltext im Internet verfügbar und Überlegungen einzubeziehen. offenbart viele weitere interessante Aspekte des Bushid-Diskurses mit vielen Zwischentönen im Machtverhältnis zwischen Schwieriger ist die Beurteilung von . Er ist der wohl beste Ken- und Kaiserhaus. ner der relevanten historischen Schriften seiner Zeit. Aber auch ihm ist klar, dass der Bushid nach den Vorstellungen und Erfordernissen Auf deutsch und ebenfalls als Volltext im Internet verfügbar ist die seiner Zeit neu konzipiert und damit auf die neue Gesellschaftsform 2008 verfasste Dissertation von „Bushid - Dis- ausgerichtet werden muss. Er trennt Formalismus und Idealismus im kurs. Die Analyse der Diskrepanz zwischen Ideal und Realität im Bushid und versucht, den ideellen Bushid als Essenz des „japani- Bushid-Diskurs aus dem Jahr 10“. schen Geistes“ zu etablieren. Bushid ist jedoch nicht als Ausdruck Besonders lesenswert ist auch : „Shint und die Kon- des „japanischen Geistes“ entstanden, sondern einerseits durch Auf- zeption des japanischen Nationalwesens (kokutai) - Der religiöse bau von Machtstrukturen, die auf Loyalität angewiesen waren, und Traditionalismus in Neuzeit und Moderne Japans.“ (1998). andererseits als Selbstverständnis einer bestimmten sozialen Gruppe, die sich um ihrer sozialen Identität Willen von den niedrigeren Stän- den absetzen mussten.

der budoka 7-8/2012 45 Wie Jd olpisch wurde

von Wolfgang Dax-Romswinkel

Vorbemerkung: Zur Bedeutung Olympischer Spiele für interna- Japan und Olympia vor dem Zweiten Weltkrieg tionale Anerkennung und nationale Identikation Der -Begründer JIGOR KAN wurde 1909 auf Vermittlung des Die großen internationalen Sportereignisse, allen voran Olympische französischen Botschafters das erste asiatische Mitglied im IOC, Spiele, verfügen aufgrund der enormen Zuschauerzahlen und des blieb es auch 29 Jahre lang, und führte 1912 die japanische Delegati- weltweiten Medieninteresses wie kaum ein anderes Ereignis über on - bestehend aus zwei Läufern - bei ihrer ersten olympischen Teil- internationale Aufmerksamkeit. Die Olympischen Spiele 1972 in nahme an. Ab 1933 verfolgte er erfolgreich die Aufgabe, die Spiele München und die anschließende Fußball-Weltmeisterschaft 1974 in 1940 nach zu holen, damit sich Japan der Welt als dem Westen Deutschland bedeuteten zum Beispiel hierzulande den endgültigen ebenbürtige Nation präsentieren konnte. Die Wettkämpfe wurden je- Durchbruch des Farbfernsehens. Obwohl die Geräte damals noch doch von der japanischen Seite kurz nach KANs Tod 1938 aufgrund weit mehr als ein durchschnittliches Monatsgehalt kosteten, boomte wirtschaftlicher und politischer Probleme abgesagt. Letztlich elen der Markt aufgrund des überragenden Zuschauerinteresses an beiden aufgrund des Zweiten Weltkriegs die Olympischen Spiele 1940 und Ereignissen. Je mehr Medaillen - insbesondere goldene - gewonnen 1944 aus. werden, desto häuger taucht das Herkunftsland der erfolgreichen Aktiven mit Fahne und Hymne in Bildern und Berichten auf. Um- Nach seiner Rückkehr von den Olympischen Spielen 1928, einer Rei- fang und Qualität der internationalen Wahrnehmung korrelieren also se, auf der er auch zahlreiche politische Gespräche geführt hatte, rich- naturgemäß mit den Erfolgen der Sportlerinnen und Sportler einer tete JIGOR KAN die folgenden, den zeitlichen Kontext hervorragend Nation. illustrierenden, Worte an die Kulturvereinigung des : Hinzu kommt, dass kaum ein anderes Ereignis so viele patriotische Gefühle auslöst, wie die erfolgreiche Teilnahme einer Nationalmann- G schaft an einem sportlichen Großereignis. Je schwieriger die allge- meine wirtschaftliche und politische Lage einer Nation ist, desto bedeutsamer können sportliche Erfolge für das nationale Selbstbe- S wusstsein sein. Oft werden erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler sogar als „Nationalhelden“ bezeichnet und verehrt. Dieser Effekt ist B - umso intensiver, je stärker die betreffende Sportart in der Bevölke- rung verankert ist und von breiten Bevölkerungsschichten in Kind- S - heit und Jugend betrieben wurde bzw. wird. Ein besonders prägnan- tes Beispiel aus deutscher Sicht war zum Beispiel der Gewinn der B S - Fußball-Weltmeisterschaft 1954 in Bern, der Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg das Gefühl zurückbrachte, wieder „wer“ zu sein, - wieder international anerkannt zu werden. S G Der hohe Prestigewert sportlicher Großereignisse ist jedoch ein zwei- schneidiges Schwert. Der Sport wird mitunter für politische Propa- B gandazwecke missbraucht, wenn die Stärkung nationalen Selbstbe- (übersetzt aus BENNETT 2008, Seite 11f). wusstseins in die Schaffung nationaler, politischer oder rassischer Wie kam Jigor KAN zu diesen Schlussfolgerungen? Bei den Vor- Überlegenheitsgefühle umschlägt. Als prägnantes Beispiel müssen kriegsspielen sorgten vor allem die japanischen Schwimmer für Fu- die Olympischen Spiele 193 in Berlin genannt werden, bei denen rore. Dies hatte eine besondere symbolische Bedeutung, denn bis die Nationalsozialisten die Überlegenheit der arischen Rasse de- dahin wurden die Schwimmwettbewerbe von „Modellathleten“ wie monstrieren wollten. Ein weiteres Beispiel ist der Kampf Ost gegen JOHNNY WEISSMÜLLER, dem späteren Tarzandarsteller, beherrscht. Die West, der zu Zeiten des Kalten Kriegs propagandistisch auch in den teilweise blutjungen japanischen Schwimmer waren ihren westlichen Sportstadien ausgetragen wurde - oder indem man den Wettkämpfen Konkurrenten zwar körperlich weit unterlegen, jedoch gelang es ih- wie bei den Olympischen Spielen in Montreal 197 (Boykott vieler nen mit Technik und viel Fleiß, diesen Nachteil zu kompensieren und afrikanischer Länder), in Moskau 1980 (Boykott vieler westlicher zu beweisen, dass auch Menschen mit kleinen Körpern zu außerge- Länder) und in Los Angeles 1984 (Boykott vieler östlicher Länder) wöhnlichen Leistungen fähig sein können. Dies stärkte das nationale demonstrativ fern blieb. Selbstbewusstsein der Japaner in nicht zu unterschätzender Weise. Auch wenn viele Sportlerinnen und Sportler ihren Sport gerne von Darüber hinaus waren japanische Sportler in den leichtathletischen der Politik lösen wollen: Internationaler Spitzensport kann insgesamt Sprungdisziplinen - außer im Hochsprung - und im Marathonlauf nicht unpolitisch sein, da seine Events immer eine gesellschaftliche recht erfolgreich. und damit auch politische Wirkung haben. Gerade hierin liegt ja auch Die japanischen Medaillen bei den Olympischen Spielen 1912 bis die Motivation der meisten Staaten, olympische Sportarten deutlich 193 verteilten sich folgendermaßen: stärker zu fördern als andere. Die Aufnahme von in das olympische Programm war ein ge- Sportart Gold Silber Bronze waltiger Katalysator für die weltweite Verbreitung von . Dies Schwimmen 10 8 8 wirft aber im Kontext des Vorgenannten auch Fragen auf. Wie kam es dazu? Welche gesellschaftlichen und politischen Interessen spiel- Leichtathletik 335 ten in diese Entscheidung hinein? Was bedeutete die Austragung der Springreiten 1-- Olympischen Spiele 194 in inklusive der -Wettkämpfe für Japan und warum schmerzte die Niederlage von AKIO KAMINAGA Tennis -2- gegen im Finale der offenen Klasse so besonders? Hockey -1- Ringen --1 Summe 14 14 14

der budoka 9/2012 33 1932 gewann Japan mit seinem Doppelsieg für Japan über 1500 m. YASUJI MIYAZAKI war und ist bis heute der jüngste Olympiasieger „Schwimmkindergarten“ elf von 16 Links der Weltrekordhalter über über 100 m Freistil, die er in olympischer Rekordzeit von 58,2 möglichen Medaillen. Bis dahin hat- 800 m, SHZ MAKINO, der sich nur Sekunden als 15-Jähriger gewann. Den Rekord hatte bis dahin ten Athleten wie JOHNNY WEISSMÜL- seinem Mannschaftskameraden JOHNNY WEISSMÜLLER gehalten. LER, Goldmedaillengewinner 1924 und KASUO KITAMURA (rechts) beugen 1928 und erster Mensch, der 100m musste, der mit 14 Jahren jüngs- in unter einer Minute schwamm, das ter Schwimm-Olympiasieger aller Schwimmen beherrscht. Zeiten wurde.

In Bezug zum fährt KAN in seinem Bericht fort: Zeit auch keine volle staatliche Souveränität, sondern standen unter Kontrolle der Siegermächte. - S G Ende der 1940er-Jahre änderte sich die geostrategische Lage drama- - tisch. Die große politische Blockbildung setzte ein und der Kampf - gegen den Kommunismus hatte für die Westmächte höchste außenpo- G litische Priorität. Die Teilung Deutschlands und die Westintegration der Bundesrepublik markierte in Mitteleuropa die Schnittstelle zwi- S- schen West und Ost. In Asien begann 1950 der Koreakrieg. In dieser Situation richtete sich das Augenmerk der USA auf Japan, das als - strategische Basis für den Kampf gegen den Kommunismus im pa- G zischen Raum und Asien dienen sollte. Japan bekam im April 1952 (übersetzt aus BENNETT 2008, Seite 12). seine volle staatliche Souveränität zurück, nachdem der Friedensver- trag am 8. September 1951 in San Francisco unterzeichnet worden Bemerkenswerterweise spricht KAN hier über seine Erkenntnisse war. Dass es dazu kommen würde, hatte sich natürlich schon länger aus der Reise zu den Olympischen Spielen 1928 von kommenden vorher abgezeichnet und es bestand ein großes Interesse der USA, internationalen Wettkämpfen - und stellt die Frage von Sieg und Nie- enge Beziehungen zu Japan aufrecht zu erhalten und das Land auf derlage der Japaner unmissverständlich in den Kontext ihrer körperli- diese Weise in die eigenen strategischen Belange einzubinden. chen und geistigen Fähigkeiten im Verhältnis zu westlichen Aktiven. Hieraus darf man aber nicht schließen, dass KAN in der Nähe eines Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass sich der Oberkom- aufkommenden Rassismus stand. Vielmehr muss er als Patriot gelten, mandierende der alliierten Streitkräfte in Japan, General DOUGLAS dem die Entwicklung eines nationalen Selbstbewusstseins am Herzen MACARTHUR, für eine Teilnahmemöglichkeit Japans an den Olympi- liegt. In seiner weiteren Argumentation macht KAN deutlich, dass er schen Spielen 1952 in Helsinki einsetzte. Ein Jahr zuvor war das neu in seiner Lehre von S- und - den Schlüssel zur gegründete japanische olympische Komitee bereits vom IOC aner- Entwicklung Japans sieht, nämlich dass die volle Ausschöpfung der kannt worden. Japan wurde danach für die Spiele in Helsinki 1952 körperlichen und geistigen Möglichkeiten des Einzelnen und der Na- zugelassen. Deutschland durfte dort übrigens auch mit einer gemein- tion im Geiste eines gemeinsamen Wachsens bestmögliche Ergebnis- samen Mannschaft aus Bundesrepublik und DDR erstmals wieder se hervorbringt. Und selbstverständlich ist für ihn das Medium, teilnehmen. die richtige Einstellung der Jugend zu entwickeln. Die Kanditatur für die Austragung olympischer Som- In den Folgejahren entwickelte sich allerdings bekanntermaßen so- merspiele wohl in Japan als auch in Deutschland ein Rassismus und Ultrana- tionalismus, der in die weltweite Katastrophe führte. Zu diesen Ent- Noch im Jahr der wiedererlangten staatlichen Souveränität Japans wicklungen stand KAN in klarer Opposition, wobei er den Kriegs- (1952) beschloss , sich um die Austragung der Spiele 190 ausbruch nicht mehr erlebte. Wie ging die Entwicklung nach dem zu bewerben. Diese wurden 1955 allerdings nach Rom - der Haupt- Krieg weiter? stadt eines weiteren Verlierers des Zweiten Weltkriegs - vergeben. Unmittelbar nach dieser Niederlage entschloss sich zu einer Ausschluss Deutschlands und Japans von London 1948 und die sofortigen erneuten Kandidatur für die Spiele 194. In diesem Kon- Wiederzulassung für Helsinki 1952 text richtete man 1958 die 3. Asienspiele und unmittelbar zuvor den IOC-Kongress in aus. Auf diese Weise konnten sich viele IOC- Zu den Olympischen Spielen 1948 in London wurden Japan und Mitglieder von den organisatorischen Fähigkeiten Japans überzeu- Deutschland nicht eingeladen. Faktisch waren beide Länder von der gen, sodass schließlich im Folgejahr bei der Abstimmung in internationalen Gemeinschaft ausgeschlossen. Beide hatten zu dieser

34 der budoka 9/2012 München - Deutschland war also auch wieder olympisch aktiv - mit Die Bedeutung von Turnen und Ringen in den 1950er-Jahren ist nicht seiner Bewerbung erfolgreich war. zu übersehen, während die Erfolge der Schwimmer erst langsam, dann dramatisch einbrachen und Japan hinter die Dominanz der USA Japan hatte erkannt, dass die Olympischen Spiele im eigenen Land und Australien zurückel. In der Leichtathletik spielte Japan nach Gelegenheit geben würden, sich der Welt gegenüber positiv zu prä- dem Krieg praktisch keine Rolle mehr. Besonders prägnant: 23 der 25 sentieren - und die Welt nahm die Einladung an. Auf der anderen Sei- Goldmedaillen von 1952 bis 194 wurden im Turnen oder in Sportar- te war Japan auch klar, dass seine eigenen Sportler erfolgreich sein ten mit Gewichtsklasseneinteilung erzielt. mussten, um eine nationale Identikation zu erreichen, denn gerade daran mangelte es im buchstäblich niedergeschlagenen Japan. Das Gründung der IJF und erste Versuche, als olympische Sportfördersystem wurde also auf den Spitzensport ausgerichtet. Die Disziplin zu etablieren Ergebnisse ließen auch nicht lange auf sich warten. Eine Sportart, die nicht auf Weltebene organisiert ist, kann allein Erfolgreiche japanische Sportarten bei Olympia 1952 bis 1964 schon aufgrund des Fehlens einheitlicher Regeln unmöglich in das olympische Programm aufgenommen werden. Vor jeglichen Bemü- Bei den Wettkämpfen zwischen 1952 und 190 waren vor allem hungen, dem IOC als neue Disziplin vorzuschlagen, musste also Schwimmer, Turner und Ringer erfolgreich. Es waren jene Sportar- die Gründung eines -Weltverbandes erfolgen. Erst dieser konnte ten, in denen ein kleiner und leichter Körperbau keinen Nachteil dar- dann weitere Schritte unternehmen. stellte. Ringen, Gewichtheben und Boxen wurden in Gewichtsklas- sen ausgetragen und Japan war naturgemäß in den leichten Klassen Bereits 1948 erfolgte in London die (Wieder-)Gründung der Europäi- erfolgreich. Kleine Turner haben günstige Hebelverhältnisse und die schen -Union (EJU), deren Vorläufer von Jigor KAN zu Beginn japanischen Schwimmer hatten ohnehin eine hervorragende olympi- der 1930er-Jahre initiiert worden war. Bei beiden Gründungen spielte sche Tradition. Frauen spielten übrigens im japanischen Spitzensport der London B eine zentrale Rolle. Die Strategie KANs, in von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen so gut wie gar keine Rolle. Europa und in den USA lebende -Lehrer wie GUNJI KOIZUMI und YUKIO TANI an den zu binden - vor allem durch Ver- Die nachfolgende Tabelle zeigt die summierten japanischen Medail- leihung von -Graden - erwies sich als weitsichtig, denn auch die len bei den Spielen 1952/195/190 und die erreichten Medaillen bei neu gegründete EJU hatte via London B mit seinem Führer den Heimspielen 194. G. KOIZUMI eine deutliche Nähe zum .

Sportart Gold Silber Bronze 1952/56/60 1964 1952/56/60 1964 1952/56/60 1964 Turnen 559481 Ringen 353 - -1 -3-1-- Schwimmen 1 - 10 - 2 1 Boxen -1- --- Gewichtheben -11--2 Volleyball -1- --1 Schießen ----11 Leichtathletik -----1 Summe 9 16 23 5 11 8

GEESINK gegen KAMINAGA: Der Holländer macht sich noch größer und mächtiger, der Japaner versucht, nicht nach- zustehen.

Am Ende ist es ein simpler Kesa- gatame im Finale der offenen Klasse Fotos: Privatarchiv Dieter Born

der budoka 9/2012 35 Der Weg des durch die IOC-Instanzen Bereits unmittelbar nach ihrer Gründung trat die IJF an das IOC he- ran und wurde am 15. September 1951 als Weltorganisation für die nicht-olympische Sportart anerkannt. Dies war der erste wichti- ge Schritt in die olympische Bewegung.

Schon kurz nach Amtsantritt als IJF-Präsident beantragte RISEI KAN im Namen der IJF die Aufnahme von in das olympische Pro- gramm. Der Antrag wurde 1953 auf die Tagesordnung der IOC- Sitzung in Mexiko gesetzt, dort aber auf die Sitzung 1954 in Athen vertagt. Zu jener Zeit gab es jedoch im IOC Bestrebungen, das olym- pische Programm eher zu straffen als zu erweitern, sodass in Athen entschieden wurde, keine neuen Sportarten für die Spiele 195 (Mel- bourne) aufzunehmen. Nicht nur , sondern auch andere Sportarten versuchten, Aufnah- me in das olympische Programm zu nden. Jedoch blieb das IOC Freud und Leid bei der Siegerehrung der offenen Klasse: ein jubelnder AN- auch auf seiner Sitzung 1955 in Paris seiner Linie treu, wo die Auf- TON GEESINK und ein niedergeschlagener AKIO KAMINAGA nahme von , Volleyball, Bogenschießen und Rollschuhlaufen abgelehnt wurde. Der nächste Versuch der IJF wurde 190 lanciert. Mittlerweile war Aus der EJU ging 1951 die Internationale -Föderation (IJF) her- als Austragungsort der Spiele 194 bestimmt worden, was Ja- vor und ein Jahr später wurde RISEI KAN, Sohn von JIGOR KAN, pan einen etwas größeren Einuss auf die Programmgestaltung gab. nach intensiven internationalen Konsultationen und weltweiten Besu- Nach starkem Drängen wurde schließlich auf die Liste der mög- chen hochrangiger japanischer -Delegationen ihr Präsident. RISEI lichen Kandidaten für die Spiele 194 gesetzt. Jedoch war das Pro- KAN war schon 1949 Präsident des neu gegründeten Alljapanischen blem der Begrenzung des olympischen Programms, das gemäß der -Verbandes geworden, sodass der nun auf nationaler damaligen IOC-Statuten nur 18 Sportarten vorsah, noch nicht gelöst. und auf internationaler Ebene entscheidenden Einuss auf die Ent- Welche Sportart(en) sollte(n) also zugunsten von entfallen? wicklung des hatte. Das Organisationskommitte schlug die Streichung des Mo- Die Bedeutung der IJF-Präsidentschaft von RISEI KAN dernen Fünfkampfes aufgrund eines angeblichen Mangels an Pferden in Japan und das Entfallen von Rudern vor. Nach hitzigen Debat- Die politische Bedeutung der IJF-Präsidentschaft für Japan war ten einigte man sich jedoch darauf, das Programm für 194 auf 20 enorm, denn das Land war im Jahr der Wiedererlangung der staat- Sportarten auszuweiten, wodurch 194 Eingang nden konnte. lichen Souveränität gerade erst auf dem Weg zurück in die interna- Für die Spiele 198 waren keine -Wettkämpfe geplant, die end- tionale Gemeinschaft. war eine Möglichkeit für Japan, seine gültige Aufnahme erfolgte daher erst 1972 für Männer und 1992 für eigene Kultur als positiven Beitrag in den Westen zu exportieren und Frauen, nachdem 1988 in Seoul bereits Frauenwettkämpfe als De- so JIGOR KANs Arbeit fortzusetzen. Dieser hatte im Jahr 1922 vor monstrationswettbewerbe durchgeführt worden waren. der Kulturvereinigung des verkündet: Oftmals wird die Aufnahme von als Entgegenkommen gegen- B über dem Ausrichter betrachtet. Es darf aber dabei nicht übersehen - S-S- werden, dass auch Europa und die USA auf die Aufnahme von S- G- drängten. Der bedeutendste außerjapanische Unterstützer dürfte da- - bei der Schweizer OTTO MAYER, damals Kanzler des IOC, gewesen sein. G G Für Japan hatte die Aufnahme von eine überragende gesell- - schaftliche Bedeutung. Zum ersten Mal wurde eine nicht-europä- B G ische Sportart in das olympische Programm aufgenommen. Diese G - - war zudem vom ersten asiatischen Mitglied des IOC, JIGOR KAN, entwickelt worden. KANs Traum, einerseits durch andererseits durch die olympische Bewegung Frieden und Wohlstand in die Welt zu bringen, wurde greifbar. Japan hatte also der Welt wieder etwas 1 B G B Positives zu geben und die Welt nahm Japan auch mit seinen kul- S turellen Errungenschaften wahr. Nebenbei stieg auch die historische 2 S Bedeutung J. KANs als „Vater des japanischen Sports“ und Begrün- der des für Japan, was durch umfangreiche Veröffentlichungen S G G- - z.B. einer KAN-Biographie, die anlässlich der Olympischen Spiele (aus SYD HOARE 2007, vom Verfasser aus dem 194 herausgegeben wurde - deutlich zum Ausdruck kommt. Englischen übersetzt). Querschüsse gegen die IJF als Weltorganisationen des Schon JIGOR KAN hatte vor dem Zweiten Weltkrieg -Lehrer in andere Länder entsandt, um dort und seine Philosophie zu beim IOC verbreiten. Dieser Weg wurde nun mit staatlicher Hilfe fortgesetzt. Neben der IJF gab es noch eine Reihe weiterer internationaler Orga- Vielen Ländern wurden in der Folge mit nanzieller Unterstützung nisationen, die Formen von -/- oder vornehmlich des japanischen Staates japanische -Lehrer zur Verfügung ge- vor professionellem Hintergrund betrieben. Insbesondere die „In- stellt. Außerdem wurden zwischen und vielen nationalen ternational World Judo-Federation“(IWJF), die von JACK ROBINSON Verbänden Vereinbarung zur Vergabe von -Graden - meist unter geführt wurde, versuchte ab 1955 anstelle der IJF vom IOC als Welt- Einbeziehung der japanischen Lehrer - getroffen. verband für anerkannt zu werden. ROBINSON, ein Brite, der nach Südafrika ausgewandert war, hatte sich selbst zum 10. graduiert und unternahm mehrere Versuche, den und das japanische als Gefahr für die westliche Kultur zu diskreditieren.

Das IOC hatte ROBINSON, nachdem sich dieser als Repräsentant für vorstellte, zunächst mit Verweis auf die bereits erfolgte An- erkennung der IJF als Weltorganisation für empfohlen, einen

36 der budoka 9/2012 gemeinsamen Verband zu gründen. Aufgrund des obskuren Hinter- eine militärisch starke Nation, die dann aber im Zweiten Weltkrieg grunds von ROBINSON war die IJF jedoch nicht daran interessiert. vernichtend geschlagen wurde. Die japanische Volksseele fühlte eine Daraufhin verleumdete ROBINSON die IJF als nicht mit dem damals nationale Unterlegenheit, aber ein Sieg im über den Westen sehr hoch gehaltenen Amateurgedanken vereinbar, da ihr Präsident würde zweifellos neuen Nationalstolz herbeizaubern können, so wie RISEI KAN eine kommerzielle -Schule, den , betreiben das „Wunder von Bern“ der deutschen Nation vermittelt hatte, wieder würde. Dies konnte von Seiten der IJF mit der Klarstellung berei- „wer zu sein“. Eine Niederlage im würde dagegen eine weitere nigt werden, dass der kein kommerzielles Unternehmen Traumatisierung bedeuten. sei, sondern bereits 1909 in eine Stiftung umgewandelt worden war und dass selbstverständlich die hauptberuichen Lehrer bei Olympia Die Einführung von Gewichtsklassen im nicht startberechtigt wären. Umgekehrt geriet übrigens ROBINSON in die Defensive, nachdem das nationale Olympische Komitee seines Nachdem 190 als Teil der Spiele 194 beschlossen war, fan- Heimatlandes Südafrika die IWJF als „professionell“ eingestuft hatte. den 191 in Paris die 3. Weltmeisterschaften - immer noch ohne Ge- wichtsklassen - statt. Im Finale bezwang der deutlich größere, schwe- Das zweite Geschütz, das die IWJF auffuhr, hatte ein größeres Kali- rere und stärkere Niederländer ANTON GEESINK seinen Gegner KOJI ber. Dem wurde unterstellt, einen „Cocktail von -Bud- SONE zunächst mit - für S-- und später mit einem dhismus, Mystik und B“ in die Welt tragen zu wollen, um so Haltegriff. Japan war gewarnt, zumal GEESINK auf dem Weg ins Fina- die christlichen Werte des Abendlandes zu unterwandern. Man selbst, le schon AKIO KAMINAGA (Kampfrichterentscheid) und HITOSHI KOGA so die IWJF, würde dagegen als schönen Sport betrachten, je- ( für -) ausgeschaltet hatte. doch gegen die Vereinnahmung durch „religiösen Imperialismus“ schützen wollen. Zufall oder nicht? Die Weltmeisterschaft 191 war die letzte große Meisterschaft auf Weltebene, die ohne Gewichtsklassen ausgetragen Die japanischen Vertreter im IOC und auch RISEI KAN hatten große wurde. Für die Spiele in wurden drei Gewichtsklassen (Leicht-, Mühe, diesem Vorwurf zu begegnen, stellten jedoch unmissverständ- Mittel, Schwergewicht) eingeführt und zusätzlich ein Wettbewerb lich klar, dass es keine Verbindung zwischen und irgendeiner in der offenen Klasse ausgetragen. Dies erhöhte natürlich auch die religiösen Lehre gäbe, die durch vermittelt werden sollte. Dies Chancen auf japanische Goldmedaillen signikant. würde sich auch aus den Schriften von JIGOR KAN ergeben. Auch wenn diese Querschüsse letztlich ihr Ziel verfehlten, schwächte es die Die Einführung von Gewichtsklassen war durchaus umstritten. Es Position des in der IJF und im Folgejahr der Olympischen war und ist ja gerade das Credo des , dass der kleine und schwä- chere Kämpfer nicht unterlegen sein muss. Dennoch ist offensicht- Spiele von übernahm der Brite CHARLES PALMER die IJF-Präsi- dentschaft und beendete so die Kontrolle des über die IJF. lich, dass die Chancen bei großen physischen Unterschieden nicht gleich verteilt sind. Der Kompromiss, wenn man es so nennen darf, - der Mythos des Sieges von Technik und Geist über Stärke war die offene Klasse als Herzstück der Wettkämpfe, in der es zum Kampf „Klein gegen Groß“ kommen konnte und sollte. Für Japan waren die Ausrichtung der Spiele in und die Auf- nahme von in das olympische Programm bereits wichtige Mei- Demütigung für eine ganze Nation: die Niederlage KAMINAGAs lensteine auf dem Weg zur Integration in die internationale Staaten- gegen GEESINK gemeinschaft. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, der nicht übersehen werden darf, weil er für die japanische Volksseele eine Der Wettkampf in der offenen Klasse gegen den amtierenden Welt- besondere Bedeutung hatte. meister aus den Niederlanden hatte also für die Japaner eine besonde- re Bedeutung. Es war die Versinnbildlichung des Kampfes des klei- ist seit jeher mit dem Gedanken verbunden, dass ein kleinerer, nen japanischen Mannes gegen den europäischen Riesen, der Kampf schwächerer Kämpfer (oder Kämpferin) einen großen und stärkeren japanischer Finesse und japanischen Geistes gegen überlegene Kraft. besiegen kann, wenn er/sie es nur rafniert genug anstellt. Technik, Allerdings kann sich jedermann heute via Internet (z.B. bei judovi- Geschicklichkeit und ausgeprägter Wille können körperliche Unter- sion.org) ein Bild davon machen, dass man mit dieser Zuspitzung legenheit - wenn auch in Grenzen - kompensieren. Im Kampf japa- ANTON GEESINK reichlich Unrecht tat, denn er suchte den Sieg gegen nischer gegen westliche Gegner schwingt genau dies als eine die Japaner stets auch mit technischen Mitteln, während letztere oft Art „japanischer Traum“ stets mit, wenn ein vermeintlich schwäche- viel zu verhalten kämpften. rer Japaner einem vermeintlich stärkerem Europäer oder Amerikaner gegenübersteht. Das Ergebnis ist bekannt. Am Ende hielt GEESINK im Finale KAMINA- GA mit - fest und versetzte Japan einen herben Schock, Das japanische Volk war im 19. Jahrhundert dank enormer Anstren- über den auch der überlegene Gewinn der Goldmedaillen in den drei gung der Kolonialisierung entgangen. In den Folgejahren entstand Gewichtsklassen nicht hinwegtrösten konnten. Nur der Titel in der

Die erste Silbermedaille beim Judo für Deutschland: Der Kölner WOLFGANG HOFMANN (links) bei der Siegerehrung. Fotos: Privatarchiv Dieter Born

der budoka 9/2012 37

offenen Klasse, nur der Sieg über GEESINK hätte den Traum vom Klei- nen, der den Großen besiegt, lebendig werden lassen. Die Krone des IMPRESSUM blieb so aber in den Niederlanden, wo sie ganz nebenbei be- merkt auch bei der nächsten Auage olympischer -Wettkämpfe „der budoka“ - Verbandsmagazin des Dachverbandes für 1972 in München blieb, als WILLEM RUSKA der historische Doppeltri- Budotechniken Nordrhein-Westfalen e.V. umpf im Schwergewicht und in der offenen Klasse gelang. 40. Jahrgang 2012 So blieb es dann dem heutigen Präsidenten des und der Herausgeber, Verlag, Redaktion, Anzeigen- und Abo- Alljapanischen -Föderation, H. UEMURA, überlassen, 197 in verwaltung: Montreal die erste japanische Goldmedaille in der offenen Klasse zu Dachverband für Budotechniken Nordrhein-Westfalen e.V. gewinnen, gefolgt vom legendären 1984 in Los Postfach 10 15 0 Angeles. Ab 1988 wurde die offene Klasse schließlich aus dem Pro- 47015 Duisburg gramm gestrichen, da faktisch nur noch Schwergewichte gemeldet Friedrich-Alfred-Str. 25 wurden, die auf diese Weise eine zusätzliche Medaillenchance be- 47055 Duisburg kamen. Telefon: 02 03 / 73 81 - 2 Telefax: 02 03 / 73 81 - 24 Zusammenfassung und Fazit E-Mail: [email protected] Japan hat sehr früh nach dem Zweiten Weltkrieg den Sport im Allge- www.budo-nrw.de meinen und das im Besonderen als Felder erkannt, durch die so- Redaktionsleitung: Erik Gruhn (verantwortlich) wohl die (Re-)Integration in die internationale Staatengemeinschaft E-Mail: [email protected] als auch der Aufbau einer nationalen Identität gefördert werden konn- te. Die IJF-Präsidentschaft von JIGOR KANs Sohn RISEI, die Austra- Redaktionsschluss: der 1. des Vormonats gung der Olympischen Spiele 194 in und die Aufnahme von ISSN 0948-4124 in das olympische Programm waren jeweils wichtige Meilen- steine hierbei. Druck: SET POINT Schiff & Kamp GmbH Trotz der Niederlage KAMINAGAs gegen GEESINK ging aus der interna- Moerser Str. 70 tionalen Perspektive die Saat auf. wurde weltweit immer popu- 47475 Kamp-Lintfort lärer und entwickelte sich zu einem Exportschlager japanischer Kul- tur, mit dem bis heute Werte wie Höichkeit, Geschicklichkeit, Fleiß, Anzeigenpreise: Preisliste Nr. 5 vom 1.5.2011 Respekt und gegenseitige Hilfe verknüpft sind. entwickelte sich Erscheinungsweise: monatlich, 10 x im Jahr vor allem im Westen zum Inbegriff einer pädagogisch wertvollen Sportart, mit großen Potenzialen in der Gewaltprävention, im Aufbau Mit Namen gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt von Selbstbewusstsein insbesondere für kleinere Menschen und in die Meinung der Redaktion wieder. Für unverlangt eingesandte der Förderung sozialer Kompetenzen. Manuskripte, Fotos und Datenträger wird keine Haftung übernom- men. Millionen von Menschen in aller Herren Länder haben seither ein -Training aufgenommen und diese Werte mit Japan verbunden. Lieferbedingungen: In London nahmen Athletinnen und Athleten aus 135 Ländern - die Jahresabonnement 28,00 € zweitgrößte Nationenzahl aller Sportarten - teil. Sogar 21 von ihnen Bei Bankeinzug ermäßigt sich der Preis für das Jahresabonnement wurden als Fahnenträger/innen ihrer Länder bei der Eröffnungsfeier auf 24,00 €. Bezugsgebühren werden jeweils für das Kalenderjahr ausgewählt. Für viele Menschen war ein erster Einstieg für ein erhoben. Interesse an Japan und an japanischer Kultur, ein Interesse, das bei ei- nigen von ihnen sogar zu einer Aufnahme eines Japanologiestudiums Einzelheftpreis: 3,50 € (zzgl. Versandkosten) und zu aktiver Gestaltung kulturellen Austausches geführt hat Bei Bestellungen mehrerer Exemplare Konditionen auf Anfrage. Dass die in den letzten Jahren erkennbare „Entjapanisierung“ des Die Kündigung des Abos ist mit einer Frist von sechs gerade von den Japanern mit Sorge betrachtet wird, kann dabei Wochen zum Ende des Kalenderjahres möglich. ebenso wenig verwundern, wie die aktuellen Bemühungen, wieder einen größeren Einuss auf das Welt- zu erlangen, die Identika- Urheberrechtlicher Hinweis: tion der japanischen Bevölkerung mit dem wieder zu vergrößern Das Magazin, alle enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind ur- - zum Beispiel durch Einführung als Pichtsportart in Schulen (alter- heberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich nativ zu ) - und den Status als olympische Sportart zu erhalten. vom Urhebergesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustim- mung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Auch auf internationaler Ebene ist Japan wieder sehr aktiv dabei, tra- Übersetzungen, Mikroverlmungen, die Einspeicherung und ditionelles zu vermitteln. Nach wie vor unterstützt der Staat die Verarbeitung in Datensystemen. Entsendung von hochrangigen Referenten ins Ausland und im Jahr 2011 führte der erstmals in Kooperation mit der EJU ein großes internationales -Seminar durch. , das wissen alle, die es intensiv betreiben, ist zwar auch ein Sport - aber letztlich doch viel, viel mehr. Judoabteilung der Polizei-Sport- vereinigung Jahn Solingen 1950 e.V. Literatur (Auswahl)

BENNETT, ALEX: JIGOR Kan and the - an innovative Response to Mo- dernisation, Institute, 2009 C-Trainerin oder C-Trainer zur Leitung

HOARE, SYD: Key Principles of , 2007, Script einer Vorlesung an der Uni- von U 11- / U 14 - Gruppen gesucht. versität Bath Die gesuchte Person sollte volljährig und zur KÖNNING, WILLI: Spitzensport in Japan, Verlag Dieter Born gelegentlichen Wettkampfbetreuung bereit sein. NIEHAUS, ANDREAS: Leben und Werk KAN JIGORs (180-1938), Ergon-Verlag, 2003 Über die Trainingszeiten und das Honorar wollen wir in einem Gespräch informieren. NIEHAUS, ANDREAS: „I throw a light into the darkness of the world“ - The ques- tion of Cultural and National Identity in the Process of including into the Bewerbungen richten Sie bitte an Olympic Program; in: NIEHAUS/SEINSCH (Hrsg.): Olympic Japan: Ideals of (Inter) Nationalism, Ergon-Verlag, 2007 Karsten Labahn, 0179-3134010 ([email protected]).

38 der budoka 9/2012 Eine Technik der Kime-no-Kata wird von Shiro Yamamoto, 9. Dan, erläutert. Auch in fortgeschrittenem Alter ist eine hohe Perfektion keine Zauberei, sondern Ergebnis jahrelangen Trainings.

Macht das Training der traditionellen Kata heute eigentlich noch Sinn ?

Gedanken über eine mögliche Bereicherung des Vereinstrainings durch regelmäßiges Üben von Kata

von Wolfgang Dax-Romswinkel

Die Judovereine in Deutschland sind seit geraumer Zeit sich wan- Sind die derzeitigen Probleme wirklich neu? delnden Rahmenbedingungen ausgesetzt. Eine langsam aber sicher alternde Bevölkerung, immer weniger Kinder, dafür mehr anztags- Bereits 976 stellte der große Visionr des deutschen Judo, olfgang schulen, insgesamt verndertes Freizeitverhalten, größere Mobilitt Hofmann, in der ersten Ausgabe der „Judo-Revue die zu jener Zeit der jungen Erwachsenen und höherer Leistungsdruck für Schüler und provozierenden Fragen „ird Judo eine Sportart für Kinder Fin- Berufsttige durch verdichtete Lern- bzw. Arbeitszeiten beeinussen det Judo den Anschluss an die Trimmbewegung Schon damals, in nachhaltig die Mitgliederstruktur der Vereine und als Folge davon einer Zeit, in der sich die Mitgliederzahlen des DJB innerhalb von auch das Potenzial an ehrenamtlichen Helfern. All dies macht ein zehn Jahren gerade fast verfünffacht hatten von 7.000 im Jahr 966 Nachdenken über die Angebote der Judovereine erforderlich, sowohl auf 74.000 in Jahr 976 - das waren über 5.000 mehr als 20 und was Zielgruppen als auch was Inhalte betrifft, die man diesen rup- das ohne die neuen Lnder!, stellte er fest, dass: pen anbieten möchte. - immer weniger Vereine ein gut freuentiertes Erwachsenentraining Einigen Vereinen gelingt es zwar erfolgreich, sich dem andel zu anbieten würden, stellen, andere tun sich dagegen etwas schwerer, wie die Entwicklung - der Selbstverteidigungsappeal des Judo stark abgenommen habe, der Mitgliederstatistik der letzten Jahre zeigt. o gibt es also Opti- - schlechte Fallschule und verkrampfter Stil zu vielen kleinen Verlet- mierungsmöglichkeiten bei den Angeboten der Vereine Kann eine zungen und damit hug zur Abkehr vom Judo führen würden, Besinnung auf traditionelle Kata als regelmßiger Trainingsinhalt ein - Randori zu sehr am ettkampf orientiert sei und von daher dringend eg sein, die aktuellen Herausforderungen zu meistern Im Folgen- für Fitness-Suchende anders gestaltet werden müsse, den soll eine Antwort versucht werden. - die Liebe zu Kata neu entdeckt werden müsse.

20 der budoka /202 Die von olfgang Hofmann vor über 5 Jahren aufgeworfenen Fra- Kata Anzahl der Techniken gen und auch seine Lösungsvorschlge erscheinen heute aktueller denn je. So gibt es in jüngster Zeit zahlreiche Bemühungen, an den Nage-no-Kata 5 jeweils rechts und links Themen Randori und Selbstverteidigung zu arbeiten, z.B. durch Auf- Katame-no-Kata 5 nahme in die Kyu- und Dan-Prüfungsordnung und durch Lehrgnge für Multiplikatoren. Ähnliches gilt auch für das Thema „richtiges Nage-waza-ura-no-Kata 5 Fallen. Kodokan oshinjutsu 2 hrend also ein Teil der damals angesprochenen Themen bereits Kime-no-Kata 20 neu ins Bewusstsein gerückt wurde, ist der Bereich der Kata zumin- Ju-no-Kata 5 dest im Rahmen von Veröffentlichungen noch nicht so sehr unter dem esichtspunkt der Bereicherung des Vereinstrainings betrachtet wor- Koshiki-no-Kata 2 den. Die Potenziale, die in einem regelmßigen Angebot von Kata- Itsutsu-no-Kata 5 Training schlummern, sind daher, nach dem subjektiven Eindruck des Verfassers, auf der Vereinsebene weitgehend unentdeckt, woran auch Summe 27 die Aufnahme der ersten drei Stufen der Nage-no-Kata in das Kyu- Prüfungsprogramm nicht viel gendert hat. er alle im Dan-Prüfungsprogramm enthaltene Kata lernen möch- Kata im Programm für Kyu-/Dan-Prüfungen te, hat also die praktische und theoretische Auseinandersetzung mit 27 Aktionen, jeweils als Uke und als Tori !, vor sich. Und wenn Hand auf´s Herz: Die meisten Judotreibenden lernen eine Kata relativ das nicht reicht: Es gibt auch noch weitere Kata und darüber hinaus kurz vor einer Prüfung, um sie dann so lange nicht mehr zu prak- sind nicht alle „Themen des Judo in den „ofziellen Kata reprsen- tizieren, bis die nchste Prüfung ansteht. eil außer der Nage-no- tiert. Katahnliche Zusammenstellungen für Übergnge vom Stand Kata keine andere Kata bei mehreren Prüfungen demonstriert werden zum Boden oder für urfkombinationen können das Programm der kann, heißt das konkret, dass die meisten Judotreibenden eine Kata traditionellen Kata leicht ergnzen. Der Phantasie sind bei eigenen nach erfolgreicher Prüfung kaum je wieder praktizieren. Zusammenstellungen kaum renzen gesetzt. Viele Sportfreunde können sich auch kaum vorstellen, Kata außer- halb des Prüfungskontextes zu trainieren. Die Verbindung zwischen Zur körperlichen Belastung beim Kata-Training Dan-Prüfung und den jeweils im Prüfungsprogramm verlangten Kata Die Bewegungsintensitt beim Kata-Training ist geringer als beim ist in vielen Köpfen so starr und eng, dass der Verfasser zum Beispiel Randori. Man kann lange darüber diskutieren, welche der beiden schon hug gefragt wurde, warum er denn ausgerechnet die Ju-no- Trainingsformen für den Aufbau und den Erhalt körperlicher Fitness Kata übe, obwohl er den 4. Dan schon lngst habe. effektiver und sinnvoller ist. Für den Verfasser ist dies allerdings Etwas provozierend kann man sogar feststellen, dass Kata durch die nicht die Frage eines „entweder-oder, sondern eines „sowohl-als- Einbindung in das Prüfungswesen fast schon künstlich am Leben ge- auch. Kata-Training bietet eine lang andauernde Belastung niedri- halten wird. Die Begegnung mit Kata ist dadurch leider hug mit ger bis mittlerer Intensitt - bei gleichzeitig großer Bewegungsviel- zwiespltigen efühlen verbunden, denn durch diese Eingebunden- falt, was der Entwicklung von Koordination zugute kommt. Da das heit in Bewertungssituationen liegt der Fokus beim Üben meist auf Hauptthema beim Judo als „Erhalt und Verlust des leichgewichts der Erfüllung der Bewertungskriterien und weniger auf dem Eigen- beschrieben werden kann, wird insbesondere die Kontrolle des eige- wert der Kata. Die Übenden fragen sich also weniger „was kann ich nen leichgewichts durch Praktizieren der verschiedenen Kata ge- Positives für mich und mein Judo aus der Kata mitnehmen, sondern schult. leichzeitig ist das Verletzungsrisiko ußerst gering. mehr „wie soll es aussehen, damit ich die Prüfung bestehe. Durch diesen menschlich nachvollziehbaren Ansatz erschließt sich aller- Kata und selbstständiges Üben dings der Sinn des Übens einer Kata kaum - sicherlich auch einer der ir sind es in Deutschland gewöhnt, dass alle paar Minuten vom ründe, warum die verschiedenen Kata nach erfolgreicher Prüfung Übungsleiter neue Übungen für alle Übenden angesagt werden. Das fast immer nicht weiter praktiziert werden. Es entsteht also ein Teu- Training ist also in aller Regel relativ straff geführt und meist machen felskreis, bei dem die Sinnfrage zugunsten des Prüfungsergebnisses auch alle Übenden dasselbe oder zumindest Ähnliches. Dort, wo dif- zumindest weitgehend auf der Strecke bleibt. ferenziert wird, ist der Übungsleiter hug unter Daueranspannung, weil Differenzierung oft dadurch realisiert wird, dass der Übungslei- Traditionelle Kata: Bewegungsvielfalt fast ohne Grenzen ter mehrere Teilgruppen parallel in der vorgenannten Art und eise Alle Aktionen in den Judo-Kata sind relativ komplexe Bewegungen unterrichtet. sowohl für Uke als auch für Tori. Alle Aktionen haben nicht nur einen Kata - einmal gelernt - kann durch eine vorgegebene Übungsfolge rein motorischen Aspekt, sondern auch einen konkreten theoretischen eine große Hilfe sein und einen Beitrag zu mehr Individualisierung Hintergrund, also immer ein „as, ein „ie und ein „arum. des Trainings leisten. enn zwei Partner jede Technik einer „großen Dies rührt daher, dass die Aktionen in den Kata jeweils danach aus- Kata jeweils -5 mal als Tori und als Uke machen, dann dauert dieses gewhlt und verfeinert wurden, ob sie exemplarisch irgendwelche Training im Durchschnitt rund 45-60 Minuten -, auch ohne dass eine übergeordneten Prinzipien des Judo illustrieren. bestimmte Aktion besonders geübt würde. Bleibt man bei einer Tech- Jede Aktion in jeder Kata ist also auch ein Ausgangspunkt für weitere nik „hngen und übt diese intensiver, ist eine Stunde Trainingszeit Varianten und Möglichkeiten, denselben Prinzipien folgend Neues zu leicht überschritten. Auf diese eise können mehrere Paare inner- entdecken oder Bekanntes auf einer grundlegenden Ebene besser zu halb eines Trainings sehr individuell trainieren. Jedes Paar kann eine verstehen. Im Kern ist Kata also eine kombinierte Trainingsform zu andere Kata machen oder eigene Schwerpunkte bei den einzelnen Theorie und Praxis des Judo, um die rundlagen dafür zu schaffen, Techniken setzen. Der Übungsleiter kann einem Paar punktuell oder durch Variation das eigene Judo in Theorie und Praxis weiterzuent- auch einmal über einen lngeren Zeitraum helfen, ohne befürchten zu wickeln. müssen, dass der Rest der ruppe nicht mehr weiß, was er üben soll. Legt man allein die Kata aus dem Dan-Prüfungsprogramm zu run- Welchen Nutzen bringen die jeweiligen Kata für die Übenden? de, ergibt sich folgendes Zahlengerüst: Aber was hat man nun konkret davon, wenn man bestimmte Kata lernt und immer wieder übt. Im Folgenden soll eine Kurzantwort für diejenigen Kata gegeben werden, die in der Dan-Prüfungsordnung enthalten sind.

der budoka /202 21 Ein perfekter Uki- otoshi, demonstriert von den mehrfachen deutschen Meistern Yussuf Arslan und Sergio Sessini. Voll- kommen entspannt und mit größter Präzision erfolgt ein dynamischer Wurf.

Die deutschen Vizemeisterinnen Godula Thiemann und Jenny Gold- schmidt demons- trieren, worauf es bei Hadaka-jime ankommt: Kontrolle über den Gegner durch Gleichge- wichtsbruch, prä- zises Ansetzen der eigenen Würgehand, Schutz des eigenen Gesichts und Druck mit der Schulter von hinten gegen Ukes Hinterkopf. Ukes Befreiungsversuche bleiben dann ohne Chance.

22 der budoka /202 Nage-no-Kata Katame-no-Kata schult, wie man sich gegen eine einmal angesetzte rifftechnik Katame-waza - egal, ob halten, würgen oder hebeln - Die Nage-no-Kata enthlt einen reprsentativen uerschnitt der wieder befreien kann bzw. wie man diese Befreiungen verhindert und urftechniken des Kodokan-Judo. Alle Techniken werden sowohl so die Technik auch gegen vehemente Verteidigung durchsetzt. rechts als auch links geübt. Leider wird in der Praxis oft das Verteidigungsverhalten Ukes nicht Ziel beim Üben der Nage-no-Kata ist eine Technikausführung mit gründlich genug geübt, was dann die Katame-no-Kata zu einer Ver- größtmöglicher Przision. Dabei werden auch die grundlegenden kettung von Handlungen an einem mehr oder weniger wehrlosen Formen des ehens, der Körperhaltungen Shizentai und Jigotai Partner macht und den Übenden den Sinn der Kata raubt. Eine korrekt sowie - ganz wichtig - korrektes Fallen geübt. Jeder Technik liegt studierte Katame-no-Kata ist dagegen ußerst lebhaft, dynamisch, ein urfprinzip zugrunde, das reprsentativ für eine ganze Schar von sehr praxisrelevant - und auch anstrengend! urftechniken ist. Allen gemeinsam ist die Betonung des wichtigs- ten Prinzips der Judo-urftechniken: das Stören des gegnerischen Nage-waza-ura-no-Kata leichgewichts Kuzushi, um leichter werfen zu können. Das Stu- dieren der unterschiedlichen Formen des Kuzushi steht also im Mit- Bei dieser Kata geht es - wie auch bei anderen Kata zur Thematik telpunkt des Übens der Nage-no-Kata. „egenwürfe - darum, wie ein gegnerischer Angriff mit einer urf- technik gekontert werden kann. Schlüssel zum Verstndnis der Kon- Nage-no-Kata schult damit auf einer grundlegenden Ebene alles, was tertechniken sind jeweils genaue Kenntnisse der Angriffstechniken zum Thema „erfen und Fallen wichtig ist. und deren Schwachstellen, damit man diese ausnutzen kann. Es geht also darum, die Funktionsweise der Angriffe genau zu verstehen, da- Katame-no-Kata mit man diese zunichte machen und kontern kann. Ich gestehe: Ich mochte sie eigentlich nie so richtig, die Katame-no- Im Falle der Nage-waza-ura-no-Kata haben wir es mit einer besonde- Kata. Dies hat sich jedoch in den letzten Jahren ein wenig gewandelt. ren Situation zu tun. Unter anderem werden alle Techniken der ersten

Norbert Kremer und Gerd Schäfer demonstrieren die Abwehr eines Kinn- hakens in der Kodo- kan-Goshinjutsu bei der Westdeutschen Kata-Meisterschaft. Schnelligkeit und Griffsicherheit sind hier Trumpf.

der budoka /202 23 drei ruppen der Nage-no-Kata gekontert, so dass Nage-waza-ura- alten Schulen Koryu-Jujutsu Angriffe und Verteidigung aus dem no-Kata gleichzeitig auch ein indirektes Studium der Nage-no-Kata Kniesitz. Außerdem werden traditionelle affen - Tanto und Katana darstellt. - verwendet.

Kodokan Goshinjutsu Ju-no-Kata Die Kodokan oshinjutsu wurde zwischen 952 und 956 von zahl- Ju-no-Kata wurde explizit als Leibesertüchtigung entwickelt. Alle reichen Meistern des Kodokan entwickelt, um eine modernere Bewegungen werden in moderatem Tempo ausgeführt. Außerdem Form der Selbstverteidigung im Angebot zu haben. Dabei sind auch wird an keiner Stelle geworfen oder die Kleidung des Partners ge- Anleihen aus dem Aikido eingeossen. fasst. Dies erlaubt ein Üben unabhngig vom Ort oder einer bestimm- ten Trainingskleidung. Bei der Kodokan oshinjutsu geht es nach dem Erlernen der rob- form der Techniken vor allem darum, diese mit maximaler Explosivi- Die Techniken sind vor allem durch die Kata der Kito-ryu s.u. tt auszuführen zu lernen. Es ist also eine ußerst dynamische Kata, Koshiki-no-Kata inspiriert. Diese sind aber so modiziert, dass es die Distanzgefühl, riffsicherheit, schnelle Körperbewegungen, Re- hohe Dehnanteile und hohe Anteile mit Übungen zur Verbesserung aktionsfhigkeit usw. entwickelt. der Körperspannung gibt. Außerdem enthlt Ju-no-Kata viele sehr komplexe Drehbewegungen, bei denen der eigene Körper sehr zen- Kime-no-Kata triert kontrolliert werden muss. Ju-no-Kata stellt somit ein ideales Übungsprogramm für Jung und Alt dar, das Bewegungssicherheit, as für die Kodokan oshinjutsu geschrieben wurde, gilt auch un- Beweglichkeit und Körperspannung - insbesondere im Rumpfbereich eingeschrnkt für die deutlich ltere Kime-no-Kata. Diese ist eine - verbessert. Selbstverteidigungskata mit Anleihen aus dem traditionellen Jujut- su der japanischen Samurai, auch wenn sie erst im 20. Jahrhundert Koshiki-no-Kata entstanden ist. Als Relikt der „alten Zeit enthlt sie in der Art der Koshiki-no-Kata stammt direkt aus Kito-ryu, einem traditionellen Jujutsu-Stil, den Jigoro Kano lernte, bevor er das Kodokan-Judo ent- wickelte, bzw. das er eine Zeit lang parallel betrieb. Koshiki-no-Kata bietet einen Einstieg in die etwas esoterischen Leh- ren alter Jujutsu-Schulen und ist somit vor allem für Leute interes- sant, die sich mit philosophischen Hintergründen befassen möchten. Auf der rein technischen Ebene ist es spannend zu erfahren, wie ein „Ringen in Rüstungen, das ist die „ußere Thematik der Koshiki- no-Kata, ausgesehen haben mag.

Itsutsu-no-Kata ie Koshiki-no-Kata stammt Itsutsu-no-Kata aus einem Jujutsu-Stil, den Jigoro Kano gelernt hat, nmlich aus dem Tenjin-shinyo-ryu Jujutsu. Hinter Itsutsu-no-Kata steckt ebenfalls viel, viel abstrakte Theorie, was diese Kata für eine Auseinandersetzung mit philosophi- schen edanken interessant macht. Die körperliche Umsetzung ist allerdings auch für sich allein genommen reizvoll - und schwierig!

Wie man Kata nicht üben sollte Das Üben von Kata muss für die Übenden einen größeren ert ha- ben, als nur das Bestehen eines Prüfungsfaches bei einer Kyu- oder Dan-Prüfung. Der erste Kardinalfehler, den man also machen kann, ist die Aufnahme eines Kata-Trainings ausschließlich mit dem e- danken an eine Prüfung. er mit einer derartigen Motivation an eine Kata herangeht, wird in aller Regel nicht die positiven Aspekte sehen, die Kata für sein Judo bedeuten könnte, sondern sich nur damit he- rumplagen, irgendwelchen Bewertungskriterien zu entsprechen, um den angestrebten rad zu erreichen. Damit werden aber gleichzeitig alle Chancen auf ein positives Erleben von Kata - und damit eine Bereicherung des eigenen Judotrainings - verpasst. Kata-Training muss eine lebendige Auseinandersetzung mit den viel- fltigen Bewegungen und den zugrunde liegenden Prinzipien sein. So betrieben kann Kata ein Schlüssel dazu sein, Menschen für Judo zu begeistern, die derzeit das Judo noch nicht im Fokus haben.

Chancen durch Kata-Angebote Alles, was das Judo-Training vielfltiger macht, ist geeignet, Inter- essierte anzuziehen bzw. lnger an das Judo zu binden. Dies ist si- cherlich eine Binsenweisheit. Zum lück braucht man seine Blicke auf der Suche nach einer Bereicherung des Judo-Trainings gar nicht so weit schweifen zu lassen. ir müssen nur verstrkt in die Kern- inhalte des Judo schauen, denn viele Ergnzungen zum derzeitigen Übungsprogramm der Judovereine in Deutschland ndet man in den Kata des Kodokan-Judo. Es mag sich ein wenig paradox anhören: aber durch Rückgriff auf die traditionellen Übungsformen und Inhalte kann das Judo zukunftsfhi- Ju-no-Kata, hier demonstriert von den amtierenden Europameistern Wolf- gang Dax-Romswinkel und Ulla Loosen, verbessert unter anderem die Kör- ger gemacht werden. Denn auch die anderen Bereiche, die olfgang perspannung und das Gefühl für Gleichgewicht. Hofmann erwhnt hat, nden sich in den Kata wieder und können

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IMPRESSUM „der budoka“ - Verbandsmagazin des Dachverbandes für Budotechniken Nordrhein-Westfalen e.V. 40. Jahrgang 202 Herausgeber, Verlag, Redaktion, Anzeigen- und Abo- verwaltung: Dachverband für Budotechniken Nordrhein-estfalen e.V. Postfach 0 5 06 4705 Duisburg Friedrich-Alfred-Str. 25 47055 Duisburg Telefon: 02 0 / 7 8 - 6 26 Telefax: 02 0 / 7 8 - 6 24 E-Mail: infobudo-nrw.de www.budo-nrw.de Redaktionsleitung: Erik ruhn verantwortlich E-Mail: ruhnbudo-nrw.de Redaktionsschluss: der . des Vormonats Toshiro Daigo, 8. Dan, hält im Kodokan einen Vortrag über Geschichte und Prinzipien von Koshiki-no-Kata. Alte Rüstungen als Anschauungsobjekte ISSN 0948-424 dürfen dabei natürlich nicht fehlen. Druck: SET POINT Schiff Kamp mbH Moerser Str. 70 47475 Kamp-Lintfort durch diese entwickelt werden: Selbstverteidigung, korrekte Fall- übungen und Verstndnis für guten Judo-Stil. ir müssen die Chan- Anzeigenpreise: Preisliste Nr. 5 vom .5.20 cen eigentlich nur ergreifen! Erscheinungsweise: monatlich, 0 x im Jahr

Gibt es erfolgreiche Beispiele? Mit Namen gekennzeichnete Beitrge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Für unverlangt eingesandte Neben Vereinen, die ein regelmßiges Kata-Training anbieten, soll an Manuskripte, Fotos und Datentrger wird keine Haftung übernom- dieser Stelle das „Kata-Netzwerk Niederrhein/Münsterland genannt men. werden. Dort trifft man sich regelmßig vereinsübergreifend zum Kata-Training, wobei ausdrücklich nicht vorausgesetzt wird, dass die Lieferbedingungen: Teilnehmer mit einem eigenen Partner kommen. Vielmehr soll prak- Jahresabonnement 28,00 € tisch jeder mit jedem - wie bei jedem anderen Training auch - üben. Bei Bankeinzug ermßigt sich der Preis für das Jahresabonnement Einladungen werden regelmßig auf der Homepage des NDK auf 24,00 €. Bezugsgebühren werden jeweils für das Kalenderjahr www.nwdk.de veröffentlicht. erhoben. Einzelheftpreis: ,50 € zzgl. Versandkosten Wo und wie können sich Übungsleiter entsprechend fortbilden? Bei Bestellungen mehrerer Exemplare Konditionen auf Anfrage. Derzeit wird von Verbandsseite Kata-Training in erster Linie im Rah- men von Prüfungsvorbereitungslehrgngen angeboten. Diese dienen Die Kündigung des Abos ist mit einer Frist von sechs jedoch eher dem Einstieg in eine Kata und weniger zur ualizierung ochen zum Ende des Kalenderjahres möglich. von Kata-Lehrern. Das NDK hat daher seinen Kata-Expertenkreis Urheberrechtlicher Hinweis: neu formiert und bietet künftig Lehrgangsmaßnahmen für Multiplika- Das Magazin, alle enthaltenen Beitrge und Abbildungen sind ur- toren und Teilnehmer an Kata-Meisterschaften an. Alle Kreise kön- heberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich nen darüber hinaus auf diese Spezialisten für eigene, ganz auf die vom Urhebergesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustim- lokalen Bedürfnisse abgestimmte, Lehrgnge zugreifen. mung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfltigungen, Übersetzungen, Mikroverlmungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in Datensystemen.

Schadenfälle immer rasch beim Versicherungsbüro melden! Für eine zügige Bearbeitung von Schadenfllen ist eine rasche Mel- züglich mit der Formulierung „ohne schuldhaftes Zögern. Ein Ver- dung beim Versicherungsbüro des Landessportbundes wichtig. Nur sicherter, der z. B. erst nach der Rückkehr aus seinem dreiwöchigen so können zeitnah die notwendigen Unterlagen eingeholt und ggf. Urlaub von einem Schaden in der ersten Urlaubswoche erfhrt, mel- erforderliche Rückfragen zum Schadengeschehen gestellt werden. det nicht versptet, wenn er den Versicherungsfall einige Tage nach Schließlich sollen die verunfallten Sportler oder eschdigte, die Urlaubsrückkehr anzeigt. Anspruch auf Versicherungsleistungen haben, diese auch möglichst schnell erhalten. Alle wichtigen Fristen, die insbesondere in der Unfallversicherung einzuhalten sind, nden Sie im jeweiligen Merkblatt zur Sportver- Formal sind in der Sportversicherung daher auch bestimmte Lei- sicherung und dieses wiederum auf der Internet-Seite der ARA- stungsvoraussetzungen, z. B. die Einhaltung von Fristen, geregelt. Sportversicherung: www.arag-sport.de rundstzlich gilt für alle Versicherungszweige, dass der Eintritt eines Versicherungsfalles, also eines Schadens, dem Versicherer un- Das Online-Versicherungsbüro Ihres Landessportbundes whlen Sie verzüglich, sptestens innerhalb einer oche, anzuzeigen ist. Diese einfach aus der Deutschlandkarte. Alle Infos und Unterlagen zum Frist beginnt in dem Zeitpunkt, zu dem der Versicherte vom Scha- Sportversicherungsvertrag sind dort verfügbar. deneintritt Kenntnis erlangt hat. Das BB 2 deniert „unver-

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