4. Jahrgang, 2013, Heft 2

Die Zeitschrift wird herausgegeben von Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein und Heinz Sieburg unter der Mitarbeit von Wilhelm Amann und Till Dembeck

Wissenschaftlicher Beirat Andrea Bogner (Georg-August-Universität Göttingen), Peter Colliander (Ludwig-Maximilians-Universität München/Copenhagen Business School), Dimitrij Dobrovol’skij (Russische Akademie der Wissenschaften), Ludwig Eichinger (Universität Mannheim), Anke Gilleir (Katholische Universität Leuven), Deniz Göktürk (University of California, Berkeley), Ortrud Gutjahr (Universität Hamburg), Michaela Holdenried (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg), Alexander Honold (Universität Basel), Oliver Lubrich (Universität Bern), Paul Michael Lützeler (Washington University in St. Louis), Claudine Moulin (Universität Trier), Eva Neuland (Bergische Universität Wuppertal), Rolf Parr (Universität Duisburg-Essen), Martina Rost-Roth (Universität Augs- burg), Wolfgang Steinig (Universität Siegen), Herbert Uerlings (Universität Trier), Manfred Weinberg (Karls-Universität Prag) Die Herausgeber danken dem Deutschen akademischen Austauschdienst (DAAD) für die freundliche Unterstützung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Erschienen 2013 im transcript Verlag, Bielefeld

© Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Lektorat: Dr. Wolfgang Delseit/Dr. Ralf Drost Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISSN 1869-3660 eISSN 2198-0330 Print-ISBN 978-3-8376-2375-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2375-2

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download Inhalt

Editorial | 7

SCHWERPUNKTTHEMA: DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN NACH 1945 – MODELL ODER AUSNAHME?

Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 – Modell oder Ausnahme? Zur Einführung Nicole Colin / Dieter Heimböckel / Joachim Umlauf | 11

Die deutsch-französischen Beziehungen aus interkultureller Perspektive Dieter Heimböckel | 19

Frühe Korrespondenzen Mittelalterliche Literatur- und Sprachbeziehungen im deutsch-französischen Kulturraum Heinz Sieburg | 41

Annäherung, Aussöhnung, Kooperation Deutsch-französische Historikerbeziehungen nach 1945 Corine Defrance / Ulrich Pfeil | 61

Erniedrigte und Beleidigte Der ambivalente Mittler im deutsch-französischen Kulturfeld zwischen Ressentiment und Erweckungsmission Joachim Umlauf | 81

Im toten Winkel der Versöhnung Mittler wider Willen im deutsch-französischen Kulturtransfer. Der Fall Jean Vilar Nicole Colin | 95

Kulturelle Programmarbeit deutscher Kulturinstitute in Frankreich Lebenslanges Lernen und interkultureller Dialog im Dienst des Partners Gerrit Fischer | 111 Deutsch-französische Aussöhnung als Affront Die Unterzeichnung des Élysée-Vertrages aus niederländischer Perspektive Katharina Garvert-Huijnen | 129

BEITRÄGE ZUR KULTURTHEORIE UND THEORIE DER INTERKULTURALITÄT

Kultur und Zugehörigkeit Andreas Langenohl | 149

LITERARISCHER ESSAY

Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch Yoko Tawada | 171

FORUM

Gangnam Style ›erklärt‹ Ein Beitrag zur deutsch-koreanischen Verständigung Klaus H. Kiefer | 181

REZENSIONEN

Hans Richard Brittnacher: Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst. Göttingen: Wallstein 2012 von Volker C. Dörr | 209

Kien Nghi Ha (Hg.): Asiatische Deutsche: Vietnamesische Diaspora and Beyond. Berlin/Hamburg: Assoziation A 2012 von Linda Koiran | 212

Bernhard Arnold Kruse: Wider den Nationalismus – oder von den Schwierigkeiten eines interkulturellen Lebens. Zu den Südtirolromanen von Joseph Zoderer. Bielefeld: Aisthesis 2012 von Sigurd Paul Scheichl | 215 Sebastian Schirrmeister: Das Gastspiel. Friedrich Lobe und das hebräische Theater 1933–1950. Berlin: Neofelis Verlag 2012 von Brigitte Dalinger | 218

GESELLSCHAFT FÜR INTERKULTURELLE GERMANISTIK

Rundbrief 7.2 | 225

Autorinnen und Autoren | 229

Hinweise für Autorinnen und Autoren | 230

Editorial

Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik erhält eine stetig wachsende Zahl an Publikationsangeboten. Diese sehr erfreuliche Entwicklung, die vom stei- genden Bekanntheitsgrad und Renommee unserer Unternehmung zeugt, hat natürlich auch zur Folge, dass mehr Arbeit anfällt, insbesondere bei der Organi- sation des Peer Review und bei der Einrichtung der Hefte. Aus diesem Grund ha- ben wir in Luxemburg Wilhelm Amann und Till Dembeck mit der Redaktions- arbeit betraut. Die Mitarbeit der beiden Kollegen wird ab dieser Nummer durch die namentliche Nennung auf der Titelseite honoriert. Eine weitere Grundsatzentscheidung des Herausgebergremiums betrifft die fachliche Bandbreite der Zeitschrift: Da es seit langen Jahren hinreichend viele Publikationsorgane im Bereich Deutsch als Fremdsprache gibt, nimmt die ZiG ab jetzt nur noch in Ausnahmefällen Beiträge aus diesem Bereich auf. Das vorliegende Heft hat einen Schwerpunkt zu dem Thema Die deutsch- französischen Beziehungen nach 1945, unter der Herausgeberschaft von Nicole Colin, Dieter Heimböckel und Joachim Umlauf. Ansonsten werden diesmal alle Rubriken gefüllt: Der Gießener Soziologe Andreas Langenohl liefert mit seinem Text über Kultur und Zugehörigkeit einen wichtigen Beitrag zur Rubrik »Kultur- theorie und Theorien der Interkulturalität«. Es freut uns besonders, von Yoko Tawada die Erlaubnis zum Wiederabdruck ihres Essays Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch erhalten zu haben, der die Rubrik »Literarischer Essay« füllt. Es handelt sich um einen maßgeblichen Beitrag der Autorin zu einer Phi- lologie der Mehrsprachigkeit. In der Rubrik »Forum« beschäftigt sich Klaus H. Kiefer mit dem Song Gangnam Style des südkoreanischen Rappers Psy, ehe das Heft mit der Rubrik »Rezensionen« und dem Rundbrief 7.2 an die Mitglieder der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik beschlossen wird.

Bern und Luxemburg im Dezember 2013

Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein und Heinz Sieburg

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013

Schwerpunktthema: Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 – Modell oder Ausnahme? Title: The Franco-German Relationship after 1945 – Role Model or Exception? Introduction Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 – Modell oder Ausnahme? Zur Einführung

Nicole Colin / Dieter Heimböckel / Joachim Umlauf

50 Jahre Élysée-Vertrag: Das Jahr 2013 war geprägt von Festivitäten rund um den allgemein als modellhaft beschriebenen Versöhnungsprozess der beiden einstigen ›Erbfeinde‹ Deutschland und Frankreich, der nicht zuletzt die Grund- lage des europäischen Integrationsprozesses bildet. Das Dossier der vorliegen- den Ausgabe der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik nimmt das Élysée-Jahr zum Anlass, dieses weitgehend dominante Zuschreibungsmuster zu hinterfra- gen und aus interkultureller Sicht gegen den Strich zu lesen. Denn die großen, wenngleich nicht immer wirkungsvoll inszenierten Feiern vermochten nicht darüber hinwegzutäuschen, dass sich das deutsch-französische Paar im Ange- sicht der Wirtschaftskrise in Europa und weltweit gerade einmal wieder tief in einem handfesten Ehestreit verstrickt hatte. Anzumerken ist hierbei freilich, dass die aktuell teils schwelenden, teils ausgetragenen Konflikte, für die der französische Staatspräsident François Hollande im Frühjahr 2013 den Ausdruck der »tension amicale« prägte (Cazin 2013), nicht unwesentlich mit den verschie- denen politischen Ausrichtungen und sozialen Leitideen der (ehemaligen) kon- servativ-liberalen Regierung in Deutschland und der sozialistischen in Frank- reich zu tun haben. Ungeachtet dieser Tatsache wurden in der Tagespresse, aber auch in den Expertenkreisen des franco-allemand die Streitigkeiten jedoch nicht selten als Beweis einer nur vorgetäuschten Annäherung in den letzten Jahr- zehnten gewertet und entsprechend pessimistisch kommentiert: Ist die gewon- nene Nähe womöglich doch nur Illusion und das tatsächliche Konfliktpotenzial doch größer als die Versöhnungsrhetorik vermuten lässt? An Debatten, die sich zumeist an Einzelphänomen entzünden und ausge- hend von diesen das deutsch-französische Einverständnis grundlegend in Fra- ge stellen oder krisenhafte Rückständigkeit in einzelnen Gebieten konstatieren wollen, mangelt es nicht. So beklagte beispielsweise der renommierte Histo- riker Pierre Nora 2012 in einem großen Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) die nach seiner Meinung starke Rückläufigkeit deutsch-franzö- sischer Wissenschaftsbeziehungen (Nora/Guez 2012). Als Reaktion erschienen ein längerer Gegenartikel von Frank Baasner, Leiter des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, und dem ehemaligen Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg Erwin Teufel (Baasner/Teufel 2012) sowie ein von verschie-

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 12 | NICOLE COLIN / DIETER HEIMBÖCKEL / JOACHIM UMLAUF denen Romanisten wie Wolfgang Asholt und Michael Nerlich unterschriebe- ner Text auf den Internetseiten von Le Monde (Asholt u.a.), die einerseits Nora widersprachen, ihm andererseits aber auch beipflichteten. Solche Debatten erlauben ohne Frage, sich einen breiten Überblick über die bestehenden un- terschiedlichen Positionen zu verschaffen, wenngleich die meisten pauschalen Statements, wie sie in solchen Feuilleton-Debatten vorgebracht werden, einer genaueren Überprüfung nicht standhalten. So beklagt Nora letztendlich das Verschwinden einer gewissen Form der akademischen Welt: die nämlich einer europäischen, politisch links stehenden und zugleich humanistisch gepräg- ten Wissenschaftselite – ein Problem, das eigentlich jenseits der potenziellen Schwierigkeiten im deutsch-französischen Verhältnis liegt. Gleichzeitig un- terschlägt er aber, dass sich durch das europäische Erasmus-Programm, die Deutsch-Französische Hochschule und viele weitere Austauschmöglichkeiten die universitären Beziehungen zwischen den beiden Ländern in den letzten Jahrzehnten zahlenmäßig deutlich intensiviert haben. Wenngleich Kritik durchaus angebracht ist, sollte jedoch, so jedenfalls die Überzeugung der Herausgeber, von scherenschnittartigen Kommentaren abge- sehen und die deutsch-französischen Beziehungen vielmehr als ein Sonderfall des Kulturtransfers betrachtet werden, der alle Vor- und Nachteile einer Außen- seiterposition in sich versammelt. Das Außergewöhnliche ist eben nicht unbe- dingt etwas im eigentlichen Sinne Exemplarisches, was bedeutet, dass sich die Mechanismen und Strategien dieses bemerkenswerten Annäherungsprozesses nicht selbstverständlich auf andere Verhältnisse übertragen lassen – man den- ke an Nord- und Südkorea oder an Japan und China –, wenngleich einzelne Bausteine und Module durchaus auch in anderen Kontexten erprobt werden können. Dies gilt beispielsweise für das dreibändige deutsch-französische Ge- schichtsbuch Histoire/Geschichte, dessen Konzeption und Entstehungsgeschich- te Corine Defrance und Ulrich Pfeil im vorliegenden Heft näher beleuchten. So konnten sich Deutschland und Frankreich darauf verständigen, eine gemeinsa- me Perspektive der Vergangenheit zu erarbeiten und diese in einem Schulbuch zu manifestieren, das auf Deutsch und auf Französisch erschienen ist. Dennoch wäre es eine naive Verwechslung hinsichtlich Ursache und Wirkung, von einer einfachen Wiederholbarkeit im anderen Kontext auszugehen. Tatsächlich lässt sich über ein solches Buch keine einheitliche Sicht auf die Geschichte herstel- len, vielmehr setzt die Erarbeitung eine weitgehende Kongruenz bereits voraus. Wenngleich die deutsch-französischen Entwicklungen nicht einfach kopier- bar sind, lassen sich aus der Analyse des einzigartigen Annäherungsprozesses dennoch strukturelle Erkenntnisse für den Kulturtransfer im Allgemeinen zie- hen. So bestätigt sich hier unter anderem die Einsicht, dass sich die Qualität gelebter Beziehungen langfristig betrachtet nicht an ihrem reibungslosen Funk- tionieren misst, sondern am Potenzial der Partner zur Konflikt- und Krisenbe- wältigung. Erst in der Suche nach Kompromissen ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen oder Aufgabe der eigenen Position beweist sich die Haltbarkeit ei- ner Freundschaft. Letzteres aber haben die Franzosen und Deutschen in den letzten Jahrzehnten vorbildlich voneinander und miteinander gelernt. Bereits Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 | 13 das Jahr 1963, das aufgrund der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags gerne als positive Zäsur genommen wird, von der ab das bilaterale Verhältnis der beiden ›verfeindeten‹ Nationen eine neue und grundle- gend andere Qualität erhalten habe, war ein deutsch-französisches Krisenjahr. So scheiterte die Unterzeichnung beinahe an der vom Bundestag hinzugefüg- ten Präambel, in der die Bedeutung und Qualität des transatlantischen Verhält- nisses betont wurde, was den auf europäische Unabhängigkeit bedachten de Gaulle außer sich brachte. Auch in den darauffolgenden Jahrzehnten waren trotz vieler positiver Ent- wicklungen immer wieder Spannungen, Gereiztheiten und Konflikte zu ertra- gen. Schaut man in die Programme der Institutionen des sogenannten franco- allemand (vor allem die der Kulturinstitute und Bildungseinrichtungen), fällt auf, dass Gesprächsrunden und Kolloquien zur Krise der deutsch-französischen Beziehungen spätestens seit den 1980er Jahren Konjunktur haben. Man könn- te meinen, dass sich das deutsch-französische Milieu solcherart ständig selbst vergewissert und in seinen wichtigen Aufgaben legitimiert: Denn eine Krise benötigt Experten, die sich kompetent für eine Klärung der Differenzen und langfristige Verbesserung der Situation einsetzen. Insofern verwundert nicht, dass sich das nach 1945 langsam aufkommende und heute omnipräsente Ver- söhnungsnarrativ von diesen Aufs und Abs bestens zu ernähren wusste. Ein gleichmäßiger, gleichwohl wenig spektakulärerer Annäherungsprozess hätte wahrscheinlich eine geringere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit evoziert. Jedenfalls ist es in den letzten 50 Jahren gelungen, das allen Beziehungen und also auch der deutsch-französischen Partnerschaft inhärente Konfliktpotenzial immer wieder produktiv zu wenden und aus dem Moment der gemeinsamen Überwindung eines Problems als bewusst erfolgte Kraftanstrengung auf bei- den Seiten viel symbolisches Kapital zu schlagen. Aus dieser Perspektive waren die Meinungsverschiedenheiten die notwendige Bedingung der Möglichkeit der sich anschließenden, politisch inszenierten Versöhnungsgesten. Auf das Problem, dass in diesem Sinne Programm und Programmation der deutsch- französischen Kulturbeziehungen mitunter weit auseinander klaffen, geht Ge- rit Fischer in seinem Beitrag ein. Einen Hinweis darauf, dass die deutsch-französischen Beziehungen fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges tatsächlich in eine neue Phase eingetreten sein könnten, gab der Staatsbesuch des deutschen Bundespräsiden- ten Joachim Gauck in Frankreich im September 2013, dessen Fahrt nach Ora- dour-sur-Glane zum Höhe- und Abschlusspunkt des Élysée-Jahres wurde. In dem 200 km nordöstlich von Bordeaux liegenden Dorf hatte die Waffen-SS im Juni 1944 bis auf ganz wenige Ausnahmen die gesamten Bewohner des Dorfes, das heißt 642 Männer, Frauen, Kinder und alte Menschen, auf grausamste Art ermordet, ohne dass bis heute die Gründe vollständig bekannt wären. Oradour- sur-Glane ist eine der letzten großen offenen Wunden in der deutsch-französi- schen Vergangenheitsaufarbeitung, an die man von deutscher Seite aus bislang nicht rühren wollte. Dass Joachim Gauck ausgerechnet seinen Staatsbesuch in Frankreich im Élysée-Jahr dazu nutzte, als erster hochrangiger deutscher Poli- 14 | NICOLE COLIN / DIETER HEIMBÖCKEL / JOACHIM UMLAUF tiker den Gedenkort zu besuchen, hat übrigens nicht nur Zustimmung gefun- den; einige offizielle Stellen hätten die Erinnerung an die NS-Gräuel lieber aus den Feierlichkeiten herausgehalten. Dieser Spannung zwischen Erinnerung und Vergeben bzw. Vergessen ist geradezu symptomatisch für den deutsch-französischen Annäherungsprozess. So wäre es falsch zu glauben, dass die Versöhnung stets mit einer umfassenden Aufarbeitung der zentralen Problemstellen und Reibungspunkte der deutsch- französischen Vergangenheit – beispielsweise im Kontext der beiden Weltkrie- ge – einhergegangen ist. Im Gegenteil: Staatsraison und Aussöhnungswillen arbeiteten bisweilen durchaus gegen eine angemessene Beschäftigung mit der Vergangenheit. Der historische Skandal um Alain Resnais’ Film Nuit et Brouil- lard (1955; Nacht und Nebel), den die französische Regierung 1956 auf Drängen der Bundesrepublik aus dem Programm der Filmfestspiele in Cannes nehmen ließ, spiegelt insofern geradezu symbolhaft die Shoah als Leerstelle in den deutsch-französischen Beziehungen. Bis heute steht der gemeinsame offizielle Besuch eines deutschen und französischen Staatsoberhauptes einer Holocaust- Gedenkstätte immer noch aus (vgl. Moll 2013). Es würde indes zu kurz greifen, die Analyse der Voraussetzungen einer Ta- bu-Aufhebung wie Gaucks Besuch in Oradour-sur-Glane allein auf das Zusam- menspiel politischer Interessenvertreter beschränken zu wollen. Wenngleich es schwierig, ja unmöglich ist, gerade Kausalitätslinien aufzuzeigen, erscheint das Hintergrundszenario solcher Entscheidungen komplex und geht weit über Absprachen auf oberster Ebene hinaus. So ist, um bei dem Beispiel zu bleiben, unserer Information nach für den Besuch Gaucks in Oradour auch ein im Fe- bruar 2013 im Goethe-Institut Paris gezeigter neuer Dokumentarfilm über das Massaker und die Folgen verantwortlich. Die in Zusammenarbeit mit der Mai- son du Limousin und der Maison Heinrich Heine durchgeführte Veranstaltung gab der deutschen Botschafterin Susanne Wasum-Rainer nicht nur Gelegen- heit, einen der drei Überlebenden des Massakers, Robert Hébras, persönlich kennenzulernen, sondern auch den ebenfalls anwesenden Bürgermeister von Oradour-sur-Glane. Auf dessen Einladung besuchte Wasum-Rainer wenig spä- ter dann Oradour – eine Reise, die für die Entscheidung Gaucks letztlich von nicht unwesentlicher Bedeutung gewesen sein dürfte, wenngleich sich dieser Zusammenhang nicht nachweisen lässt und der konkrete Einfluss faktisch nicht messbar ist. Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint verständlich, dass in den letz- ten Jahren die Figur des Mittlers in der Transfergeschichte mehr und mehr an Bedeutung gewonnen hat. Ein wichtiger Aspekt, der den Mittler so ›in- teressant‹ macht und den Kreis zum eingangs erwähnten Krisenmanage- ment in Beziehungen setzt, ist die Tatsache, dass die bi- oder multilateralen Aktionsfelder im allgemeinen Sinne immer auch potenzielle Konfliktherde darstellen. Der Akteur des Kulturtransfers im weiteren Sinne ist im Kontext des europäischen Versöhnungsnarratives nach 1945 sowie der europäischen Integration auf diese Weise regelrecht zu einer neuen Heldenfigur avanciert. Wie in den Artikeln von Nicole Colin und Joachim Umlauf dargelegt, die sich Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 | 15 mit der Frage der Mittler im deutsch-französischen Kulturfeld auseinander- setzen, erscheint der Mittlerbegriff dabei allerdings meistens zu kurz gegrif- fen bzw. eng begrenzt auf gewisse zivilgesellschaftliche Mittler, die aufgrund ihres besonderen Engagements im Prozess der Aussöhnung in Erscheinung getreten sind. Bereits in ihrem Einleitungstext zum Lexikon der deutsch- französischen Kulturbeziehungen seit 1945 hatten sie aus diesen Gründen für einen »erweiterten Mittlerbegriff« plädiert (Colin/Umlauf 2013). Neben den ökonomisch oder machtpolitisch interessierten sowie den zivilgesellschaftlich engagierten Mittlern müssen daher auch diejenigen zukünftig in der Mittler- forschung Berücksichtigung erfahren, die, wie Nicole Colin dies beispielhaft am Fall des französischen Theatermachers Jean Vilar vorführt, Maßgebliches für den Kultur- (oder auch Wissens-)Transfer geleistet haben, ohne sich dies zur Aufgabe gemacht zu haben. Ferner gilt es aber auch, wie Joachim Umlauf in seinem Artikel darstellt, die problematischen Mittler in ihrem Wirken zu beschreiben und zu untersuchen: die durch die NS-Zeit oder andere Umstän- de diskreditierten Mittler; die Wohlmeinenden, die gegen ihren Willen gän- gige Stereotypen nicht nur bestätigen, sondern zuweilen noch vertiefen; die zu sehr Liebenden, die das Lob des Anderen zur Herabsetzung des Eigenen benutzen; die mehr oder minder ambivalenten Mittler, die sich als Freunde des Anderen ausgeben, es aber eigentlich nicht sind und die Abwertung des Anderen dazu nutzen, das Eigene in einem positiveren Licht erscheinen zu lassen; die ephemeren Mittler, die, häufig im Dienst von Institutionen, einige Jahre etwas bewegen, bevor sie (mitunter spurlos) wieder verschwinden; die lebensgeschichtlich negativ geprägten Beleidigten und Traumatisierten, deren Liebe nicht erwidert wurde und sich in Abscheu verwandelt hat. Wie das Bei- spiel der im Frühjahr 2013 durch die große Louvre-Ausstellung De l’Allemagne ausgelöste Polemik zeigt, die zuallererst von solchen Mittlern selbst befeuert und vertieft wurde, besitzt diese negative Form der Kulturvermittlung auch im Zeitalter der Versöhnung nach wie vor Aktualität. Eine weitere grundsätzliche Fragestellung bietet die Benelux-Perspektive: Handelt es sich bei der spezifischen und historisch einmaligen Entwicklung der deutsch-französischen Beziehung nach 1945 um eine Ausnahme oder lässt sich diese – und sei es methodisch – universalisieren und als Modell auf andere transnationale Verhältnisse übertragen? Wie steht man als europäi- scher Außenstehender bzw. Nachbar zu diesen deutsch-französischen Frage- stellungen? Auch zwischen Deutschland und den Niederlanden und Luxem- burg wurde in den letzten Jahrzehnten schließlich ausgiebig angenähert und ausgesöhnt. Wie Katharina Garvert-Huijnen in ihrem Beitrag aufzeigt, war man von niederländischer Seite aus nicht immer begeistert über die deutsch- französische Annäherung. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, ob die Konzentration auf solche binationalen Verflechtungen im Kontext einer europäischen Integration nicht ohnehin als Auslaufmodell zu bezeichnen ist. Für die Überwindung der bilateralen Perspektive spricht mit Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen jedenfalls, dass ungeachtet ihrer Kom- plexität vorzugsweise mit eingängigen Gegensatzkonstruktionen nach dem 16 | NICOLE COLIN / DIETER HEIMBÖCKEL / JOACHIM UMLAUF

Muster der fremden Freunde (vgl. Picht u.a. 2002) gearbeitet wird. Dahinter verbirgt sich eine Verstehensbemühung, die immer schon – und heute erst recht – auf die Herstellung von Eindeutigkeit zielt und damit einem Prozess der »Erstaunensentfernung« (Guzzoni 2012: 36) Vorschub leistet. Dieter Heim- böckel plädiert daher aus interkultureller Perspektive für eine am Staunen augerichtete Wahrnemungspraxis, durch die sowohl auf wissenschaftlicher Ebene als auch in anderweitigen Begegnungskonstellationen die Möglichkeit eröffnet werden soll, aus dem Ritual eines Denken-wie-üblich herauszutre- ten, um so Unvertrautes im Vertrauten bzw. Selbstverständlichen wieder zur Kenntnis nehmen zu können. Dass gerade auch eine historische Perspektivie- rung eine solche Überlegung nahe legt, zeigt Heinz Sieburg in seiner Analyse der deutsch-französischen Beziehungen im Mittelalter, die auf eindrucksvolle Weise belegt, dass jede Geschichte ihre Vorgeschichte hat und die historische Ausrichtung der Interkulturalitätsforschung für das Verständnis diachroner Prozesse unumgänglich ist.

Kommen wir zurück zur Anfangsfrage, inwiefern die deutsch-französische An- näherung als Chimäre zu bezeichnen ist, so lässt sich konstatieren, dass die dieser Frage letztlich inhärente teleologische Vorstellung eines zu erreichen- den statischen Ziels naiv anmutet. Die jüngsten Debatten im deutschen Feuil- leton haben gezeigt, dass die Verfechter einer Vorstellung vom Aufstieg und Niedergang der deutsch-französischen Freundschaft weitgehend unterkomplex argumentieren. Die heutigen Beziehungen der beiden Länder bestätigen viel- mehr in relativ eindeutiger Weise die Thesen der neueren Friedensforschung, der zufolge es nicht darum gehen kann, alte Feindschaften zu begraben, son- dern vielmehr grundlegend neue Verhältnisse und Narrative zu kreieren. Das an symbolischen Inszenierungen und Ikonen reiche deutsch-französische Ver- hältnis – vom Gottesdienst in Reims und der auf Deutsch gehaltenen Rede de Gaulles an die deutsche Jugend über Helmut Kohls und François Mitterrands Freundschaftsgeste auf dem Friedhof von Verdun bis zum Besuch Gaucks in Oradour-sur-Glane – belegt letztlich die Dynamik der Beziehung und zeigt zugleich, wie wichtig es ist, die Geschichte als Prozess zu begreifen und zu akzeptieren. Die in den letzten sechs Jahrzehnten geschaffenen Netzwerke sind inzwischen so dicht und selbstverständlich geworden, dass man sie nicht mehr wahrnimmt und Übersetzungen entsprechend zweitrangig, wenn nicht überflüssig erscheinen lassen. Die Streitereien und Missverständnisse um die Ausstellung De l’Allemagne, die beispielhaft belegen, dass die Erträge des Annä- herungsprozesses immer wieder neu justiert und diskutiert werden müssen, sind insofern keinesfalls Ausweis unüberwindbarer Differenzen, sondern als positive Reaktionen zu werten. Um solche Diskussionsräume lebendig zu hal- ten, ist es wichtig, die kulturellen Transferleistungen, die in einer globalisierten Welt die Tendenz haben, sich selbst zum Verschwinden zu bringen, in Zukunft stärker in den Blick zu rücken. Ganz im Sinne des neueren Translational Turn (vgl. Bachmann-Medick: 240) gilt es – auch jenseits der Postcolonial Studies – die scheinbar nicht vorhandenen, tatsächlich aber nur unsichtbar gewordenen Die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 | 17

Beziehungslinien und die Arbeit der Mittler zu analysieren – im transnationa- len Aktionsfeld zwischen Deutschland und Frankreich ebenso wie in anderen europäischen und nicht-europäischen Ländern auch.

LITERATUR

Asholt, Wolfgang u.a. (2012): Pour un renouveau dans les rapports franco-allemands. In: Le Monde v. 28. Juni 2012; online unter: http://www.lemonde.fr/idees/article /2012/06/28/pour-un-renouveau-dans-les-rapports-franco-allemands_1725 611_3232.html [Stand: 15.11.2013]. Baasner, Frank/Teufel, Erwin (2012): »Wir haben uns zusammengelebt«. In: FAZ v. 26. März 2012; online unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/deutsch-franzoesi sche-verstaendigung-wir-haben-uns-zusammengelebt–11698459.html [Stand: 15.11.2013]. Bachmann-Medick, Doris (2010): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwis- senschaften. 4. Aufl. Reinbek bei Hamburg. Cazin, Alice (2013): De ›tension amicale‹ à ›égoïsme‹, les mots de la gauche face à Angela Merkel. In: L’Express v. 29. April 2013; online unter: http://www.lexpress.fr/ actualite/politique/de-tension-amicale-a-egoisme-les-mots-de-la-gauche-face- a-angela-merkel_1245194.html [Stand: 15.11.2013]. Colin, Nicole/Umlauf, Joachim (2013): Eine Frage des Selbstverständnisses? Akteure im deutsch-französischen champ culturel. Plädoyer für einen erweiterten Mittler- begriff. In: Dies. u.a. (Hg.): Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945. Tübingen, S. 69–80. Guzzoni, Ute (2012): erstaunlich und fremd. Erfahrungen und Reflexionen. Freiburg i.Br./München. Moll, Nicolas (2013): [Art.] Vergangenheitsaufarbeitung. In: Nicole Colin u.a. (Hg.): Le- xikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945. Tübingen, S. 447– 449. Nora, Pierre/Guez, Olivier (2012): Man hat sich auseinandergelebt. Ein Gespräch über das deutsch-französische Verhältnis. Aus d. Franz. übers. v. Michael Bischoff. In: FAZ, Nr. 41 v. 17. Februar 2012. Picht, Robert u.a. (Hg.; 2002): Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert. 2. Aufl. München/Zürich.

Die deutsch-französischen Beziehungen aus interkultureller Perspektive

Dieter Heimböckel

Abstract The abundance of different research approaches in the cultural field of Franco-German relations is remarkable. There has been a substantial output of theories and proposed theories in the last twenty years in particular. This article therefore pursues the question of how these theories relate to the paradigm of interculturality, how they contribute to the definition of interculturality, and what the limits and limitations of interculturality’s utility may be. The discussion focuses on a central frame of reference for the debate: the disinterest that has been repeatedly diagnosed on both sides, especially in the context of the festivities surrounding the fiftieth anniversary of the Élysée Treaty.

Title: Franco-German Relations from an Intercultural Perspective

Keywords: comparative literature; Franco-German relationship; histoire croisée; nonknowledge; wonder

Bemerkenswert im Kulturfeld der deutsch-französischen Beziehungen ist die Fülle unterschiedlicher Zugangsweisen zu seiner Erforschung. Besonders in den letzten 20 Jahren ist es hier zu einer beachtlichen Entwicklung und Wei- terung theoretischer Ansätze gekommen. Der Beitrag möchte daher der Frage nachgehen, in welchem Verhältnis sie zum Paradigma der Interkulturalität ste- hen, was sie selbst zu dessen Bestimmung beitragen und worin möglicherweise Grenzen und Begrenzungen ihrer Anschlussmöglichkeit liegen. Dabei bildet die Diskussion um das Desinteresse, das für beide Seiten besonders im Umfeld der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen des Élysée-Vertrags immer wieder diagnostiziert wurde, einen zentralen Bezugsrahmen der Auseinandersetzung. Denn dieses Desinteresse ist nicht so sehr das Resultat nachlassender Anteil- nahme, sondern steht vielmehr, so die These der vorliegenden Ausführungen, in dem Zusammenhang einer Identifizierungstradition, mit der das Staunen über den Anderen aus den deutsch-französischen Beziehungen entfernt wor- den ist.1 Im Rahmen der nachfolgenden Vor-Überlegungen soll daher zunächst geklärt werden, welcher Interkulturalitäts-Begriff diesem Beitrag zugrunde liegt und welche Bedeutung bzw. Funktion dabei das Staunen einnimmt.

1 | Im Sinne einer »Erstaunensentfernung«, von der Ute Guzzoni mit Blick auf die Überführung des Staunens in das Wissen bei Plato und Aristoteles spricht (Guzzoni 2012: 36).

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 20 | DIETER HEIMBÖCKEL

VOR-ÜBERLEGUNGEN ZUR INTERKULTURALITÄT

Interkulturalität ist der (kultur-)anthropologische Ausbruch aus dem Denken- wie-üblich.2

* Im Denken-wie-üblich ist das Fremde das aufgefasste Andere. Es ist wie das Ei- gene eine Setzung, dessen das Denken-wie-üblich bedarf, damit es sein Üblich- sein bewahrt. Interkulturalität hinterfragt daher Repräsentationen des Eigenen und Fremden nicht – sie hätte ansonsten einen Begriff davon –, sondern setzt deren Dekonstruktion voraus. Die Dekonstruktion arbeitet sich daran ab, was als das Eigene und Fremde jeweils gilt. Das, was gilt und was nicht gilt (denn dies ist das durch die Geltung Ausgeschlossene), übersetzt sie in eine Sprache, die dem Denken-wie-üblich unvertraut ist. Interkulturalität ist Übersetzung in eine unvertraute Sprache. Die unvertraute Sprache ist keine Sprache, die in dem Gegensatz von Mut- ter- und Fremdsprache oder Erst- und Zweitsprache aufgeht. In der unvertrauten Sprache kann sich zwar auch Vertrautes (et vice versa) aussprechen, sie erhebt da- mit aber keinen Anspruch auf kulturelle Zugehörigkeit. Die unvertraute Sprache ist in diesem Sinne und prinzipiell interkulturell (sprich: inter-kulturell).

* Interkulturalität versteht Kultur als »plurale tantum« (Hamacher 2011: 127). Eine Kultur ist ein Konglomerat kontingenter Erfindungen, eine Kultur als plurale tantum weiß darum. Vorstellungen von Kultur-Kohärenz sind dagegen auf iden- titäre Abgrenzungen ausgerichtet. Sie dienen der Manifestation von Überlegen- heit, Reinheit, Hegemonie etc.

2 | Im Rahmen der hier entwickelten Überlegungen, die Interkulturalität primär als Denk- und Handlungsform und nicht in ihrer relationalen Ausrichtung reflektieren (zur Unterscheidung vgl. Yousefi/Braun 2011: 7), schließt die Vorstellung vom »Denken- wie-üblich« an Alfred Schütz an. Schütz setzte in seinem sozialpsychologischen Ver- such über den Fremden für das Denken-wie-üblich voraus, »1. daß das Leben und ins- besondere das soziale Leben weiterhin immer so sein wird, wie es gewesen ist: d.h. daß dieselben Probleme, welche die gleichen Lösungen verlangen, wiederkehren wer- den und daß deshalb unsere früheren Erfahrungen genügen werden, um zukünftige Si- tuationen zu meistern; 2. daß wir uns auf das Wissen verlassen können, das uns durch unsere Eltern, Lehrer, Traditionen, Gewohnheiten usw. überliefert wurde, selbst wenn wird nicht deren Ursprung und deren reale Bedeutung kennen; 3. daß in dem normalen Ablauf der Dinge es genügt, etwas über den allgemeinen Typus oder Stil der Ereignis- se zu wissen, die uns in unserer Lebenswelt begegnen, um sie zu handhaben und zu kontrollieren; und 4. daß weder die Rezept-Systeme als Auslegungs- und Anweisungs- schemen noch die zugrunde liegenden Grundannahmen, die wir gerade erwähnten, un- sere private Angelegenheit sind, sondern daß sie auch in gleicher Weise von unseren Mitmenschen akzeptiert und angewandt werden.« (Schütz 1972: 58) DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN AUS INTERKULTURELLER PERSPEKTIVE | 21

Im Denken-wie-üblich bewahrt Kultur ihre Ontologie. Interkulturalität zielt darauf, sie zu durchkreuzen. Sie sagt daher nicht, was Kultur ist, sondern kon- frontiert damit, was jeweils als Kultur gilt und was sie in dieser Geltung von anderen Kulturen in ihren jeweiligen Geltungen unterscheidet. Das schließt die Beschreibung von Gemeinsamkeiten, Überschneidungen oder Ähnlichkeiten mit ein. Im ›inter‹ von Interkulturalität sind die Grenzen zwischen Agonalität, Reziprozität und Liminalität verwischt.

* Interkulturalität schließt Verstehen nicht aus, aber es ist nicht ihr primäres An- liegen. Ein solches Anliegen zielt auf Vereinahmung dessen, was verstanden werden soll, um es dem Denken-wie-üblich zu subsumieren. Im Denken-wie- üblich sind durchaus Weiterungen im Üblichsein vorgesehen. Aber das Üblich- sein stellt sich nicht zur Disposition. Im Verstandenen ist der Ausgang aus dem Verstehen als Prozess a priori angelegt. Um den Prozess jenseits des Verstandenen in Gang zu halten, ist das Verstehen von Anfang an als ein Verstehen zu entwickeln, das verschoben wird. In der Interkulturalität wird das Verstehen verschoben, bis es unvertraut ist. Im Akt der Verschiebung wird das Verstehen aufs Spiel gesetzt. Sie ist der Garant dafür, dass Grenzen (des Verstehens – und nicht nur diese) über- schritten und Grenzziehungen, die das Denken-wie-üblich für sein Üblichsein braucht, reflektiert und zugleich außer Kraft gesetzt werden. Ist Interkultura- lität Übersetzung in eine unvertraute Sprache, so hält Verschiebung sie – die Sprache – in Bewegung.3

* Interkulturalität setzt einen Beobachter voraus, der sich zu dem im Denken- wie-üblich liegenden Grundlagen/Voraussetzungen seines Beobachtens invers verhält. Das heißt: Er dekonstruiert sie bis zur Unvertrautheit – auch wenn er sich seines Denkens-wie-üblich nicht restlos zu entledigen vermag. Durch Ver- schiebung bleibt der Rest sich jedoch nicht gleich; er wird selbst zum Gegen- stand der interkulturellen Aktivität. Die interkulturelle Aktivität ist ein Experiment; der Beobachter ist ein Ex- perimentator. Er weiß nicht, was sich jenseits des Denkens-wie-üblich verbirgt. In diesem Nichtwissen generiert Interkulturalität ihr grenzüberschreitendes Potential.4 In der Andersheit des Anderen stößt das Wissen an seine Grenzen. Wenn sie gewusst wird, ist das Andere nicht mehr anders, sondern dem (eigenen)

3 | Zum Zusammenhang von Verschiebung und Übersetzung vgl. Buden 2005: 72f. so- wie Hamacher 2010: 13, der in der Übersetzung das Paradox am Werk sieht, dass sie nicht nur über Grenzen zwischen den Sprachen hinwegsetzt, sondern diese verschiebt und »in ihrer Verschiebung« erhält. 4 | Vgl. hierzu mein Plädoyer für eine »Interkulturalitäts- als Nichtwissensforschung« (Heimböckel 2012). 22 | DIETER HEIMBÖCKEL

Wissen einverleibt. Das Andere (bzw. das aufgefasste Andere) steht daher bzw. aufgrund seiner »zugänglichen Unzugänglichkeit« (Waldenfels 1999: 44) unter dem Schutz des Nichtwissens (weshalb die Rede über das Andere eine Rede auf der Grundlage einer Setzung des Anderen ist). Umgekehrt geht am Wissen das Andere zunichte, weil es im Moment seines Wissens aufhört, seinen Anspruch auf Andersheit einzulösen. Es bringt das Andere zum Verschwinden, während es im Nichtwissen unangetastet bleibt. Im Nichtwissen über das Andere offen- bart es seine eigentümliche Andersheit.

* Das Gewahrwerden der eigentümlichen Andersheit manifestiert sich als Stau- nen. Es ist ein Staunen einerseits über das Andere, andererseits über das Den- ken-wie-üblich und seine Begrenztheit. Das Staunen initiiert den Ausbruch aus dem Denken-wie-üblich und setzt damit ein Staunen über die Begriffe des Eige- nen und Anderen frei. Das Staunen ist das Vehikel der Interkulturalität. Es löst den Beobachter aus den Fesseln seiner Kulturbedingtheit und ermöglicht einen auf absolute Wert- maßstäbe verzichtenden Kulturvergleich, indem »es die Selbstverständlichkeit eigener kultureller Erfahrungen durchbricht.« (Schlesier 1996: 155) Das Stau- nen ist insofern selbstbezüglich, als es durch Anschauen hervorgerufen wird. Das Staunen ist Ausdruck der Begegnung mit dem Unvertrauten, eine »Wei- se bewußtwerdenden Nichtwissens« (Guzzoni 2012: 12). Es ist nicht sprachlos, sondern begehrt danach, versprachlicht zu werden. In diesem Begehren ist das ursprüngliche Staunen aber bereits verschoben. Es bedarf daher der unvertrau- ten Sprache, die an das Staunen erinnert (und nicht den Anspruch hat, es zu repräsentieren). Denn unter diesen Umständen suggerierte Sprache, es (das Staunen) verstanden zu haben.5

VON DER KRISE DES VERSTEHENS UND DEM GLÜCK DES NICHT- VERSTEHENS ODER DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN ALS TRIGGERPHÄNOMEN

Wenn man mit etwas vertraut ist, ist nach der Logik des Staunens dessen Vo- raussetzung abhanden gekommen. Man kann nur bestaunen, was einem neu ist oder in der wahrgenommenen Form keinem Vergleich standhält. Für das Staunen muss es allerdings auch eine bestimmte Bereitschaft geben. Wer sich nicht darauf einlässt, von etwas Unvertrautem überrascht zu werden, oder wer

5 | Es geht bei dem hier in Rede stehenden Staunen also nicht um ein Phänomen, das – wie in der griechischen Philosophie – am Anfang des Erkenntnisprozesses steht und dessen angestrebte Überwindung mit dem Anspruch auf endgültige Einsicht ein- hergeht (vgl. Martens 2003: 48), sondern um ein Staunen, das eine »notwendige Voraussetzung und ein bleibender Bestandteil des Sicheinlassens« (Guzzoni 2012: 12) mit dem Unvertrauten bildet. DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN AUS INTERKULTURELLER PERSPEKTIVE | 23 glaubt, alles bereits zu kennen, der ist vor Überraschungen, die ihn ins Stau- nen versetzen, vergleichsweise gefeit. In den deutsch-französischen Beziehun- gen scheinen sich, so jedenfalls der Eindruck, der sich bei der Sichtung der umfangreichen wissenschaftlichen Literatur und medialen Berichterstattung zum franco-allemand6 einstellt, beide Tendenzen bequem eingenistet zu haben. Einer seits soll das Paar, wie in einer alten Beziehung, kein sonderliches Inter- esse an dem jeweils anderen mehr verspüren (vgl. Sauter 2011: 10). Der durch die Ratifizierung des Élysée-Vertrags 1963 in Gang gesetzte Prozess der Ver- ständigung und Versöhnung habe dazu geführt, dass eine Art Normalität in die Beziehung eingekehrt sei, die an »freundliche Indifferenz« (Gamer/Reinbold/ Schmidt 1995: 197) grenze. Das Thema selbst sei ausgereizt, man lebe, wie bei einem in die Jahre gekommenen Ehepaar, mehr oder weniger lust- und freudlos nebeneinander. Andererseits benötige man keine Aufklärung mehr über sich. Man kenne sich schon lange und so gut, dass selbst im Neuen noch ein bekann- tes Antlitz durchschimmere. Der ›Erbfeind‹ mag zwar zum ›Erbfreund‹ mutiert sein,7 aber das Erbe wiegt in beiden Fällen so schwer, dass man am Ende meint, besser ohne den anderen auskommen zu können. Die deutsch-französischen Beziehungen verdienten allerdings nicht das Attribut der Einmaligkeit (vgl. Martens/Uterwedde 2009: 7), das ihnen durch die Erfolgsgeschichte der Annäherung zugeschrieben wird, wenn sie sich nicht weit komplexer als in dieser Doppelperspektive gestalten würden. Die Komple- xität ergibt sich zum einen aus einer historischen Gemengelage, die sich nicht einfach durch eine Feind-Freud- bzw. Saulus-Paulus-Erzählung auflösen lässt, zum anderen aus der Art und Weise, wie diese Geschichte erzählt wird. Denn ungeachtet der Tatsache, dass man um die Komplexität der Beziehung weiß, wird über sie ein Narrativ entwickelt, das man regelmäßig noch nach guter alter, d.h. aristotelischer Sitte – mit Anfang, Mitte und Ende – strukturieren zu können meint. Bei einer so erzählten Geschichte, vor allem wenn man sie vom Ende her denkt, weiß man, wovon bzw. worüber man spricht – und dies auch unter der Voraussetzung der Pointe, dass man wenig voneinander wisse und im Grunde einander fremd geblieben sei. Eine solche Pointe ist allerdings nicht nur typisch für die Einmaligkeit beanspruchenden deutsch-französischen Beziehungen, sondern dürfte charakteristisch für jede bilateral ausgerichtete

6 | Der eingeführte Begriff des franco-allemand steht hier wie in vergleichbaren Zu- sammenhängen auch für das Feld der deutsch-französischen Beziehungen bzw. der deutsch-französischen Zusammenarbeit. 7 | Mit dem Freund-Feind-Antagonismus wird im Rahmen der Auseinadersetzung mit den deutsch-französischen Beziehungen immer wieder gerne gearbeitet – sei es, in- dem über dieses Gegensatzpaar eine beziehungsgeschichtliche Entwicklung vom ›Erb- feind‹ zum ›Erbfreund‹ sichtbar gemacht werden soll (vgl. Bergsdorf 2006), oder sei es, um darauf aufmerksam zu machen, dass beide Tendenzen in dem Verhältnis gleichzei- tig wirksam waren (vgl. Erbfeinde – Erbfreunde 2007) und/oder – wie im Kontext der Louvre-Ausstellung De l’Allemagne – fallweise nach wie vor wirksam sind (vgl. Maak 2013b). Zur Ausstellung De l'Allemagne vgl. auch die abschließenden Ausführungen dieses Beitrags sowie den Beitrag von Joachim Umlauf im vorliegenden Heft. 24 | DIETER HEIMBÖCKEL

Beziehungsgeschichte sein. Denn nur so erklärt sich, warum solche Bezie- hungsgeschichten regelmäßig als Fortsetzungsromane angelegt sind. Und je näher die Partner dieser Beziehung – historisch, topografisch, anthropologisch – zuein ander stehen, desto mehr und eher gibt es die Neigung, in die Nähe eine Art der Ferne (oder Fremde) einzuschreiben. Die Rede von der nachbarschaft- lichen »Nahfremde« (Weinrich 1990: 50) gehört hierzu, die auch danach zu befragen wäre, inwieweit sie zur Aufrechterhaltung topologisch-diskursiv auf- geladener Beziehungsgeschichten beiträgt. Was das Verhältnis von Deutschland und Frankreich anbelangt, so handelt es sich bei der Nahfremde oder vergleichbaren Gegensatz-Formulierungen wie »Fremde Freunde« (Picht u.a. 2002) und »Bekannte Fremde« (Florack 2007) um Zuschreibungen, mit deren Hilfe die Komplexität des Verhältnisses, und sei es durch eine Ambivalenz-Konstruktion, doch begrifflich gebannt werden soll. Dahinter verbirgt sich eine Verstehensbemühung, die immer schon – und heu- te erst recht – auf die Herstellung von Eindeutigkeit gezielt hat. In Zeiten, als noch, bedingt durch vier Kriege und nachfolgende Revanchismen, der Mythos von der ›Erbfeindschaft‹ Hochkonjunktur feierte, soll selbst der Erwerb der je- weils anderen Sprache keinen anderen Zweck verfolgt haben, als »den Erbfeind fest im Auge zu behalten« (Oster-Stierle 2012). Der Gegner wollte klar umrissen und identifiziert sein, damit im Ernstfall der Richtige getroffen werden konn- te. Die Geschichte nach 1945, die Geschichte der Aussöhnung, ist demgegen- über nur vordergründig eine, die dem Anderen, der nun ein Freund sein sollte, Freiheiten einräumt, wie es sich für eine Freundschaft gehört, die den Namen verdient. Der Wunsch nach Eindeutigkeit ist im franco-allemand ein Triggerphä- nomen, und so eindeutig der Feind vorher ein Feind war, so eindeutig hat er sich jetzt als Freund zu benehmen und zu seiner Freundschaft zu bekennen. Für den Fall, dass die Freundschaft aus dem Ruder zu laufen droht oder sich ernste Anzeichen ihrer Brüchigkeit einstellen, hat sich auf beiden Seiten einge- bürgert, von einer Krise zu reden, wobei die Rede über die Krise (vielleicht nicht nur im franco-allemand, aber hier besonders signifikant) ein diskursives Format angenommen hat, das selbst und in seiner Ausprägung nichts an Kontinuität und Eindeutigkeit zu wünschen übrig lässt. Denn sie ist nicht nur ein Phäno- men der letzten Jahre, angesichts der Klagen über das eklatant nachlassende Interesse am schulischen Erwerb des Deutschen in Frankreich oder des Franzö- sischen in Deutschland bzw. über den kaum noch stattfindenden Austausch der intellektuellen Eliten, sondern sie ist in ihrer zeitlichen Verortung bereits in den 1980er Jahren (vgl. Kleeberg 2011: 20) und besonders seit dem Fall der Mauer (vgl. Foussier 1991: 11) ein ständiger und immer herbeizitierter Gegenstand der Auseinandersetzung. Dabei handelt es sich unter anderem, worauf Nicole Co- lin und Joachim Umlauf zu Recht hinweisen, um die Besitzwahrungsstrategie derjenigen, die im deutsch-französischen Feld tätig und darum bemüht sind, den Ausnahmestatus und Vorbildcharakter der Beziehung durch die Initiierung neuer, die jeweilige Krise überwindender Aktivitäten zu bewahren. »Die Krise bildet auf diese Weise die Legimitationsgrundlage gegenüber Politik und Zivil- gesellschaft, die das Angebot immer wieder strukturell in den Blick nehmen, DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN AUS INTERKULTURELLER PERSPEKTIVE | 25 um es zu sichern, zu korrigieren, auszubauen bzw. zu begrenzen und auch auf seine langfristige Wirksamkeit hin zu untersuchen.« (Colin/Umlauf 2013: 77) Zum allseits diagnostizierten wechselseitigen Desinteresse, das im Umfeld der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen des Élysée-Vertrags immer wie- der beschworen wurde und in der Feststellung Pierre Noras kulminierte, dass man »sich auseinandergelebt« habe und »der Wille zur Abgrenzung beider Nationen stärker zu sein [scheint] als der Wille zur Annäherung« (Nora/Guez 2012), verhält sich allein – nach Art eines Gegendiskurses – Peter Sloterdijks Kommentar zu den deutsch-französischen Beziehungen invers, indem er gera- dezu ein Hohelied auf die »gegenseitige Desinteressierung und Defaszination« (Sloterdijk 2008: 71) im deutsch-französischen Verhältnis singt. Wegen ihres heuristischen Wertes für die vorliegenden Ausführungen, aber auch aufgrund der ihnen innewohnenden Problematik sei aus seiner vielbeachteten Theorie der Nachkriegszeiten etwas ausführlicher zitiert:

Die Franzosen und die Deutschen gingen nach 1945 in kultureller und psychopoliti- scher Hinsicht de facto immer weiter auseinander, während sie auf der Ebene der of- fiziellen politischen Beziehungen zu einer neuen, für beide Seiten heilsamen Freund- schaft fanden. Ich behaupte nun, diese beiden Tatsachen, das Auseinandergehen und die Befreundung, bedeuten in der Sache ein und dasselbe. Die These will erläutert werden. Blicken wir noch einmal auf die aus deutsch-fran- zösischer Erlebnisperspektive bewegendste Szene der zweiten Hälfte des 20. Jahr- hunderts zurück, die Begegnung von de Gaulle und Adenauer unter den Bögen der Kathedrale von Reims. Was die beiden alten Männer damals wirklich miteinander aus- handelten, war nichts anderes als die wohltuende Entflechtung der beiden Nationen. Es war die Auflösung einer fatalen Überbeziehung, die mindestens bis in die Ära der napoleonischen Kriege zurückreichte und infolge welcher die Deutschen und die Fran- zosen sich in einer endlosen Folge von Spiegelungen, Nachahmungen, Überbietungen und projektiven Einfühlungen in den anderen, kulturell wie politisch, ineinander ver- hakt hatten – in akuten Formen beginnend mit dem französischen Import der deut- schen Romantik durch Germaine von Staëls folgenreiches Buch De I’Allemagne von 1813 und dem preußischen Import der napoleonischen Kriegskunst durch Clausewitz’ Buch Vom Kriege (posthum 1832–1834). In diesem Sinn darf man sagen, die beiden Völker hätten sich damals offiziell voneinander getrennt, und was de Gaulle und Ade- nauer einander gelobten, war ein immerwährendes gegenseitiges Loslassen, in ge- wisser Weise sogar ein immerwährendes gegenseitiges Nicht-Verstehen – bis hin zur Unterlassung jedes neuen Versuchs in dieser Richtung. Das seither bestehende gute Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ruht auf der soliden Basis jener end- lich erreichten Beziehungslosigkeit, die man diplomatisch als Freundschaft zwischen den Völkern beschreibt. (Ebd.: 64f.)

Die sicherlich etwas eigenwillige und gegen den Strich gebürstete Einschätzung der Initiative von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer und ihrer Folgen basiert im Wesentlichen auf der bereits angedeuteten Tatsache, dass nicht ein Zuwenig der Kenntnisse des Anderen für die so problematische Geschichte zwi- 26 | DIETER HEIMBÖCKEL schen Frankreich und Deutschland verantwortlich ist, sondern die »endlose Fol- ge von Spiegelungen, Nachahmungen, Überbietungen und projektiven Einfüh- lungen« und das heißt, der dahinter stehende Anspruch, den anderen genau zu kennen und deshalb um so berechtigter das – womöglich – vernichtende Urteil über ihn zu sprechen.8 Daraus resultiert letztendlich Sloterdijks Plädoyer für ein »immerwährendes gegenseitiges Nicht-Verstehen«, denn erst dann, so sein Fazit, »wenn die Loslösung voneinander geschehen ist, können all die guten und nützlichen Dinge in Gang kommen, die wir mit zeitgenössischen Kardi- nalwörtern wie Kooperation und Vernetzung bezeichnen.« (Sloterdijk 2008: 71) Dabei möchte Sloterdijk seine Ausführungen ausdrücklich von den Initia- tiven und Aktivitäten in dem bilateralen Verhältnis zwischen den beiden Län- dern abgehoben wissen. Sie hätten ihren Wert und seien für die Verständigung durchaus nützlich, während er den Eigenwert seines Essays darin sieht, »daß die Arbeitsbedingungen der Begegnungsprofis jederzeit unabhängig von phi- losophischen und kulturtheoretischen Kommentaren funktionieren.« (Ebd.: 63) Eine so verstandene Arbeitsteilung im Feld der Vita ist, in der Unterschei- dung zwischen Vita acitiva und Vita contemplativa, allerdings selbst zu einem Topos geronnen und klammert gerade die für die deutsch-französische Bezie- hungsgeschichte charakteristische Allianz beider Sphären aus, die besonders vor und während des Ersten Weltkriegs verhängnisvolle Züge angenommen hatte.9 Selbst ein als Gegendiskurs organisiertes Wissen ist, wie das Beispiel Sloterdijks zeigt, vor den diskursiven Wissens- und Reproduktionsfallen nicht gefeit, wenn er die beziehungsgeschichtlich nach wie vor virulente Vorstellung von den »incertitudes allemandes«10 mit dem für Europa nicht berechenbaren Risiko der »Erbmasse des Gaullismus« (ebd.: 42) kontert und in Frankreich eine »generell[e] intellektuell[e] Mediokrisierung« (ebd.: 48) am Werk sieht, die nicht erst Pierre Nora auf den Plan gerufen hat (vgl. Nora/Guez 2012).11 Auf der anderen Seite weiß Sloterdijk genau, was Franzosen und Deutsche voneinander

8 | Todorov hat für den kolonialen Feldzug der Spanier in Südamerika die Trias aus Ver- stehen, Nehmen und Zerstören als »Paradox des todbringenden Verstehens« (Todorov 1985: 155) geltend gemacht und damit einen Verstehenskonnex hergestellt, der, wenn er nicht auf das Verstehen zur Eliminierung des Anderen, so doch zumindest auf die Durchsetzung der eigenen Überlegenheit zielt. 9 | Das gilt besonders für den am 4. Oktober 1914 veröffentlichten Aufruf An die Kul- turwelt, der von 93 deutschen Wissenschaftlern und Künstlern unterschrieben wurde und in seiner apologetischen Rechtfertigung des Krieges und der Verquickung von Mi- litarismus und Kultur nicht nur maßgeblich zur Diskreditierung deutscher Kunst und Wissenschaft im Ausland beitrug, sondern der wie kein anderes Kriegsbekenntnis auch »den Chauvinismus der anderen Seite« schürte (Brocke 1985: 665). 10 | Zu dem Topos von den »incertitudes allemandes«, von den deutschen Ungewiss- heiten, der auf die gleichnamige Publikation von Pierre Viénot aus dem Jahre 1931 zu- rückgeht und der bis heute in Frankreich dann herbeizitiert wird, wenn das Verhalten der Deutschen als nicht kalkulierbar bzw. unberechenbar erscheint, vgl. Leiner 1991: 212–214. 11 | Vgl. auch die Angaben zu Anm. 12 der vorliegenden Ausführungen. DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN AUS INTERKULTURELLER PERSPEKTIVE | 27 unterscheidet (vgl. Sloterdijk 2008: 34), worin die Besonderheiten des kulturel- len Klimas in Deutschlands liegen (vgl. ebd.: 51) und zu welchen Überzeugun- gen die Deutschen vorzugsweise neigen (vgl. ebd.: 62). Es ist nicht so sehr die Bestimmtheit, die hinter diesen Äußerungen liegt, sondern die Unmöglichkeit des von ihm selbst propagierten Loslassens, die bezeichnenderweise durch sei- ne erst jüngst publizierte Essaysammlung Mein Frankreich (Sloterdijk 2013) zu- sätzlich untermauert wird. Das Problem dieser Forderung liegt darüber hinaus aber darin, dass sie davon ausgeht, dass mit ihr eine Verabschiedung der im Denken-wie-üblich befangenen Eindeutigkeiten einhergehen würde. Jüngere Studien und feuilletonistische Ausführungen dokumentieren eher das Gegen- teil, nämlich die Perpetuierung traditioneller Ein- und Vorherstellungsmuster gerade in Zeiten, in denen den Nachbarn das Interesse am jeweils Anderen ab- handen gekommen sein soll, wobei noch zu fragen sein wird, inwieweit seitens der Publizistik dieser Perpetuierung nicht selbst Vorschub geleistet wird. Das Loslassen führt jedenfalls – dies ein Irrtum in der Argumentationslogik von Sloterdijk – nicht zwangsläufig zur Reduzierung von Eindeutigkeit, sondern es kann wie das Festhalten zu ihrer Verstetigung beitragen. Und seine Theorie der Nachkriegszeiten liefert dazu die Probe aufs Exempel. Sloterdijks Theorie darf allerdings auch aufgrund ihres Umgangs mit den Kategorien des Wissens und Nichtwissens bzw. des Verstehens und Nicht-Ver- stehens einen exemplarischen Status beanspruchen. Denn obwohl er für die deutsch-französische Beziehungen ein Nicht-Verstehen für heilsam hält, stellt er das Verstehen für sich selbst nicht in Frage. Es wäre vielleicht ungerecht, ausgerechnet einem Philosophen einen Mangel an Nicht-Verstehen zu unter- stellen, aber schließlich muss auch er sich daran messen lassen, was er seiner Zeit und seinen Zeitgenossen als Remedium verschreibt. So ist ungeachtet der Einsicht, dass »sich die deutsch-französischen ›Beziehungen‹ in einer bipola- ren Betrachtung nicht ganz erschließen können« (Sloterdijk 2008: 69), deren Verstehen nicht suspendiert oder in Frage gestellt. Noch weniger ist Sloterdijk ein Experimentator, der das Risiko auf sich nehmen würde, sich von dem Resul- tat seiner Versuchsanordnung überraschen zu lassen. Das Risiko ist einerseits auch deswegen gering, weil die Rede vom Desinteresse inzwischen so gängig geworden ist, dass niemand in dieser Hinsicht um seinen Ruf als Zeitdiagnos- tiker fürchten muss. Auf der anderen Seite erhält die Fürsprache für ein um- fassendes Nicht-Verstehen eine, wenn auch unfreiwillige, Bestätigung durch diejenigen, die die Beziehungen durch eine unüberwindbare Barriere des Miss- verstehens blockiert oder das zentrale Problem zwischen den Ländern darin ver- bürgt sehen, dass man sich nach wie vor fremd ist. In der Regel wird eine solche Behauptung durch die immer noch grassierende Unkenntnis und den Nach- weis bestehender Vorurteile begründet, worin Sloterdijk nicht mehr und auch nicht weniger als ein Indiz für die Normalisierung der Beziehung sehen würde. In beiden Fällen ist aber, jenseits des untersuchten oder beobachteten Gegen- standes, ein Wissen über den Anderen oder zumindest die Möglichkeit, ihn zu verstehen, vorausgesetzt. Man weiß, worüber man spricht, aber dieses Wissen und seine Herkunft wird nicht zur Disposition gestellt, geschweige denn in eine 28 | DIETER HEIMBÖCKEL

Sprache übersetzt, die unvertraut wäre. Die Sprache muss vertraut sein, denn schließlich will das Verstandene verständlich gemacht werden. Das heißt: Die deutsch-französischen Beziehungen sind das Resultat einer Diskurspraxis, die so oder so alles dafür getan hat, das Staunen aus der Beziehung zu vertreiben. Nur dadurch, dass ihr ein Denken-wie-üblich untergeschoben wird, wirkt sie mitunter banal und nicht, weil ihr die Banalisierung wesensmäßig wäre.12

MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DER VERGLEICHENDEN KULTURANALYSE. ZUR ERFORSCHUNG DER DEUTSCH- FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN

Über die Interkulturalitätsforschung wurde angesichts ihrer inzwischen weit aus- und disziplinübergreifenden Relevanz erst kürzlich vermerkt, dass es we- niger darum gehe, sie gegen ihre »Kritiker zu verteidigen«, als vielmehr darum, sie vor ihren »Liebhabern zu schützen« (Heimböckel u.a. 2010: 6). Unter mo- difizierten Vorzeichen gilt dies auch für die Forschung zu den deutsch-franzö- sischen Beziehungen. Sie füllen nicht nur ganze Bibliotheken aus, sie gehören auch zu den »am intensivsten bearbeiteten Forschungsfeldern der europabe- zogenen Kultur- und Geschichtswissenschaften« (Lüsebrink/Oster 2008: 7). Daraus könnte leicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass sich schon in der quantitativen Beschäftigung mit dem Thema die Einmaligkeit widerspiegle, die man dieser Beziehungsgeschichte gerne attestiert. Auf der anderen Seite lässt sich die Intensität der Auseinandersetzung im Sinne der bereits angespro- chenen Strategie der Besitzstandswahrung als Vehikel der Einmaligkeit deuten, indem unablässig an der Fortsetzung der Geschichte gearbeitet und weiterge- schrieben wird. Nun sehen sich die deutsch-französischen Beziehungen nicht erst gegenwärtig, sondern schon seit Längerem der Forderung nach einem neu- en Denken ausgesetzt,13 wobei man nicht so recht einzuschätzen weiß, ob sich darin tatsächlich ein Theorie- und Methodenproblem zu erkennen gibt oder doch nur der Aktivismus in einem kulturellen Feld, dessen Besitz gesichert werden will. Unter Umständen sind sogar beide Tendenzen wirksam, und es scheint gute Gründe dafür zu geben, in diesem Fall in ihnen zwei Seiten einer Medaille zu sehen. Bemerkenswert im Kulturfeld der deutsch-französischen Beziehungen ist, wie eingangs bereits angesprochen, die Fülle unterschiedlicher Zugangsweisen zu seiner Erforschung. Dabei ist es besonders in den letzten 20 Jahren hier zu einer beachtlichen Entwicklung und Weiterung theoretischer Ansätze gekom- men. Diese Entwicklung ist vor allem auf die ebenso intensive wie extensive

12 | Von der Banalisierung der deutsch-französischen Beziehungen sprechen Sauter (2011: 15) und Marcowitz (2013: 45). 13 | Vgl. Defrance 2013: 57, unter Hinweis auf Lüsebrink 1998 sowie den offenen Brief Pour un renouveau dans les rapports franco-allemands von Asholt u.a. in Le Monde vom 28. Juni 2012. DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN AUS INTERKULTURELLER PERSPEKTIVE | 29

Diskussion in der Kulturtheorie und den damit einhergehenden kulturwissen- schaftlichen Turn der Geisteswissenschaften zurückzuführen, von dem insbe- sondere die vorzugsweise mit den deutsch-französischen Beziehungen beschäf- tigten Disziplinen der Germanistik, Romanistik und Komparatistik sowie der Geschichts- und Politikwissenschaft, aber natürlich auch andere Fächer profi- tiert haben. Damit wurde zugleich eine enorme Ausdifferenzierung des For- schungsfeldes befördert, aber auch, was angesichts der unterschiedlichen, zum Teil disziplinär begründeten Zugriffsweisen und Begriffsverwendungen nicht weiter verwundert, eine gewisse Verwirrung »im theoretischen Großraum der vergleichenden Kulturanalyse.« (Colin/Umlauf 2013: 69) Ob Imagologie (vgl. Leiner 1991 u. Erler 2004) oder Stereotypenforschung (vgl. Florack 2007), Kul- turtransferanalyse (vgl. Espagne/Werner 1988 u. Espagne 1999) oder Histoire croisée (vgl. Werner/Zimmermann 2002), Kulturfeldforschung (vgl. Jurt 2008) oder Vermittlungsforschung (vgl. Marmetschke 2011 u. Colin/Umlauf 2013) – alle Konzepte zeichnen sich durch ein spezifisches Theoriedesign aus, das in seinen Basisprämissen entweder nicht kompatibel oder dessen Grundlegung in expliziter Abgrenzung zu einem bestimmten Forschungsansatz entstanden bzw. aus diesem weiterentwickelt worden ist. Aufgrund der partiellen Unvergleichbarkeit der Ansätze kann es hier im Einzelnen allerdings nicht darum gehen, Leistungen, Vorzüge und Nachteile der jeweiligen Positionen gegeneinander aufzurechnen, zumal damit der ohne- hin begrenzte Umfang dieses Beitrags bei weitem gesprengt werden würde. Zu fragen wäre vielmehr – auch mit Blick auf das hier in Rede stehende Thema –, in welchem Verhältnis sie zum Paradigma der Interkulturalität stehen, was sie selbst zu dessen Bestimmung beitragen und worin möglicherweise Grenzen und Begrenzungen ihrer Anschlussmöglichkeit liegen (was in dem vorliegen- den Fall freilich nur im Rahmen einer exemplarischen Sichtung erfolgen kann). Dabei ist vorauszuschicken, dass die Ansätze mehr oder weniger deutlich in einem Bezugsrahmen der Interkulturalität oder doch zumindest in einem Ver- hältnis der kritischen Reflexion zu ihr gestellt werden. Man muss nicht so weit gehen, sie unter dem übergeordneten Forschungskonzept der interkulturellen Beziehungs- und Begegnungsforschung zu subsumieren, auch wenn dies im Kontext der deutsch-französischen Beziehungen bereits in Ansätzen vorge- schlagen wurde (vgl. Röseberg 2005: 55). Interkulturalität ist aber explizit oder implizit durchweg ein Thema, so dass die Theorie- und Methodenbildung zum franco-allemand zugleich einen Beitrag zur Theorie- und Methodenbildung der Interkulturalitätsforschung (wie auch umgekehrt) leisten könnte. Im Potentialis liegt freilich eine Einschränkung begründet, die die Selbstver- ständlichkeit, mit der man die deutsch-französischen Beziehungen der Inter- kulturalitätsforschung zurechnet, unter einen gewissen Vorbehalt stellt. Denn erstens hat es der Interkulturalitätsforschung in den letzten Jahren insgesamt nicht gut getan, dass man von begrifflichen und konzeptionellen Grundannah- men ausgegangen ist, ohne ihre Prämissen und deren heuristische Funktion in Frage zu stellen. Das bilaterale Moment gehört hier ebenso dazu (vgl. Röseberg/ Thomas 2008: 11) wie die Vorstellung, dass in einer interkulturellen Konstellati- 30 | DIETER HEIMBÖCKEL on klar voneinander abgrenzbare Entitäten in einen wie auch immer gearteten Austausch treten würden. Zweitens, und damit aufs Engste verknüpft, hat man ihr – wie im Rahmen der vom Konzept der Transkulturalität ausgehenden Inter- kulturalitätskritik von Wolfgang Welsch (vgl. Welsch 1992 u. 2000) – schlicht- weg unterstellt, sie operiere mit einem unzeitgemäßen, noch an Containervor- stellungen orientierten Kulturbegriff. Dieser Vorwurf ist ernst zu nehmen, aber angesichts der aktuellen kulturtheoretischen Diskussion an die Kritiker mit dem Hinweis darauf zurückzuspielen, dass ihr Begriff von Kultur ihnen nicht die Freiheit seiner Suspendierung einräumt.14 Anders verhält es sich, wenn in der Forschungspraxis an traditionellen Kultur-Vorstellungen festgehalten wird und es zu einer Festschreibung von Vorstellungsmustern zu kommen droht, deren Erforschung gerade ihr Gegenstand ist. In der Imagologie beispielsweise, die als Nationenbildforschung und Forschungssegment der Komparatistik Lite- ratur als Teil der interkulturellen Bewusstseinsbildung begreift (vgl. Stockhorst 2005: 357) und die für die Erforschung der jeweiligen Fremdwahrnehmung in den deutsch-französischen Beziehungen einen zentralen Ansatz bildet, wird von der Einstellung eines Textes oder eines Verfassers auf ein kollektives Be- wusstsein geschlossen und so einer substantialistisch geprägten Perspektive auf die nationale bzw. kulturelle Wahrnehmung nolens volens Vorschub geleistet.15 Selbst wenn es der Imagologie, wie es in der jüngeren avancierten Theoriebil- dung heißt, nicht mehr vorrangig um die Identifizierung und ideologiekritische Infragestellung nationaler Wahrnehmungsmuster geht, sondern eher darum, wie diese Wahrnehmung diskursiv und intertextuell funktioniert (vgl. Leers- sen 2007), so kommt es über den Nachweis eines spezifischen Diskurswissens letztendlich doch zur Rekonstruktion eines nationalen und kulturellen Einstel- lungshorizonts. Die nationale Fixierung bleibt damit ebenso unangetastet wie die Position des Analytikers, der das Diskurswissen über den je Anderen orga- nisiert. Er stellt die im Fremdbild angelegte Eindeutigkeit so nicht nur her, er beglaubigt sie auch noch. In den seltensten Fällen wartet die Nationenbildfor- schung daher mit überraschenden Ergebnissen auf. Wie in den deutsch-franzö- sischen Beziehungen werden regelmäßig konstante Zuschreibungen bzw. die Wiederholung und Perpetuierung traditioneller Bilder festgestellt (vgl. Leiner 1989: 204–235). So gilt beispielsweise als gesichert, dass die im französischen Deutschlandbild dominante Tradition der »deux Allemagnes«, also die duale Vorstellung vom romantischen und kriegerischen Deutschland, bis heute im Kern erhalten geblieben ist (vgl. Erler 2004: 71).16 Dient das Image dazu, was

14 | Das gilt vor allem für diejenigen, die im Anschluss an Welsch ebenso vorschnell wie forsch glauben, sich im Namen der Transkulturalität »programmatisch vom über- kommenen Denkansatz der Interkulturalitätsforschung« (Kimmich/Schahadat 2012: 8) verabschieden zu können. 15 | Die vorliegenden Ausführungen greifen hier summarisch die bereits hinlänglich geübte Kritik an der Imagologie auf. Vgl. mit weiterführenden Hinweisen Blioumi 2002, Florack 2007: 7–32 u. Voltrová 2010. 16 | Zur Ursprungsgeschichte der Vorstellung vom zweierlei Deutschland vgl. Gamer/ Reinbold/Schmidt 1995: 198. DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN AUS INTERKULTURELLER PERSPEKTIVE | 31 anders oder abweichend ist, in eine vertraute Sprache zu übersetzen, so partizi- piert Wissenschaft noch daran, indem sie das Vertraute reproduziert. Eine Lösung des Problems stellt sich auch dann nicht ein, wenn die ideo- logiekritische Perspektive der Imageforschung aufgegeben und stattdessen na- tionale Stereotype als anthropologische Konstanten der sozialen Orientierung in den Fokus der Auseinandersetzung gerückt werden (vgl. Florack 2001: 4 u. 2007: 4). Durch die Einsicht, dass sie der Komplexitätsreduktion dienen und gerade in Zeiten fortschreitender Unübersichtlichkeit als identitäts- und sicherheitsstif- tende Stabilisatoren begehrt sind, darf sich der Mensch zwar einmal mehr als Mangelwesen entlarvt fühlen (was übrigens Peter Sloterdijk in seiner Theorie des Loslassens offensichtlich nicht gebührend in Rechnung gestellt hat) und mag et- was über die Mechanismen der Wissenskonstruktion und -produktion ausgesagt sein. Der Verdacht aber, »daß das, was Wissen heißt, sich bei näherer Untersu- chung im diffusen Licht klarer Unterscheidung verliert« (Gamm 2000: 192), wird zurückgenommen und zugunsten der Klärung seiner Entstehungsbedingungen und Funktionszusammenhänge preisgegeben. Das Wissen bleibt auf diese Weise unangetastet und kann – im Stile einer Self-fullfilling prophecy – fallweise auch noch als Beleg und Bestätigung einer an sich unveränderten Fremdwahrneh- mung fungieren und eben dadurch abermals der Herstellung von Eindeutigkeit dienen: »So kann man im Gegensatz zu den Voraussagen und Wünschen der Wegbereiter der deutsch-französischen Annäherung […] bislang nicht behaup- ten«, heißt es bezeichnenderweise unter dem Eintrag Stereotypen/Stéréotypes im Handwörterbuch der deutsch-französischen Beziehungen, »dass der Ausbau von Be- gegnungen und Tourismus zwischen beiden Ländern zu einem Rückgang der gegenseitigen Stereotype geführt hätte.« (Guinaudeau 2009: 185) Unter der Voraussetzung einer imagologischen Fragestellung wäre der da- bei verhandelte Begriff der Interkulturalität in der Tat danach zu hinterfragen, »ob er nicht doch ontologisch verfestigte Vorstellungen von Kultur transpor- tiert« (Werner 2013: 27), statt sie als ein plurale tantum zu verstehen, dessen Gestus, Luc Nancy zufolge, der des Vermischens ist (vgl. Nancy 1993: 6). Die Beantwortung der Frage, wenn sie ins Allgemeine gehen soll, hängt freilich nicht vom Begriff der Interkulturalität alleine ab, so als würde mit ihm eine Setzung nach Art einer Quasiontologisierung erfolgen, sondern auch von der jeweiligen Forschungsrichtung und ihrer analytischen Praxis. Es geht dabei neben dem Kulturbegriff, der zugrunde gelegt wird, um den Standpunkt des Beobachters und seine Bereitschaft, die eigene Position immer wieder aufs Spiel zu setzen und die interkulturelle Praxis zur »Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen« (Fornet-Betancourt 2007: 9) zu nutzen. Von dieser Warte aus liefert die neuere Beziehungsforschung, gerade auch im Kon- text der deutsch-französischen Beziehungen, weitere Ansatzmöglichkeiten, In- terkulturalität nicht als Substanzbegriff, sondern als »Kultur-im-Zwischen« und »Prozess« (Terkessidis 2010: 10) zu begreifen,17 indem – zunächst in der Trans-

17 | Auf die – auch utopisch-politische – Bedeutung des ›Zwischen‹ für die Interkul- turalität haben bereits Rieger/Schahadat/Weinberg (1999: 18) im Anschluss an 32 | DIETER HEIMBÖCKEL ferforschung (vgl. Espagne/Werner 1988 u. Espagne 1999) und nachfolgend (und in kritischer Absetzung zu ihr) in der Histoire croisée – sich das Interesse darauf konzentriert, »vermeintliche Homogenitäten der Nationalkulturen auf- zubrechen und ihre durch Transfers hervorgerufene ›Fremdanteile‹ […] nach- zuweisen.« (Werner 2013: 27) Kultur wird in der Transferforschung insofern als Prozess, als etwas immer schon Übersetztes verstanden, wobei ihre Kritiker ihr vorwerfen, dass sie dennoch nicht ohne die Setzung von Anfangs- und End- punkten auskomme und dies obendrein in der nationalen Kultur geschehe. Der nationalen Bezogenheit und der damit einhergehenden Vereinseitigung der Be- obachtungsperspektive sucht sich die Histoire croisée demgegenüber dadurch zu entziehen, dass sie mit Hilfe eines multiperspektivischen Analyseverfahrens wechselseitige Austausch- und Interaktionsprozesse herausarbeitet und dabei den Forscher selbst als aktiven Teilnehmer am Verflechtungsprozess reflektiert. Auf das in den Sozial- und Kulturwissenschaften virulente Problem der Beob- achterposition antwortet die Histoire croisée, indem sie den Beobachtungsvorgang experimentell aufbricht, verdoppelt, multipli- ziert, ihn seiner Einzigartigkeit beraubt. Sie fragt danach, wie ein Problemzusam- menhang in verschiedenen historischen Situationen sprachlich benannt, wie er – aus jeweils spezifischem Blickwinkel – begrifflich entwickelt, wie er in der Gesellschaft angelagert und bearbeitet wurde. […] Schließlich sucht sie das Maß an Reflexivität zu erhöhen, indem sie die verschiedenen Veränderungen, die im Prozeß der Gegen- standskonstitution zu verzeichnen sind, auf die Beobachter selbst zurückprojiziert. Die Verflechtung betrifft also nicht nur die Ebene der historischen Gegenstände, sondern auch deren Konstruktion durch den heutigen Beobachter. Damit wird der Prozeß der Beobachtung Bestandteil des Erkenntnisdispositivs. (Werner/Zimmermann 2002: 623)

Nicht explizit, aber subkutan wird in diesen Ausführungen das Problem der Repräsentation und eine Strategie zu seiner Überwindung mitgedacht – ein Problem, das die interkulturell operierende Geschichtswissenschaft wie die Interkulturalitätsforschung insgesamt unter anderem mit der Ethnologie teilt (vgl. Berg/Fuchs 1993).18 An die Ethnologie erinnert darüber hinaus auch der Anspruch, die Infragestellung der Repräsentation von Andersheit experimentell zu überwinden. Das führt nicht nur zur Relativierung der Beobachterposition, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, beziehungswissenschaftlich den Bila- teralismus zu überwinden oder in die Zweisamkeit zumindest dritte Akteure

Alexander García Düttmann (1997: 106) aufmerksam gemacht. »Im Zeichen dieses ›Zwischen‹ läßt sich Interkulturalität […] zu einer komplexeren politischen Utopie aus- formulieren, die der bloß reaktiven, auf die Bildung einer ›(kulturellen, ethnischen, sprachlichen, geschlechtlichen) Identität‹ abzielenden Politik der Anerkennung, eine ›aktive Politik des Anerkennens‹ als Suche nach ›Möglichkeiten einer verwandelnden Praxis, durch die der Mensch voraussetzungslos wird‹, gegenüberstellt.« 18 | Die hier hergestellte Nähe zwischen Interkulturalitätsforschung und Ethnolo- gie bzw. Kulturanthropologie schließt an die sich in den 1990er Jahren mehrenden, DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN AUS INTERKULTURELLER PERSPEKTIVE | 33 einzubeziehen (vgl. Werner 2013: 30). Dabei muss es sich nicht um Akteure aus einem vergleichbaren kulturellen Umfeld handeln. Ganz im Gegenteil. Michael Werner weitet im Anschluss an Marcel Detiennes Plädoyer für eine Kompara- tistik »[b]etween historians and anthropologists« (Detienne 2008: IX) das For- schungsspektrum auf die Gegenüberstellung von Unvergleichbarem, d.h. auf Prozesse und Strukturen aus, »die nach herkömmlicher Sicht für so verschie- den gehalten werden, daß man sie nicht miteinander in Beziehung setzt.« (Wer- ner/Zimmermann 2002: 634) Was so zu erwarten ist, führt einen sprunghaften Erkenntnisschritt herbei, und zwar nicht deshalb, weil das Denken-wie-üblich bestätigt, sondern der »shock of the incomparable« (Detienne 2008: 25) herbei- geführt würde. Man müsste, was die deutsch-französischen Beziehungen an- belangt, vermutlich in ein nietzscheanisches Vergessen eintauchen, um einen solchen Schock zu initiieren. Bis es aber so weit ist, sollte man nicht loslassen, sondern das Staunen über das Vergleichbare einüben.

NACH-WORT: SKANDAL IM KUNSTBEZIRK

»Unter ›Staunen‹ verstehe ich«, so Stephen Greenblatt, »die Macht des ausge- stellten Objekts, den Betrachter aus seiner Bahn zu werfen, ihm ein markantes Gefühl von Einzigartigkeit zu vermitteln, eine Ergriffenheit in ihm zu provozie- ren.« (Greenblatt 1995: 15) Geht man von diesem Verständnis des Staunens aus, so hat die Ausstellung De l’Allemagne, 1800–1939. De Friedrich à Beckmann im Pariser Louvre vom 28. März bis zum 24. Juni 2013 nach allgemeinen Pressever- lautbarungen wenig Anlass dazu geboten, die von Greenblatt mit dem Staunen in Zusammenhang gebrachte Ergriffenheit hervorzurufen.19 Das Staunen bezog sich allenfalls darauf, wie sehr man sich entfremdet habe: Auf deutscher Seite wurde mehrheitlich mit einiger Verstörung zur Kenntnis genommen, dass die deutsche Geschichte von den Ausstellungsmachern auf einen Sonderweg in die Katastrophe reduziert worden sei,20 während sich die französischen Beobachter gerade über diese Verstörung verwundert zeigten und in ihr zum Teil sogar schließlich aber doch nicht entscheidend weiter geführten Versuche an, zu einer Eng- führung der Forschungsbereiche beizutragen. Vgl. Bachmann-Medick 1996 u. 2003. 19 | Dafür, dass mir ein Dossier mit der Presseberichterstattung zur Ausstellung De L’Allemagne zur Verfügung gestellt wurde, danke ich dem Goethe-Institut Paris und na- mentlich Joachim Umlauf. 20 | Exemplarisch hierfür Maak 2013a: »Deutsche Kunst wirkt hier nur noch als das Treibgut, das in einem reißenden, in seiner Richtung nicht zu beeinflussenden Schick- salsstrom unweigerlich auf das ›Dritte Reich‹ zutreibt, der Nationalsozialismus, mit dem die Ausstellung endet, erscheint als unvermeidlicher, sich in der Kunst prämonito- risch ankündigender Schicksalsschlag und nicht als politische Entwicklung, zu der es Alternativen gab. Diese Alternativen – ein Deutschland, das nach dem Ersten Weltkrieg auch unter dem Eindruck Frankreichs an das aufklärerische Potential der Romantik an- knüpfte – kommen im Schreckenspanorama der letzten Räume viel zu kurz.« 34 | DIETER HEIMBÖCKEL eine neuerliche Frankophobie der Deutschen verorten zu können meinten (vgl. Crépu 2013). Wer dem Ganzen eine ironische Pointe abzuringen vermochte, sah in den allgemeinen Turbulenzen um die Ausstellung wenigstens einen Weckruf in der ansonsten »gut nachbarlichen Lauheit« (Süddeutsche Zeitung 2013) zwi- schen Deutschen und Franzosen, so dass die »Staatsaffäre« (Schöpfer 2013) in der Berichterstattung kaum den Eindruck widerspiegelte, dass es sich bei den deutsch-französischen Beziehungen um eine »success story« (Martens/Uter- wedde 2009: 8) handeln würde. Von einem »Psychodrama des Missverständ- nisses« (Möhring 2013) war vielmehr die Rede und auch davon, dass Deutsche und Franzosen im Grunde sich immer noch fremd seien (vgl. Wetzel 2013). Solange es sich nur um einen Streit über Bilder handelt, möchte man mei- nen, solange ist die Welt noch in Ordnung. Gut funktionierende Beziehungen müssen das aushalten, und wahrscheinlich tun sie das auch. Man müsste die Partner – Marianne und Michel beispielsweise – einmal selbst fragen, aber die halten sich weitgehend bedeckt. So ist man auf Dritte angewiesen, auf diejeni- gen, die sie zu kennen meinen und mit ihrer Meinung auch nicht hinter dem Berg halten. Wenn man von ihnen nichts Neues hört, so sollte man darüber nicht enttäuscht sein. Denn sie wissen es nicht anders und denken wie üblich. Ob es zur Überwindung dieses Denkens notwendigerweise eines Standpunk- tes jenseits nationaler und/oder kultureller Zugehörigkeit bedarf, ist schwerlich zu beurteilen. Neutralität schadet vermutlich nicht, auch wenn sie nicht Be- dingung dafür ist, dass man sich Gedanken darüber macht, was gilt und nicht gilt und warum ich so spreche, wie ich spreche. Auf die Notwendigkeit dieses Vorgehens hat jedenfalls Jürgen Ritte in der Neuen Züricher Zeitung in seinem Artikel über die Ausstellung aufmerksam gemacht – und dies mit einer bemer- kenswerten Zuspitzung getan:

Unabhängig vom Streit der Institutionen und von den feuilletonistisch reichlich über- triebenen Verletztheiten nationaler, hier: deutscher Befindlichkeit ist diese Ausstel- lung, trotz grossem [sic !] Besucherandrang, leider eine verpasste Chance – und wohl auch ein Opfer ihrer eigenen Unmöglichkeit. Zum einen folgt Kunst, so zeitgebunden sie auch sein mag, einer Eigengesetzlichkeit, die sich nicht auf das Prokrustesbett ei- nes vorgefassten Konzepts dessen zwingen lässt, was nun spezifisch deutsch wäre. Zum anderen ist es längst schon wissenschaftlicher Standard, den Standpunkt des Beobachters – und das wäre hier […] die französische Institution des Louvre – mit zu reflektieren. ›Interkulturell‹ nennt man ein solches Vorgehen heutzutage. (Ritte 2013)

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Frühe Korrespondenzen Mittelalterliche Literatur- und Sprachbeziehungen im deutsch-französischen Kulturraum

Heinz Sieburg

Abstract Within the EU, special value is being assigned currently to Franco-German relations. Close and friendly cooperation between France and Germany serves as a guarantee for a peaceful Europe while also serving as the motor for further European unification. In this context, this contribution illuminates the situation in the Middle Ages, with a particular focus on literary and cultural relations. There are lines of influence that run counter to one another: while there was a certain prevalence from the ›German side‹ as the donor culture in the early Middle Ages due to Carolingian rule, the relationship reversed completely in the High Middle Ages, with ›France‹ becoming an essential source of inspiration for Middle High German literature. An enormously productive intercultural exchange is evident at precisely this juncture.

Title: Early Correspondences: Franco-German Cultural and Literary Relations in the Middle Ages

Keywords: Franco-German relations; Franco-German language influence; literature transfer in the middle ages; interculturalism in the middle ages; Charlemagne

EINLEITUNG

»Jede Vorgeschichte hat ihre Vorgeschichte.« Dieses Zitat des Luxemburger Historikers Michel Pauly (2013: 185) scheint mir mit Blick die deutsch-französi- schen Beziehungen in besonderer Weise erhellend. Diese werden gegenwärtig meist in Hinsicht auf die Situation innerhalb der EU erörtet, wobei beiden Staa- ten »als gemeinsamer Motor der europäischen Integration« (Lehmann 2013: 17) eine besondere Verantwortung zugewiesen wird. Und das umso mehr, als die Vorgeschichte beider Länder durch Kriege und ›Erzfeindschaft‹ geprägt war. Aber auch diese Vorgeschichte hat wiederum ihre Vorgeschichte. Der vorlie- gende Beitrag widmet sich daher der Situation der deutsch-französischen kul- turellen Beziehungen im Mittelalter, wobei insbesondere die sprachlichen und literarischen Korrespondenzen in den Mittelpunkt gestellt werden sollen. Die Literatur des Mittelalters lässt sich unter der Begrenzung einer natio- nalphilologischen Optik nur unzureichend erfassen, beschreiben und verste- hen. Zu verwickelt sind die kulturellen und literarischen Kontakte über Epo-

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 42 | HEINZ SIEBURG chenschwellen, politische Grenzen und Sprachräume hinweg, ganz abgesehen davon, dass eine rein national orientierte Sichtweise auf die Verhältnisse des Mittelalters streng genommen ohnehin als anachronistisch betrachtet werden muss. Gerade hier zeigt sich denn auch der Mehrwert interdisziplinärer Zugrif- fe und interkultureller Perspektiven.

VORAUSSETZUNGEN UND HINTERGRÜNDE

Unter politisch-dynastischer Perspektive tritt das (hoch-)mittelalterliche Ver- hältnis zwischen Deutschland und Frankreich als Gegensatz zwischen dem Empire (Imperium) im Sinne des deutsch-römischen Kaisertums und Francrîche (Regnum Franciae), dem französischen Königtum, in den Blick; politische Grö- ßen, die nach Georg Jostkleigrewe (2008: 53) für »beide Literaturräume eine historiographische Leittradition« markieren. Hochbedeutsam ist dabei auch der Blick (Rückblick) auf die rund 90 Jahre währende Zeit des gesamtfränki- schen karolingischen Reiches (751–840 n.Chr.) und die ›nationale‹ Verortung der Herrscherfigur Karl des Großen. Karl steht sowohl in der mittelalterlichen Historiografie wie auch in literarischen volkssprachlichen Zeugnissen in einem Spannungsfeld, insofern als er einerseits – von französischer Seite – als franzö- sischer Herrscher verstanden wurde, andererseits – von deutscher Seite – sein germanisches Frankentum und römisches Kaisertum betont, jedenfalls ver- gleichsweise stärker profiliert wurde:

Auf beiden Seiten von Maas und Rhône scheint der fränkische Kaiser von den Dich- tern als Bezugspunkt einer mehr oder weniger chauvinistischen französischen bzw. römisch-deutschen Identität in Anspruch genommen zu werden, wobei die jeweils ent- gegenstehende Tradition verdrängt wird. (Jungkleigrewe 2008: 158)

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Polysemie, die mit dem la- teinischen Terminus Francia verbunden ist, da dieser sowohl in Hinblick auf die den germanischen Volksstamm fokussierende Bezeichnung ›Franken‹ an- wendbar ist wie auch auf den daraus letztlich abgeleiteten Begriff der (gallo- romanischen) Franzosen und den Namen la France, der für den Westteil des ehemaligen Gesamt-Frankenreiches identitätsstiftend wurde. Mit Blick auf die frühmittelalterliche Situation ist unbestreitbar, dass mit dem germanisch-galloromanischen Frankenreich »ein neuer kulturpolitischer Schwerpunkt ersten Ranges« entstand (Wolf 1998: 127), der auch die Vorausset- zung für die Herausbildung einer deutschen und französischen Schriftsprache und Literatur schuf. Im Vergleich beider zeigen sich hierbei sowohl deutliche Parallelen als auch spezifische Unterschiede. Gemeinsam ist beiden Seiten die allmähliche, teilweise auch tastend experimentelle Etablierung der Volksspra- che in der Schriftlichkeit im Sinne eines Emanzipationsprozesses gegenüber der bis dahin alleingültigen Bildungs- und Schriftsprache Latein. Die nicht zu- letzt mit dem Namen Karls des Großen verbundene Bildungsreform zielte zwar Frühe Korrespondenzen | 43 in erster Linie auf eine Rückbesinnung auf das klassische Latein der Antike und dessen Wiederherstellung, hatte mittelbar aber erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung der unterschiedlichen Volkssprachen im fränkischen Reich. Dies gilt für die Etablierung einer deutschen Schriftlichkeit, indem bereits ab der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts umfangreiche Glossierungsarbeiten nachweisbar sind, die offenbar im Dienst der besseren Lateinaneignung stan- den. Gleichzeitig lassen sich die Glossen als ein erster Schritt bei der Entwick- lung einer zunehmend eigenständigen Volkssprache verstehen, deren weiterer Zweck die christliche Missionierung war. So finden sich bereits früh volks- sprachlich deutsche Übersetzungen zentraler Glaubenstexte wie Vaterunser oder Taufgelöbnisse. Hauptgebot an den Klerus war eben, sich in einer für die einfache Bevölkerung verständlichen Sprache ausdrücken zu können. Ein solches Diktum galt allerdings keineswegs nur für den germanopho- nen Ostteil des Frankenreiches. Auch in den romanophonen Gebieten, vor al- lem zunächst im nördlichen Gallien, führte die Karolingische Bildungsreform zu einer zunehmenden und offensichtlicher werdenden Kluft zwischen dem (restituierten) klassischen Latein als Sprache der Schriftlichkeit wie auch der formellen Mündlichkeit (etwa in der Liturgie) und der in der Alltagskommu- nikation gesprochenen vulgärlateinisch-französischen Varietät. Folge war, dass sich auch hier die romanische Volkssprache zunehmend als eigenständige und im weiteren Verlauf auch als schriftwürdig angesehene Sprache gegenüber dem Latein etablierte – und etablieren musste, um dem einfachen (Kirchen-)Volk gegenüber verständlich zu sein. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Beschluss des Konzils von Tours aus dem Jahr 813, in dem festgelegt wurde, dass zum besseren Verständnis der Gläubigen zukünftig in der Volkssprache gepredigt werden solle: »ut easdem omelias quisque aperte transferre studeat in rusticam Romanam linguam aut Thiotiscam, quo facilius cuncti possint intelle- gere quae dicuntur« (zit. n. Stotz 2002: 17).1 Beiden Sprachen gemeinsam ist auch die Differenzierung in unterschied- liche diatopische Varietäten. Eine Einheitssprache im modernen Sinne kann für das Mittelalter jedenfalls nicht vorausgesetzt werden. Für das Deutsche gilt zunächst die Differenzierung zwischen einem nördlichen Niederdeutschen und einem südlicheren Hochdeutschen. Letzteres ist wiederum in einen mittel- deutschen und – weiter südlich – einen oberdeutschen Spachraum gegliedert. Volkssprachliche Schriftlichkeit (und Mündlichkeit) basierte also immer auf der Grundlage regionalsprachlich-dialektaler Varietäten. Aufgrund der politischen Dominanz der Franken kam dem Fränkischen, das dem Hochdeutschen zu- zurechnen ist, in althochdeutscher Zeit eine Sonderrolle zu. Bemerkenswert ist hierbei auch die Herausbildung des Althochdeutsch-Westfränkischen auf galloromanischem Territorium. In mittelhochdeutscher Zeit verlagert sich das

1 | »[D]ass jeder sich bemühen solle, diese Homilien in die romanische oder deutsche Volkssprache zu übertragen, damit jedermann umso leichter verstehen kann, was ge- sagt wird«. 44 | HEINZ SIEBURG für die gegebene Fragestellung maßgebliche Gebiet dann in den schwäbisch- alemannischen Raum. Die sprachareale Gliederung des galloromanisch-frankophonen Raumes zeigt (für die Zeit des Mittelalters) eine grundsätzliche Dreiteilung, nämlich in das Gebiet der Langue d’oïl in der Nordhälfte, in das südöstlich angrenzende Frankoprovenzalische als Zwischenraum sowie in die Langue d’oc, das Okzita- nische (bzw. Provenzalische) des Südens. Das moderne Französisch etablier- te sich im Gebiet der Langue d’oïl, und zwar auf Grundlage des Franzischen, dem Dialekt der Île-de-France. Literarisch ist diese Varietät kurioserweise bis ins 13. Jahrhundert bedeutungslos. Entscheidender war hier das Okzitanische der Trobadors in der Frühphase der Minnelyrik, das Champagnische der Werke Chrétiens des Troyes oder auch das Anglonormannische der Marie de France. Das Altfranzösische ist also, wie auch das Alt- und Mittelhochdeutsche, ein äu- ßerst heterogener Begriff. Die vereinfachende Verwendung der Begriffe ›Fran- zösisch‹ oder ›Deutsch‹, wie sie in diesem Beitrag aus Praktikabilitätsgründen Verwendung finden, implizieren jeweils diesen Hintergrund. Dass sie im Kern ein Stück weit anachronistisch sind, genauso etwa wie die Begriffe ›Frankreich‹ und ›Deutschland‹, soll an dieser Stelle konstatiert sein. Anders als die germanisch-slawische Sprachgrenze, die seit dem Mittel- alter bis in die jüngste Zeit größte Verschiebungen erfahren hat, kann die germanisch-romanische Sprachgrenze im Westen seit dem Frühmittelalter als relativ stabil gelten. Ihr Zustandekommen hat unterschiedliche Ursachen. Zu diesen gehört die Begrenzung des Imperium Romanum im Osten gegen- über der Germania Libera. Die auf dem nachmaligen weströmischen Gebiet vornehmlich angesiedelten keltischen Gallier wurden spätestens nach der Un- terwerfung durch Cäsar (58–51 v. Chr.) nach und nach romanisiert, die östlich angrenzenden Germanen konnten sich den römischen Expansionsbestrebun- gen dagegen dauerhaft widersetzen. Dennoch ist die heutige deutsch-franzö- sische Sprachgrenze nur zum Teil Ergebnis von ethnischen Siedlungsgrenzen zwischen (ehemals) keltisch-romanischen und germanischen Bevölkerungs- gruppen, sondern eben auch Resultat sprachlicher Ausgleichsprozesse. So lassen sich mindestens bis ins 10. Jahrhundert romanische Sprachinseln in germanophoner Umgebung nachweisen (z.B. Moselromanen zwischen Ko- blenz und Trier), und andererseits ist das bereits erwähnte (germanisch-alt- hochdeutsche) Westfränkische auf galloromanischem Gebiet ebenfalls bis in späte 9. Jahrhundert nachweisbar. Bezogen auf die Hintergründe des germanischen Spracheinflusses auf weströmisch-französischem Gebiet lassen sich unterschiedliche Faktoren be- nennen, angefangen von den Bewegungen der Völkerwanderungszeit bis zur Besiedelung des nordfranzösischen Raumes durch die Normannen. Wichtiger war aber die Etablierung des Frankenreiches unter den Merowingern, vor al- lem aber unter den Karolingern. Bedeutendste Herrscherfigur war der bereits mehrfach erwähnte Karl der Große (747 oder 748 – 814), in dessen Regentschaft das Frankenreich, welches sowohl das heute deutschsprachige Territorium wie auch das französischsprachige Gebiet umfasste, die größte Ausdehnung hatte. Frühe Korrespondenzen | 45

Nach Karls Tod und infolge von Reichsteilungen etablierte sich die deutsch- französische Grenze nach und nach zu einer nationalen Trennlinie.

SPRACH- UND LITERATURKONTAKTE IN ALTHOCHDEUTSCHER ZEIT

Bezogen auf die mittelalterlichen deutsch-französischen Sprach- und Literatur- kontakte bietet es sich an, zwei Phasen zu unterscheiden: nämlich eine ers- te in frühmittelalterlich-althochdeutscher Zeit (750–1050), in der die deutsche Seite gegenüber der französischen etwas stärker die Position der Geberkultur einnimmt, und eine zweite, in hochmittelalterlich-mittelhochdeutscher Zeit (1050–1350), und hier insbesondere in der ›Blütezeit‹ um 1200, in der – in weit höherem Grad noch – die französische Seite ›Kulturgeber‹ ist und die deutsche Seite die Rolle der Empfängerkultur einimmt. Bezogen auf das romanistische Periodisierungsschema deckt sich das weitgehend mit der Phase des Altfranzö- sischen, für die ein Zeitraum von 842–1300 angenommen wird. Herauszustellen ist, dass die deutsch-französischen Kultur- und Literaturbe- ziehungen im Karolingerreich nicht nur im Sinne einer Transmission von einer zur anderen Seite zu verstehen sind, sondern vielmehr Ausgangspunkt spezi- fischer Neuerungen waren, die dann für beide Seiten – und darüber hinaus – fruchtbar wurden. Gerade weil dies in der Forschung bislang nur unzureichend berücksichtigt wird, ist die diesbezügliche Argumentation Alois Wolfs wegwei- send. Nach Wolf entsteht mit dem germanisch-galloromanischen Frankenreich ein neuer Kulturraum, der »Schmelztiegel und Ausstrahlungsherd« (Wolf 1998: 127) zugleich war. Dies gilt zum einen für die Entwicklung einer volkssprachli- chen Großepik, die »des Fränkischen als kulturpolitischer Rahmenbedingung bedurfte« (ebd.: 131). Als zentraler, weil innovativer Ausgangspunkt ist hier Ot- frids von Weißenburg (endgereimte) althochdeutsche Evangelienharmonie (um 870) zu sehen, die den Prototyp darstellt, welcher nicht nur auf die angelsäch- sisch-insulare Bibelepik ausgestrahlt haben mag, sondern zeitlich auch mit der »Inkubationszeit der [ französischen] Chansons de Geste aus dem Umfeld Karls und Wilhelm« (ebd.: 130) zusammenfällt. Otfrid ist entschiedener Verfechter der fränkisch-althochdeutschen Sprache, die er den hochverehrten »edilzun- gun«, somit den drei ›heiligen Sprachen‹ Hebräisch, Griechisch und Latein, programmatisch gleichberechtigt zur Seite stellt. Nur der – Fragment gebliebe- ne – altsächsische Heliand lässt sich dem Werk Otfrids quantitativ und qualita- tiv zur Seite stellen, auch wenn hier am germanisch ererbten Formprinzip des Stabreimes festgehalten wurde. In eine Linie mit der sich im Frankenreich entwickelnden epischen Groß- dichtung kann nach Wolf auch die Herausbildung einer spezifischen Erzähl- gattung von mittlerem Umfang (ca. 500 Verse) und zugleich lyrisch-lehrhaften Zuschnitt gestellt werden, die er dem Prinzip à lei francesca, also einem Erzäh- len auf fränkisch-französische Art, verpflichtet sieht. Gemeint ist eine beide Volkssprachen übergreifende, zum Teil noch traditionell hagiografische, zum Teil auch zeitgenössische Persönlichkeiten berücksichtigende und in Erzählab- 46 | HEINZ SIEBURG schnitte gegliederte Literatur, der etwa das altfranzösiche Lied auf den Hl. Fides ebenso zuzurechnen ist wie – auf deutscher Seite – das um 1080 entstandene Annolied oder das unwesentlich ältere, auf etwa 1060 zu datierende Ezzolied.

Das Prinzip à la francesca stellt sich als französisch-deutsche Gemeinsamkeit dar, die ihre Grundlage im alten karolingischen Reich hat. Was im 9. Jahrhundert mit Ot- frid, ›Ludwigslied‹ und ›Eulalialied‹ begann, hält sich also bis weit ins 11. Jahrhundert hinein. Man hat sich so sehr daran gewöhnt, erst mit Minnesang und Artusroman das Französische und Deutsche im engeren Zusammenhang zu sehen. Gewiß wird damit ein qualitativer Sprung vollzogen, man sollte aber die älteren Gemeinsamkeiten und Verbindungen nicht übersehen. Die Literaturgeschichtsschreibung nimmt davon keine Notiz. (Wolf 1998: 132f.)

Bemerkenswerte Zeugnisse für frühmittelalterliche literarische und sprach- liche Kontakte finden sich aber auch sonst: Mit Blick auf die Überlieferungs- geschichte der französischen Literatur fällt besonders auf, dass deren früheste Zeugnisse jeweils in einem engen Kontakt zum Althochdeutschen erscheinen. Ein (mutmaßlich) erstes Dokument der französischen Volkssprache begeg- net in den Straßburger Eiden aus dem Jahr 842, die Nithart in seinem lateini- schen Geschichtswerk überliefert hat und in der die Eidformeln nebeneinan- der in Altfranzösisch und Althochdeutsch aufgeführt sind. Hintergrund ist ein Bündnis zwischen den Erben des Karlsreiches, namentlich dem König über das französische Westreich, Karl dem Kahlen (Charles de Chauve), und Ludwig dem Deutschen, dem König über das Ostreich, und zwar gegen den ihnen überge- ordneten Bruder Kaiser Lothar. Die Straßburger Eide sind ein aufschlussreiches Dokument, das einerseits die ideell noch gegebene Einheit des Karlsreiches dokumentiert und gleichzeitig bereits dessen realpolitische Teilung. Daneben lassen sich daraus aber auch wichtige Rückschlüsse auf die Frage der Mehr- sprachigkeit dieser Zeit ableiten. Die Könige richten eine Ansprache zunächst an ihr jeweiliges Heer, und zwar in dessen Sprache (Alter teudisca, Alter romana lingua). Entsprechend beeiden die jeweiligen (monolingualen) Heere anschlie- ßend in der eigenen Volkssprache, die beiden (bilingualen) Könige aber in der Sprache des jeweils anderen Reichsteils.2 So lautet die Eidformel Ludwig des Deutschen:

Pro deo amur et pro christian poblo et nostro commun saluament, d’ist di in auant, in quant deus sauir et podir me dunat, si saluarai eo cist meon fradre Karlo et in aiudha et in cadhuna cosa, si cum om per dreit son fradra saluar dist, in o quid il mi altresi fazet, et ab Ludher nul plaid numquam prindrai, qui meon uol cist meon fradre Karle in damno sit.

Karl der Kahle schwört seinerseits:

2 | »Als Sprache der Könige ist die lingua theodisca auch noch bis um die Mitte des 10. Jahrhunderts im Westen bezeugt« (Haubrichs 2004: 3337). Frühe Korrespondenzen | 47

In godes minna ind in thes christanes folches ind unser bedhero gehaltnissi, fon the- semo dage frammordes, so fram so mir got geuuizci indi mahd furgibit, so haldih the- san minan bruodher, sose man mit rehtu sinan bruodher scal, in thiu thaz er mig so sama duo, indi mit Ludheren in nohheiniu thing ne gegango, the minan uuillon imo ce scadhen uuerdhen. 3

Es ist nicht ganz unumstritten, inwieweit dieser »der lateinischen Juristenspra- che noch stark verhaftete[ ] Text« (Geckeler/Dietrich 2007: 193) noch dem (Vul- gär-)Lateinischen zugerechnet oder schon als Altfranzösisch bezeichnet werden kann. Unbestritten ist dagegen, dass sich der erste literarische Text des Altfran- zösischen um 880 in der Eulaliasequenz (la séquence de Sainte Eulalie) findet. Hierbei handelt es sich um ein religiöses Lied über die spanische Märtyrerin Eulalia (3. Jahrhundert). Eingetragen ist der aus 14 Doppelversen bestehende Text in eine lateinische Handschrift, die dem pikardischen Klosters St. Amand entstammt. Die ersten Zeilen lauten:

Buona pulcella fut Eulalia Bel auret corps, bellezour anima, Voldrent la veintre li Deo inimi Voldrent la faire diaule servir (zit. n. Geckeler/Dietrich 2007: 189f.)4

Für den gegebenen Zusammenhang relevant ist, dass die Eulaliasequenz in ei- nem Überlieferungsverbund zum althochdeutschen Ludwigslied steht, das die- ser unmittelbar (in derselben Handschrift) folgt – und damit ›symbolhaft‹ »das einigende Band des Fränkischen bereits in der Überlieferung« (Wolf 1998: 132) verdeutlicht. Das Ludwigslied ist ein Fürstenpreis auf den westfränkischen Kö- nig Ludwig III. und dessen Sieg über die Normannen in der Schlacht bei Sau- court (1. August 881). Das Lied, das aus 59 paargereimten Langzeilen besteht, preist Ludwig als noch Lebenden. Da dieser aber bereits am 5. August 882 ums Leben kam, lässt sich die Abfassung des Textes ganz außergewöhnlich genau zwischen diesen Daten eingrenzen. Interessanter noch ist, dass das aus dem Nordosten Frankreichs stammende Ludwigslied als ein spätes Zeugnis für das im 9. Jahrhundert untergegangene Westfränkische, also der althochdeutschen

3 | Beide Eidformeln zit. n. Schlosser 2004: 72. Dort (S. 73, bezogen auf die französi- sche Version) auch die neuhochdeutsche Übersetzung: »Aus Liebe zu Gott und zur Er- lösung des christlichen Volkes und unser beider will ich von diesem Tag an, soweit mir Gott Einsicht und Kraft verleiht, diesem meinem Bruder Karl in Hilfeleistung und jeder (anderen) Sache so begegnen, wie man seinem Bruder zu begegnen verpflichtet ist, damit er mir gegenüber genauso handle, und ich werde von Lothar nie einen Vertrag annehmen, durch den ich absichtlich meinem Bruder Karl schaden könnte.« 4 | »Ein gutes Mädchen war Eulalia. Einen schönen Leib hatte sie, eine schönere See- le. Gottes Feinde wollten sie besiegen, wollten sie dem Teufel dienen lassen«. Leichte Anpassungen bei der Übersetzung sind hier, wie auch bei den nachfolgenden Zitaten, nicht eigens markiert. 48 | HEINZ SIEBURG

Varietät auf romanisch-französischem Boden, gilt. Hier lauten die ersten Zei- len: »Einan kunig uueiz ich, Heizsit her Hluduig, / Ther gerno gode thionot: Ih uueiz her imos lonot. Kind uuarth her faterlos, Thes uuarth imo sar buoz:« (zit. n. Schlosser 2004: 124f.).5

Abb. 1: Eulaliasequenz (oben) und Ludwigslied (unteres Drittel) 6

5 | »Ich kenne einen König: Ludwig ist sein Name, er dient Gott mit ganzem Herzen. Ich bin gewiss, er wird es ihm lohnen. Den Vater verlor er (schon) in jungen Jahren, doch erhielt er sogleich Ersatz:« 6 | Quelle: http://gramhist.files.wordpress.com/2012/12/ludwigslied.jpg%3 fw% 3D500%26h%3D383 [Stand: 15.11.2013]. Frühe Korrespondenzen | 49

Die enge Beziehung zwischen dem Althochdeutschen und Altfranzösischen zeigt sich, dabei auf den Spracherwerb abzielend, ebenfalls in zwei weiteren frü- hen Sprachdenkmälern. Gemeint ist zum einen das Pariser Gesprächsbüchlein aus dem 10. Jahrhundert. So bezeichnet wird ein Eintrag von etwa 100 althoch- deutschen Wörtern und Phrasen samt deren vulgärlateinischen Entsprechun- gen in einer Pariser Glossenhandschrift. Offenbar dienten sie als Konversati- onsübung für französisch-westfränkische Reisende ins deutsch-ostfränkische Nachbarland. Niedergeschrieben wurden sie offensichtlich durch einen Roma- nen (Franzosen) – was sich an typischen Eigenheiten der Verschriftung ablesen lässt: So unterbleibt die Schreibung des prävokalischen h-Lautes (z.B. »Elpe! – adiuua!; E cum mer min erre us. – de domo senioris mei«). Viel zitiert ist der wenig schmeichelhafte ›Wunsch‹: »Undes ars in tine naso! – canis culum in tuo naso!« (Belege aus Schlosser 2004: 160f.).7 Das Pariser Gesprächsbüchlein ist ein eindruckvolles frühes Beispiel für das Erfordernis des an den praktisch-le- bensnahen Alltagsbedürfnissen orientierten Spracherwerbs zur Überwindung der französisch-deutschen Sprachbarriere – und es ist somit durchaus im Sinne des Deutschen als Fremdsprache zu sehen.8 Ein ähnliches, dabei noch älteres Gesprächsbüchlein findet sich im Zusammenhang mit den Kasseler Glossen aus dem ersten Viertel des 9. Jahrhunderts. Letztere bestehen aus einem Sachglos- sar, das vulgärlateinisch-altfranzösische Alltagswörter (etwa für Körperteile, Kleidung, Haustiere) ins Althochdeutsch-Bairische übersetzt. Das eigentliche Gesprächsbüchlein besteht aber wiederum aus Redewendungen, gedacht als Hilfestellung für einen ›Franzosen‹, sich in einem althochdeutschen Sprach- kontext bewegen zu können. Beide Quellen dürfen wohl als eher zufällige und beiläufige Aufzeichnun- gen gelten, zumal sie in Handschriften überliefert sind, die ansonsten inhaltlich keinerlei Bezug dazu haben. Sie bieten aber einen Einblick in die Sprachbarrie- renproblematik zwischen ›Franzosen‹ und ›Deutschen‹ und vermitteln gleich- zeitig einen, wenn auch vagen Eindruck der frühmittelalterlichen, auf Volks- sprachen abzielende Praxis des Spracherwerbs. Kenntnisse des Altfranzösischen sind im 9. und 10. Jahrhundert auch für den deutschen Adel bezeugt (z.B. Otto der Große), verbreiteter – und aufgrund der fränkischen Herrscherschicht im Karolingerreich auch naheliegender – war wohl aber die Beherrschung des Althochdeutschen in der Elite des westlich-ro- manischen Reichsteils. So wurden auf der Ingelheimer Synode von 948 für den westfränkischen König Ludwig IV. und Otto den Großen, die der lateinischen Sprache beide nicht mächtig waren, die lateinischen Dokumente ins Althoch- deutsche übersetzt. Im 9. Jahrhundert betonte Abt Lupus von Ferrières »die Bedeutung des Studiums der Lingua germanica für die romanisch-sprechende westfränkische Oberschicht« (Haubrichs 1995: 157). Beispielhaft hierfür steht ein Schreiben, das er im September 847 an den Abt des Klosters Prüm, Mar-

7 | »Ich komme vom Haus meines Herrn.« – Der »Arsch eines Hundes [sei] in Deiner Nase!« 8 | Vgl. auch Glück 2002a: 115. Hingewiesen sei auch auf Klein 2000. 50 | HEINZ SIEBURG quardt, sendet, dem er seinen Neffen und zwei andere junge westfränkische Adelige zum Zweck, dass diese dort die deutsche Sprache erlernten, anvertraut hatte: »linguae vestrae pueros fecistis participes, cuius usum hoc tempore pernecessiarum nemo nisi nimis tardus ignorat«.9 Fränkisch-althochdeutscher Einfluss zeigt sich, als Superstrat-Einwirkung, aber auch in Hinblick auf die spezifische Ausformung des Altfranzösischen. So verweisen Geckeler und Dietrich (2007: 181) auf eine Zahl von 600–700 frän- kischen Lehnwörtern aus unterschiedlichen Bereichen: Kriegswesen und Ritter- tum (»baron«, »maréchal«, »rang«, »blesser«, »riche« etc.), Rechtswesen (»gage«, »ban«, »trève« etc.), Kleidung (»robe«, »gant«, »froc« etc.), Farben (»blanc«, »bleu«, »brun«, »gris«, »blond« etc.) u.a.m. Selbst der Name »La France«/Frank- reich ist ja fränkischen Ursprungs. Auch im Bereich der Phonologie (z.B. ›h as- piré‹) und Morphologie (frz. -ard, -aud und mé[s]-, wie in »vieillard«, »ribaud«, »mèpris«) zeigen sich entsprechende Übernahmen. »Solche Wirkungen«, folgert Haubrichs (2004: 3334), »können nur aus der Funktion der germ. oder ›theodis- ken‹ Sprachen auf fremde[m] Boden als Prestigesprache erklärt werden.«

LITERATURTRANSFER UND SPRACHEINFLÜSSE IN MITTELHOCHDEUTSCHER ZEIT

Wird man also in der Periode des Althochdeutschen noch von einer gewissen Prävalenz der ›deutschen Seite‹ im deutsch-französischen Beziehungsgefüge sprechen können, so verschieben sich die Gewichte in der Folgezeit deutlich. »Frankreich ist das Kulturzentrum des europäischen Hochmittelalters«, heißt es bei Zollna (2004: 3196) bündig – und dessen Strahlkraft auf andere Län- der ist unübersehbar. So eben auch in Deutschland. Die hochmittelalterliche Zeit in den Dezennien um 1200 war für die deutsch-französischen Sprach- und Literaturbeziehungen eine der prägendsten Epochen. Die Adaptation französi- scher Werke und Literaturkonzepte hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Literatur der mittelhochdeutschen Blütezeit, ja, war geradezu Voraussetzung für diese. Dies gilt für den höfischen Roman und das darin vermittelte Mo- dell des Ritterwesens ebenso wie für die Minnelyrik. Ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wird die französische Literatur zu einer entscheidenden Ins- pirationsquelle für viele deutsche Dichter, darunter auch die namhaftesten. So sind beispielsweise das Werk Hartmanns von Aue, dem ›Vater der deutschen Artusepik‹, Wolframs von Eschenbach Parzival oder der Tristan Gottfrieds von Straßburg ohne das französische Vorbild ebenso wenig denkbar wie die Ent- wicklung der Minnelyrik.

9 | Vgl. Glück 2002b: 67: »Ihr habt den jungen Leuten Eure Sprache beigebracht, de- ren Gebrauch heutzutage höchst notwendig ist, und das kann nur ein Dummkopf igno- rieren«. – Von dort auch die Zitate aus Lettres de Servat Loup, Brief Nr. 70 ad Marcwar- dum abbatem, 1888, S. 136. Frühe Korrespondenzen | 51

Nach Curtius ist es vor allem das lateinische Vorbild, das Frankreich bzw. die französische Literatur begünstigt. Geradezu hymnisch heißt es hier (1993: 387f.):

Die reiche Entfaltung der französischen Dichtung im 11., 12. und 13. Jahrhundert steht also in engem Bezug zur lateinischen Poesie und Poetik der Zeit, die in Frankreich und dem französischen England blühte. Die lateinische Bildung und Dichtung geht voraus, die französische folgt. Das Latein hat dem Französischen die Zunge gelöst. Weil Frank- reich der Träger des studium war; weil die artes, Grammatik und Rhetorik an der Spit- ze, dort ihr Hauptquartier hatten – deshalb sproßt dort zuerst der Flor der volkssprach- lichen Poesie.

Übertragungen bzw. Adaptationen französischer Werke treffen ab den 70er Jah- ren des 12. Jahrhunderts zunehmend auch den Publikumsgeschmack an deut- schen Höfen und verändern das Erscheinungsbild der volkssprachlichen Lite- ratur in Deutschland innerhalb von wenigen Jahrzehnten drastisch. Allerdings erfolgt die Auswahl der französischen Stoffe nicht wahllos, vielmehr wird eine bewusste Konzentration auf den höfischen Roman (Roman courtois) und die Minnekanzone deutlich. Andere Stoffgattungen wie die Romans antiques oder die Chansons de geste wurden zwar zum Teil ebenfalls rezipiert, vermochten es aber nicht, beim Publikum eine vergleichbare Beliebtheit zu erzielen wie die auf keltische Quellen zurückgehenden Stoffe der Matière de Bretagne. Hauptattrakti- onsmoment war hier die Gestalt des Ritters als eines Idealtypus des modernen christlich-orientierten und sittlich-verfeinerten Kämpfers im Kontext einer gla- mourösen höfischen Gesellschaftsdarstellung. Vergleichbar damit war nur die Faszination für die neue Minneauffassung der höfischen Liebe (Amour courtois), wie sie sich in der höfisch-artifiziellen Minnelyrik spiegelte. Für die deutschen Dichter stellte sich die Herausforderung, die neuen Stoffe nicht nur übersetzungstechnisch zu meistern, sondern auch inhaltlich dem veränderten Publikum anzugleichen und formell der modernen, strenge- ren metrischen Form anzupassen. Eine erste Bearbeitung einer französischen Vorlage, das Alexanderepos des Alberic von Besançon, durch den Pfaffen Lam- precht entstand mutmaßlich bereits um 1150. Die eigentliche Rezeptionswelle setzte aber erst 20 Jahre später ein. Um 1170 entstand die Eineit Heinrichs von Veldeke10 nach dem Roman d’Eneas sowie der Trierer Floyris auf der Grundlage

10 | Heinrich von Veldeke konnte seinen Roman allerdings erst 1185 abschließen, nachdem ihm die unfertige Handschrift entwendet worden war und er diese erst viele Jahre später auf Betreiben Hermanns I. von Thüringen zurückerhielt. Veldeke hatte eine prägende Bedeutung für die Entwicklung des neuen höfischen Romans in Deutschland und ist von seinen Berufskollegen der nachfolgenden Generation auch entsprechend gerühmt worden. So urteilt Gottfried von Straßburg im Tristan (V. 4726f.): »von Veld- eken Heinrîch / der sprach ûz vollen sinnen« [›Heinrich von Veldeke, der erzählte aus vollkommenem Kunstverstand‹] und V. 4738f.: »er impfete das êrste rîs in tiutischer zungen« [›Er pfropfte das erste Reis in deutscher Sprache‹]; zit. n. Ausgabe Ranke/ Krohn 2006. 52 | HEINZ SIEBURG von Floire et Blancheflor. Gleichzeitig arbeitete der Pfaffe Konrad am Rolands- lied, dem die französische Chanson de Roland zugrunde liegt.11 Formal ist das Rolandslied noch nicht auf der Höhe der neuen Zeit, was sich schon daran zeigt, dass hier der reine Reim noch nicht das vornehmliche Gestaltungsmus- ter ist. Eher kurios mutet an, dass Konrad im Epilog angibt, sein Werk nicht direkt ins Deutsche übersetzt zu haben, sondern mittelbar über den Umweg des Lateinischen:

Ob iu daz liet geualle, so gedencket ir min alle: ich haize der pfaffe Chunrat. also iz an dem bŢche gescribin stat in franczischer zungen, so han ich iz in die latine bedwngin, danne in di tutiske gekeret (Wesle/Wapnewski 1985: V. 9076ff.)

Der Rolandsstoff zählt in Frankreich gattungstypologisch zu den Chansons de geste, der Heldenepik also, und ist insofern an das nationaltypische ›heroic age‹ Frankreichs gebunden, nämlich die Zeit der Merowinger und Karolinger. Das französische Nationalepos konnte als solches in Deutschland natürlich keine (patriotische) Wirkung entfalten und wurde insofern in der deutschen Fas- sung Konrads ›umgelenkt‹ in ein Märtyrerlied.12 Das Beispiel zeigt sowohl die Grenzen wie auch die Verfahrensweise der literarischen Aneignung. Die Stoffe mussten eben den Bedingungen und Erwartungen des Publikums an den deut- schen Höfen angepasst werden (Adaptation courtoise; vgl. Huby 1968 u. 1983) Entsprechendes findet sich in den Artusepen Hartmanns von Aue, dem Erec und Iwein. In beiden Fällen gehen diese auf den berühmtesten Dichter des fran- zösischen Mittelalters, Chrétien des Troyes, zurück, der sowohl der Form wie auch der Struktur nach die Versromane Hartmanns vorprägte. Chrétien seiner- seits war gleichwohl nicht Erfinder der Artusstoffe, sondern Glied einer Über- lieferungskette, die über Wace und Marie de France, Geoffrey von Monmouth bis zur Historia Britonum (um 820) zurückreicht (vgl. Sieburg 2012: 121f.). Hart- manns Bearbeitungen seiner französischen Vorlagen (Erec et Enide sowie Yvain ou le chevallier de lion) weichen zum Teil beträchtlich vom Ausgangstext ab. Dies betrifft zum einen den Umfang (Chrétiens Erec et Enide zählt 6958, Hartmanns Erec dagegen 10135 Verse, bezogen auf den Ivain/Iwein ist das Verhältnis 6818 zu 8166 Versen). Die Ursache hierfür ist sicher zum Teil übersetzungstechni- scher Natur, in dem Sinne, dass Übersetzungen in aller Regel länger sind als ihr Ausgangstext. Nicht zu übersehen sind aber auch inhaltliche Veränderungen und Inserate. Insgesamt wird man sagen können, dass Hartmann das Struk- turschema der Romane stärker ausprofiliert und die moralische bzw. religiö-

11 | Zu den französischen Werken des Mittelalters einführend Albert 2005. 12 | Im Übrigen hatte sich bereits seit dem Althochdeutschen im deutschsprachigen Raum eine eigene Heldendichtung herausgebildet, mit dem Nibelungenlied als dem bedeutendsten Werk dieser Gattung. Frühe Korrespondenzen | 53 se Fundierung der Werke verstärkt hat.13 Noch deutlich eigenständiger ist der Parzival Wolframs von Eschenbach. Auch für diesen Gralsroman ist von einer Vorlage Chrétiens auszugehen. Chrétien preist seinen Perceval als »le meillor conte / Qui soit contez a cort roial« (Olef-Krafft 1991: V. 63f.).14 Chrétiens unvoll- endet gebliebener Roman wird von Wolfram aufgegriffen, erweitert und voll- endet. So ergänzt er nicht nur den Schlussteil, sondern fügt dem Werk auch die Gahmuret-Vorgeschichte, die das Leben der Eltern Parzivals schildert, an, wodurch der Umfang des Ausgangstextes fast verdreifacht wird. Auch struktu- rell und inhaltlich zeigen sich im mittelhochdeutschen Parzival deutliche Ak- zentverschiebungen gegenüber der altfranzösischen Quelle. So ordnet Wolfram das umfangreiche Personal des Romans konsequent zwei Großfamilien zu (Ar- tus- und Gralsgeschlecht), und auch hier findet sich wieder eine Intensivierung der religiösen Dimension. Auch der Gral selbst ist gegenüber Chrétien neu in- terpretiert. Es wäre ein Trugschluss zu meinen, den mittelalterlichen Dichtern sei es in erster Linie um Originalität gegangen. Eine solche moderne Auffassung von Autorschaft steht deren Anspruch geradezu entgegen. Im Gegenteil versichern die Autoren ihrer Hörer– und Leserschaft die Wahrheit des Erzählten regelmä- ßig unter Berufung auf ihre Quelle. So verweist Hartmann im Erec mehrmals darauf, dass er das Berichtete so gelesen habe (V. 9019 u. 9723): »als ich ez las« [›so, wie ich es gelesen habe‹]. An anderer Stelle ist von einem Buch als Quelle die Rede (V. 8698): »ob uns daz buoch niht liuget« [›wenn das Buch die Wahrheit spricht‹]. Gottfried von Straßburg beruft sich im Tristan explizit auf seine (heute nur fragmentarisch erhaltene) französische Quelle, nämlich eine Version des Tristan-Stoffes von Thomas de Bretagne (Cramer 2003: V. 151ff. ):

sîne sprâchen in der rihte niht, als Thômas de Britanje giht, der âventiure meister was.15

Umso erstaunlicher ist, dass Wolfram sich eben nicht auf Chrétien beruft, son- dern behauptet, ein provenzalischer Dichter namens Kyot habe ihm die wahre Geschichte von Parzival erzählt. Wer dieser Kyot ist, »den die Forschung in- brünstiger gesucht hat als den Gral« (Johnson 1999: 340), oder ob es sich dabei um eine Autorfiktion Wolframs handelt, ist bis heute ungeklärt. Ebenso ungeklärt ist nach wie vor auch, inwieweit im Einzelnen die Dichter, die nach französischen Vorlagen gearbeitet haben, des Altfranzösischen mäch- tig waren bzw. inwieweit Dolmetscher zwischengeschaltet werden mussten. Im Willehalm Wolframs von Eschenbach äußert sich dieser direkt (Schröder/Kart- schoke 2003: 237, 3ff.):

13 | Als Beispiel für die konkrete Adaptations-Praxis bei Hartmanns Iwein sei verwie- sen auf Frey 2007. 14 | »[D]ie beste Erzählung, die an einem Königshof je erzählt wurde«. 15 | »[S]ie haben nicht in der rechten Weise berichtet, so wie das Thomas von Britanje tat, der ein Meister der Erzählkunst war«. 54 | HEINZ SIEBURG

Herbergen ist loyschiern genant. so vil han ich der sprache erkant. ein ungevüeger Schampaneys kunde vil baz franzeys dann ich, swie ich franzoys spreche.16

Bei Dichtern wie Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue oder Gottfried von Straßburg, die lateinisch gebildet waren, dürften die Lateinkenntnisse auch für das Verständnis der französischen Vorlagen hilfreich gewesen sein.17 Auch die konkrete Beschaffung der französischen Vorlagen ist noch vielfach ungeklärt. Verbürgt ist, dass Landgraf Hermann I. von Thüringen die französischen Hand- schriften besorgt hat, nach denen Herbort von Fritzlar sein Liet von Troie gedich- tet hat. Gleiches gilt für Wolframs von Eschenbach französische Quelle für den Willehalm. Immerhin ist auch bekannt, dass die Vermählung deutscher Fürsten mit Damen aus dem französischen bzw. französisch-normannischen Hochadel die Rezeption der französischen Literatur und die Beschaffung entsprechender Vorlagen stark begünstigt hat. So motivierte der Pfaffe Konrad sein deutsches Rolandslied mit dem Hinweis »des gerte die edele herzoginne« (V. 9024; [›das verlangte die hochgeborene Herzogin‹]), womit Mathilde von England, Gemah- lin des Welfen Heinrichs des Löwen gemeint sein dürfte. Bekannt ist auch, dass Hugo von Morville, eine der Geiseln, die bei der Entlassung des englischen Königs Richard Löwenherz nach Deutschland kamen, eine französischspra- chige Lanzelot-Handschrift mitbrachte, die Ulrich von Zatzikhoven als Vorlage für seinen Lanzelet diente. Auch direkte Kontakte zwischen französischen und deutschen Dichtern sind verbürgt. So ist bezeugt, dass auf dem Mainzer Hoffest von 1184, das der Stauferkaiser Friedrich Barbarossa aus Anlass der Schwertlei- te18 seiner Söhne ausrichten ließ, nicht nur viele Fürsten und Repräsentanten aus anderen Ländern, darunter auch Frankreich, zugegen waren, sondern auch deutsche und eben auch französische Dichter. Die Anwesenheit Heinrichs von Veldeke ist dabei ebenso sicher anzunehmen wie die des französischen Dich- ters Guiot des Provins. Überhaupt gilt das Mainzer Hoffest als ein wichtiger Impuls für die mittelhochdeutsche Literatur der Blütezeit um 1200. Der Erfolg der französischen Literatur war vorbereitet durch die bereits ab dem 11. Jahrhundert aufkommende Vorliebe für französische Kleidung, Waf- fentechnik, Turnierwesen und Gesellschaftsformen, auch wenn diese Neuerun- gen in konservativen deutschen Kirchenkreisen mitunter als unschickliche Ge-

16 | »Lagern heißt auf französisch ›logieren‹, soviel kenne ich von dieser Sprache. Aber ein Bauer in der Champagne könnte dennoch viel besser Französisch als ich, so gut ich selbst französisch spreche«. 17 | Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf das oben bereits erwähnte Vorge- hen des Pfaffen Konrad bezogen auf das Rolandslied. 18 | Durch die Schwertleite wurden junge Adlige vollständig in die Rechte als Ritter eingesetzt. Frühe Korrespondenzen | 55 schmacklosigkeiten gebrandmarkt wurden.19 Es verwundert nicht, dass damit auch die Übernahme von Lehnwortgut aus dem Altfranzösischen einherging: »prîs« (›Preis‹), »turn« (›Turm‹), »tanzen«, »bûhurt« (›Reiterspiel‹), »tjost« (›ritterlicher Zweikampf mit dem Speer‹), »buckel« (›Schildbelag‹) etwa gehö- ren hierher. Baum (2000: 1108) quantifiziert diese auf »fast 350 Fremdwörter, Ableitungen und Zusammensetzungen mit frz. Bestandteilen im 12. Jh., rund 700 im 13. Jh. und insgesamt etwa 2000 im 14. Jh.« Auch morphologische Be- standteile wie das Wortbildungssuffix -îe (nhd. -ei) oder -ieren wurden übernom- men. Mitunter finden sich auch Rückentlehnungen: So ist das mittelhochdeut- sche Wort »rîm« (›Reim, Vers‹) zwar eine Übernahme aus dem Französischen, dorthin war es aber bereits in althochdeutscher Zeit in der Bedeutung ›Zahl, Reihe, Reihenfolge‹ entlehnt worden. Französische Einsprengsel finden sich in der mittelhochdeutschen Literatur auch als Beleg für das Französische als Prestigesprache bei Hofe, so im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Als der Titelheld am englischen Königshof erscheint, kommt es zu einer in dieser Hinsicht aufschlussreichen Begegnung mit König Marke (Ranke/Krohn 2006: V. 3351ff.):

Marke sach Tristanden an: »vriunt«, sprach er »heizestû Tristan?« »jâ hêrre, Tristan; dêu sal!« »dêu sal, bêâs vassal!« »mercî«, sprach er »gentil rois, edeler künic curnewalois, ir und iur gesinde ir sît von gotes kinde iemer gebenedîet!« dô wart gemerzîet wunder von der hovediet. si triben niwan daz eine liet: »Tristan, Tristan li Parmenois cum est bêâs et cum cûrtois!«20

19 | Vgl. Bumke (1997: 108), der aus einem empörten Brief des Abtes Siegfried von Gorze im Zusammenhang mit der Vermählung Kaiser Heinrichs III. mit der französi- schen Fürstin Agnes de Poitou zitiert: »Was uns jedoch am meisten bedrückt und worü- ber wir nicht schweigen dürfen, ist, daß die Ehre des Reichs, die zu Zeiten der früheren Kaiser in bezug auf Kleidung, Aussehen, Bewaffnung und Reitwesen in schicklichstem Ansehen stand, in diesen Tagen vernachlässigt wird und daß die schändliche Mode französischer Geschmacklosigkeiten eingeführt wird, nämlich das Abrasieren der Bär- te und die höchst anstößige und das verschämte Auge beleidigende Verkürzung der Kleider sowie viele andere Neuerungen, die aufzuzählen zu lange dauert.« 20 | »Marke sah Tristan an und sprach: ›Mein Freund, heißt du Tristan?‹ ›Ja, Herr, Tristan. Gott schütze Euch.‹ ›Gott schütze dich, schöner Jüngling!‹ ›Danke, vornehmer König‹, erwiderte er, ›Edler König von Cornwall, Ihr und Euer Gefolge mögt von Gottes Sohn auf ewig gesegnet sein!‹ Da bedankten sich vielmals die Angehörigen des Hofs. 56 | HEINZ SIEBURG

Nicht weniger aufschlussreich in Hinblick auf das Prestige des Französischen ist eine Schilderung, die sich bei Rudolf von Ems findet. Im Roman Der guote Gêrhart (um 1220) wird an einer Stelle die Ankunft eines Kölner Kaufmanns bei einem nordafrikanisch-arabischen Herrscher beschrieben (Asher 1989: V. 1343f.):

Der edel werde wîgant begund grüezen mich zehant in heidensch, als er mich gesach. dô er gruozes mir verjach, ich neig im, sam man gruoze sol. doch dûhte in des, er sach vil wol, sam die wîsen dicke tuont, daz ich die sprâche niht verstuont. dô sprach der fürste kurtoys: »sagent an, verstât ir franzoys?« »jâ, herre, mir ist ist wol erkant beidiu sprâch und ouch daz lant.« »sô sint gesalûieret mir.« ich sprach: »gramarzî bêâ sir« von herzen vrœlîche. dô sprach der fürste rîche: »lieber herre gast, nû saget, waz hât iuch in ditz lant verjaget? sint ir ein Franzoys oder wer? von welchem lande koment ir her?« dô seit ich im ze mære daz ich ein koufman wære von tiutschen landen verre.21

Französischkenntnisse bei deutschen Adeligen (und Kaufleuten?) waren im Hochmittelalter sicher weiter verbreitet als umgekehrt Deutschkenntnisse an französischen Höfen. Vor allem die adligen Damen dürften öfters über eine

Sie sangen nur diesen einen Vers: ›Tristan, Tristan aus Parmenien, wie schön und hö- fisch er ist!‹« 21 | »Der Krieger von hohem Adel begrüßte mich ohne Umschweife auf Arabisch, als er mich bemerkte. Als er mir seinen Gruß entboten hatte, verneigte ich mich, wie sich das beim Grüßen gehört. Allerdings hatte er gemerkt, dass ich seine Sprache nicht verstand, denn er blickte durch, wie das bei gescheiten Leuten oft der Fall ist. Dann sagte der Fürst höflich: ›Sagt an, versteht Ihr Französisch?‹ ›Ja, Herr, ich kenne beides gut, die Sprache und das Land.‹ Ich sprach, von Herzen froh: ›Grand merci beaucoup, Monsieur.‹ Da erwiderte der mächtige Fürst: ›Lieber Herr Gast, nun sagt, was hat Euch in dieses Land verschlagen? Seid Ihr Franzose oder was sonst? Aus welchem Land kommt Ihr?‹ Da ließ ich ihn wissen, dass ich ein Kaufmann aus dem fernen Deutsch- land war.« – Übers. n. Glück 2002b: 71. Frühe Korrespondenzen | 57

Sprachkompetenz im Französischen verfügt haben. Dabei waren entspre- chende Kenntnisse – naheliegenderweise – an der Westgrenze des deutschen Sprachgebietes früher und weiter verbreitet als in östlicheren Territorien. Auch lassen sich Parallelen zwischen der ›Wanderung‹ des Lehnwortgutes und den wichtigsten Handelsstraßen nach Frankreich nachweisen. Demnach ergeben sich sprachgeografisch als Hauptübermittlungswege die Strecken Flandern, Brabant zum Rhein – Metz, Trier moselaufwärts und durch Burgund zum Ober- rhein (vgl. Bumke 1997: 119). Im Verlaufe des frühen 13. Jahrhunderts lockerten sich die Kontakte zur französischen Literatur wieder. Die breite unmittelbare Rezeption französischer Werke endete relativ abrupt bereits um 1220. Danach werden im gesamten 13. Jahrhundert nur noch relativ wenige Werke des Französischen übernom- men. Andererseits blieb das französische Muster indirekt weiterhin dominie- rend, indem man sich jetzt vielfach die großen deutschen Dichter der Blütezeit um 1200 zum Vorbild nahm. Die französischen Quellen waren dadurch ver- zichtbar geworden. So findet sich vom Stricker um 1230 ein Artusroman (Daniel vom blühenden Tal), der zum ersten Mal aus dem Motivvorrat der deutschen Artusromane schöpft.

SCHLUSS

Natürlich könnte mit Blick auf das deutsch-französische Verhältnis im Mittel- alter das Gegensätzliche, möglicherweise auch Konfrontative betont und darin eine Vorstufe für die insbesondere im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eskalierende ›Erbfeindschaft‹ gesucht werden. Dieser Ansatz trägt meiner Ein- schätzung nach jedoch nicht. Viel bedeutsamer ist es im Gegenteil, das Ver- bindende und Befruchtende im Sinne interkultureller Austauschprozesse zu betonen. Dabei sollte insbesondere der Gedanke der Bereicherung durch kriti- sche kulturelle Adaptation in den Vordergrund gestellt werden. In diesem Sinne kann dann das mittelalterliche deutsch-französische Verhältnis unter Umstän- den durchaus als ein wichtiger Baustein im Fundament der heutigen deutsch- französischen Beziehungen erkannt werden.

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Annäherung, Aussöhnung, Kooperation Deutsch-französische Historikerbeziehungen nach 1945

Corine Defrance / Ulrich Pfeil

Abstract Understanding and reconciliation are the keywords if we look back at Franco-German relations in the post-war period. This challenge also confronted historians and teachers of history who had made significant contributions to Franco-German antagonism, only to realise later that history and its mediation are determinative factors in war and peace. This article conducts a close examination of textbook discussions, institutions and projects for the collective writing of history in to assess the contribution that historians made to Franco-German reconciliation, upon the basis of which cooperation became possible at several different levels. This retrospection should after all be the foundation for the question of whether the Franco-German case can serve as a template or set of tools for other countries that pursue reconciliation after a conflict.

Title: Rapprochement, Reconciliation, Cooperation. Franco-German Relations among Historians after 1945

Keywords: Franco-German relationship; historians; institutions; reconciliation; textbooks

»Aus Feinden sollten Freunde werden: Das war das Ziel des 1963 geschlossenen Élysée-Vertrags. Die Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen könn- te Vorbildcharakter für weitere Länder und für Konfliktregionen haben«, hieß ein mit dem Titel Ein Modell der Völkerverständigung überschriebener Beitrag der Deutschen Welle im Vorfeld des 50. Jahrestages des Élysée-Vertrages.1 Heute stellt sich jedoch die Frage, ob das deutsch-französische Projekt exportierbar ist oder nicht eher ein Modellbaukasten für andere Versöhnungsprozesse darstellt. Diese Herausforderung stellte sich gerade auch für Historiker und Geschichts- lehrer, die in der Vergangenheit einen wichtigen Beitrag zum deutsch-franzö- sischen Antagonismus geleistet haben, dann jedoch auch erkannten, dass Ge- schichtsbilder und ihre Vermittlung mitentscheiden über Krieg und Frieden. Versöhnung kann in diesem Zusammenhang als ein Prozess sich wan- delnder Emotionen und Gefühlshaltungen mit seinen sozialen und kulturellen Komponenten verstanden werden, als ein Produkt bewussten Handelns und Wirkens sowie als Folge von in Sozialisationsprozessen gemachten (positiven) Erfahrungen. Schon diese Definition deutet an, dass Versöhnung als ein län-

1 | Vgl. http://www.dw.de/ein-modell-der-v%C3%B6lkerverst%C3%A4ndigung/a–164 15251 [Stand: 15.11.2013].

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 62 | CORINE DEFRANCE / ULRICH PFEIL gerfristiger Prozess zu verstehen ist, der – wenn wir nach dem deutsch-fran- zösischen Modell fragen – einen Blick in die Vergangenheit erfordert, um am Beispiel der Beziehungen zwischen deutschen und französischen Historikern die Komplexität zu verstehen. Im Mittelpunkt stehen dabei beziehungsstruktu- rierende Institutionen, die zu den Akteuren einer transkulturellen Beziehungs- und Austauschgeschichte gehören und Indikatoren für die Aufhebung von wis- senschaftskulturellen Grenzen in einem dynamischen Verflechtungsprozess sind.2 Auf diese Weise sollen neue Einsichten in eine Konflikttransformation gewonnen werden, die sich als längerfristiger Verständigungsprozess auf der Ebene der Gesellschaft und ihrer Institutionen vollzogen hat, um schließlich in einer zweiten Phase Kooperation und in einer dritten Verflechtung möglich zu machen (vgl. Defrance/Pfeil 2011). Auf den folgenden Seiten wird nun der Beitrag von Schulbuchgesprä- chen, Institutionen und Projekten, Geschichte gemeinsam zu schreiben, für die deutsch-französische Aussöhnung und Kooperation nach 1945 beleuchtet. Dieser Rückblick soll schließlich Grundlage für die Frage sein, ob der deutsch- französische Fall gute Exportchancen hat.

REVISION VON GESCHICHTSBILDERN

Dass die Verständigung zwischen ehemals verfeindeten Völkern einer inten- siven Beschäftigung mit der Vergangenheit bedarf, gehört heute zu den All- gemeinplätzen in der Friedensforschung (vgl. Senghaas 1995). Doch mag es überraschen, dass schon in der Nachkriegszeit Einigkeit unter den Historikern herrschte, dass besonders der Geschichtsunterricht bzw. die von ihm vermittel- ten Geschichtsbilder einer Revision bedurften, wie der Braunschweiger Histori- ker Georg Eckert bereits 1950 schrieb:

Daß wir über keine Geschichtsbücher, Anschauungsmittel u. dgl. mehr verfügten, war dabei weniger schmerzhaft als die Fragwürdigkeit des überkommenen Geschichtsbil- des, das im Angesicht der nationalen und, wie uns scheint, europäischen Katastrophe zutiefst problematisch geworden war. Vor jedem Erzieher erhob sich die beängstigende Frage: Ist die Geschichte nicht einfach die Sinngebung des Sinnlosen?3

Vor dem Hintergrund der ersten europäischen Einigungsbemühungen und der deutsch-französischen Annäherung unterstrich Martin Göhring (vgl. Duch-

2 | Vgl. allgemein: Pernau 2011: 56ff.; Gardner Feldmann 2012; Seidendorff 2012; Pfeil 2013a. 3 | Manuskript (November 1950) für einen Artikel, den Eckert für die französische Zeitschrift L’Information historique geschrieben hatte, die von Émile Coornaert (Col- lège de France) und Albert Troux (Inspecteur général de l’instruction publique) gelei- tet wurde (Niedersächsisches Landesarchiv, Staatsarchiv Wolfenbüttel, 143N, Zg. 2009/069, Nr. 207/2 [im Weiteren: NLA/StAWo und Nr.]). ANNÄHERUNG, AUSSÖHNUNG, KOOPERATION | 63 hardt 2005; Duchhardt 2008), Direktor des von der französischen Besatzungs- macht gegründeten Instituts für europäische Geschichte in Mainz (vgl. Schul- ze/Defrance 1992) und einer der wichtigsten Partner von Eckert:

Wir Historiker wissen nur zu gut, wie notwendig ein Geschichtsbild ist, in dem das Ge- meinsame und Verbindende in der Geschichte und im Erbe der abendländischen Völker im Vordergrund steht. Hat diese Revision sich durchgesetzt, sind die nationaler Eng- stirnigkeit entspringenden Fehlurteile überwunden, dann wird es eines Tages möglich sein, zu wirklich europäischen Geschichtsbüchern zu gelangen. Alsdann ist auch wis- senschaftlich unterbaut, was schöpferische Politik heute anstrebt.4

Verstanden werden Geschichtsbilder in der Regel als »eine Metapher für ge- festigte Vorstellungen und Deutungen der Vergangenheit mit tiefem zeitlichen Horizont, denen eine Gruppe von Menschen Gültigkeit zuschreibt« (Jeismann 2002: 13). Als Orientierungshilfe dienen sie der identitären Ortsbestimmung zwischen vergangener und kommender Geschichte. In den deutsch-französi- schen Beziehungen kam dem Bild vom ›Erbfeind‹ im 19. und 20. Jahrhundert eine solche Rolle zu, das nicht allein der Abgrenzung diente, sondern durch seine Radikalisierung den kriegerischen Antagonismus schürte. Damit Feind- bilder nicht ein weiteres Mal Deutsche und Franzosen in eine kriegerische Aus- einandersetzung führen, haben verschiedene Akteure nach 1945 gerade hier angesetzt, um nationale Geschichtsbilder zu transnationalisieren bzw. in ein übernationales Geflecht zu integrieren und auf diese Weise zu einer deutsch- französischen Verständigung beizutragen. Zu ihnen gehörten Historiker aus Frankreich, Belgien, der Schweiz und Deutschland, die sich zwischen 1948 und 1950 zu den Internationalen Histori- kergesprächen in Speyer trafen (vgl. Defrance 2008), »um das Gespräch über die Koordinierung des abendländischen Geschichtsbildes fortzusetzen«.5 Sie prüften in einem ersten Schritt die historische Richtigkeit von Lehrmitteln und Schulgeschichtsbüchern und glichen die Inhalte einander an. Nachdem in der Vergangenheit jeweils unterschiedliche Sichtweisen und Interpretationen Ur- teile und Meinungen über den anderen beeinflusst und Zerwürfnisse gefördert hatten, sollten diese Gespräche den Weg in eine gemeinsame Zukunft ebnen, so dass ihr wissenschaftlicher Wert eher zweitrangig einzuschätzen ist:

Hier war plötzlich die abgeklärte Ruhe der wissenschaftlichen Forschung dahin, und man spürte, wie die geschichtlichen Kräfte zwischen uns selbst, zwischen den Völ- kern und Generationen wirksam und entscheidend sind. Überhaupt war der stärkste Eindruck für alle Teilnehmer nicht diese oder jene sachliche Erkenntnis, sondern das

4 | Martin Göhring an Vizekanzler Franz Blücher, Brf. v. 16. Februar 1952 (Archiv des Instituts für europäische Geschichte [im Weiteren: AIEG], Bd. 135). 5 | Dritter Internationaler Historikerkongreß vom 17.–20. Oktober 1949, in: GWU 1 (1950) 1, S. 52. 64 | CORINE DEFRANCE / ULRICH PFEIL

Gefühl, als homines bonae voluntatis selbst einen wesentlichen Schritt im Verstehen und in der Verständigung zwischen den Völkern tun zu können.6

Mit den Historikergesprächen in Speyer war ein erstes institutionalisiertes Fo- rum geschaffen worden, das der Versöhnung eine normative Kraft zwischen deutschen und französischen Historikern gab. Gleichzeitig war Speyer ein zivil- gesellschaftlicher Impuls, um den Umgang mit Geschichte zu einem zentralen Punkt in dem deutsch-französischen Verständigungsprozess zu machen.

DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN SCHULBUCHGESPRÄCHE

Aus den Gesprächen in Speyer erwuchs bei deutschen und französischen Histo- rikern und Geschichtslehrern der Wille, »den Faden des Dialogs über die Gren- zen hinweg neu zu spinnen« (Riemenschneider 1991: 142; vgl. auch Bendick 2003). Dass es dabei in einer ersten Phase vor allem um Versöhnung ging, unterstrich der Mainzer Historiker Martin Göhring:

Von beiden Seiten ist dabei das Bekenntnis klar ausgesprochen worden, daß der Be- stand Europas von einer aufrichtigen deutsch-französischen Verständigung abhän- gig ist. Man wollte ihr vorarbeiten durch Klärung und Bereinigung der geschichtlichen Streitfragen, die das deutsch-französische Verhältnis in der Vergangenheit belastet haben.7

Zwei der Teilnehmer von Speyer, Georg Eckert und Édouard Bruley, Präsiden- ten des französischen Geschichts- und Geografielehrerverbandes (Société des professeurs d’histoire et de géographie) gehörten dabei zu den Pionieren der zivilge- sellschaftlichen Annäherung. Dass der französische Geschichtslehrerverband unter der Leitung von Bruley einstimmig beschloss, Schulbuchgespräche mit den (west-)deutschen Kollegen aufzunehmen,8 war zum einen Ausdruck für ge- wachsenes Vertrauen zwischen beiden Seiten, zum anderen aber auch für eine wachsende Institutionalisierung bzw. die Herausbildung von gemeinsamen In- teressen, die Grundlage für eine neue Form der Kooperation waren, wie auch aus einem Schreiben von Bruley deutlich wird:

À notre assemblée générale qui s’est tenue le 24 décembre dernier (1949), j’ai reçu tous pouvoirs pour organiser avec nos collègues allemands un échange de manuels qui nous permettra de nous signaler mutuellement les points qui nous jugerions con- testables ou de nature à provoquer, sans cause, des froissements.9

6 | Ebd. 7 | Göhring an Blücher, Brf. v. 16. Februar 1952 (AIEG 135). 8 | Vgl. Georg Eckert an Édouard Bruley, Brf. v. 20. Januar 1950 (NLA/StAWo, Nr. 207/2). 9 | Bruley an Eckert, Brf. v. 26. Januar 1950 (NLA/StAWo, Nr. 207/2). ANNÄHERUNG, AUSSÖHNUNG, KOOPERATION | 65

Ende März 1950 kam es dann zur ersten Zusammenkunft zwischen beiden Männern im Rahmen eines privaten Abendessens und eines gemeinsamen Rundganges durch Paris.10 Damit waren die zwischenmenschlichen Grundla- gen gelegt, um vom 7.–9. Mai 1951 an der Philosophischen Fakultät der Sor- bonne in einem größeren Rahmen die noch 1935 verabschiedeten 39 Thesen über die Darstellung der deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1789 und 1925 (offizieller Titel Verpflichtender Wortlaut der Einigung der deutschen und französischen Geschichtslehrer über die Entgiftung der beiderseitigen Lehrbücher) zu überarbeiten. Deutsche und französische Historiker mussten also keineswegs bei Null beginnen, sondern konnten unter gewandelten Rahmenbedingungen auf die »Kontinuität des hermeneutischen Verstehensbegriffes aus der Zwischenkriegs- zeit« (Riemenschneider 1991: 143) aufbauen. Diese Gespräche waren das Ergeb- nis von Bestrebungen der französischen Lehrergewerkschaft aus den 1920er Jahren unter maßgeblicher Leitung von Jules Isaac und Georges Lapierre, die französische Schulgeschichtsbücher auf nationalistische Inhalte untersucht hatten, so dass 26 französische Schulbücher aus dem Verkehr gezogen wer- den mussten. Aus diesem Geiste heraus hatten dann deutsche und französi- sche Historiker Gespräche aufgenommen und sich noch zwei Jahre nach der NS-Machtergreifung auf 39 Thesen einigen können. In Paris wurden dann 1951 die ersten 18 Thesen umgearbeitet, und es gelang, »einen großen Teil der deutschen und französischen Vorbehalte zu streichen. Eine ganze Anzahl von Thesen wurde wesentlich präziser gefasst und zum Teil in einem für uns sehr günstigen Sinne erweitert«. Eckert war dabei von dem Entgegenkommen der französischen Kollegen überrascht.11 In Mainz wurde dann weiter an diesen Themen gearbeitet, so dass schließlich 1951 die deutsch-französischen Schul- buchempfehlungen formuliert werden konnten. Ihr Ziel war es, einen für bei- de Seiten akzeptablen Kompromiss über den Modus zu finden, wie historische Erzählung darzustellen sei, und jene Aspekte zu betonen, die eine Annäherung erleichtern können. Die französische Seite veröffentlichte die Empfehlungen umgehend im Bul- letin de la société des professeurs d’histoire et de géographie und erhielt durchweg positive Reaktionen, wie der Historiker Pierre Renouvin an Eckert schrieb: »Wir haben also guten Grund zu glauben, daß wir unsere Ziele erreicht haben. Und dies ist natürlich für uns eine große Befriedigung«.12 Anders als 1935 erfuhr die »Vereinbarung« von 1951 auch in der Bundesrepublik eine nicht zu unter- schätzende Öffentlichkeit, richtete sie sich doch gerade an die einschlägigen Multiplikatoren. Die Bundeszentrale für Heimatdienst, die heutige Bundeszen- trale für politische Bildung, veröffentlichte eine Sondernummer von Das Parla- ment mit den Thesen und verteilte sie in einer Auflage von 90 000 Exemplaren gratis in allen bundesdeutschen Schulen, »um die Lehrerschaft mit unseren

10 | Vgl. Eckert an Bruley, Brf. v. 5. April 1950 (NLA/StAWo, Nr. 207/2). 11 | Eckert an Rudolf Salat, Brf. v. 14. Mai 1951 (NLA/StAWo, Nr. 207/2). 12 | Pierre Renouvin an Eckert, Brf. v. 5. Mai 1952 (NLA/StAWo, Nr. 207/2). 66 | CORINE DEFRANCE / ULRICH PFEIL

Arbeiten und Bestrebungen vertraut zu machen«.13 Darüber hinaus wurden sie auch in anderen Veröffentlichungen immer wieder nachgedruckt, u.a. als Son- derdruck im Internationalen Jahrbuch für Geschichtsunterricht des Jahres 1952 in einer Auflage von 10 000, um sie unentgeltlich an die Mitglieder der Arbeits- gemeinschaft Deutscher Lehrverbände zu verteilen,14 und dann noch einmal in hoher Auflage durch das Internationale Schulbuchinstitut im Jahre 1958.15 Dass Bundespräsident Theodor Heuss sie in einer Rede vor dem Bundestag anläss- lich des Besuchs des Generaldirektors der unesco, Torres Bodet,16 am 14. Januar 1952 erwähnte, wie Eckert auch Bruley mitteilte,17 war von nicht zu unterschät- zender Symbolik, denn Heuss verlieh den Empfehlungen eine offizielle Weihe, welche die Salonfähigkeit des Versöhnungsdiskurses weiter verstärkte:

Ich halte diesen scheinbar kleinen Vorgang für eine zentrale Leistung als Modell des- sen, was möglich ist, um aus der propagandistisch hingenommenen und in den Ver- krampfungen einer gestorbenen Aktualität verbliebenen Form des Geschichtsbildes herauszukommen.18

Um sich intensiver der Forschungsförderung zu widmen, übergab das Mainzer Institut nach 1951 mehr und mehr den Staffelstab an das von Eckert 1951 ge- gründete Braunschweiger Schulbuchinstitut, das in den folgenden Jahren mit den französischen Partnern jährlich eine Tagung organisierte,19 bei denen »den jungen Kollegen bestimmte Probleme der französisch/deutschen Beziehungen näher« gebracht werden sollten, wie Eckert schrieb.20 Die Lehrbuchgespräche waren also in der ersten Phase eine vertrauens- bildende Maßnahme zwischen den Historikern beider Länder, wie aus einer Aussage von Hans Herzfeld hervorgeht, der darauf hinwies, dass es »zunächst die Trümmer der letzten anderthalb Jahrhunderte aufzuräumen [galt]. Es galt, zunächst einmal grundsätzlich den Boden zu bereiten, auf dem die historische Sprache der beiden Länder sich gegenseitig versteht« (Diskussionsbeitrag von Hans Herzfeld in Göhring 1956: 263). Auch Eckert war sich dieser übergeord- neten Aufgabe bewusst gewesen, worauf sein Schreiben an Alfred Grosser hin- deutet: »Im Mittelpunkt unserer Bemühungen steht und wird immer die Arbeit

13 | Eckert an Renouvin, Brf. v. 4. November 1953 (NLA/StAWo, Nr. 207/2). 14 | Vgl. Eckert an Ritter, Brf. v. 5. Dezember 1951 (NLA/StAWo, Nr. 212/1). 15 | Vgl. Deutsch-französische Vereinbarung über strittige Fragen europäischer Ge- schichte. ND März 1958. Braunschweig 1958. 16 | Vgl. auch Eckert an Ritter, Brf. v. 5.2.1952 (NLA/StAWo, Nr. 212/1). 17 | Eckert an Bruley, Brf. v. 22. Januar 1952 (NLA/StAWo, Nr. 207/2). 18 | Zit. n. Internationales Jahrbuch 2 (1953), S. 109, im Anschluss an den Abdruck der Vereinbarung. 19 | 1951 Mainz, 1952 Tübingen, 1953 Tours, 1954 Sankelmark, 1955 Sèvres, 1956 Bamberg/München. 20 | Ausarbeitung von Georg Eckert zur Französisch/Deutschen Historiker-Tagung, Mai 1951, Oktober 1951, Juli 1956 (Politisches Archiv/Auswärtiges Amt [im Weiteren: PA/AA], B 90–600, Bd. 204). ANNÄHERUNG, AUSSÖHNUNG, KOOPERATION | 67 an der französisch-deutschen Verständigung stehen, die für uns von schicksal- hafter Bedeutung ist«.21 Verflochten mit diesen Aussöhnungsbestrebungen wurden aber zugleich die Grundlagen für eine Transnationalisierung von Schulgeschichtsbüchern gelegt.22 Französische Schulbuchverlage begannen, ihre Neuerscheinungen direkt nach Braunschweig zu schicken; genauso bekamen ausländische Histo- riker deutsche Schulbücher vor dem Erscheinen vorgelegt, wie Eckert seinem Kollegen Bruley im November 1951 schilderte:

In Kürze hoffe ich Ihnen das Heft von Dr. Mielke ›Geschichte der Weimarer Republik‹ zu übersenden, in dem alle Kritiken und Vorschläge von Prof. Renouvin berücksichtigt worden sind. Wir haben in einer Vorbesprechung auf die wertvollen Beiträge von Prof. Renouvin hingewiesen. Es ist das m.W. das erste Mal, daß ein deutsches Schulbuch vor dem Druck Kollegen aus anderen Ländern, in diesem Falle Frankreichs, Englands und Amerikas, vorgelegt wurde«.23

Interessanterweise wurde diese Vorgehensweise auf der Rückseite des Titelblat- tes für die Leser vermerkt,24 »die eine solche Bemerkung als eine Art Qualitäts- zeichen werten«, wie Eckert gegenüber Alfred Grosser erklärte.25 Die deutsch-französischen Schulbuchgespräche der Nachkriegszeit sind als Komponenten einer Friedenspädagogik zu verstehen, mit denen tiefe menta- le Gräben nach einer Zeit der Konfrontation zugeschüttet werden sollten, die u.a. durch unsachgemäße und befangene historische Urteile entstanden wa- ren. Feindseligkeit, Hass und Ressentiments galt es mit Blick auf die Zukunft abzubauen und so schnell wie möglich in gute Nachbarschaft, Freundschaft und Vertrauen zu überführen, um insbesondere die Jugend für die deutsch- französische Aussöhnung zu gewinnen. Bei den ersten wie auch bei den wei- teren Treffen ging es jedoch nicht darum, das Konstrukt der ›Erbfeindschaft‹ durch ein neues geschichtspolitisches Konstrukt zu ersetzen, um den Versöh- nungsdiskurs konsensfähig zu machen. Es wurde nicht um versöhnende Ge- schichtsbilder ›verhandelt‹, sondern Unterschiede identifiziert, wie auch Rainer Riemenschneider in seinem Vergleich mit den Gesprächen nach dem Ersten Weltkrieg hervorhebt:

Man hatte also im deutsch-französischen Geschichtsbewußtsein einen bedeutsamen Schritt getan: von der Unvereinbarkeit nationalistisch geprägter Auffassungen und

21 | Eckert an Alfred Grosser, Brf. v. 3. April 1954 (NLA/StAWo, Nr. 212/1). 22 | Schon vor Beginn der Schulbuchgespräche erschien in der Braunschweiger Zei- tung ein Artikel über die Übereinkunft und die Nachricht, dass die ersten französi- schen Geschichtsbücher zur Überprüfung bereits eingetroffen seien: Prof. Dr. Eckert als Gast in Paris. In: Braunschweiger Zeitung v. 5. April 1950. 23 | Eckert an Bruley, Brf. v. 26. November 1951 (NLA/StAWo, Nr. 207/2). 24 | Eckert an Renouvin, Brf. v. 22. Februar 1952 (NLA/StAWo, Nr. 207/2). 25 | Eckert an Grosser, Brf. v. 3. April 1954 (NLA/StAWo, Nr. 212/1). 68 | CORINE DEFRANCE / ULRICH PFEIL deren Nebeneinanderstellung hin zu gemeinsam verantworteten Formulierungen (Rie- menschneider 2000: 125).

Dies sollte zu einer Unterrichtspraxis führen, die heute als ›multiperspektivi- scher‹ Ansatz bezeichnet wird, bei dem verschiedene Sichtweisen dargestellt und erläutert werden. Nach dieser ersten Phase bis 1967 wurden die Schulbuchgespräche in den 1980er Jahren wieder aufgenommen und verbreiterten die gemeinsame me- thodische und inhaltliche Grundlage für ein bilaterales Schulgeschichtsbuch (vgl. Defrance/Pfeil 2007). Sie konnten sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf ein neues Netz geschichtswissenschaftlicher Institutionen stützen, die sich ab Ende der 1950er Jahre der wissenschaftlichen Mittlerarbeit verschrieben hatten.

DIE INSTITUTIONALISIERUNG DER KOOPERATION

Zu einem wichtigen Mosaikstein in der deutsch-französischen Wissenschafts- landschaft wurde die 1958 gegründete Deutsche Historische Forschungsstelle in Pa- ris (vgl. Pfeil 2007b; Babel/Große 2008), deren offizieller Träger die am 2. April 1957 in Mainz gebildete Wissenschaftliche Kommission zur Erforschung der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen war. Die Gründungsge- schichte unterstreicht, wie bei den Planungen und Konzeptionen die konflikt- reiche Geschichte nicht ausgeklammert werden konnte, bestand die französi- sche Seite doch nach den Erfahrungen mit der NS-Kulturpropaganda während der Besatzungsjahre 1940 bis 1944 in Form des Deutschen Instituts in Paris auf einer Institution »sur base universitaire« (vgl. Pfeil 2007c). Nachdem die Kom- mission anfänglich vom Bundesinnenministerium finanziert worden war, wur- de die Forschungsstelle 1964 in ein Bundesinstitut, das Deutsche Historische Institut Paris (DHIP), umgewandelt und dem Bundesforschungsministerium unterstellt. Die ersten Jahre seiner Existenz waren von dem Bemühen der Mitarbeiter bestimmt, eine vertrauensvolle Arbeitsgrundlage zwischen den Historikern bei- der Länder herzustellen, wie aus einem Zwischenfazit von Rolf Sprandel ein Jahr nach ihrer Einweihung hervorgeht:

Das Institut soll einen Graben, der jetzt schon ein hohes Alter hat und tief ist, zu- schütten helfen. Es ist der Graben zwischen der deutschen und der französischen Geschichtswissenschaft. Die Geschichtswissenschaft ist in beiden Ländern wohl am meisten von allen Wissenschaften nationalistischen Einflüssen ausgesetzt gewesen. Sie hatte die engste Verbindung zu nationalen und patriotischen Strömungen (Pfeil 2007a: 465).

Diese Aussöhnungsphase war jedoch Ende der 1960er Jahre abgeschlossen, so dass jetzt mehr und mehr die wissenschaftliche Kooperation zur Priorität wurde, die als politische und soziale Strategie mit dem Ziel der Zusammen- ANNÄHERUNG, AUSSÖHNUNG, KOOPERATION | 69 arbeit und des Austausches verstanden werden sollte. Charakteristisch für die Kooperation ist dabei in der Regel der Wille, auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und Ziele den möglichen eigenen Nutzen auf den Nutzen des Part- ners abzustimmen. Kooperation und wissenschaftliche Mittlertätigkeit wurden in den letzten Jahren kontinuierlich weiter entwickelt, so dass das DHIP heu- te eine Kommunikationsplattform zwischen den Historikern aus Deutschland und Frankreich sowie verschiedenen Drittländern darstellt. Die Existenz des Pariser DHI hatte auf französischer Seite immer wieder die Forderung nach einer vergleichbaren Institution auf deutschem Boden hervor- gerufen, doch dauerte es bis 1977, bis endlich die Mission historique française en Allemagne in Göttingen ihre Türen öffnete. Sie unterstand dem französischen Außenministerium und befand sich in Räumen, die ihr vom Max-Planck-Ins- titut für Geschichte zur Verfügung gestellt wurden. Die Wahl des Ortes blieb nicht ohne Kritik in Paris, wo einige – am französischen Zentralismus geschul- te – Historiker für Göttingen nur wenig Verständnis aufbrachten, doch war es für den Gründungsdirektor der Mission, Robert Mandrou, gerade die Entfer- nung von der deutsch-französischen Grenze, die die Attraktivität von Göttingen ausmachte, nachdem sich die französische Deutschlandforschung nach 1945 – neben Paris – in erster Linie in der Grenzregion konzentriert hatte. Er wollte die französische Deutschlandforschung aus den bisher beschrittenen Wegen her- ausholen, um ihnen die hexagonalen Scheuklappen zu nehmen (vgl. Monnet 2007: 349). Zudem galt es durch die Mission die französische wissenschaftliche Präsenz auf deutschen Boden auszubauen, der nach Auffassung von Mandrou eine Pionierrolle bei der Anbahnung von Kooperationen zukommen sollte, um zum einen ein institutionelles französisches Gleichgewicht zum DHIP auf deutschem Boden zu schaffen, zum anderen aber auch einen Wissensstand auf französischer Seite zu erreichen, der eine effektivere Zusammenarbeit möglich macht. Nachdem der institutionelle Rahmen geschaffen war, konnte die Mission ihre Arbeit aufnehmen, um sich neben der Forschung gerade auch der Ausbil- dung junger Wissenschaftler und dem Austausch mit deutschen Fachkollegen zu widmen. Stabilisiert wurde die Institution durch eine 1994 unterzeichnete Konvention mit dem Centre national de la recherche scientifique (CNRS; dt. Na- tionales Zentrum für wissenschaftliche Forschung); gleichzeitig war es aber Zeichen für die Verflechtung mit der deutschen Historikerzunft, dass sich der Beirat der Mission aus französischen und deutschen Wissenschaftlern zusam- mensetzte – ein deutlicher Hinweis für eine zunehmende Auflösung von natio- nalen Wissenschaftskulturen. Wie stark die deutschen und französischen Geistes- und Sozialgeschich- ten mittlerweile verflochten sind, unterstreicht das Berliner Centre Marc Bloch (CMB), dessen Ursprünge in die Zeit der deutschen Wiedervereinigung und der Beendigung des Kalten Krieges führt, das auch für die Sozial- und Geis- teswissenschaften neue Herausforderungen schuf (vgl. Beaupré 2007). Die Gründung des CMB unterstreicht dabei die Bedeutung von historischen und geografisch-lokalen Parametern, stand die Idee für ein solches Institut doch in 70 | CORINE DEFRANCE / ULRICH PFEIL unmittelbarem Zusammenhang mit der besonderen Rolle Berlins während des Ost-West-Konflikts. So gab es bei der Gründung des CMB genuine französi- sche Interessen, doch waren von Beginn an Verflechtungen mit der deutschen bzw. Berliner Forschungslandschaft zu beobachten, die Ausdruck für eine pro- gressive Auflösung von nationalstaatlichen Kategorien bei der Organisation von deutsch-französischen Forschungsaktivitäten sind. So soll schon hier die The- se vertreten werden, dass das CMB seit seiner Einweihung 1994 dazu beitrug, auch kulturell bedingte Grenzziehungen im Bereich der Forschung und der Ausbildung junger Forscher abzuschleifen. Institutionen wie das CMB stabi- lisieren auf diese Weise interkulturelle Kommunikationsprozesse und erleich- tern den Wissenstransfer über nationale Grenzen hinweg. Dass mit dem von der deutschen Besatzungsmacht 1944 ermordeten His- toriker Marc Bloch ein Namenspatron gewählt wurde, dessen Lebenslauf Aus- druck für die Konfrontationen zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, spricht außerdem für einen entemoti- onalisierten Umgang zwischen deutschen und französischen Historikern bei dem gemeinsamen Blick auf die konfliktreiche Vergangenheit. Wie wichtig die- ser ist, zeigt die Geschichte des deutsch-französischen Schulgeschichtsbuches, das den (Schüler-)Blick vor nationaler Verengung schützen möchte.

DEUTSCH-FRANZÖSISCHES SCHULGESCHICHTSBUCH

Im Sommer 2006 erschien in Deutschland und Frankreich ein gänzlich neu- es Produkt mit dem Titel Histoire/Geschichte. Europa und die Welt seit 1945 bei den Verlagen Klett und Nathan (vgl. dazu ausführlicher Defrance/Pfeil 2010 u. 2013). Es kann als (späte) Frucht der deutsch-französischen Schulbuchge- spräche verstanden werden, ging aber konkret auf einen Vorschlag des vom Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW) 2003 organisierten Deutsch-Fran- zösischen Jugendparlaments zurück. Die jugendlichen Teilnehmer forderten hier, »ein Geschichtsbuch mit gleichem Inhalt für beide Länder einzuführen, um durch Unwissenheit bedingte Vorurteile abzubauen«.26 Bei dem fertigen Produkt handelt es sich um das erste deutsch-französische Lehrwerk für Geschichte, wobei es nicht allein für französische Schüler gedacht ist, die Deutsch lernen, oder für deutsche Schüler, die Französisch lernen, son- dern es richtet sich prinzipiell an alle deutschen und französischen Schüler, die an Gymnasien und Lycées Geschichte lernen. Der erste erschienene Band ist da- bei für deutsche und französische Schüler von 18/19 Jahren (12. bzw. 13. Klasse/ Terminale) bestimmt, die sich auf das Abitur bzw. das Baccalauréat vorbereiten. Der im April 2008 erschienene zweite Band umfasst den Zeitraum von 1815 bis 1945 und ist für Schüler der 11. bzw. 12. Klassen in beiden Ländern konzipiert. Der dritte und letzte Band des Lehrbuchs erschien im Frühjahr 2011 und richtet

26 | Schlusserklärung zur Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen. In: Docu- ments 58 (2003), H. 2, S. 64. ANNÄHERUNG, AUSSÖHNUNG, KOOPERATION | 71 sich an Schüler der zehnten bzw. elften Klassen und spannt den Bogen von der Antike bis zur napoleonischen Ära. Bei der praktischen Umsetzung des Projektes galt es zunächst, die (bil- dungs-)politischen Grundlagen zu schaffen und zentralistische mit föderalen Bildungstraditionen miteinander in Einklang zu bringen. Weiterhin mussten unterschiedliche pädagogische und didaktische Unterrichtstraditionen in einen Konsens zusammengeführt werden, um anschließend einen gemeinsamen Lehrplan zu entwerfen. Unter der Leitung von Historikern und Geschichts- lehrern aus beiden Ländern entwarfen dann deutsch-französische Autorentan- dems die einzelnen Kapitel, die als Kompromiss zwischen den verschiedenen Traditionen verstanden werden können. Das Echo in der deutschen und französischen Öffentlichkeit war von Be- ginn an sehr groß; darüber hinaus interessierten sich aber auch andere Länder für dieses binationale Schulbuchprojekt, um ihrerseits Anregungen für weitere Projekte zu finden. Mittlerweile gelten derartige Schulbuchprojekte als proba- tes Mittel, um ehemals verfeindete Nachbarn miteinander zu versöhnen, doch gilt es dabei zu bedenken, dass das deutsch-französische Schulgeschichtsbuch eine lange Vorgeschichte hat und auf einer institutionalisierten, aktiven und eingespielten Forschungskooperation aufbauen konnte. So war es nie als Mittel zur Versöhnung konzipiert, sondern das Produkt politischen Willens und einer funktionierenden und institutionalisierten Zusammenarbeit zwischen den His- torikern beider Länder. Dies heißt natürlich nicht, dass es keine wissenschaftlichen Kontroversen mehr gäbe und dass man zu einer einhelligen Interpretation der Geschichte ge- langt wäre! Doch stehen sich bei diesen Debatten heute nicht mehr ›nationale‹ Gemeinschaften von Historikern gegenüber. Die ›Frontlinien‹ verlaufen heute zwischen unterschiedlichen Positionen der Vertreter verschiedener Ansätze, seien sie politischer, kultureller, sozialer oder ökonomischer Art. Dennoch schälten sich Themen heraus, bei denen die nationalen Perspekti- ven divergieren, vor allem im ersten Band: Dies betraf zum einen die Beziehung zu den Vereinigten Staaten, die von deutscher Seite als Schutzmacht der jungen Bundesrepublik betrachtet wurden, von französischer Seite aber als eine be- freundete Supermacht, die dennoch des Imperialismus verdächtigt wurde; zum anderen betraf es den Kommunismus und die Volksdemokratien, die von den Deutschen weiterhin negativer gesehen wurden als von den Franzosen, was mit den unterschiedlichen nationalen Erfahrungen zusammenhängt. In diesen Fäl- len werden die divergenten Sichtweisen in einem eingefügten Kasten »Deutsch- französischer Perspektivenwechsel« präsentiert.27 Und gerade darin besteht der methodologische Mehrwert des Werkes. Angesichts der eher bescheidenen Verbreitung des deutsch-französischen Schulgeschichtsbuches in den Schulen beider Länder und der Gefahr, die dem gesamten Projekt durch die Lehrplanreform der Seconde (11. Klasse) in Frank-

27 | Vgl. insbesondere S. 127 des ersten Bandes (2006) zum Kommunismus und den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sowie S. 231 zur Globalisierung. 72 | CORINE DEFRANCE / ULRICH PFEIL reich entsteht, bleibt am Ende zu fragen, welche Rückschlüsse aus dieser bila- teralen Erfahrung gezogen werden können. Nach dem nahezu einhelligen an- fänglichen Lob in Deutschland und Frankreich droht das ambitionierte Projekt nun an der Praxisrealität zu scheitern bzw. auf seine Symbolkraft reduziert zu werden. Die Probleme deuten auf die nicht zu unterschätzende Beharrungs- kraft nationaler Bildungstraditionen und -praktiken hin, die im Fall des deutsch- französischen Schulgeschichtsbuches zwar überspielt werden konnten, doch weiterhin eine breitere Kooperation verhindern. So drängt sich der Eindruck auf, dass das gemeinsame Geschichtsbuch vielleicht zu ambitioniert war und in der Praxis nicht mit den traditionellen Geschichtsbüchern rivalisieren kann.

DIE DEUTSCH-FRANZÖSISCHE GESCHICHTE

Im Jahre 2005 erschien der erste Band der elfbändig geplanten Deutsch-Fran- zösischen Geschichte (DFG), die einen dreigliedrigen Zugriff von der Karolin- gerzeit bis in die Gegenwart bietet und an die von Oldenbourg herausgege- benen Reihen Grundriss der Geschichte bzw. Enzyklopädie deutscher Geschichte erinnert (Überblick, Fragen und Perspektiven, Bibliografie), um den Leser ers- tens in die Thematik einzuführen und ihm ein Grundwissen zu vermitteln, zweitens Forschungsfragen zu erörtern und Desiderata zu identifizieren und drittens über die Bibliografie zum Weiterlesen anzuregen. Seit 2011 erschei- nen die Bände bei Septentrion auch in französischer Sprache und erreichen damit ein größeres Publikum auf beiden Seiten des Rheins. Die DFG richtet sich nicht alleine an Historiker, sondern zielt auf eine breitere Leserschaft, die sich für die politischen, wirtschaftlichen, militärischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte der deutsch-französischen Beziehungen interessiert. Dabei will sie sich nicht auf eine vergleichende Perspektive beschränken, sondern die vielfältigen Beziehungen, Verflechtungen, Transfers, Interdepen- denzen, Interaktionen und Kommunikationsfelder in einer Zusammenschau untersuchen. Ob in den jeweiligen Bänden stets Histoire croisée drin ist, wo Histoire croisée draufsteht, sei dahingestellt,28 definieren die Autoren diesen Forschungsansatz doch zumeist unterschiedlich und nicht unbedingt im Sin- ne derer, die ihn konzipiert haben.29 Dieses bislang einzigartige Projekt hat in der (Fach-)Presse ein beachtliches Echo hervorgerufen, das hier nachgezeichnet werden soll, nicht allein um sich anhand der bisher erschienenen Rezensionen einen Überblick über die fachli- chen Reaktionen zu verschaffen, sondern auch, um die Erwartungshaltung an diese Reihe zu beleuchten.

28 | Guido Thiemeyer (2012) schreibt dazu sicherlich nicht zu Unrecht: »Der Ansatz ist in den letzten Jahren von vielen Forschern wortreich beschrieben und entwickelt wor- den, allein die konkrete Umsetzung auf empirischer Basis blieb bislang schwach«. 29 | Johannes Großmann schreibt 2012 in seiner Rezension zu den Bänden 8 und 10, dass die Reihe sich der Histoire croisée verschrieben habe. ANNÄHERUNG, AUSSÖHNUNG, KOOPERATION | 73

Die DFG ist Ausdruck für eine transnationale Geschichtsschreibung, die seit dem Ende des Kalten Krieges einen außerordentlichen Aufschwung erfah- ren hat und sich neben dem Vergleich besonders auch multiperspektivischen Prozessen von Transfer, Verflechtung und Akkulturation widmet (vgl. Siegrist 2005; Gassert 2012). Als beispielhaft für die Absicht der verschiedenen Autoren, eine transnationale Perspektive einzunehmen, sei hier aus der Einleitung des achten Bandes von Nicolas Beaupré zitiert, der »die beiden Ländern gemeinsa- men und unterschiedlichen, voneinander abhängigen und getrennten, transna- tionalen und nationalen kulturellen und sozialen Dynamiken« herausarbeiten will (Beaupré 2009: 15). Auch wenn sich die Historiker in der Regel einig sind, dass der Primat der Nationalgeschichte der Vergangenheit angehört, so wird doch immer wieder die »Relativierung der nationalgeschichtlichen Perspekti- ve« (Hähner 2010: 102) als Verdienst der DFG herausgestellt: »Geschichte auch im Handbuchformat einmal nicht aus der Perspektive des nationalstaatlichen Rahmens zu schreiben, sondern als Beziehung auf vielen Ebenen, muss als mutiger und längst überfälliger Schritt gelten« (Kühn 2009). Welchen Erkennt- nisgewinn die Analyse von Kulturtransfers haben kann, wird gerade auch dem Band von Jean-Marie Moeglin bescheinigt, wie sehr Deutschland in Kunst und Kultur ein ›Nehmerland‹ war, das aber dennoch nicht alles eins zu eins übernahm, sondern den eigenen Entwicklungen anpasste und veränderte und dabei auch eigene Modelle für Traditionen schuf, die autonom weiter- existierten (Fößel 2012).

Diese Reaktionen bestätigen die These, dass heute keiner mehr hinter trans- nationale Analyseansätze zurückfallen möchte, auch wenn die Diskussion um die Definition von transnationaler Geschichte noch nicht abgeschlossen ist und sowohl in Deutschland wie in Frankreich (Charle 2013: 31ff. u. 136ff.) die Bedeu- tung der nationalen Geschichte innerhalb der Historiografie weiterhin beacht- lich ist. Dass sich die verschiedenen Verfasser auf dieses transnationale Projekt ein- gelassen haben, mag nicht zuletzt auch an der Existenz der zuvor beschriebe- nen deutsch-französischen Forschungszentren liegen, welche alle Autoren auf die eine oder andere Form durchlaufen haben, wie der französische Deutsch- landforscher Landry Charrier unterstreicht:

Elle témoigne par ailleurs de l’émergence de nouvelles générations d’historiens, réel- lement binationaux et plus attentifs à des réalités qui, dans des configurations antéri- eures, étaient difficiles à percevoir (Charrier 2010: 165).

Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass eine Reihe von Rezensenten in der DFG ein Instrument gegen den Fortbestand von Geschichtsmythen sehen und hier vor allem gegen die deutsch-französische ›Erbfeindschaft‹. Immer wieder wird lobend hervorgehoben, dass die Autoren Konflikte auf den Territorien, die sich zu Deutschland und Frankreich entwickeln, nicht zu einer roten Linie 74 | CORINE DEFRANCE / ULRICH PFEIL verdichten, die geradewegs in die ›Erbfeindschaft‹ führte (Depreux 2007: 281). Dass es immer noch weiterer Anstrengungen bedarf, um diesen Mythen ein Ende zu setzen, betont auch der Journalist Johannes Willms:

Dieses allzu manichäische Bild [der ›Erbfeindschaft‹] der gewiss konfliktreichen deutsch-französischen Geschichte hat unterdessen zwar längst Risse bekommen, aber der Versuch, es einer ebenso gründlichen wie umfassenden Revision zu unterzie- hen, stand bislang noch aus (Willms 2006).

Werner Paravicini und Michael Werner, die ersten Herausgeber dieser Reihe, verfolgen mit ihr jedoch ein weitergehendes Ziel:

Dabei werden primär nicht die deutsch-französischen Beziehungen ins Visier genom- men. Beabsichtigt ist vielmehr die Darstellung deutscher und französischer Geschich- te in ihren jeweiligen Verflechtungen wie auch in ihren Besonderheiten, ihren jeweili- gen Differenzierungen und Abschottungsvorgängen […]. Die Deutsch-Französische Geschichte ist eine wesentliche Etappe auf dem Weg zu einer wirklich europäischen Geschichte […].30

Während viele Rezensenten diesem Gedanken folgen und in dieser Reihe »ei- nen konkreten Beitrag zur Integration Europas« sehen (Freund 2007) bzw. die- ser bilateralen Geschichtsschreibung die »Erweiterungsfähigkeit hin zur oben angesprochenen und von den Herausgebern postulierten ›wirklich europäi- schen Geschichtsschreibung‹« bescheinigen (Elz 2010), reizte er andere Rezen- senten zum Widerspruch. Der Berliner Historiker Michael Borgolte sieht es als widerlegt an, »dass die Addition von Steinen wie von selbst einen Bau ergibt« (Borgolte 2006). Hieran anschließend formulierte Harald Müller die Frage, »ob ein Konzept europäischer Historiografie, das Nationalgeschichten oder auch binationale Geschichten kompiliert, wirklich Erfolg verspricht« (Müller 2007). Solche Einwände mögen ihre Berechtigung haben, doch betonen die Autoren der DFG wiederholt, sich nicht auf die bilateralen Beziehungen beschränken zu wollen, sondern ihre Thematik in größere Zusammenhänge einzuordnen. Zudem bleibt zu fragen, ob eine vertiefte Analyse von bilateralen Beziehun- gen – wie es jetzt übrigens auch deutsche und polnische Historiker tun – nicht doch ein Mosaikstein zu einer Geschichte Europas sein kann. Blicken wir da- bei auf die verschiedenen Handbuchprojekte zur europäischen Geschichte, so fällt immer wieder auf, dass gerade in diesem Genre die Entwicklungen in den verschiedenen Ländern ›additiv‹ dargestellt werden, ohne sie ausreichend mit transversalen Fragestellungen zu verknüpfen. Und wenn schon bei der DFG von den Rezensenten zu Recht aufmerksam auf ein ausgewogenes Quellen- und Literaturstudium (vgl. Willms 2006; Ehlers 2012) bzw. den gelungenen

30 | Vorwort von Werner Paravicini und Michael Werner in den jeweiligen Bänden, S. 7f. ANNÄHERUNG, AUSSÖHNUNG, KOOPERATION | 75 deutsch-französischen Perspektivwechsel (vgl. Müller 2007) geachtet wird,31 so zeigen sich gerade auch bei Büchern zur europäischen Geschichte Asymmet- rien in der Behandlung der einzelnen Länder, die häufig von den Präferenzen der Autoren bzw. von pragmatischen Überlegungen bei der Umsetzung eines solchen Projekts abhängen, auf deren Probleme der Spanienhistoriker Walther L. Bernecker hinweist:

Bei der Bearbeitung des Bandes wurde dem Verfasser deutlich, dass es für einen ein- zelnen Wissenschaftler ein nahezu nicht zu bewältigendes Unterfangen ist, eine Über- blicksdarstellung zur Geschichte Europas in der Zwischenkriegszeit zu schreiben; allzu hochgesteckt ist der Anspruch, sämtliche Probleme zu identifizieren und korrekt zu analysieren; allzu unterschiedlich sind die vielfältigen Aspekte, zu heterogen die Sach- bereiche und Länder, zu zahlreich die Sprachen, die er eigentlich lesen müsste (Berne- cker 2002: 11).

Trotz vereinzelter Kritik im Detail kommen die Rezensenten quasi unisono zum Schluss, dass mit dieser Reihe »Standardwerke« bzw. »unverzichtbare Nach- schlagewerke« (Stockhorst 2012) vorgelegt werden, die angesichts nachlassen- den Wissens über Frankreich in Deutschland und abnehmender Lernerzahlen der Partnersprache umso wichtiger für das Kennen des Nachbarn (vgl. Walther 2007) und wichtige Anstöße für weitere Forschungen sind (vgl. Lebeau 2006).

FAZIT

Deutsche und französische Historiker haben nach 1945 auf ihrem Feld einen wichtigen Beitrag zur deutsch-französischen Aussöhnung geleistet. Nachdem gerade die Geschichtswissenschaften bis ins 20. Jahrhundert den Nationalis- mus historisch unterfüttert hatten, öffneten sie sich nach 1945 Schritt für Schritt für multiperspektivische und transnationale Ansätze. Sie erwiesen sich als wis- senschaftliche Mittler, die im Prozess der deutsch-französischen Annäherung ihren Beitrag dazu leisteten, dass das Bild vom ›Erbfeind‹ dekonstruiert werden konnte. Dabei zeigt sich heute das Paradox, dass der Austausch zwischen deut- schen und angloamerikanischen Historikern sehr viel größer ist, nicht zuletzt

31 | So berechtigt solche Anforderungen sind, so muss doch darauf verwiesen wer- den, dass den Forschern zur deutschen Geschichte seit einiger Zeit Recherchemög- lichkeiten im Internet zur Verfügung stehen, die es für die französische Geschichte vergleichbar nicht gibt. Während z.B. die Jahresberichte für deutsche Geschichte (vgl. http://jdgdb.bbaw.de/cgi-bin/jdg/cgi-bin/jdg [15.11.2013]) Publikationen (vor allem auch Zeitschriftenaufsätze) bis in die Aktualität verzeichnen, geht die Online-Ausgabe der Bibliographie de l’histoire de France (http://bhf.revues.org/index.html) zum jetzi- gen Zeitpunkt nur bis 2007. Unverständlich ist zudem, dass sie nur Publikationen auf- nimmt, welche die französische Geschichte vom 5. Jahrhundert bis 1958 betreffen, so dass die Geschichte der V. Republik ausgespart bleibt. 76 | CORINE DEFRANCE / ULRICH PFEIL wegen der niedrigeren Sprachbarriere, dass die deutsche Geschichtswissen- schaft aber zugleich mit keinem anderen Land so enge institutionelle Beziehun- gen wie mit Frankreich unterhält, die zur Grundlage für die beschriebenen ge- meinsamen bilateralen Projekte wurden (vgl. Pfeil 2013b). Immer wieder wird dabei die Frage gestellt, ob sie ein tragender Pfeiler bei dem Versuch ist, eine europäische genauer: eine Weltgeschichte zu schreiben. Gleichzeitig werden sie in Drittländern präsentiert, um mit den Historikern vor Ort die Frage zu dis- kutieren, inwieweit die deutsch-französische ›Methode‹ exportierbar und adap- tierbar ist. Zumindest im deutsch-polnischen Fall waren Schulbuchgespräche, Schulgeschichtsbuch und Deutsch-Französische Geschichte Anhaltspunkt und Veranlassung, einen ähnlichen Weg zu gehen, bei dem deutsche und polnische Historiker die Gelegenheit haben, aus den Fehlern der deutsch-französischen Projekte zu lernen und ihre Unternehmungen den spezifischen Erfordernissen anzupassen.

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Erniedrigte und Beleidigte Der ambivalente Mittler im deutsch-französischen Kulturfeld zwischen Ressentiment und Erweckungsmission

Joachim Umlauf

Abstract Much attention has been paid since 1945 to the role of the mediators in Franco-German relations who have contributed to reconciliation, friendship, and the establishment of the European community. Less attention has been focused however on unsuccessful or problematic mediator biographies and texts. This article assesses historically discredited mediators (such as Friedrich Sieburg), mediators who have expressed ambivalence in French essay writing about Germany and German essay writing about France (such as Peter Sloterdijk and Benjamin Korn), as well as a text by Adam Soboczynski on the polemics surrounding the exhibition De l’Allemagne. This contribution analyses these sources not only to show the longevity and durability of stereotypes in the intercultural field, but also to establish the thesis that attention to these categories of forms can be very enlightening for research on mediators.

Title: The Abject and the Offended: Ambivalent Mediators in the Franco-German Cultural Field between Resentment and Revival

Keywords: ambivalent mediators; Sloterdijk, Peter (1947–); Sieburg, Friedrich (1893– 1964); German stereotypes

Die in der Mittlerforschung im europäischen Kontext nach 1945 häufig anzu- treffende einseitige Orientierung am Versöhnungsgedanken muss als grund- sätzlich problematisch bezeichnet werden, da hierdurch der Transferforschung wichtige Phänomene und Akteure aus dem Blick geraten sind. Wie wir bereits im Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 angemerkt ha- ben, ist diese Fokussierung u.a. der Grund dafür, warum heute, d.h.

70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges […] im zeitlichen Abstand Akteure sichtbar [werden], die sich, nicht zuletzt weil sie mitunter sehr weitab vom Gedanken der ›Versöhnung‹ standen, im toten Winkel der von diesem Gedanken erfüllten Wissen- schaftler und ihrem entsprechend allein positiv konnotierten Mittlerbegriff befanden. (Colin/Umlauf 2013: 79)

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 82 | JOACHIM UMLAUF

Ausgehend von einem »erweiterten Mittlerverständnis« (vgl. ebd.) erscheint diese Lücke problematisch – sowohl im Blick auf nicht-intentionale Mittler,1 als auch (meist nachträglich) auf diskreditierte und ambivalente Mittler. Die letz- teren beiden Gruppen erscheinen für den Kulturtransfer und dessen Theorie insofern von besonderer Bedeutung, als sich anhand ihres oft bedeutsamen und zugleich widersprüchlichen Wirkens die Komplexität des Kulturaustausches be- sonders anschaulich darstellen lässt. Aus diesem Grund herrscht beim ambi- valenten Mittler – im Vergleich zu den aus der Außen- und Innenperspektive gleichermaßen positiv wahrgenommenen Leistungen bekannter zivilgesell- schaftlicher Akteure des Kulturtransfers – eine bedeutsame und zuweilen tiefe Kluft zwischen der Eigen- und Fremdwahrnehmung als Mittler. Im deutsch- französischen Kulturfeld ist dieser ambivalente Mittler, der sich in der Regel durch eine doppelte Nähe zum Versöhnungs- und Annäherungswunsch einer- seits sowie dem der Kultur stets innewohnenden hybriden Konfliktpotenzial andererseits auszeichnet, insbesondere in der Deutschland- bzw. Frankreich- Essayistik erstaunlich präsent. Nachträglich, z.B. durch veränderte politische oder gesellschaftliche Situa- tionen und Positionen, diskreditierte Mittler kennen wir zur Genüge. Da wäre, als ein Extremfall, der heute zu den wichtigsten französischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gezählte Céline zu nennen, der sich sicher in seiner ei- genen Wahrnehmung als wichtiger kultureller Go-between zwischen (NS-) Deutschland und (Vichy-)Frankreich bezeichnet hätte. Komplexer und weniger eindeutig bzw. (aus moralisch-ethischer Sicht) verwerflich, liegen die Dinge bei Ernst Jünger oder dem Essayisten und Journalisten Friedrich Sieburg.

TRANSFERDISKURSE: VOM KONFLIKT ZUR VERSÖHNUNG

Auf die machtvolle und lang anhaltende (Nach-)Wirkung von Auto- und Hetero- stereotypen, wie sie bei der Auseinandersetzung mit dem Anderen notwendi- gerweise entstehen, hat jüngst Clemens Klünemann zu Recht erneut hingewie- sen (vgl. Klünemann 2013). In Sieburgs Bestseller Gott in Frankreich? aus dem Jahre 1929 (1931 von Maurice Betz ins Französische übersetzt unter dem Titel Dieu est-il français?), der über Generationen und auch noch weit über 1945 hin- aus massenhaft gelesen wurde und damit maßgeblich zum Frankreichbild der Deutschen beitrug, tritt die scherenschnittartige Konditionierung der Selbst- wahrnehmung für uns Heutige deutlich zu Tage, da wir eben nicht mehr, oder nur noch aus der Ferne, denselben Wahrnehmungsmustern und Deutungs- zwängen ausgesetzt sind. (vgl. auch Valance 2013: 94–96). Gewisse alte Klischees schreiben sich selbstverständlich auch heute noch in der ›liebevollen‹, d.h. von einer positiven und nicht denunzierenden Grund- stimmung getragenen Frankreich-Essayistik bzw. -Unterhaltungsliteratur fort, in der ›dem Franzosen‹ beispielsweise Eigenschaften wie Lebenslust und In-

1 | Vgl. hierzu den Beitrag von Nicole Colin in diesem Heft. ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE | 83 dividualismus im Verbund mit einer gewissen Oberflächlichkeit sowie Schön- rederei zugewiesen und Hedonismus, Hang zum Luxus und Eleganz gegen deutsche Bescheidenheit, Ernsthaftigkeit in der intellektuellen Auseinanderset- zung und Arbeitsethos gestellt werden. Das ständige existentielle Ringen mit dem Anderen, die Fokussierung auf die Frage, welche Kultur denn in welchen Fragen schlussendlich der anderen überlegen sei, der reflexartige und neuro- tische Hang zur Hervorhebung eigener Qualitäten in negativer Abgrenzung zum Anderen, die sicherlich ein recht direkter Abglanz der vielen kriegerischen deutsch-französischen Auseinandersetzungen seit 1800 und des allgemeinen Hegemoniestrebens der großen europäischen Nationalstaaten bis 1945 darstel- len, ist für uns hingegen (glücklicherweise) nicht mehr nachzuvollziehen. Im Gegenteil: Die Fähigkeit, von Kulturen auch Abweichendes zuzulassen, Frem- des zu tolerieren und Alterität als Prinzip zu fördern, wird nicht selten zum Gradmesser und als notwendiger Bestandteil funktionierender pluralistischer Gesellschaften genommen – was am anderen Ende des Spektrums allerdings auch zu phobischen Reaktionen führen kann, die sich in Krisensituationen nicht selten im Erstarken populistischer Parteien (wie in Frankreich des Front National) niederschlagen. Systemisch betrachtet könnte man folglich behaupten, dass selbst in der (ra- dikalen) Abwehr und Dekonstruktion gängiger Klischees diese als Folie dienen und folglich als Teil eines kollektiven Bewusstseins erhalten bleiben (müssen). Nach mehr als 50 Jahren deutsch-französischer Annäherung, Versöhnung und vertiefter Freundschaft – die, so meine Überzeugung, mit ausschlaggebend für den Erfolg des Baus des europäischen Hauses geworden ist –, besteht die Ten- denz, alles diesem positiv konnotierten Narrativ unterzuordnen und gewisse Konfliktzonen zu tabuisieren und auch die konstruktiven Effekte dieser (zwei- felsfrei oft problematischen) Klischees und Stereotypen zu ignorieren. In rituellen Zusammenhängen (Veranstaltungen zu Jubiläen von Instituti- onen und Personen, 50 Jahre Élysée-Vertrag, die Deutsch-Französische Woche etc.) wird die deutsch-französische Freundschaft regelrecht beschworen und darin zementiert: Je öfter und eindringlicher eine Behauptung wiederholt wird, umso deutlicher und unabweisbarer erscheint ihre Faktizität. Auf diese Weise entwi- ckelte sich ein modernes postnationales Heldenepos auf dem Boden des Ver- söhnungsnarrativs, das an die Stelle der alten Konfliktmodelle getreten ist2 und in dem die ›Versöhner‹, die Mittler nun die Heldenhauptrolle spielen. Dabei konnten die deutsch-französischen Beziehungen ihre Sonderrolle aufrechter- halten: Wo das Verhältnis der beiden Länder früher symbolhaft für besonders tiefe Verwerfungen und Antagonismen stand, gelten sie nun in exemplari- scher Weise freundschaftlich miteinander verbunden. Heutzutage, wo sich das deutsch-französische Sonderverhältnis aus vielen Gründen (Fall des eisernen Vorhangs, Globalisierung, Mobilität und preiswerter Flugverkehr, Entstehen neuer zukunftsgerichteter Wirtschaftszonen wie der BRIC-Staaten [Brasilien, Russland, Indien und China] und schließlich die Effekte des digitalen Zeital-

2 | Vgl. ebd. 84 | JOACHIM UMLAUF ters) abzuschwächen scheint, könnte man im Rückblick behaupten, es habe in seiner Exklusivität durchaus eurozentristische Züge besessen, was eine Sehn- sucht nach diesen vergangenen, vermeintlich idealen Zuständen verbietet.

SIEBURG UND DAS UNBEHAGEN IN DER FREMDEN KULTUR

Das Unbehagen, das sich heute beim Lesen weiter Teile der Frankreichschriften Sieburgs einstellt, bestätigt nachträglich sein Lebenslauf. Es wird Sieburg, der nach dem Zweiten Weltkrieg von 1945 bis 1948 zunächst Publikationsverbot erhielt, später als Literaturkritiker aber wieder zu hohen Ehren kam und 1953 sogar zum Professor ernannt wurde, wohl auf immer und ewig gereut haben, seinen im März 1941 im Deutschen Institut Paris gehaltenen Vortrag La France d’hier et de demain im Rahmen der Conférences du groupe Collaboration in den Druck gegeben zu haben (Sieburg 1941). In zum Teil bedeutungsleer gestelzten, aber sehr gewählten Worten gibt sich Sieburg hier als Bewunderer Frankreichs zu erkennen, dem er jedoch insistierend nahelegt seinen Hang zum Individuel- len für ein stärkeres Gemeinschaftsdenken aufzugeben und mehr als den Staat das Vaterland zu verehren. Sieburg, zur damaligen Zeit deutscher Botschafts- rat in Paris, nahm damit in nationalsozialistisch verbrämter Weise wesentliche Grundelemente der Antagonismen und begrifflichen Opposition zwischen ›deutscher Kultur‹ und ›französischer Zivilisation‹ wieder auf, von der 1939 Norbert Elias behauptete (Elias 1976), dass aus ursprünglich sozialen Fragen na- tionale stilisiert wurden, und die sich ebenso prägend wie kontraproduktiv auf das Verhältnis der beiden Länder ausgewirkt hat. Sieburg selber jedoch fühlte sich, das verrät die Emphase des abgedruckten Vortrags, auf Erweckungsmissi- on gegenüber den kollaborationswilligen Franzosen. Natürlich werfen Rückblicke solcher Art Fragen allgemeiner, theoretischer und komplexer Art auf, die hier für Sieburg nicht abschließend beantwortet werden können. Welche Rolle spielen die inhärenten Genrekonventionen von schriftstellerischen Formen? Welcher Übertreibungs-, Zuspitzungs- und Ab- grenzungsmittel bedarf es beispielsweise im Journalismus oder der Essayis- tik, um (überhaupt und massenweise) Aufmerksamkeit zu erzielen? Welche ökonomischen und politischen Motive bilden den Hintergrund, welche Rolle spielen Zensur und Autozensur? Es bleibt jedoch unbestritten, dass aus der his- torischen Distanz die Analyse der Transferleistungen eines diskreditierten bzw. ambivalenten Mittlers leichter fällt. Schwieriger ist es, diesen ›ambivalenten‹ Mittlern, von denen es auch heute zahlreiche gibt, in unserer eigenen Gegen- wart nachzuspüren. Im Folgenden soll anhand von Beispielen das Phänomen des ambivalenten Mittlers analysiert und vor allem hinsichtlich seiner Wirkungen näher betrach- tet werden. Ausgehend von den neueren Entwicklungen der Transferforschung erscheint dieser Typ darum besonders interessant, da hier Kategorien wie Hy- bridität, Konflikt und Widerspruch, die in den aktuellen kulturwissenschaftli- chen Debatten eine wichtige Position einnehmen, zentrale Bedeutung besitzen. ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE | 85

Voraussetzung für deren Fruchtbarmachung ist deshalb allerdings, dass das Interesse nicht allein vordringlich den geglückten Vermittlungsprozessen gilt, sondern auch den in jedem Transferprozess präsenten Interferenzen, Konkur- renzverhältnissen, den Krisen und dem Scheitern sowie den fruchtbaren Miss- verständnissen, eine wichtige Rolle zugestanden wird. Mit anderen Worten: Es gilt das positive Narrativ einer angeblich geglückten deutsch-französischen Annäherung kritisch zu hinterfragen und das Augenmerk in der theoretischen Diskussion vor allem auf die blinden Stellen dieser Erzählung zu richten.

BENJAMIN KORN

Wie bereits erwähnt, ist die Deutschland- und Frankreich-Essayistik voller Au- toren, die sich selber durchaus als Mittler verstehen, anders als die bekannten zivilgesellschaftlichen Mittler jedoch ein überaus zwiespältiges Verhältnis zum jeweiligen Nachbarn unterhalten. Ein Beispiel, mit dem wir uns bereits mehr- fach in anderen Kontexten beschäftigt haben, ist Peter Sloterdijk (vgl. Colin/ Umlauf 2013 und 2014, Colin 2010), der insofern einen interessanten Mittlerfall darstellt, als er einerseits durchaus als Frankreich-Experte zu bezeichnen ist, andererseits jedoch nicht zu den klassischen zivilgesellschaftlichen Mittlern gerechnet werden kann, da bei ihm keinerlei Engagement für die deutsch-fran- zösische Aussöhnung erkennbar ist, sondern er im Gegenteil versucht, diesen Diskurs zu hintertreiben und auszuhebeln. In einem vergleichbar ambivalenten Verhältnis zu Frankreich steht auch der 1943 in Lublin (Polen) geborene und in Frankfurt a.M. als Sohn jüdischer Eltern aufgewachsene Theatermacher und Essayist Benjamin Korn, Bruder von Salomon Korn, des Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, der immer wieder durch seine scharfen Attacken gegen die französische Gesell- schaft auffällt und den Annäherungsprozess zwischen Deutschland und Frank- reich oder eine Normalisierung ihres Verhältnisses rundweg abstreitet.

Franzosen und Deutsche mögen sich nicht. Die Fest- und Schönredner behaupten das Gegenteil und verweisen auf die Freundschaft von Voltaire und Friedrich dem Großen und darauf, daß Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt sich duzen. […] In die breite Masse und die Medien ist die von oben verordnete Völkerfreundschaft nicht hinabge- drungen. Man kann nicht mehr von Haß reden, er hat dem Mißtrauen Platz gemacht. (Korn 1998: 138).

Neben solchen grundsätzlichen Infragestellungen der deutsch-französischen Freundschaft zielen seine Attacken aber vor allem gegen den französischen Freund, seine Lebensvorstellungen, seine politischen Unzulänglichkeiten, sei- ne Arroganz. Mit Sloterdijk teilt Korn die Grundhypothese, dass sich Frank- reich 1945 nicht seiner Geschichte und Schuld gestellt habe und stattdessen bis heute ›Kriegsergebnisfälschung‹ betreibe, d.h. sich (insbesondere dank der Haltung de Gaulles) zu einem der Kriegssieger stilisieren konnte. Seitdem habe 86 | JOACHIM UMLAUF im Land, so Korn, ein weitflächiger Verdrängungsprozess stattgefunden, der durch die Zurückweisung der eigenen (evidenten) Schuld zahlreiche andere ge- sellschaftliche Bereiche kontaminiere (vgl. Korn 2012). Selbst der Wahlerfolg der Front National geht aus seiner Perspektive letztendlich auf die enttäuschte Großmannssucht Frankreichs zurück (ebd.). Sicherlich ist der geschichtliche Teil dieser Analyse nicht ganz von der Hand zu weisen, höchst spekulativ (bei Korn) und zweifelhaft (bei Sloterdijk) sind jedoch die darüber hinaus gehen- den Schlussfolgerungen, wobei im Gegensatz zu Korn bei Sloterdijk noch hin- zukommt, dass er der »Kriegsergebnisfälschung« die (angeblich) vorbildliche Vergangenheitsbewältigung der Deutschen entgegen hält und damit, vielleicht auch ungewollt, dem alten Antagonismus des Grades des Wahrheitsbewusst- seins beider Völker erneut Vorschub leistet. Seiner Kernthese gewissermaßen selbst widersprechend, will der seit langem in Paris wohnende und arbeitende Korn an anderer Stelle dabei einen deutlichen Wandel in Frankreich feststellen:

Alle Gründe, aus denen ich Frankreich als Student liebte, Furchtlosigkeit, Offenheit, kritischer Geist, Diskussionslust, Witz, rebellisches Denken, sind in den 25 Jahren, die ich hier nun lebe, in einen breiten, alles zermahlenden Strom des Konformismus ein- gemündet. Das Land verludert. Seine moralische Substanz ist verbraucht. Allein der Fremdenhass verteilt sich gleichmäßig auf alles Fremde […]. (Korn 2005).

Mit der gebotenen Vorsicht kann man durchaus vermuten, dass für eine solche Verbitterung auch lebensgeschichtliche Aspekte des Autors eine Rolle spielen. Dem Grad der anfänglichen Liebesüberhöhung (eine schwärmerische Zuwei- sung von allen möglichen positiven Eigenschaften) entspricht der tiefe Fall bzw. die völlige Desillusionierung, aus der schließlich Hass oder zumindest doch vitale Abneigung erwächst. Blickt man auf die Publikationsliste Korns, so sprechen einige weitere Titel meist journalistischer Texte von dieser Ambivalenz. Ein interessantes Beispiel, in dem sich eine weitere Eigenschaft des ambivalenten Mittlers zeigt, gibt Korns Artikel über die problematische (da unzureichende) französische Aufarbeitung des Algerienkriegs in Das große Schweigen. Die Kunst des Wegsehens und die Geschichtslügen der Grande Nation (Korn 2012). Hier bietet sich der Vergleich mit einem anderen deutschen bzw. österreichischen Mittler an, der ebenfalls nicht zu den klassisch-intentionalen zivilgesellschaftlichen Akteuren des Kul- turtransfers zählt, sondern eher die Position eines nicht-intentionalen Mittlers einnimmt: Michael Haneke. Sein Film Caché (2005), der sich wie Korn auf das Massaker der Pariser Polizei an vorwiegend algerischen Demonstranten am 17. Oktober 1961 bezieht, zeichnet in deutlicher Weise die Probleme auf, die mit der Tatsache einhergehen, dass die vollständige Aufarbeitung der französischen Gräueltaten bis heute aussteht.

Michael Haneke beleuchtet in »Caché« diesen Prozess der Rückerschließung kom- munikativer und zugleich dynamischer Erinnerungsräume, wobei die Frage im Mittel- punkt steht, in welcher Weise ein zeitweilig aus der individuellen und kollektiven Er- ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE | 87 innerung verschwundenes, nur mehr subkutan vorhandenes Ereignis plötzlich wieder aufbrechen und in den Fokus geraten kann. Neutral gesprochen handelt der Film von der direkten und unvorhergesehenen Konfrontation zweier Zeitzeugen in einem trans- kulturellen (nämlich französisch-algerischen) Erinnerungsraum, die in Ermangelung eindeutiger Vorgaben, oder genauer: einer kollektiven Politik der Vergangenheitsauf- arbeitung, sich gezwungen sehen, die Spannung zwischen faktischer und emotionaler Authentizität unter sich auszuhandeln. (Colin 2014)

Solcherart zeichnet Haneke ein zwar nicht sympathisches, dafür jedoch äußerst vielschichtiges Bild des französischen Umgangs mit diesem Tabu, das durch seine Individualisierung zur privaten Tragödie eines Fernsehmoderators trans- formiert und darin von der spezifisch französischen Geschichte abgetrennt und universalisiert wird, d.h. zum Lehrstück über jede Form des schwierigen menschlichen Umgangs mit der Vergangenheit avanciert. Keinesfalls weist der Deutsch-Österreicher Haneke mit erhobenen Zeigefinger auf die Versäumnis- se der Franzosen, sich angemessen ihrer Vergangenheit zu stellen. Vielmehr illustriert er die tragischen Folgen, die dieses Schweigen, das hier nicht als ein französisches Problem, sondern eher als eine anthropologische Grundkonstan- te verstanden wird, in der aktuellen realen Welt immer noch zu produzieren vermag, wenngleich die Geschehnisse lange zurückliegen. Im Gegensatz dazu bevorzugt Benjamin Korn eine dezidierte Schwarzma- lerei, die sich im Kontext seines ›Gesamtwerkes‹ jedoch nahtlos in die Reihe seiner Frankreich-Pamphlete einordnen lässt. Statt wie Haneke zu individua- lisieren, historisiert er, d.h. er stilisiert das Schweigen über den Algerienkrieg zum Teil einer Art Schweigetradition der Franzosen als eine spezifische Eigen- heit, die geschichtlich lange zurückreicht und in der von de Gaulle inszenierten ›Geschichtslüge‹, auf die bereits eingegangen wurde, gewissermaßen seinen Höhepunkt erlebt:

Wegsehen ist eine königliche Kunst. Ludwig der XIV. beherrschte sie perfekt. Jeder sei- ner Blicke konnte zerschmettern oder erhöhen, jeder Wimpernschlag bedrohen, jedes Wegsehen vernichten. Die Bourgeoisie hat diese höfische Tradition bereitwillig über- nommen. Kein Bourgeois in den USA, in Italien oder Deutschland kann so meisterlich ignorieren wie der französische. Aber daß das Wegsehen zu einem Volkssport wurde, verdankt Frankreich einem Mann, dessen Beliebtheit von keinem Lebenden und kei- nem Toten erreicht wird, verherrlichter als die Jungfrau von Orleans, bewunderter als Napoleon, angebeteter als der Heilige Geist und Gottvater selbst, da ihn sogar Atheis- ten anhimmeln: Charles de Gaulle. Er hat den Franzosen ein für allemal das Wegsehen eingebleut, ausgerechnet an dem Tag, als er, mit großzügiger Erlaubnis der amerika- nischen Armee, triumphal, in der Pose des Siegers in Paris einzog und den Franzosen in seiner berühmten Rede die Lüge auftischte, sie hätten den Krieg (alleine und aus eigener Kraft) gewonnen, statt ihnen die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern: daß sie ihn katastrophal verloren, sich mehrheitlich der Kollaboration mit den Nazis schuldig gemacht und ihre Befreiung den Armeen Englands, Kanadas und der USA zu verdanken hatten. […] Der Tag des Sieges war eine Niederlage für das Gedächtnis. Er läutete eine 88 | JOACHIM UMLAUF

Tradition des Verleugnens und Vergessens ein, deren Ende nicht abzusehen ist. (Korn 2012: 29)

Die verweigerte Aufarbeitung des Algerienkriegs im Allgemeinen und des Mas- sakers von Paris im Besonderen erscheint in diesem Kontext nicht wie bei Ha- neke als menschliche und darin menschenmögliche Tragödie, sondern als eine historische Notwendigkeit.

EIN MISSGLÜCKTER HELD

Wie Anne Kwaschik im Rückgriff auf Everett Stonequist, den ›Erfinder‹ des ›marginalen Menschen‹, bemerkt, steht in zahlreichen Mittlerbiografien das Problem des ›Zugehörigkeitskonflikt‹ zentral, über das viele Akteure des trans- nationalen Kulturfeldes überhaupt erst in ihre Mittlerrolle finden (vgl. Kwaschik 2012: 178). Dort, wo die Überwindung dieses Konfliktes nicht gelingt oder durch eine durchlebte Zurückweisung der Annäherung irritiert wird, schlägt die ur- sprünglich positive Bewegung nicht selten in eine Tendenz zu einer radikalen Unterminierung der fremden oder Überhöhung der eignen Kultur um (vgl. Co- lin 2013). Insbesondere für den Sozialtypus des ambivalenten Mittlers erscheint ein solcher Konflikt einen zentralen Anlass zu liefern. Im Blick auf das gewählte Beispiel lässt sich ohne psychologische Tiefen- analyse konstatieren, dass der oben erwähnte Zugehörigkeitskonflikt bei Korn eine zentrale Rolle spielt – wenngleich dies sicherlich nicht allein seine deutsch- französische, sondern auch und noch viel grundlegender seine deutsch-jüdi- sche Existenz betrifft. Die Analyse eines solches Konfliktes erfolgt in der Regel über ein biografisches Verfahren, dass aufgrund seiner einseitigen Perspektivie- rung im hier verhandelten Kontext indes zu kurz greift und durch eine diskurs- analytische Betrachtung ersetzt werden soll: Nicht die konkreten biografischen Fakten interessieren uns hier, sondern Korns Äußerungen diesbezüglich. Ein solches Verfahren bietet sich bei Korn (und auch anderen) ambivalenten und als Essayisten tätigen Mittlern darum an, weil es hier weniger um die lebensprakti- schen Erlebnisse und Bezüge geht, die im Endeffekt äußerst schwer zu objekti- vieren und noch schwerer in ihren tatsächlichen Auswirkungen zu greifen sind, als vielmehr um ihre diskursive Einbettung. Aufschlussreich im Blick auf diese Frage des Zugehörigkeitskonflikts Korns erscheint im hier verhandelten Kontext Korns 1988 erschienenes Essay Der Schock ist fruchtbar noch (Korn 1998) über die so genannte Fassbinder-Affäre, der bei genauerer Analyse eine ganze Reihe Fragen aufwirft, aber auch Ant- worten nahelegt. Der Text handelt von dem Skandal, den 1985 Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Frankfurt a.M. mit ihrem Protest gegen das Stück Der Tod, die Stadt und der Müll (1975) von Rainer Werner Fassbinder entfacht hatten, der in einer Besetzung des Theaters endete, um die Aufführung zu verhindern. Obwohl Benjamin Korn, der zeitgleich ein anderes Stück am Schauspiel Frank- furt inszenierte, sich ausdrücklich nicht in die Angelegenheit hatte einmischen ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE | 89 wollen, sah er sich plötzlich nach eigenen Angaben doch genötigt, Stellung zu beziehen, als er seine Mutter unter den Menschen auf der Bühne erkannte.

Ich war auf die Begegnung, die zwischen mir, den Leuten im Raum und meiner Mutter stattfand, nicht vorbereitet. Die beiden Welten, die mein Leben geprägt hatten, Juden- tum und deutsche Kultur, drohten einander zu berühren, und ich hatte doch gelernt, sie immer auseinanderzuhalten. […] Und jetzt trafen sie, unter Hochspannung stehend, auf meinem Territorium, der Bühne, aufeinander, feindselig, und forderten mich auf, zwischen ihnen zu wählen oder sie zu versöhnen. Ich konnte es nicht. Ich hatte immer nur gelernt auszuweichen. (Korn 1998: 19)

Der Zugehörigkeitskonflikt, von dem hier die Rede ist, hat zwar inhaltlich nichts zu tun mit Korns späteren Anti-Frankreich-Essays, erklärt aber gewissermaßen deren strukturelles Grundproblem des »marginal man«, als einer Person, die »fate has condemned to live in two societies and two, not merely different but antagonistic, cultures«.3 Dabei handelt es sich bei diesem Zugehörigkeitskon- flikt tatsächlich um ein existenzielles Problem, das in der Vorstellung Korns selbst offenbar nur durch ein entschiedenes Ja oder Nein gelöst werden könn- te – was jedoch gleichermaßen unmöglich ist. Die eigentlich unvermeidbare Aporie wird von Korn selber jedoch dezidiert als eigenes Versagen interpretiert:

Was machte mir solche existenzielle Angst, daß ich den Schweiß auf meiner Oberlippe spürte? […] [E]s war eine kleine Angst, eine unedle Angst […]. Anders als die Helden, die ich so gerne im Theater sehe, war mir das angenehme Leben wichtiger als die Ehre. Ich wollte es mir weder mit der Gemeinde, noch mit dem Theater verderben, weder mit Bubis noch mit Rühle, meinem Brötchengeber, nicht mit den alten Genossen, nicht mit meiner Mutter, nicht mit der Kritik. (Ebd.: 20)

Man muss diese Form von Selbstvorwürfen, von selbsttherapeutischem Aus- treibungsdrang und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber Korn zu Gute halten, die er im Folgenden noch weiter symbolisch ausschmückt, was letztlich auf den existenziellen Tiefgang des Problems verweist:

Auch ich erfüllte meinen Vertrag mit der Gesellschaft und inszenierte, während man das Fassbinder-Stück abtrieb, mein Stück zu Ende, das ich eigentlich hätte niederle- gen müssen, statt, um mein Gewissen zu beruhigen, am Monolog Don Juans gegen die Heuchler zu feilen, der keinen Menschen mehr aufregt. Ja, es war leicht an meiner Stel- le einen Helden auf die Bühne zu schicken, der rücksichtslos sagt, was er denkt […]. Molière hatte dafür zahlen müssen. (Ebd.: 21)

Interessant erscheint, dass die Selbstvorwürfe in der Folge relativ unvermittelt abbrechen und in eine deutlich an Hölderlins Hyperion (vgl. Hölderlin 1979: 190) Anklage gegen ›die Deutschen‹ münden, wobei nicht klar wird, wo er seine

3 | Vgl. hierzu den Beitrag von Nicole Colin in diesem Heft. 90 | JOACHIM UMLAUF eigene Identität – als deutscher Jude oder Deutscher jüdischer Herkunft – in diesen Betrachtungen eigentlich verortet.

Gibt es ein Volk, das mehr entwurzelt ist als die Deutschen? Sie haben keine Mitte und kein Maß; sie haben den Boden unter den Füßen verloren und können ihn mit der Schwerkraft ihres Geldes nicht ersetzen. […] Die Deutschen sind ein gespaltenes Volk. Sie haben ein Haßgefühl auf ihre eigene Identität, das sich aus dem verlorenen Krieg, aus der erzwungenen Demokratisierung und den unbegreiflichen Untaten des zweiten Weltkrieges speist. Sie hassen ihre Schuldgefühle und, ohne es zu wissen, die, die sie auslösen. (Korn 1998: 56)

Im Vergleich zu Korns essayistischen Texten über Frankreich gewinnt man schließlich das Gefühl, dass das diskursive Muster deshalb ähnlich ist, weil die eine Identität stets in verabsolutierender Weise gegen die andere ausgespielt wird. Wird hierdurch versucht einzuholen, was oben als verpasstes Heldentum beschrieben wurde? Die Fähigkeit einer eindimensionalen Sicht auf die Dinge? Ja oder Nein sagen zu können? Der Verlust klar definierter Kulturräume? Am Beispiel von Benjamin Korns Essays zeigt sich letztlich recht deutlich das von Everett Skonequist beschriebene Dilemma des ›marginal man‹, der dazu verdammt ist, so Stonequist, die Antagonismen seiner multiplen Identi- tät zu ertragen. Das Beispiel des kornschen Doppel-Konfliktes zwischen dem Judentum und Deutschland sowie Deutschland und Frankreich schließt in die- sem Sinne aber auch die (theoretische) Lücke zwischen den Postcolonial Stu- dies und der europäischen Transfergeschichte bzw. bindet den deutsch-franzö- sischen Kulturaustausch seit 1945 in weitere internationale wissenschaftliche Zusammenhänge ein, die meines Erachtens in dieser Form bisher noch nicht ausreichend bemerkt worden sind.

DE L’ALLEMAGNE

Ambivalente Äußerungen können natürlich auch von sogenannten ephemeren Mittlern getätigt werden, die sich nur zeitweise, zufällig, beruflich oder per- sönlich bedingt mit dem anderen auseinandersetzen. Just 2012/13, während des Festjahres 50 Jahre Élysée-Vertrag, aber auch der tiefen europäischen Kri- se konnte man ein exponentielles Anwachsen der deutschlandkritischen Tex- te, vor allem in Südeuropa (Stichwort: ›Merkel-Bashing‹) ausmachen, das sich aus den verschiedensten Quellen (Politiker, Wissenschaftler, Industrievertreter, Journalisten, Publizisten) speiste. Als ambivalente französische Persönlichkeit, die sich regelmäßig mit Deutschland beschäftigt, könnte man, spiegelbildlich zu Korn, den Publizisten Emmanuel Todd bezeichnen, der sich früher zwar auch zuweilen recht deutschlandkritisch gab, heute aber mittels kultureller Ste- reotypen als unerbittlicher ressentimentbeladener Schuldzuweiser auftritt, der vehement den Standpunkt vertritt, Deutschlands Politik reiße Europa in den Abgrund – und dies gerne in französischen Talkshows zur Primetime verlauten ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE | 91 lässt. Auf diese Weise hat der durchaus scharfsinnige und redegewandte Todd eine Rolle gefunden, die ihm ein Art Monopol sichert, in reißerische Sendun- gen eingeladen zu werden und damit große Aufmerksamkeit zu erregen. Seine Rolle als Mittler trägt damit aber auch zur Absicherung seiner ökonomischen Existenz bei. Eine Flut weiterer Veröffentlichungen in Artikel- und Buchform ist zu verzeichnen, die Sloterdijks These, man interessiere sich nicht mehr für- einander, deutlich widerlegt. Letzthin fühlte sich sogar Georges Valance auf- gerufen, eine Petite Histoire de la germanophobie (Valance 2013) vorzulegen, die das große Verdienst hat die Fäden der gegenseitigen Stereotypisierungen und Verwerfungen bis in die frühe Neuzeit zurückzuverfolgen und dabei auch viele für diese Thematik unverzichtbare Texte aufzuführen – wenngleich bedauerli- cherweise nur solche, die (auch) auf Französisch erschienen sind. Allerdings begibt sich Valance im letzten Kapitel seines Buches mit dem tendenziösen Ti- tel De l’amitié à la méfiance (wobei er Korns oben zitiertes Begriffpaar wörtlich aufnimmt) auf Irrwege. In seinem verständlichen Versuch, die Jetztzeit und die jüngsten Entwicklungen zu kommentieren und zu interpretieren, findet man in Ansätzen eben genau jene kulturellen und stereotypen Zuschreibungen wieder, die er 200 Seiten zuvor (zumindest teilweise) entlarvt, erklärt und dekonstruiert hat. Diese Stereotypen kamen unlängst auch in einer höchst emotional und polemisch geführten deutsch-französischen Kulturdebatte zum Einsatz, die sich um eine Ausstellung im Pariser Louvre im Frühjahr 2013 mit dem Titel De l’Allemagne rankte. Mit dem Verweis auf Madame de Staëls berühmtes Buch von 1812 sollte – unter der Schirmherrschaft von Angela Merkel und François Hollande – deutsche Kunst von 1800 bis 1939 repräsentativ vorgestellt werden, als Geschenk Frankreichs bzw. des Louvre an Deutschland im Élysée-Jahr. Kon- zipiert wurde die Ausstellung gemeinsam vom Louvre und dem Deutschen Kunstforum in Paris, das allerdings an der Ausführung (Hängung, Konzep- tion der Räume, pädagogische Gestaltung, Texte des Audioguides, Bildunter- schriften und -kommentare) nicht mehr beteiligt war, eine Zurückweisung, die letzthin die Grundlage für eine erbitterte Debatte über die Ausstellung gab. Ich möchte mich hier der fachlichen Kommentierung des Streites enthalten, dafür sind Kunsthistoriker eher geeignet, wenngleich auch diese sehr divergierende Meinungen zur Sache haben. Interessanter für unsere Belange erscheint der Anfangsparagraf desjenigen Zeitungsartikels, der die Polemik in den Medien letzthin auslöste und der vom Feuilletonchef der Zeit, Adam Soboczynski, ver- fasst wurde. Es handelt sich hier um einen geschickt getarnten, aber doch lu- penreinen Ausbruch von Frankophobie, der nicht zuletzt aus Effekthascherei jede Menge Rückgriffe auf Stereotypen vergangener Zeiten übt:

Wer dieser Tage durchs Quartier Latin spaziert und die jungen und alten Parvenüs mit ihren schmalen Slippern, rosa Seidenschals und kleinen, lustigen Mischlingshun- den erblickt, die Frauen, die mit herausgestellter Sorglosigkeit und baumelnden Ein- kaufstäschchen die Straße wie schwebend überqueren, als führen keine Autos, hält das Gerede von der französischen Wirtschaftskrise für die Erfindung windiger Journa- 92 | JOACHIM UMLAUF listen. Aber man steht eben nicht vor den Wohnblocks der Banlieues, sondern im wohl- habenden Zentrum der Wohlstandsinsel Paris und wundert sich deshalb nur kurz, dass einem tatsächlich Dominique de Villepin, der ehemalige Ministerpräsident, in einer Seitenstraße des Boulevards Saint-Michel mit stolzester Lässigkeit entgegenkommt, sehr offenkundig die Sonne genießend, die in Berlin dieser Tage ihren Dienst komplett verweigert. (Soboczynski 2013)

Psychologisch geschickt suggeriert der Autor mit dieser Einleitung, dass die gutsituierten und so gebildeten Franzosen nichts von der ökonomischen und politischen Krise der letzten Zeit begriffen hätten, nein, nichts begreifen woll- ten. Die Argumentation erfolgt dabei im Rückgriff auf uralte Klischees und Steroetypen, die gefährlich nahe an Sieburg und andere diskreditierte Mittler herankommen: die Feminisierung der Männer als Zeichen einer dekadenten Kultur, Hedonismus, Luxus und Eleganz als Zeichen des Primats des Indivi- duums, die Zurückweisung des die Wahrheit Sagenden (›Erfindung windiger Journalisten‹), die Affektiertheit einer ›nur‹ zivilisierten Kultur ohne Tiefgang (wie die ›zu Verliebtheitsposen entschlossenen Liebespaare‹). Zur Schlussfolge- rung, dass die Franzosen und Ausstellungsmacher nicht viel von den Deutschen verstanden haben bzw. – subtiler noch – ein altes Bild ebenso wenig revidieren wollen, wie sie bereit sind, ihre aktuelle Gesellschaft in Frage zu stellen, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Wenngleich gegen die Kritik Soboczynski an der Ausstellung an sich nicht viel einzuwenden ist, sind die zitierten Absätze als störend, ressentimentgeladen, desavouierend und peinlich zu bezeichnen. Der Verantwortung für die sich aus solchen Pamphleten womöglich langfris- tig entwickelnden Diskurse können sich die Journalisten und Essayisten, gleich ob sie Sloterdijk, Korn, Todd oder Soboczynski heißen, nicht entziehen – gleich ob sie sich selber als Mittler verstehen oder nicht. Akteure des Kulturtransfers, die sich in aufgeklärten, freundschaftlichen transnationalen Beziehungen be- wegen, sollten daher nicht auf eine Vermeidung von Stereotypen hinarbeiten, sondern vielmehr einen offenen und zugleich kritischen Umgang mit diesen propagieren. Hierzu benötigte, konkret gesprochen, Soboczynski allerdings ein größeres Maß an ironischer Selbstdistanz und -kritik sowie die Einsicht, dass es ein ›unschuldiges‹ Sprechen nicht geben kann, Korn die Fähigkeit, die eigne Geschichte im Blick auf Zugehörigkeitskonflikte zu analysieren, und Sloterdijk genauere Einsicht in die Beschaffenheit hybrider Kulturidentitäten.

LITERATUR

Colin, Nicole (2010): Inszenierung der Normalität. Peter Sloterdijk und die Nachkriegs- zeit. In: Nicole Colin/Krijn Thijs (Hg.): Forschungsbericht des Duitsland Instituut Amsterdam. September 2010, S. 136–144. Dies. (2014): Bewegter Stillstand. Transkulturelle Erinnerungsräume in Michael Ha- nekes »Caché«. In: Carla Dauven-van Knippenberg/Rolf Parr (Hg.): Räumliche Dar- stellung kultureller Konfrontationen. Heidelberg [im Druck]. ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE | 93

Dies./Umlauf, Joachim (2013): Amours fragiles: Deutsch-französische Annäherungen in der Krise? In: Frankreich-Jahrbuch [im Druck]. Dies. (2013): Eine Frage des Selbstverständnisses: Akteure im deutsch-französischen champ culturel. Plädoyer für einen erweiterten Mittlerbegriff: In: Dies. u.a. (Hg.): Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945. Tübingen, S. 69–80. Elias, Norbert (1976): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychoge- netische Untersuchung. Bd. 1. Frankfurt a.M. Hölderlin, Friedrich (1979): Hyperion. Frankfurt a.M. 1979. Klünemann, Clemens (2012): »Eiserner Kanzler« und »Grande Nation«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013), H. 1, S. 9–16 Korn, Benjamin (1998): Kunst, Macht und Moral. Frankfurt a.M. Ders. (2005): Frankreichs großer Selbstbetrug. In: Die Zeit v. 15. Dezember 2005. Ders. (2012): Das große Schweigen. In: Lettre International 96, S. 29–37. Kwaschik, Anne (2011): Intellektuelle Identitätssemantiken und Rollenkonstruktionen. Der biographische Ansatz als Fallstudie in der Geschichte der deutsch-französi- schen Beziehungen. In: Michel Grunewald u.a. (Hg.): France-Allemagne au XXe sièc- le – La production de savoir sur l’Autre. Vol. 1: Questions méthodologiques et épistémologiques. Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert – Akademische Wissensproduktion über das andere Land. Bd. 1: Methodische und epistemologi- sche Probleme. Bern u.a., S. 167–182. Sieburg, Friedrich (1941): France d’hier et de demain. Paris. Soboczynski, Adam (2013): Auf dem Sonderweg. In: Die Zeit v. 4. April 2013. Valance, Georges (2013): Petite histoire de la germanophobie. Paris.

Im toten Winkel der Versöhnung Mittler wider Willen im deutsch-französischen Kulturtransfer. Der Fall Jean Vilar

Nicole Colin

Abstract This contribution proceeds from an expanded definition of the idea of the “mediator” to analyse the role that the famed French theatre director Jean Vilar (1912–1972) played in Franco-German cultural transfer. Although Vilar did not develop special engagement for the rapprochement for the two hostile nations – which means that he has not received any attention in the context of Franco-German cultural transfer – we cannot underestimate the influence that Vilar had on the mutual perception of French and German culture. Furthermore, Vilar serves as a case study for “overlooked mediators”; further research into this group promises new results from a methodological perspective for mediator research.

Title: In the Blind Spot of Reconciliation: Unwilling Mediators in Franco-German Cultural Transfer. The Case of Jean Vilar

Keywords: cultural transfer; Franco-German relationship; German drama; intermediary; theater

In der deutsch-französischen Transferforschung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg tritt in den letzten Jahren die Figur des ›Mittlers‹ mehr und mehr ins Zentrum des Interesses, wobei allerdings in der Regel auf eine recht ver- engte Definition von Kulturtransfer bzw. Kulturbeziehungen rekurriert wird. So finden in der Regel nur Akteure der zivilgesellschaftlichen Annährungs- und Versöhnungspolitik, denen ein spezifisches Engagement unterstellt wird, als klassische Mittlerfiguren Beachtung (vgl. Marmetschke 2011 u. 2012). Auf der Grundlage der offiziellen politischen Versöhnungspolitik, die von der Bundes- republik nach 1945 lanciert wurde (vgl. Gardner Feldman 2012), avancierte die deutsch-französische Freundschaft in den letzten Jahrzehnten zu einem Er- folgsnarrativ, das, wie Corine Defrance herausstellt, alle Elemente einer »Meis- tererzählung« im klassischen Sinne besitzt:

Sie ist zum einen ein Konstrukt, das bei der Auflösung des alten und antagonistischen Mythos vom ›Erbfeind‹ ansetzt. Zum anderen ist sie sehr zeitgenössisch und beruht auf einem Eros und symbolischen Orten. Zudem ist sie sinnstiftend, soll die »Versöhnung« nach dem absoluten Tiefpunkt von Gewalt und Verbrechen doch den Beginn einer neuen europäischen, von Friedenskonsolidierung geprägten Ordnung markieren. Und

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 96 | NICOLE COLIN schließlich ist sie symbolträchtig, gab es doch einen historischen Präzedenzfall: die Aussöhnung in der Zwischenkriegszeit. (Defrance 2012: 17).

Hinzuzufügen ist, dass diese ›Meistererzählung‹ in den letzten 20 Jahren auf- grund des fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses auch über das deutsch-französische Feld hinaus an Bedeutung gewonnen hat. Die positive Konnotation des zivilgesellschaftlichen Mittlers, die an sich alles andere als selbstverständlich ist,1 scheint aus dieser Perspektive vor allem seiner Einbet- tung in dieses Versöhnungsnarrativ zu verdanken zu sein, auf dessen Folie er gewissermaßen zu einer modernen Heldengestalt überhöht wird. Die Fokussierung auf den zivilgesellschaftlichen Versöhnungsprozess, auf dessen Grundlage Mittlerbiografien im Blick auf ihren idealistischen und un- eigennützigen Einsatz ›für die gute Sache‹ analysiert werden, erscheint jedoch problematisch, da sie wichtige Elemente und Phänomene unberücksichtigt lässt und bestimmte Mittler sogar explizit aus dem Untersuchungsfeld aus- schließt. Hierzu gehören zum einen transnationale Akteure des Kunst-, Kul- tur- und Wissenschaftsfeldes, die wesentlichen Einfluss auf andere Systeme ge- nommen und bedeutsame kulturelle und wissenschaftliche Wechselwirkungen provoziert haben, ohne sich dies jedoch explizit zur Aufgabe gemacht zu haben. Diese Akteure, für die an anderer Stelle der Begriff des ›nicht-intentionalen Mittlers‹ vorgeschlagen wurde (vgl. Colin/Umlauf 2013a: 69–80), ist vom Typus des ›ephemeren Mittlers‹ zu unterscheiden, d.h. von Personen, die als allgemei- ne Experten im transkulturellen Austausch kurz auftauchen und schnell wieder verschwinden und nur in seltenen Fällen nachhaltige Wirkungen entfalten kön- nen, wie Diplomaten oder Entsandte kultureller oder politischer Stiftungen (wie z.B. des Goethe-Instituts oder der Konrad Adenauer Stiftung) bzw. Vereine oder auch Gastprofessoren im universitären Sektor. Einen weiteren, zumeist ignorierten Typ bildet der moralisch oder politisch diskreditierte Mittler, wie beispielsweise die deutschen Besatzer oder durch den Nationalsozialismus in Verruf geratene Persönlichkeiten wie Ernst Jünger, Carl Schmitt, Arno Breker oder Leni Riefenstahl, deren Annäherung an die ande- re Kultur ausgehend von der Idee einer prinzipiellen deutschen Hegemonial- position erfolgte und deren kulturelle Transferleistungen nach 1945 aus guten Gründen überaus skeptisch betrachtet und zumeist nicht genauer analysiert wurden. Die Nichtbeachtung dieser ›diskreditierten Mittler‹ ist insofern proble- matisch, als Kulturtransfer in der Regel keinen (primären) moralisch-ethischen Ziele unterworfen ist – auch dann nicht, wenn sich das Interesse der Mittler am Anderen im Wunsch der Überwindung von (im biografischen Kontext negativ

1 | So werden Menschen, die zwischen zwei Kulturen stehen, insbesondere wenn sich dieser Umstand zufällig durch ihre Abstammung ergibt, in der Regel von der Außenwelt aufgrund ihrer ›Doppelidentität‹ argwöhnisch betrachtet – wenngleich diese ›margi- nalen‹ Existenzen letztlich, wie dies Everett Stonequist bereits in den 1930er Jahren feststellte, eines der wichtigsten Phänomene der Moderne darstellen (vgl. Stonequist 1937: XIVf.). IM TOTEN WINKEL DER VERSÖHNUNG | 97 erlebten) Grenzen und Krisensituationen gründet. Die solcherart immer – und sei es in der Erinnerung – präsenten Konflikte, deren Überwindung in vielen (vielleicht sogar den meisten) Fällen nicht möglich ist, nehmen einen bedeut- samen Einfluss auf die Beziehung selbst und schwelen sichtbar oder unsicht- bar in zahlreichen Mittlerbiografien weiter. Die Beziehungen bleiben Amours fragiles (vgl. Colin/Umlauf 2013b), in denen sich die unbewältigten Konflikte in beleidigt anmutenden Reaktionen oder auch Provokationen zu erkennen geben, zuweilen aber auch in eine radikale Überhöhung der anderen Kultur umschlagen. Der solcherart ›ambivalente Mittler‹,2 dessen Ansichten sich ku- rioser Weise nicht selten mit den schlimmsten Stereotypen der Nichtexperten decken, bildet einen weiteren, bisher weitgehend übersehenen bzw. nicht als Mittler definierten Typus, der insbesondere in der Essayistik und im Journalis- mus präsent ist. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen möchte ich vorschlagen, in Ab- grenzung zu einer eingeschränkten Fokussierung auf das Engagement zivil- gesellschaftlicher Akteure einen ›erweiterten Mittlerbegriff‹ zu etablieren, der (vorläufig) die beschriebenen sechs Bereiche umfasst, wenngleich diese Typen natürlich niemals in Reinform existieren und sich Motivation und Wirkung zahlreicher Akteure durchaus zwei oder mehreren Typen zuordnen lassen:3

– zivilgesellschaftliche Mittler, – nicht-intentionale Mittler, – ephemere Mittler, – ökonomisch/machtpolitisch interessierte Mittler, – diskreditierte Mittler, – ambivalente Mittler.

Ausgehend von diesem erweiterten Mittlerspektrum soll im Folgenden der Mitt- ler im Kunst-, Literatur- und Wissenschaftsfeld und seine nicht-intentionalen Transferleistungen näher betrachtet werden – auch im Blick auf möglicherweise inhärent vorhandenes Konfliktpotential. Als Fallbeispiel soll ein herausragen- der, aber bisher im toten Winkel des Versöhnungsgedankens übersehener Mitt- ler des deutsch-französischen Kulturaustausches dienen: Jean Vilar.

JEAN VILAR – MITTLER WIDER WILLEN?

Das Kapitel Jean Vilar (1912–1971) und Deutschland muss noch geschrieben werden. Als 2012 in Frankreich der hundertste Geburtstag des Schauspielers, Regisseurs und Theatermachers und -politikers, der wie kein Zweiter die fran-

2 | Vgl. hierzu den Beitrag von Joachim Umlauf im vorliegenden Heft. 3 | Diese Auflistung versteht sich in diesem Sinne als erster Versuch einer Klassifizie- rung der Mittlertypen. Eine Erweiterung und weitere Ausdifferenzierung ist nicht nur möglich, sondern wünschenswert. 98 | NICOLE COLIN zösische Theaterlandschaft des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert und zugleich nachhaltig geprägt hat, mit Ausstellungen und wissenschaftlichen Kol- loquien gefeiert wurde, standen auch die internationalen Kontakte von Vilar auf dem Programm, insbesondere seine Tourneen durch die USA und die UDSSR; seine Beziehungen zu Deutschland fanden jedoch bestenfalls am Rande Erwäh- nung.4 Dies erscheint auf den ersten Blick auch durchaus verständlich, da Vilar kaum Kontakte nach Deutschland unterhielt. Seine südfranzösische Heimat- stadt Sète hatte der aus einfachen Verhältnissen stammende Vilar bereits mit 20 Jahren verlassen, um nach Paris zu gehen und dort Theater zu machen. Sein erster und wichtigster Lehrmeister war Charles Dullin, der wiederum zu den bekanntesten französischen Theatermachern der ersten Hälfte des 20. Jahr- hunderts zählt. 1947 gründete Vilar das Festival d’Avignon, das er bis zu seinem Tod 1971 leiten sollte; von 1951 bis 1963 war er zudem Direktor des im Palais de Chaillot in Paris beheimateten Théâtre National Populaire (TNP). Vilar sprach kein Deutsch5 und obwohl er häufig mit seinen Theaterinsze- nierungen in Deutschland (wie in vielen anderen Ländern) gastierte, stand er seinen Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins nach dem Zweiten Weltkrieg, wie aus seinen Tagebucheinträgen hervorgeht, deutlich distanziert gegenüber (vgl. Vilar 1981: 114). Umso erstaunlicher mutet an, dass Vilar nach 1945 begann, ausgerechnet Stücke von deutschen Dramatikern zu inszenieren, die bis zu die- sem Zeitpunkt in Frankreich gänzlich unbekannt waren. So präsentierte er 1948 Dantons Tod von Georg Büchner, 1951 Der Prinz von Homburg von Heinrich von Kleist sowie Bertolt Brechts Mutter Courage, obwohl man deutschen Stücken da- mals prinzipiell kritisch gegenüberstand. Die wenigen Stücke von Brecht, die in den 1930er Jahren in Paris aufgeführt worden waren, hatten nur negative Reak- tionen hervorgerufen; die Stücke der beiden deutschen Klassiker Büchner und Kleist waren zwar bereits übersetzt und auch einer (germanophonen oder zu- mindest germanophilen) Leserschaft bekannt, Interesse an einer Inszenierung hatte bis zu diesem Zeitpunkt jedoch noch kein französisches Theater gezeigt. Aus diesem Grund überrascht es nicht, dass Vilars Inszenierung von Büch- ners Dantons Tod auf dem Festival d’Avignon (das damals noch als Semaine d’Art angekündigt wurde), nur knappe vier Jahre nach der Libération von vielen als regelrechte Provokation empfunden wurde – und zwar im doppelten Sinne: Musste zu einem so spezifisch nationalem Ereignis wie der Französischen Revolution die Interpretation eines ausländischen und dann auch noch ausge- rechnet deutschen Autors herangezogen werden? Hinzu kam, dass Büchner in Frankreich, wie Jean Vilar in einem Brief an den Übersetzer Jean Paulhan bemerkte, »kaum bekannt« und bis zu diesem Zeitpunkt »übersehen, wenn

4 | Vgl. hierzu das Programm des Kolloquiums online unter: http://theatrestudies.hy- potheses.org/87 [Stand: 15.11.2013]. 5 | Vgl. Jean Vilar: Brief an Jean Paulhan vom 2. April 1948. In: Bibliothèque Nationale de France, département Maison Vilar, Avignon, Fonds Jean Vilar, 4–JV–70,13. Im Fol- genden wird nach dieser Quelle unter Angabe der Inventar-Nr. zitiert. IM TOTEN WINKEL DER VERSÖHNUNG | 99 nicht offen verachtet« worden war.6 Büchner dem französischen Publikum nahe zu bringen sei, so Vilar weiter, daher eine ebenso schwierige Aufgabe wie zwei Jahrhunderte zuvor noch die Inszenierung der Stücke Shakespeares (Vilar 4–JV 87,1). Als Grund seines Interesses für Dantons Tod nennt Jean Vilar im Programmheft vor allem die Komplexität und historische Genauigkeit, mit der Büchner in diesem Text als einem Dokumentartheaterstück avant la lettre das Thema behandelt (Vilar 1948: 30), aber auch dessen letztlich unentschiedene Haltung:

Es ist schwierig in ein paar Sätzen zusammenzufassen, welche Aufgabe man sich angesichts eines Stückes stellt, das man bewundert. Vielleicht gelingt es mir meine Schwierigkeiten verständlich zu machen, indem ich […] versichere: Die Zuschauer müssen begreifen, dass die Widersprüche, unter denen der Held des Stückes leidet, auch die ihren sind. (Vilar 1948: 30)

Vor allem die Kommunisten lehnten eine solch aporetische Sicht auf die Revo- lution ab und protestierten entsprechend heftig gegen die ungelösten Wider- sprüche auf der Bühne. Die Ablehnung des Publikums gegenüber Büchner erscheint aus dieser Perspektive deutlich verständlicher als die unbedingte Bewunderung, die man Vilars Inszenierung von Kleists Prinzen von Homburg entgegenbrachte. Ohne- hin mutet die Tatsache, dass Vilar nach dem Skandal, den er mit Büchners Dan- ton ausgelöst hatte, 1951 nun auch noch den Prinzen von Homburg inszenierte, in vielfacher Hinsicht befremdlich an: So besitzt das von der französischen Presse als »patriotisch« bezeichnete Stück,7 wenngleich aus historisch verständlichen Gründen, deutlich frankophobe (oder zumindest anti-napoleonische) Züge (Da- vid 1969: 10); zudem galt Der Prinz von Homburg, der bereits im Kaiserreich als Lieblingsstück Wilhelm II. in eine nationalistische und militaristische Interpre- tation gedrängt worden war, infolge der hemmungslosen Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten zu Beginn der 1950er Jahre in Deutschland als quasi unspielbar.8

6 | Diese und alle weiteren Übersetzung stammen, wenn nicht anders gekennzeichnet, von der Verfasserin. 7 | »Le Prince de Hombourg de Heinrich von Kleist […] est une pièce patriotique alle- mande. Ecrite pour réveiller le sentiment national contre l’oppression napoléonienne elle entraîne à la guerre de libération. […] Joué à l’intersection du rêve et du réel, de la vie et l’amour, de la lâcheté et du courage, de l’honneur individuel et de l’honneur d’une ›maison‹, c’est la pièce romantique par excellence.« (N.N. 1956.) 8 | Vgl.: »Der ›Homburg‹ galt seit 1945 als Wagnis, und keiner traute sich. Der Große Kurfürst, die Schlacht bei Fehrbellin und am Schluß der Aufbruch zum Endsieg – mußte das nicht Ärgernis geben?« (Lewalter 1953) Bereits 1951 mutmaßte die ZEIT: »Es war, als schäme man sich der Unbedingtheit Kleists, die das spielerische Element im Bühnenspiel mit so unheimlicher Lebensspannung auffüllt und es wie Gewitter zur Entladung treibt. Ja, es war, als sei in diesem Manne, der den unbändigen Willen zur Selbstverwirklichung und die innigste Vertrautheit mit dem Tode hatte, bereits die Ge- 100 | NICOLE COLIN

Das sah man in Frankreich erstaunlicher Weise anders: Die Reaktionen auf die Inszenierung in der Presse waren enthusiastisch und die Figur des preußi- schen Prinzen avancierte, dargestellt von dem bekannten und umschwärmten Schauspieler Gérard Philipe (an seiner Seite: die junge Jeanne Moreau), zu ei- nem französischen Mythos.9 Diese erstaunliche Transferleistung war sicherlich nicht unerheblich der Tatsache zu verdanken, dass Vilar den Prinzen (ebenso wie Dantons Tod ) als romantisches Stück interpretierte, die militaristischen bzw. nationalistischen Aspekte abblendete und stattdessen die Bedeutung der Gefühle sowie die Traumstruktur des Stückes in den Mittelpunkt stellte. Auf diese Weise kam es, dass Vilar mit einem in Deutschland zum damaligen Zeit- punkt als NS-Stück verpönten deutschen Klassiker auf Tournee ging und der erste Prinz von Homburg, den das deutsche Publikum nach dem Zweiten Welt- krieg auf der Bühne zu sehen bekam, französisch sprach. Der Theaterkritiker Christian E. Lewalter stellte in der Zeit entsprechend irritiert die Frage: »Mußte ein französischer Theatermann kommen, um den Deutschen Mut zu Kleist zu machen?« Die paradoxe Wirkungsgeschichte der Inszenierung blieb merkwürdiger- weise bis heute unentdeckt oder zumindest unkommentiert (vgl. Colin 2012). Wenngleich Vilars von deutscher wie französischer Seite kritisierte Romanti- sierung der Komplexität des Stückes sicherlich nicht gerecht wird (vgl. David 1969: 26), wirkte die französische Erstaufführung trotz oder vielleicht ja sogar wegen ihrer Fehlinterpretationen letztlich in mehrfacher Hinsicht befreiend für die Kleistrezeption – und zwar auf französischen und deutschen Bühnen. Kleist avancierte in der Folge zu einem der beliebtesten deutschsprachigen Theater- autoren in Frankreich überhaupt; zudem gab Vilars Interesse letztlich auch den Weg frei für die Entdeckung von zahlreichen anderen bis dahin unbekann- ten deutschsprachigen Dramatikern (vgl. Colin 2011). In Deutschland erlaubte Vilars ungewöhnlicher, womöglich sogar ›falscher‹ oder zumindest von starken Interferenzen geprägter Zugang den Regisseuren wiederum eine andere, bis-

stalt des ›heroischen Nihilisten‹ vorgezeichnet gewesen, die zwölf Jahre lang über dem deutschen Schicksal hing« (N.N. 1951). 9 | Es gab selbstverständlich Ausnahmen. So findet sich im Archiv Vilars der Brief ei- nes französischen, in Thionville geborenen Zuschauers, Pierre Noël, der Vilar irritiert fragte, warum er ausgerechnet ein Stück »dieses ehrgeizeigen und fanatischen von Kleist« inszenieren musste, eines Autors, »der die Franzosen hasste und sie als ›Af- fen der Vernunft‹ bezeichnete«, »Paris für eine widerliche Stadt hielt […]« und der noch »mehrere andere frankophobe Bücher geschrieben hat« (Vilar 4–JV 114,8). In seiner Antwort ging Vilar nicht direkt auf diese Vorwürfe ein, sondern erläuterte vielmehr sei- ne Interpretation des Stückes und rekurrierte auf die deutsche Kleist-Rezeption im 19. Jahrhundert: »Kleist war ein unglücklicher Mensch. In jeder Hinsicht. Und die Preu- ßen selbst haben sich geweigert, sich in dem jungen Offizier wiederzuerkennen. Ich habe das Stück 1950 nicht ohne Befürchtungen ausgewählt. […] Ein großes romanti- sches Märchen, wie es nur die Deutschen erfinden können.« (Ebd.) IM TOTEN WINKEL DER VERSÖHNUNG | 101 lang unbekannte Seite des vielschichtigen Werks Kleist’ zu entdecken.10 Der westdeutsche Theaterbetrieb nahm das Stück nach der französischen Erstauf- führung (nicht ohne weitere Kommentare) wieder in sein Repertoire auf,11 in der DDR sollte es immerhin noch bis in die späten 1960er Jahre dauern, bis man sich wieder an den Prinzen von Homburg heranwagte.12 Darüber hinaus führte der lang anhaltende Erfolg der Inszenierung, die Vilar bis zum frühen Tod von Gérard Philipe im Jahr 1959 immer wieder in den Spielplan aufnahm, aber auch zu einer symbolischen Aufladung des Stückes selbst, das zum Refe- renzstück wurde und immer wieder bekannten Regisseuren dazu diente, ihr Können unter Beweis zu stellen (vgl. Colin 2012). Während in Deutschland der Referenzrahmen inzwischen verloren gegangen ist, erfüllt das Stück in Frank- reich und insbesondere in Avignon diese Funktion bis heute: So wird der neue Leiter des Festival d’Avignon, Olivier Py, das Festival 2014 mit einer Inszenierung des Prinzen von Homburg eröffnen, um symbolträchtig – wie Py selber meinte, verstanden als ein »historisches Augenzwinkern« – die neue künstlerische Ära des Festivals einzuläuten (vgl. Py 2013). Im Blick auf den Autor Heinrich von Kleist selbst erscheint der Fall Jean Vilar nicht zuletzt auch darum so interessant, weil die Transferleistungen beider Akteure, verstanden als nicht-intentionale oder sogar unfreiwillige Mittler, spie- gelbildlich gegeneinander gesetzt und interpretiert werden können. Trotz ihrer durch die historischen Ereignisse bedingten deutlich negativen bzw. distanzier- ten Einstellung zum jeweiligen Nachbarland – wobei sich Kleist in seine Aver- sionen deutlich stärker hineinsteigert als Vilar (vgl. David 1969: 10) – wurden beide Künstler malgré eux zu wichtigen Akteuren des deutsch-französischen Kulturtransfers. Das Zusammenspiel zwischen Vilar und Kleist zeigt indes auch, dass die Nachhaltigkeit solcher Transferleistungen verschiedene Arten von Katalysatoren benötigt, die weit über den biografischen Hintergrund der Akteure hinausgeht. Die konkreten Gründe für die kuriose Entscheidung Vilars, sechs Jahre nach dem Krieg dieses von den Nationalsozialisten instrumentalisierte Stück eines in Frankreich völlig unbekannten Autors zu inszenieren, sind nicht auszumachen;

10 | »Die Deutschen hatten nach diesem Kriege viel von französischen Autoren und Theaterleuten zu lernen. Nun auch noch dieses: wie man Kleists Aktualität entdeckt. Vilars Homburg ist zwar unnachahmlich im Detail, aber in der Gesinnung exempla- risch.« (Lewalter 1953) 11 | »Nach sechsjähriger ›Schonfrist‹ haben mehrere große deutsche Bühnen für den kommenden Winter den ›Prinzen von Homburg‹ auf ihren Spielplan gesetzt.« (N.N. 1951) 12 | »So bleibt die Vermutung, das Theater der DDR habe noch immer Schwierigkeiten mit einem – zu Unrecht – als chauvinistisch verrufenen Spiel, das mit dem (in Ostberlin nach all der Schreierei ziemlich leise, chorisch gesprochenen) Ruf endet: ›In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!‹ Bis vor einigen Jahren das Leipziger Theater einen ersten Versuch der Wiedergutmachung an diesem Stück wagte, galt für die DDR das Zerrbild von Brechts bösem Sonett über Kleists Titelfigur, die als ›Ausbund von Kriegerstolz und Knechtsverstand‹ geschmäht wird.« (Michaelis 1975) 102 | NICOLE COLIN bekannt ist wohl, dass es Arthur Adamov war, der Vilar auf das Stück aufmerk- sam gemacht hatte (vgl. Colin 2012). Vilar äußerte sich selbst nur sehr vage zu der Frage, warum er ausgerechnet dieses Stück auswählte, die problematische deutsche Rezeptionsgeschichte war ihm ganz offensichtlich nicht bekannt. Auf einer Postkarte an Robert Voisin vermerkte Vilar, verärgert über einige Fehler in dem von Voisin in seinem Verlag L’Arche herausgegebenen Buch Georg Büchner dramaturge von Jean Duvignaud:

Ich war der erste, der in Frankreich einen Büchner inszeniert hat. Ich habe mich zu sehr dafür abgerackert! Ein ganzes Stück von Büchner. 1948 auf dem Festival d’Avignon. […] Ich war auch der erste, der nach der libération ein deutsches Stück auf- geführt hat. Das nenne ich Freiheit!13

SPURENSUCHE

Die Freiheit, die sich Jean Vilar nahm, hatte weitreichende Folgen, die aller- dings leicht übersehen werden können, da sie sein Leben und Werk selbst kaum berührten. Als Fallbeispiel verstanden, zeigt die Transfergeschichte Vilars, dass sich die methodische Annäherung an nicht-intentionale Mittler zumeist schwierig gestaltet. So bietet sich die in der Mittlerforschung zumeist verfolgte biografische Herangehensweise (vgl. Kwaschik 2011) hier nicht an, da es ganz offensichtlich keine eindeutige lebensgeschichtliche Einbettung der vermitteln- den Funktion, die Vilar eine gewisse Zeitlang erfüllte, gegeben hat. Eine Unter- suchung der in der Maison Jean Vilar in Avignon archivierten Korrespondenz der 1950er und frühen 60er Jahre brachte zwar hinsichtlich der Beziehungen Vilars zu Deutschland einige kuriose und bisher unbekannte Einzelheiten zu Tage, Meinungen Vilars über Deutschland sind jedoch überaus selten und Auskünfte über eine konkret gewünschte oder faktisch erfolgte Annäherung nicht auffindbar. Gleiches gilt auch für Vilars Memento, seinen Tagebuchauf- zeichnungen aus den 1950er Jahren (November 1952 bis September 1955), in denen er an einigen wenigen Stellen Eindrücke von seinen Tourneen durch Deutschland aufnahm, die insgesamt jedoch sehr unspezifisch wirken. Um die Wechselwirkungen auszuloten, die durch Vilars Arbeit in Deutschland und Frankreich unbeabsichtigt hervorgerufen wurden, erscheint aus diesen Grün- den stattdessen eine feldtheoretische Netzwerkanalyse sinnvoll, in welcher bio- grafische Einzelheiten durchaus Berücksichtigung erfahren können, aber nicht im Vordergrund stehen bzw. eher als Negativfolie dienen. Um das Spannungs- feld der vilarschen Mittlertätigkeit auszuloten, muss innerhalb dieser Analyse eine Strategie der Spurensuche erarbeitet werden, deren Umsetzung im vor-

13 | »J’ai été le premier à monter en France, un BUCHNER. Je me suis trop crevé pour cela. Une pièce de Buchner [sic] en son entier. En 1948 au cours du Festival d’Avi- gnon. […] J’ai été aussi le premier de jouer un allemand après la libération, c’est ce que j’appelle la Liberté!« (Vilar 4–JV 88,6) IM TOTEN WINKEL DER VERSÖHNUNG | 103 liegenden Beitrag anhand einiger Beispiele allerdings nur angedeutet werden kann. Dabei wird, soweit als möglich, versucht, die wichtigsten französischen und deutschen Akteure, die an Vilars kulturellen Transferleistungen beteiligt waren, in die Analyse einzubeziehen.

»… UM DEM DEUTSCHEN THEATER, FÜR DAS SIE IN FRANKREICH SO VIEL GETAN HABEN, ZU ERLAUBEN, IHNEN SEINE DANKBARKEIT ZUM AUSDRUCK ZU BRINGEN« 14

Grundlage für die beschriebenen Wechselwirkungen bildete zweifellos die Tat- sache, dass sich nach fast zwölf Jahren Unterbrechung die Künstlernetzwer- ke wieder jenseits argwöhnischer kulturpolitischer Bespitzelung transnational ausdehnen konnten – zumindest was das westliche Europa anbelangte. In Rich- tung Osten blieb der Transfer über den Eisernen Vorhang hinweg noch lange Zeit schwierig und politisch aufgeladen. Jene neue »Freiheit« bzw. »Befreiung«, von der auch auf Vilars Postkarte die Rede ist, bringt eine quantitative und qua- litative Veränderung des Austausches mit sich, die auf beiden Seiten des Rheins mit spürbarer Erleichterung aufgenommen wird und sich unter anderem auch in den an Vilar adressierten Briefen bekannter deutscher Theater- und Operndi- rektoren widerspiegelt, die sich an Vilar mit der Bitte um eine Gastinszenierung wenden.15 Einflüsse der politischen Großwetterlage auf den Briefverkehr lassen sich dabei nicht ausmachen. So steht beispielsweise die Tatsache, dass die Zahl der Anfragen zu Beginn des Jahres 1963 sprunghaft anstiegen, ganz offensicht- lich in keinem Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages, sondern ist vielmehr auf Vilars Rücktritt als Direktor des TNP zurückzufüh- ren.16 Vilar erreichten auch, wenngleich deutlich seltener, Einladungen aus der DDR, beispielsweise 1963 von Wolfgang Heinz, dem damaligen Intendanten

14 | »Nous serions tout particulièrement honorés, si vous voulez bien nous faire le plaisir de votre visite à Munich, et permettre ainsi au théâtre allemand, pour lequel vous avez déjà tant fait en France, de vous exprimer sa reconnaissance.« Brief von Eck- hart Stein (Dramaturg am Münchener Residenztheater) im Auftrag von Helmut Hein- richs 1961 (vgl. Vilar 4–JV 87,1). 15 Bereits 1951 erhielt Vilar eine Anfrage von Harry Buckwitz, dem Generalintendan- ten der Städtischen Bühnen Frankfurt; Rolf Liebermann, damals Intendant der Ham- burger Staatsoper, schlug Vilar am Ende der 1950er Jahre eine Gastinszenierung vor (ebd.); Albert Bessler sowie Boleslaw Barlog baten 1959 und 1962 Vilar um Inszenie- rungen am Schillertheater in Berlin (vgl. Vilar 4–JV 87,1). 16 | So erfolgten u.a. Einladungen von Erwin Piscator (Freie Volksbühne West-Berlin), Arno Assmann (Köln), Paul Esser (Schauspielhaus Hansa Berlin); Arno Wüstenhöfer (Lübeck/Wuppertal) und Grischa Barfuss (Wuppertal/Düsseldorf) baten um Termine; Gustav Rudolf Sellner (Deutsche Oper West-Berlin) bekundet im Mai 1963 seine Freu- de über das von Vilar angenommene Angebot einer Inszenierung, die dieser letztlich jedoch absagte (vgl. Vilar 4–JV 87,1). 104 | NICOLE COLIN der Volksbühne. Als zweifellos interessantestes Dokument in diesem Kontext ist eine Nachricht von Helene Weigel zu bezeichnen, die am 3. September 1963 über den Verleger Robert Voisin eine Bestätigung an Vilar über eine geplante Inszenierung von ihm am Berliner Ensemble im Oktober 1963 schickte – zu der es freilich niemals kommen sollte. Zumeist blieben die Kontakte ebenso distanziert wie die Absagen höflich, nur in einigen Fällen, wie bei Harry Buckwitz oder Rolf Liebermann, entwickel- te sich eine lose Beziehung, die über einige Zeit aufrecht gehalten wurde.17 Die Frage, warum Vilar letztlich auf keines der Angebote einging, ist nicht eindeu- tig zu klären. Vielleicht waren es schlicht die mangelnden Sprachkenntnisse, die ihn vor einer Arbeit an einem deutschen Theater abschreckten. Vielleicht erzeugten aber auch die politischen bzw. moralischen Ressentiments, die der französische Theatermacher gegenüber Deutschland hegte, trotz gewisser freundschaftlicher privater Kontakte zu einigen Regisseuren und Theaterinten- danten, eine unüberwindbare Distanz. Über die emotionalen Wechselbäder, die Vilar – einerseits begeistert und geschmeichelt vom Zuspruch der deutschen Zuschauer, andererseits misstrauisch und abgestoßen von deren unmittelbarer NS-Vergangenheit – während seiner Tourneen in Deutschland erlebte, geben insbesondere seine Tagebucheintragungen vom Oktober 1954 Auskunft. Anzu- merken ist hier, dass sich die Gastspiele an eine Tournee durch Polen anschlos- sen, wo die Theatertruppe unter anderem kurz vor ihrer Abfahrt die Gedenkstät- te des Konzentrationslagers Auschwitz besuchte: »Morgen also Deutschland«, notierte Vilar danach geradezu lakonisch: »Am 23. Stuttgart. Am 24. München, dann Freiburg, Bad Godesberg (nach Auschwitz!), Köln.« (Vilar 1981: 172) Zwei Tage später bemerkte er dann:

17 | Antoine Golea, der Giraudoux’ L’intermezzo für den Theaterverlag Desch über- setzt hatte, fungierte als Mittler zwischen Vilar und Buckwitz. Aus seinem am 17. Au- gust 1951 an Vilar adressierten Brief geht hervor, dass Vilar offenbar zugesagt hatte, das Stück an den Kammerspielen in Frankfurt a.M. (geplante Premiere am 1. Februar 1952) uraufzuführen. Golea bat Vilar Harry Buckwitz eine definitive schriftliche Zusage zu schicken und bot sich selber gleichzeitig als Dolmetscher an. Vilar antwortete am 14. September 1951 mit einer Absage, danach scheint der Kontakt vorerst abgebro- chen. Zwölf Jahre später, am 4. Juli 1963, meldete sich Buckwitz bei Vilar erneut, um sein Bedauern über das Ausscheiden Vilars am TNP zum Ausdruck zu bringen und an- zufragen, ob Vilar in Frankfurt Ionescos Le roi se meurt inszenieren wolle. Am 22. Ok- tober schickte Buckwitz dann eine Einladung für den 14./15. Dezember 1963 zu einem persönlichen Gespräch nach Frankfurt a.M., die Vilar annahm; es folgen weitere Briefe, wobei aus der Bitte Buckwitz’ vom 3. Januar 1964 um ein neuen Termin allerdings her- vorgeht, dass Vilar (aufgrund von Probeverpflichtungen in Mailand) nicht zu dem vor- gesehenen Treffen gekommen war. Rolf Liebermann von der Hamburger Staatsoper bat 1959 um eine Inszenierung der Uraufführung der Werner Henze-Oper Der Prinz von Homburg (Premiere am 22. Mai 1960), Vilar lehnte ab, sagte aber 1963 für eine ande- re Inszenierung zu und akzeptierte auch das Angebot (12 000 DM Gage plus Kosten); zur Inszenierung ist es aber auch hier nicht gekommen (vgl. Vilar 4–JV 87,1). IM TOTEN WINKEL DER VERSÖHNUNG | 105

Es gelingt mir nicht, mich während der Pressekonferenz eines gewissen aggressiven Ge- fühls meinen Zuhörern gegenüber zu entledigen, gegenüber denjenigen, die mir in zuwei- len heiterem und immer herzlichem Ton Fragen stellen. Es dauert eine Zeit, bis ich merke, wie eingebildet und dumm meine Reaktion ist. Seit unserem Aufenthalt in Polen, seit die- ser Besichtigung des verlassenen Warschauer Viertels, aber ganz besonders seit unserer Reise nach Auschwitz habe ich keine Lust mehr, mit ›ihnen‹ zu scherzen. Es nützt nichts, mir zu sagen, dass unter diesen deutschen Männern und Frauen, die mir Fragen stellen, einige ihrerseits leiblich und seelisch unter eben diesem Verbrechen gelitten haben, aber ich schaffe es nicht mich zu beherrschen. Ich sage mir, dass ich kein Recht habe ihnen so zu antworten, wie ich es tue, dass ich selbst nicht unter diesen Konzentrationslager-Besti- alitäten gelitten habe, dass weder mein Bruder noch meine Schwester, weder Mutter noch Vater die Erniedrigungen auf dieser grauen und düsteren Erde dort erlitten haben […], dass ich sanfter sprechen sollte, aber nichts zu machen. Ich kürze das Gespräch ab. Und habe nur den einen Wunsch: nach Paris zurückzukehren. (Vilar 1981: 172f.)

Wenige Tage später ist der Ton indes wieder versöhnlich. Vilar erinnert sich an ein Gastspiel des Prinzen von Homburg in Köln, »ein oder zwei Jahre zuvor«, zu dem Bundespräsident Theodor Heuss gekommen war, mit dem er anschlie- ßend offenbar ein längeres informelles Gespräch in seiner Theaterloge geführt hatte:

Die Erinnerung an diesen alten pazifistischen Studenten mit seinem schelmischen Lä- cheln und seiner heiteren Miene befreit mich am Ende dieser deutsch-polnischen Tour- nee vollkommen von meinen hartnäckigen Ressentiments in München. (Vilar 1981: 174)18

DIE NACHHALTIGKEIT VON TRANSFERLEISTUNGEN

Die Tatsache, dass die kulturellen Transferleistungen Vilars als nicht-intentio- nalem Mittler nicht allein punktuelle Aufmerksamkeit erregten, sondern lang- fristig Wirkung entfalten konnten, ist einer ganzen Reihe von Entwicklungen im deutschen und französischen Theaterfeld der 1950er Jahre zu verdanken, die hier nur skizziert werden können. Dabei lassen sich in dem von Vilar aus zu konstruierenden Koordinatensystem insgesamt (mindestens) zwei entschei- dende Perspektiven mit wiederum jeweils zwei Unterpunkten benennen:

1. Die kulturpolitische Grundlage des Transfers, d.h. (1.1) die Entwicklung der französischen Theaterlandschaft im Kontext der Décentralisation culturelle sowie (1.2) der Gastspiele deutscher Theater in Paris auf dem Festival Théâtre des Nations.

18 | Interessanterweise wird in dieser Bemerkung Vilars indirekt die Mittlerrolle deut- lich, die Theodor Heuss im Kontext der bundesdeutschen Versöhnungspolitik nach 1945 eingenommen hat, auf die hier freilich nicht näher eingegangen werden kann. 106 | NICOLE COLIN

2. Die (persönlichen) Verflechtungen, die einerseits (2.1) die Verbindungen Ro- bert Voisins, des Gründers und Leiters des Verlags L’Arche sowie der Thea - terzeitschrift Théâtre Populaire, nach Deutschland betreffen, andererseits (2.2) die französische Brecht-Rezeption und ihre Akteure.

Im Folgenden soll versucht werden, diese vier Aspekte zu beschreiben, um ihre wechselseitigen Verflechtungen deutlich zu machen, wobei sich insofern der Kreis schließt, als nun auch der dritte deutsche Autor, von dem zu Beginn die Rede war, ins Spiel kommt: Bertolt Brecht.19

1. Die kulturpolitische Grundlage des Transfers 1.1 Die Entwicklung der französischen Theaterlandschaft im Kontext der Décentralisation culturelle

Jean Vilar kann als einer der künstlerischen Hauptakteure der frühen Décentra- lisation culturelle bezeichnet werden: 1947 gründete er mit Unterstützung von Jeanne Laurent, der damaligen Kulturbeauftragten im Bildungsministerium, das Festival d’Avignon, 1952 ernannte ihn Laurent dann zum Direktor des Théât- re National Populaire (TNP) in Paris. Die beiden Ereignisse bilden zwei wich- tige Eckpfeiler für die sich anschließenden kulturpolitischen Entwicklungen, auf deren Grundlage einerseits Vilars Inszenierungen (im hier verhandelten Kontext erscheinen vor allem seine Büchner-, Kleist- und Brechtinszenierungen bedeutsam) ihre Wirkung entfalten konnten, sich andererseits aber auch die von ihm angestoßene Rezeption der deutschen Dramatik insgesamt weiter ver- tiefte und ausbreitete. So entstanden im Kontext der Décentralisation culturelle in den 1950er und 60er Jahren eine große Anzahl staatlich oder kommunal geförderter Theaterstrukturen (Centres dramatiques), an deren Spitze zumeist linke Theatermacher wie Jean Vilar saßen, die sich insbesondere für politische und gesellschaftskritische Theaterstücke interessierten, die im französischen Repertoire jedoch eine Mangelware darstellen. Aus diesem Grund griffen die französischen Theatermacher gerne auf deutsche Texte zurück, die aber nicht nur durch Vilar, sondern auch durch die deutschen Gastspiele auf dem Festival Théâtre des Nations (und hier insbesondere durch Brecht) sowie den Verleger Robert Voisin bekannt wurden.

1.2 Die Gastspiele deutscher Theater in Paris

Die Gastspiele deutscher Theater in Paris auf dem Festival Théâtre des Nations stellten eine Gelegenheit dar, Unbekanntes zu entdecken, wenngleich große Teile des französisches Publikums wenige Jahre nach der Besatzungszeit kein Interesse an den in deutscher Sprache aufgeführten Theaterstücke hatten. Trotz dieser verständlichen Ablehnung wurde hier 1954 das Berliner Ensemble ent-

19 | Zu den genauen historischen Hintergründen und Belegen der folgenden Ausfüh- rungen vgl. Colin 2011: 199–282. IM TOTEN WINKEL DER VERSÖHNUNG | 107 deckt, dessen Theatermodell für die nächsten Jahrzehnte zum Leitbild des sich im Rahmen der Décentralisation culturelle entwickelnden französischen Theater- feldes avancierte. Die Entdeckung Brechts wurde dabei auch und vor allem von Robert Voisin bzw. seiner Zeitschrift Théâtre Populaire sowie deren Redakteuren Roland Barthes und Bernard Dort vorangetrieben.

2. Persönliche Verbindungen 2.1 Robert Voisin und Deutschland

Robert Voisin, Gründer und Leiter des Verlags L’Arche sowie der Theaterzeit- schrift Théâtre Populaire, war überzeugter Kommunist und trat (spätestens) mit der ersten Brecht-Inszenierung Vilars in ein enges Verhältnis zu ihm. Der Name seiner 1953 gegründeten Theaterzeitschrift Théâtre Populaire orientierte sich zunächst vor allem an der Arbeit von Vilar im Théâtre National Populaire. Maßgeblich zur Bedeutung der Zeitschrift trugen die beiden Redakteure Ro- land Barthes und Bernard Dort bei, die insbesondere großen Einfluss auf die Brechtrezeption nahmen. Darüber hinaus konnte Voisin Bertolt Brecht davon überzeugen, ihm die Übersetzung, Veröffentlichung und rechtliche Vertretung seines gesamten dramatischen Werkes anzuvertrauen. Auf diesem Weg kam Voisin zum einen mit Helene Weigel in Kontakt und lernte zum anderen Peter Suhrkamp (sowie später dann Siegfried Unseld) kennen – und mit diesen auch das deutsche Theaterverlagssystem, in dem (anders als in Frankreich üblich) der Verlag gleichzeitig als Agent für seine Autoren tätig und an den Tantiemen beteiligt ist. Voisin kopierte dieses Prinzip und übernahm zudem viele erfolg- reiche deutschsprachige Autoren des Suhrkamp Verlages, die er in den folgenden Jahrzehnten in dem sich im Zuge der Décentralisation culturelle neu strukturie- renden französischen Theaterfeld positionierte.

2.2 Die Brecht-Rezeption in Frankreich

Nach ersten vergeblichen Versuchen in den 1930er Jahren die Stücke Bertolt Brechts dem französischen Publikum näherzubringen – so erlebte u.a. der be- kannte Theatermacher Gaston Baty mit seiner französischen Erstaufführung der Dreigroschenoper in den 1930er Jahren einen der größten Misserfolge seiner Karriere –. war Vilar tatsächlich einer der ersten französischen Regisseure, die nach dem Zweiten Weltkrieg Brecht inszenierten – allerdings interessierten ihn nur seine Stücke, Brechts Theorie des epischen Theaters lehnte er hingegen ab. Aus diesem Grund wurde er letztlich dann auch – obwohl er seine Mutter- Courage-Inszenierung im Verlauf der 1950er Jahre immer wieder spielte und 1960 gleich drei Brecht-Stücke in Paris und Avignon präsentierte20 – mehr und

20 | Es handelte sich um die Wiederaufnahme von Mutter Courage auf dem Festival d’Avignon, eine Inszenierung von Der gute Mensch von Sezuan im Théâtre Récamier in Paris und die französische Erstaufführung von Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui am TNP (in Zusammenarbeit mit Georges Wilson). 108 | NICOLE COLIN mehr an den Rand der französischen Brecht-Rezeption gedrängt. In deren Mit- telpunkt standen nach dem ersten Gastspiel des Berliner Ensembles 1954 nun Roland Barthes und Bernard Dort, die, sehr zum Ärger Vilars, in Théâtre Popu- laire geradezu dogmatisch über die ›richtige‹ und ›falsche‹ Brecht-Interpretati- on entschieden.21 Das allgemeine Interesse an Brecht führte aber auch zu Kon- flikten zwischen Vilar und Voisin, da Letzterer als Agent von Brecht bisweilen gegen Vilars Interessen handelte, wenn er anderen Regisseuren Brecht-Stücke vermittelte.

FAZIT

Der Versuch einer ›Entschlüsselung‹ des Falles Jean Vilar zeigt exemplarisch, welch bedeutsame Rolle die oft übersehenen nicht-intentionalen Mittler inner- halb der kulturellen Transfergeschichte einnehmen können; darüber hinaus erlaubt die Analyse aber auch methodische Einsichten in die Möglichkeiten so- wie Schwierigkeiten und Grenzen einer zukünftigen, von einem erweiterten Mittlerbegriff ausgehenden Erforschung transnationaler Kulturfelder und der Dekodierung der zumeist sehr komplexen Hintergründe nachhaltiger Transfer- leistungen. Deutlich wurde nämlich auch, dass die lebensgeschichtlichen Kon- takte von Vilar mit Deutschland in diesem Koordinatensystem eine nur sehr untergeordnete Rolle spielen und eine biografische Annäherung an seine Fall- geschichte daher schnell an ihre Grenzen stößt bzw. in Spekulationen mündet. Wie gezeigt, gehört Vilar zu einer sehr speziellen Sorte von Mittlern, deren Werke letztlich nur in einem breit angelegten und aktiven Netzwerk von beste- henden kulturellen Beziehungen ihre Wirkung entfalten können (vgl. Colin/ Umlauf 2013b). Es überrascht nicht, dass die nachhaltigen Einflüsse, die solche Mittler oft unbewusst oder sogar wider Willen auf die transkulturellen Kulturfel- der nehmen, zumeist übersehen werden. Dies stellt aber die Mittlerforschung insofern vor weitreichende methodische Probleme, als sich Netzwerkanalysen (analog zur biografischen Mittlerforschung) üblicherweise auf eine spezifische Gruppe von Intellektuellen oder Experten richten, deren wichtigste Eigenschaft im Rahmen von Untersuchungen, die den deutsch-französischen Kulturtrans- fer betreffen, eben eine nachhaltige und in der Regel auch ›engagierte‹ Verbin- dung zum jeweiligen Nachbarland ist (vgl. Bock 2011: 202f.) Wie gezeigt, han- delt es sich bei dem Netzwerk, das half, die Transferleistungen von Jean Vilar auf Dauer zu stellen, indes um eine mehrschichtige Verflechtung von Akteuren unterschiedlichster Provenienz, deren Ziele sich sehr heterogen gestalteten: Jeanne Laurent, Bertolt Brecht, Robert Voisin, Peter Suhrkamp, Roland Barthes und Bernard Dort, um nur die wichtigsten zu nennen, waren keine Deutsch-

21 | »Wiederaufnahme von Mutter Courage am 3. [Dezember 1954]. Jetzt protestiert niemand mehr gegen das Werk ›dieses Kommunisten‹. Dafür gehen mir die Brechtianer auf die Nerven. Diese sozialistischen Besserwisser sind leninistischer als Lenin.« (Vilar 1981: 175f.) IM TOTEN WINKEL DER VERSÖHNUNG | 109 land- bzw. Frankreich-Experten und bildeten, selbst wenn sie sich untereinan- der teilweise sogar kannten, auch keine Form von Réseau (Sirinelli 1988, zit. n. Bock 2011: 204). Die Analyse und Beurteilung von Transferleistungen solch nicht-inten- tionaler Mittler kann entsprechend nur auf der Grundlage des zum Teil sehr dicht gewobenen Beziehungsgeflechts der Sektoren (Literatur, Theater, Bilden- de Kunst, Wissenschaft etc.) erfolgen, was eine entsprechende Tiefenkenntnis des jeweiligen Bereichs erfordert – und zwar nicht allein transnational, sondern auch unabhängig für jedes Land. Wenngleich der hier angestellte Versuch, die sehr komplexen Hintergründe des vilarschen Mittlertums zu erhellen, eine ers- te, unvollständige Annäherung bleiben muss, ist in jedem Fall jedoch die nicht zu unterschätzende Bedeutung der von Vilar unbeabsichtigt initiierten Histoire croisée deutlich geworden, zu deren späten Früchten unter anderem die für 2014 geplante Inszenierung des Prinzen von Homburg von Georgio Barberio auf dem Festival in Avignon gezählt werden darf, dessen historische Dimension und Re- ferenz sich paradoxerweise dem deutschen zeitgenössischen Betrachter in der Regel nicht erschließt.

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Gerrit Fischer

Abstract This article first takes a look back to summarise the status of Franco-German cultural relations from the perspective of Franco-German mediators at the beginning of the twenty- first century. Secondly, the contribution situates these expert opinions in the context of the restructuring of German foreign cultural and educational policy (Konzeption 2000), which particularly in France called for a reconsideration of the strategic direction and positioning of German cultural institutions. Thirdly, leaders of German cultural institutions in France have their say as people who have significantly contributed to the cultural programming of German cultural institutions in the past decade. Experts point to new perspectives and fields of action, and there is an assessment of the results of cultural work that has already been performed. The focus of the remarks here are on intercultural dialogue with the partnering country.

Title: Cultural Programming by German Cultural Institutions in France: Life-long Learning and Intercultural Dialogue in Service to Partners

Keywords: foreign cultural policy; civil society; Goethe-institutes; cultural programs; intercultural dialogue

EINEN PLATZ FÜR DAS BILATERALE FINDEN

Unter dem Titel Auswege aus der Routine veröffentlichte die Zeitschrift für Kul- turaustausch vor nunmehr über einem Jahrzehnt im letzten Quartal des Jahres 2000 eine Reihe von alarmierenden Stellungnahmen namhafter Mittlerpersön- lichkeiten, welche sich damals in Schlüsselpositionen deutsch-französischer Institutionen für den Kulturtransfer engagierten. Deren Kritik charakterisierte auf treffende Weise die Situation deutsch-fran- zösischer Kulturbeziehungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts.1 Nach Ansicht

1 | Auf deutscher Seite zogen damals neben Joseph Jurt unter anderem Rudolf von Thadden, Koordinator für die deutsch-französische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt, Henrik Uterwedde, Leiter des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Joachim Umlauf, Leiter der Maison Heinrich Heine in Paris, und auf französischer Seite

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 112 | GERRIT FISCHER

Joseph Jurts, dem damaligen Vorsitzenden des Frankreichzentrums der Univer- sität Freiburg und Mitglied des Deutsch-Französischen Kulturrats, waren beide Staaten bereits bald nach der Wiedervereinigung in eine längere Phase der Ent- fremdung eingetreten. Jurt zitierte in diesem Zusammenhang zum einen den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, welcher auf diese Tendenz bereits in einem Artikel in der Zeit hingewiesen hatte,2 zum anderen den Kulturthe- oretiker Wolf Lepenies, der von einer »verblassenden deutsch-französischen Freundschaft« (Jurt 2000: 29) gesprochen hatte. Jurt kam schließlich in seinem Artikel zu dem Schluss, dass in den deutsch-französischen Beziehungen zu Beginn des neuen Jahrtausends »sowohl im Alltag wie im politischen Bereich eine Ernüchterung, eine Banalisierung eingetreten [sei]« und dass man nun – so auch der Titel seiner Ausführungen – »einen Neuanfang wagen« (ebd.: 28) müsse. Kennzeichnend für diese Phase zu Beginn des Jahres 2000 sei nach Jurt vor allem die Tatsache, dass das Interesse für die Kultur des Nachbarlandes in beiden Ländern stark abgenommen habe. Eine Möglichkeit eines Neuanfangs des deutsch-französischen Dialogs sah Jurt vor allem in der Öffnung des »exklu- siven Bilateralismus […] in Richtung Europa« (ebd.: 31):

In der Tat lässt sich die Entfremdung [zwischen Deutschland und Frankreich] nur mit einem Projekt überwinden, das über den reinen Bilateralismus hinausführt. Ein sol- ches Projekt kann zum Europa der Bürger werden […]. Ohne Verankerung im Bewusst- sein der Bürger wird aber das Projekt Europa nicht dauerhaft tragfähig werden. (Jurt 2000: 29)

Henrik Uterwedde warnte an gleicher Stelle ebenfalls vor einem »Verharren in nationalen Denkmustern.« (Uterwedde 2000: 67) In einer Zeit, wo die wirt- schaftliche und finanzielle Integration Europas eine rasche Entwicklung vollzo- gen hätte, sei es laut Uterwedde »ungleich mühsamer, Brücken zwischen un- terschiedlichen Kulturen und Traditionen zu bauen.« (ebd.) Die Idee Europas müsse allen voran von einem »Projekt der Eliten in eine europäische Bürger- gesellschaft wachsen«, welche sich durch die Kompetenz einer »europäischen Dialogfähigkeit« (ebd.) auszeichne. Diese kritischen Bewertungen der deutsch-französischen Beziehungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden auch von einer Reihe französischer Mitt- lerpersönlichkeiten geteilt. So stellte auch Anne-Marie Le Gloannec, damalige stellvertretende Leiterin des Centre Marc Bloch in Berlin, ein »affadissement des relations [›franco-allemandes‹]« fest (Le Gloannec 2000: 13). Sowohl für die politischen als auch für die kulturellen Beziehungen beider Länder gelte das Paradox: »l’Europe s’unifie – et paradoxalement les relations franco-allemandes

Frédéric Hartweg, Professor an der Universität Straßburg, Isabelle Bourgeois, Forsche- rin am CIRAC (Centre d’Information et de Recherche sur L’Allemagne Contemporaine) und Jean Paul Picaper, Deutschlandkorrespondent des Figaro, eine kritische Bilanz der deutsch-französischen Beziehungen. 2 | »So stellte Helmut Schmidt in einem Artikel […] schon im August 1999 fest, Paris und Bonn seien seit 1989 langsam auseinander gedriftet.« (Jurt 2000: 28). KULTURELLE PROGRAMMARBEIT DEUTSCHER KULTURINSTITUTE IN FRANKREICH | 113 perdent en même temps en substance.« (Le Gloannec 2000: 14) Für Gloannec waren vor allem auch das schwindende Interesse an dem Erlernen der Partner- sprache und an der anderen Kultur Ursachen dieser negativen Entwicklung: »L’intérêt pour la langue du voisin s’estompe […]. Mais il semble aussi que l’intérêt pour le voisin, présumé connu, s’émousse.« (Ebd.) Abschließend for- derte sie in ihrem Artikel, dass Deutschland und Frankreich in Zukunft vereint die Aufgaben einer europäischen Avantgarde übernehmen sollten, »une avant- garde à laquelle d’autres partenaires peuvent appartenir« (ebd.). Vor dem Hintergrund der kulturellen Kluft, welche sich zwischen Deutsch- land und Frankreich in Bezug auf den europäischen Einigungsprozess und die wachsende Globalisierung zu Beginn der Jahrtausendwende aufgetan hatte, brachte der heutige Leiter des Goethe-Instituts Paris, Joachim Umlauf, die Her- ausforderung für deutsche Kulturinstitute in Frankreich auf den Punkt, indem er die Frage aufwarf: »Wohin also mit dem Bilateralen?« (Umlauf 2000: 74) In seinem gleichnamigen Artikel forderte er eine Neuausrichtung deutscher und französischer Kulturinstitute durch »inhaltliche und strukturelle Öffnun- gen« (ebd.), welche zum Ziel haben müssten, die Idee eines ›Kerneuropas‹ konsequenter umzusetzen. In diesem Zusammenhang bewertete Umlauf die Tendenz positiv, dass sich in Bezug auf die inhaltliche Programmgestaltung der deutschen Kulturinstitute der »Kulturbegriff zwar mehr und mehr erwei- tert habe«, im Gegensatz dazu jedoch die »kulturelle Repräsentanz als solche […] stark in nationalen Mustern verhaftet geblieben« (ebd.) sei. Eine »Neube- sinnung«, wie sie Umlauf auch in der inhaltlichen Ausrichtung der Institute einforderte, hätte bisher – insbesondere aufgrund der Ereignisse infolge des Mauerfalls – noch nicht stattgefunden. Umlauf stellt in seinen Ausführungen die These auf, dass die Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zwar »weitestgehend positiv bewältigt« worden sei, forderte aber auch, dass der »außergewöhnliche Erfolg dieses Prozesses« endlich nutzbar gemacht werden sollte, »um andere Versöhnungs- und Integ- rationsprozesse anzuschieben und zu festigen.« (Ebd.) Denkbar wären seiner Meinung nach im Rahmen der kulturellen Programmarbeit Maßnahmen im Hinblick auf »Demokratie und Menschenrechte«, zum anderen aber vor allem »multilaterale Veranstaltungen und Projekte.« (Ebd.) Umlauf zeigte auch mög- liche Neuansätze deutsch-französischer Kulturarbeit im strukturellen Bereich auf. So müssten seiner Meinung nach »gemeinsame deutsch-französische Kul- turhäuser entstehen, die zudem nichts Exklusives hätten, sondern sich gerne weiteren europäischen Staaten öffnen sollten.« (Ebd.: 73) Als positives Beispiel führte Umlauf an dieser Stelle die Erweiterung des Centre Culturel Franco-Alle- mand in Nantes zu einem Centre Culturel Européen an. Auch die Struktur der seit 1997 bestehenden Föderation deutsch-französischer Häuser würdigte Umlauf als innovative Alternative zum Netzwerk der Goethe-Institute:

Sie [die zur Föderation gehörenden Häuser] erfüllen alle Aufgaben der Goethe-Institu- te, mit denen sie eine Zusammenarbeit auf vielen Gebieten verbindet. […] Die intensi- ve Einbettung in ihre lokale Struktur ist eine ihrer Stärken. Der deutsch-französische 114 | GERRIT FISCHER

Dialog ist damit in die Struktur der Institution getragen, die Häuser erscheinen nicht nur als bundesdeutsche Kulturrepräsentanz auf französischem Boden, sondern als von der französischen Zivilgesellschaft gewollte und unterstützte Institutionen. (Ebd.: 74)

DER HISTORISCHE KONTEXT: PARADIGMENWECHSEL IN DER DEUTSCHEN AUSWÄRTIGEN KULTURPOLITIK DURCH DIE DIE KONZEPTION 2000

Mit der Konzeption 2000 hatte kurz zuvor – am 1. Dezember 1999 – Bundes- außenminister Joschka Fischer dem zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages das umfassendste Konzeptpapier dieser Epoche vorgelegt. Es gilt bis heute unter Experten als letzte grundlegende Auseinandersetzung einer Bundesregierung zu diesem Politikbereich. Im dritten und zugleich letzten Ab- schnitt seiner Konzeption 2000 (»Strategie für eine unmittelbare Zukunft«) zeig- te der damalige Bundesaußenminister konkrete Handlungsempfehlungen für die Verantwortlichen im Auswärtigen Amt, die im Ausland vertretenen Mittler- organisationen und Kulturschaffenden auf, welche, so hieß es, »unmittelbar« umgesetzt werden sollten. Vorwegnehmend kann in Bezug auf die Konzeption 2000 festgehalten wer- den, dass Joschka Fischer mit diesem Konzeptpapier das Ziel verfolgte, Stand- orte und Strategien deutscher auswärtiger Kulturpolitik zehn Jahre nach dem Fall der Mauer im Ausland neu zu überprüfen und mit »weniger Geld, mehr Präsenz« (Fischer 2001) zu sichern. Das Grundsatzpapier erinnert in vielen Passagen an die theoretischen An- regungen aus der deutschen Zivilgesellschaft, insbesondere an die Anregun- gen von Hans-Magnus Enzensberger der späten 1990er Jahre. In Anlehnung an Enzensberger, welcher in der deutschen auswärtigen Kulturpolitik vor allem die Aufgabe eines »Frühwarnsystems« (Enzensberger 1995) für internationa- le Konflikte gesehen und dazu aufgerufen hatte, durch einen interkulturellen Dialog internationale Lerngemeinschaften zu bilden, sah auch Fischer die zu- künftige »zentrale Aufgabe [deutscher Auswärtiger Kulturpolitik] der kommen- den Jahre.« Oberstes Ziel sei es, in Zukunft »Foren des Dialogs und globale Netzwerke aufzubauen«, um in solchen Lerngemeinschaften »Konflikten durch besseres Wissen voneinander und mehr Verständnis füreinander vorzubeugen (Pkt. III.1).« (Ebd.) Einher mit diesem Primat ging eine Umorientierung deutscher auswär- tiger Kulturpolitik in Bezug auf die ausgewählten Schwerpunktregionen: So forderte das Auswärtige Amt eine Verstärkung deutschen kulturellen Engage- ments »in den Nachbarstaaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, in Schwel- lenländern und Wachstumsregionen außerhalb Europas, sowie in Staaten auf dem Weg zu Demokratisierung und Verwirklichung der Menschenrechte (Pkt. III.6). Explizit nennt die Konzeption 2000 einige Länder, die von diesem Abbau vorrangig betroffen sein würden, nämlich insbesondere »westliche In- KULTURELLE PROGRAMMARBEIT DEUTSCHER KULTURINSTITUTE IN FRANKREICH | 115 dustrieländer […]«, in denen »über Jahrzehnte ein dichtes Geflecht sowohl staatlicher als auch privater kultureller Beziehungen gewachsen ist.« (Ebd.) Auch wenn das Nachbarland Frankreich nicht genannt wird: Die Beschrei- bung der von den Kürzungen betroffenen Ländern trifft nur allzu gut auf Frankreich zu. An gleicher Stelle, dem vierten Punkt des Strategiepapiers, wird zugleich auch richtungsweisend aufgezeigt, wie zukünftig die Verminderung der Sub- ventionen für Struktur- und Projektkosten in diesen Ländern aufgefangen wer- den soll, nämlich »unter gleichzeitiger Verlagerung auf lokale, regionale und privatrechtliche Trägerstrukturen.« (Ebd.) Im Rahmen der Konzeption 2000 wurde vom Auswärtigen Amt auch die Struktur des Goethe-Instituts neu ausgerichtet, welches als Mittler von »struk- turellen Einschnitten besonders betroffen« war (ebd.: Pkt. IV.1) Übergeordnete Ziele der Umstrukturierungen waren die Notwendigkeit einer ›Effizienzsteige- rung‹ und die ›strukturelle Beweglichkeit‹. Die angekündigten Maßnahmen lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:

1. Schwerpunktsetzung der Institutspräsenz »auf bestimmte Bereiche und Standorte« 2. »Enge Kooperation auf vertraglicher Basis mit lokalen Trägern, z.B. bilatera- len Kulturgesellschaften« 3. »Verstärkte Verbindungsarbeit durch Ausbau von Multiplikatorennetzen« 4. »Verstärkte Nutzung moderner Medien und Technologien« (ebd.: Pkt. IV.1.)

Intern und auch öffentlich wurden diese Umstrukturierungsmaßnahmen zum Teil scharf von einzelnen Institutsleitern kritisiert. Stellvertretend seien an die- ser Stelle die Ausführungen des ehemaligen Leiters des Goethe-Instituts Paris, Dieter Strauss, zitiert, welcher vor allem die zunehmenden administrativen Zwänge (wie beispielsweise zusätzliche Konferenzen, Projektanträge oder Fra- gebögen) für die Leiter als unnötige Last empfand:

Aurait-on oublié les trois éléments dont on a vraiment besoin: du ›nez‹, c’est à dire un feeling pour le pays d’accueil, de la chance et surtout du zèle! Lorsque ces éléments sont rassemblés, il est possible, aujourd’hui comme hier, d’aller contre vents et ma- rées pour réaliser des projets passionnants. A moins que l’on ne soit occupé avec la comptabilité analytique imposée par la cour des comptes. (Strauss 2002: 165)

Strauss’ Einstellung zu den vom Bundesaußenminister Fischer angekündig- ten Reformprozessen und vom Goethe-Institut umgesetzten Maßnahmen spiegelte grosso modo die allgemein sehr kritische Haltung der Deutschland- und Frankreich-Experten zum Thema wider. Im Jahre 2006 gipfelte die Kritik an der Politik des Goethe-Instituts und der offiziellen deutsch-französischen Kulturarbeit in einem kurzen, aber alarmierenden Aufsatz von Alfred Grosser mit dem Titel Die deutsch-französische Kulturarbeit ist bedroht. In diesem Ar- tikel belegte Grosser das schwindende kulturelle Engagement Deutschlands 116 | GERRIT FISCHER und Frankreichs im Nachbarland durch die Schließungen oder Umstruktu- rierungen von Goethe-Ins tituten und Instituts français der vergangenen Jahre:

Mehrere Goethe-Institute wurden, wie in Marseille, einfach geschlossen oder, wie in Lille, Toulouse und Bordeaux, in ihren Arbeitsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt. Auch Nancy und Lyon sind inzwischen von Mittelkürzungen bedroht. (Grosser 2006: 36)

In Marseille hätten, so Grosser weiter, »weder die Stadt noch die Region den geringsten Versuch unternommen, das Goethe-Institut zu retten.« (Ebd.) Sei- ne Kritik ging also in zwei Richtungen: Zum einen war sie an das Auswärti- ge Amt adressiert, welches durch seine zunehmenden Mittelkürzungen und die neue strategische Ausrichtung seiner Kulturarbeit in Richtung Osteuropa langfristig die Arbeit deutscher Kulturinstitute bedrohte, zum anderen jedoch versteckte sich in dem Verweis auf die ›unterlassene Hilfeleistung‹ im Fall des Goethe-Instituts Marseille der Aufruf an die französische Zivilgesellschaft, die Zukunft deutscher Kulturarbeit in Frankreich mit den Partnern vor Ort selbst zu gestalten und stärker mit ihnen in Dialog zu treten. Grosser führte an glei- cher Stelle auch Beispiele aus Deutschland an, wo »deutsche Gemeinden in die Bresche gesprungen« (ebd.) seien, um französische Institute in Tübingen oder Aachen zu retten. Auch Joseph Jurt war für die Notwendigkeit eingetre- ten, Bürokratie durch »Phantasie« zu ersetzen. Immer sei es die »schlechtes- te Lösung, ein Kulturinstitut nach vielen Jahren kultureller Ausstrahlung zu schließen, da mit einer Entscheidung sämtliche kontinuierliche Aufbauarbeit […] zunichte gemacht« werde. Auch war er einer der ersten Experten, wel- che gerade in Zeiten knapper Kassen forderten: »In Zeiten des Sparzwangs muss Kulturarbeit als Versöhnungs-, Aufklärungs- und Informationsarbeit im Nachbarland weitergehen. Die Phantasie ist gefragt. Die Sache ist es wert.« (Jurt 1999) In der Ära Steinmeier, deutscher Außenminister im Zeitraum von 2005– 2009, wurden in Bezug auf die auswärtige Kulturpolitik und die unter Fi- scher vorgelegte Konzeption 2000 keine grundlegenden Neuerungen einge- führt. Einige Ergänzungen sind dennoch in dem Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kulturpolitik 2005/2006 (Bericht der Bundesregierung 2005)3 zu finden, die an dieser Stelle der Vollständigkeit halber kurz angeführt wer- den sollen. Die Bundesregierung orientierte in diesem Strategiepapier ihre Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik (AKBP) nach vier Zielen, wobei auf- fällig ist, dass neben der »Förderung von kultur- und bildungspolitischen Inte- ressen«, der »Förderung des Integrationsprozesses« und der »Förderung der Konfliktprävention« erstmals der »Sympathiewerbung für Deutschland« ein besonders hoher Stellenwert eingeräumt wurde. Was die Arbeit des Goethe- Instituts als wichtiger Mittlerorganisation des Landes anging, verwies das Auswärtige Amt an dieser Stelle lediglich auf die zunehmende Bedeutung

3 | Alle folgenden Zitate in diesem Beitrag beziehen sich auf diese Quelle. KULTURELLE PROGRAMMARBEIT DEUTSCHER KULTURINSTITUTE IN FRANKREICH | 117 von Kooperationen des Goethe-Instituts mit anderen europäischen Instituten. Leider handelte es sich ausschließlich um Beispiele mit positiven Koopera- tionserfahrungen in anderen europäischen Ländern außerhalb des deutsch- französischen Kontextes.4 Ein letztes Konzept zur »Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik in Zei- ten der Globalisierung« (Bericht der Bundesregierung 2011) mit dem Untertitel Partner gewinnen, Werte vermitteln, Interessen vertreten wurde unter Verantwor- tung von Bundesaußenminister Guido Westerwelle im September 2011 vorge- legt. Neben den bereits unter den Vorgängern Fischer und Steinmeier ausgege- benen Zielen der Friedenssicherung und der Stärkung Europas sollen die Mittler laut Konzeptpapier künftig »Alte Freundschaften pflegen, neue Partnerschaften gründen« (Bericht der Bundesregierung 2011). Frankreich, wie im Übrigen ganz Westeuropa und die USA, wird in diesem Strategiepapier explizit zu diesen »al- ten Freunden« gezählt. Wie man die Stärkung Europas erzielen will, darüber gibt gleichnamiger Abschnitt des Konzeptes ebenfalls Auskunft, nämlich durch das »Beheben von Ungleichgewichten« und die »Beseitigung von Schieflagen.« (Bericht der Bundesregierung 2011) Eine derartige Schieflage liege beispielswei- se zwischen den Ländern Frankreich und Italien (mit je sieben Goethe-Institu- ten) auf der einen sowie Polen (zwei Institute) und der Tschechischen Republik (nur ein Institut) auf der anderen Seite vor. In Osteuropa bestünde demnach »Nachholbedarf«, dem entsprochen werden müsse, ohne jedoch »Bewährtes in Frage zu stellen.« Weitere Hinweise zur künftigen Gestaltung der AKBP gibt der Abschnitt Allgemeine Grundsätze der AKBP, in welchem man sich nicht nur einem ›weiten Kulturbegriff‹ verpflichtet, sondern auch den Ansatz einer ›regierungsfernen‹ Auslandskulturarbeit vertritt, welche ihre staatliche Förderung im Ausland auf jene Regionen beschränkt, ›wo Bedarf‹ besteht. Eine Neugestaltung zukünftiger Kulturarbeit im Ausland solle dabei folgende Gestalt annehmen:

Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist keine bürokratisierende Kulturförderung im Ausland. Sie soll dort erfolgen, wo der kulturelle Austausch aus eigener Kraft auf schwierige Bedingungen stößt. Wo immer der Umfang des kulturellen und zivilgesell- schaftlichen Austauschs es zulässt, kann die staatliche Förderung zurücktreten. Ge- nerell streben wir eine starke Beteiligung des privaten Sektors (public-private-partner- ship, Sponsoring) an. (Bericht der Bundesregierung 2011)

Als neue Partner und Schwerpunktregionen werden in den Ausführungen des Auswärtigen Amtes Indien, Vietnam, Lateinamerika, Argentinien, die Türkei und Russland genannt. Für Frankreich und die weiteren Partnerländer in West- europa scheint es keine klar umrissene Strategie zu geben.

4 | In Stockholm öffnete im April 2005 das gemeinsam vom Instituto Cervantes und Goethe-Institut betriebene Kulturinstitut. Im Juni 2005 konnten das einjährige Beste- hen der Zusammenlegung von Alliance Française und Goethe-Institut in Glasgow sowie die Einweihung des gemeinsam mit dem British Council genutzten Gebäudes in Kiew gefeiert werden. 118 | GERRIT FISCHER

POSITIONEN UND SICHTWEISEN DER KULTURMITTLER

Ein gutes Jahrzehnt nach der oben aufgezeigten kritischen Bilanz einzelner Frankreich-Experten und den durch das Auswärtige Amt eingeforderten Um- strukturierungsmaßnahmen ist es daher an dieser Stelle von besonderem Interesse, Bilanz zu ziehen, wie sich der Paradigmenwechsel auf die tägliche Kulturarbeit der deutschen Mittler in Frankreich ausgewirkt hat. Den theoreti- schen Rahmen dieser Untersuchungen bildet der methodische Ansatz des Kul- turtransfers welcher von Michel Espagne und Michael Werner begründet wur- de. So fordert Espagne in seinem Aufsatz Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer den Mittler mehr in den Mittelpunkt der Untersuchungen zu interkulturellen Vermittlungsprozessen zu stellen. Hierzu formuliert auch Werner: »[D]ie Ver- mittler bringen in den Transferprozess immer auch etwas anderes ein, als von ihnen vorrangig zu erwarten war, und auf diesen semantischen Zusatz kommt es an.« (Werner 2007: 381) Auch Michael Werner hebt in einer Untersuchung zur Bedeutung institutio- nellen und personenbezogenen Handelns das wissenschaftliche Interesse einer ›akteurzentrierten‹ Betrachtungsweise hervor:

Zeitzeugenschaft vermittelt Primärerfahrungen, die später aus Quellen nur schwer oder gar nicht mehr zu erschließen sind. Von daher rührt auch die für den Gegenstand be- sondere Bedeutung von Interviews, von mündlicher Befragung der überlebenden Ak- teure. (Ebd.)

Mit dieser Zielsetzung wurden im Zeitraum von 2010 bis 2011 leitende Kul- turmittler der Goethe-Institute und Verantwortliche der deutsch-französischen Häuser anhand eines Leitfadeninterviews5 von mir interviewt. Teil 1 des Leitfa- deninterviews beinhaltete grundlegende Fragen zur Rolle deutscher Kulturins- titute im Rahmen der deutschen Auswärtigen Kulturpolitik, allgemeine Fragen zur Kulturvermittlung und spezielle Fragen zur Positionierung deutscher Kul- turinstitute in Frankreich. Ein zweiter Fragenkomplex verfolgte das Ziel, die Alleinstellungsmerkmale deutscher Kulturinstitute in Frankreich aus Sicht der Mittler herauszuarbeiten und zukünftige Schwerpunkte kultureller Programm- arbeit aufzuzeigen.6 Die Zukunft der deutschen Häuser und Goethe-Institute hängt laut Exper- ten in entscheidendem Maße davon ab, wie sich die Institute durch ihre Kul- turveranstaltungen in Bezug auf ihr Umfeld positionieren. Um diese Thematik aufzugreifen, wurde im Leitfadeninterview den Mittlern bewusst die sehr pro- vokative Frage gestellt, warum ihr jeweiliges Institut noch heute in der kulturel- len Landschaft ihrer Region präsent sei.

5 | Vgl. Die Liste der Interviews am Ende dieses Beitrages. 6 | Die nun folgende Zusammenfassung basiert auf dem Interview-Material meiner Studie zu Programm und Programmatik deutscher Kulturinstitute in Frankreich zwi- schen 1945 und 2012; vgl. Fischer 2013. KULTURELLE PROGRAMMARBEIT DEUTSCHER KULTURINSTITUTE IN FRANKREICH | 119

Für Joachim Umlauf, Leiter des Goethe-Instituts Paris, ist die Frage nach den Erfolgsfaktoren und somit den Alleinstellungsmerkmalen deutscher Kul- turinstitute in Frankreich zunächst mit der Grundsatzfrage verbunden, ob man seitens der Mittler auch in Zukunft unter der Prämisse der auferlegten Ein- sparungsmaßnahmen das Ziel verfolgen solle, ein »Allspartenhaus« (Interview Umlauf 2010) mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Veranstaltungsformen zu betreiben, oder ob man sich nicht mehr auf einzelne Veranstaltungsformen konzentrieren solle:

Warum ist das so wichtig? Das ist deshalb so wichtig, weil Sie natürlich sagen können: alles zu machen, ist das Alleinstellungsmerkmal eines Kulturinstituts. Andere Kultu- reinrichtungen wie Kinos, Opernhäuser, Museen […] machen z.B. auch Vorträge […], aber sie konzentrieren sich eigentlich auf eine Form der Darbietung. (Interview Umlauf 2010)

Das zunächst vorrangige Alleinstellungsmerkmal eines deutschen Kulturin- stituts, nämlich seinem Zielpublikum eine breite Palette unterschiedlichs- ter Veranstaltungsformen anzubieten, ist dabei für Umlauf »Schwäche und Stärke« (ebd.) der deutschen Institute zugleich. Dabei denkt er vor allem an das Image und die Wahrnehmbarkeit der Institute durch sein Zielpublikum. Er stützt seine These, indem er ein konkretes Beispiel aus dem Bereich der Musikveranstaltungen (Konzerte) gibt. Seiner Meinung nach würde es dem Goethe-Institut in diesem Veranstaltungssegment kaum gelingen, »ein wirk- lich treues Fachpublikum aufzubauen«, weil das Goethe-Institut eben nicht der Ort sei, »wo so etwas in einer genügenden, regelmäßigen Art gespielt wer- den kann.« (Interview Umlauf 2010) Erst bei einer Frequenz von etwa zwei oder drei Konzerten pro Woche, so Umlauf, würde man als »Player« (ebd.) in diesem Segment überhaupt wahrgenommen werden. Auch Till Meyer, Präsi- dent der Föderation deutsch-französischer Häuser, scheint diese Meinung zu teilen:

Wir können in vielen Bereichen als Kulturinstitut, weil es Kooperationen auf sehr ho- hem Niveau gibt, auch gar nicht mehr [qualitativ] mithalten, das ist im Theaterbereich so, das ist im Bereich der Museen so, das ist bei den Tanzfestivals so (Interview Meyer 2011).

So stellt sich für Meyer daher prinzipiell die Frage, ob man auch in Zukunft an diesem Alleinstellungsmerkmal festhalten solle und »durch die Bank alles präsentieren wolle« oder aber, ob man sich auf einzelne Veranstaltungsformen konzentrieren und spezialisieren solle. In diesem Sinne schlägt er vor, einen »Bauchladen« von verschiedenen Veranstaltungsformen zu haben, »in dem man verschiedene Sachen präsentiert.« (Interview Meyer 2011) Neben diesem ersten grundlegenden Kriterium ist für Umlauf, wie auch für die überwiegende Mehrheit der Mittler, das wichtigste Alleinstellungsmerkmal 120 | GERRIT FISCHER deutscher Kulturveranstaltungen in Frankreich der ›Wortbereich‹.7 Für Kurt Brenner, ehemaliger Leiter des Heidelberg-Hauses in Montpellier, ist dieses Veranstaltungssegment, was die Förderung der Spracharbeit durch Kulturver- anstaltungen betrifft, der wichtigste Erfolgsfaktor für das weitere Fortbestehen deutscher Kulturinstitute im Nachbarland. Er betont, dass er sich in Bezug auf diese Schwerpunktbildung sogar wiederholt mit den Verantwortlichen des Aus- wärtigen Amtes kritisch auseinandergesetzt hat:

Wichtiger Teil unserer Arbeit – und ich habe ja immer darauf gedrängt – ist die Sprach- arbeit, die zum Institut dazu gehört. Ich hab einmal eine ganze Nacht lang mit dem da- maligen Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes ein Streitgespräch geführt. Er hat gesagt, das macht doch nichts aus, um Geld zu sparen, geben wir die Sprach- kurse ab in die Privatschulen und ich war ganz dagegen, […] dass es ein Kulturinstitut gibt, ohne Spracharbeit. Dann sind wir eher ein Gesellschaftszentrum. Spracharbeit ist die Basis. (Interview Brenner 2010)

Dass Spracharbeit auch gewinnbringend mit dem Bereich der kulturellen Pro- grammarbeit verknüpft werden kann, so Brenner, unterstreiche allein der Erfolg des im Jahre 2000, anlässlich des europäischen Jahrs der Sprachen von der Fö- deration deutsch-französischer Häuser ins Leben gerufene Projekt DeutschMo- bil: 2003 wurde es durch den Adenauer-de Gaulle-Preis und den Initiativpreis Deutsche Sprache ausgezeichnet. Auch Jean-Paul Barbe, Gründer des Deutsch- Französischen und Europäischen Kulturzentrums in Nantes, ist davon über- zeugt, dass sein Zentrum noch heute in der Loire-Atlantique präsent ist, weil es bis in die heutige Gegenwart in Kooperation mit Lehrern der ganzen Akademie Nantes »dazu [beiträgt], dass Deutsch als Unterrichtsfach nicht ganz von der Bildfläche verschwindet.« (Interview Barbe 2010) Jérôme Vaillant, Professor für Deutschlandstudien an der Universität Lille 3, würdigt in diesem Sinne den Ein- satz des Goethe-Instituts Lille für die Ausbildung der Deutschlehrer in Frank- reich »nicht nur in Lille, sondern auch bis nach Caen und Rouen.« (Interview Vaillant 2011) In Bezug auf dieses Alleinstellungsmerkmal der Förderung der deutschen Sprache kristallisiert sich heraus, dass die einzelnen Institute neben gemeinsamen Projekten wie dem bereits erwähnten Projekt DeutschMobil auch unterschiedliche Strategien entwickeln. So wollen Brenner in Montpellier und Rothacker in Aix-en-Provence8 im Wortbereich in dieser Beziehung in Zukunft noch stärker »Kinder- und Jugendliche« (Interview Rothacker 2010) einbinden. Jan Rhein, Leiter des Centre Culturel Franco-Allemand in Nantes, zielt in der Stadt an der Loire mit diesem Veranstaltungssegment ebenfalls darauf auch ab, mit innovativen Projekten, wie z.B. Poetry-Slams, das traditionelle deutsch- landbezogene Nanteser Publikum zu begeistern. Joachim Umlauf schließlich

7 | »Von dem, was wir machen, wo haben wir denn da Alleinstellung? Die Antwort fällt ja nun relativ einfach aus: Alleinstellung haben wir im Wortbereich.« (Interview Umlauf 2010) 8 | »Die Kinder von heute sind ja unsere Teilnehmer von morgen« (Interview Rotha cker 2010). KULTURELLE PROGRAMMARBEIT DEUTSCHER KULTURINSTITUTE IN FRANKREICH | 121 setzt in der französischen Hauptstadt auf Vorträge, Kolloquien und Tables rondes zu aktuellen deutschen Themen, vor allem aber auf »regelmäßige Reihen mit Schriftstellerlesungen in der hauseigenen Bibliothek.« (Interview Umlauf 2010) Das wichtigste Alleinstellungsmerkmal für die deutschen Kulturinstitute scheint heute jedoch der Grad der lokalen Integration der einzelnen Institute zu sein. Stellvertretend für alle Experten stellt Umlauf fest, dass der Kern der Kul- turarbeit »immer das Feedback der Bedürfnisse der lokalen Institutionen vor Ort« (Interview Umlauf 2010) zu berücksichtigen habe. Dies würde jedoch cum grano salis eine Umkehr der Arbeitsrichtung des Goethe-Instituts bedeuten: Während man in der Zentrale des Goethe-Instituts München bemüht ist, stra- tegische Leitlinien für eine abstrakte, globale Strategie deutscher auswärtiger Kulturpolitik zu entwerfen, welche anschließend durch die untergeordneten In- stitute auf spezielle, konkrete Kulturprojekte zugeschnitten werden sollen (›top down-Prozess‹), geht der ›bottom up‹-Prozess in die genau umgekehrte Rich- tung: Er orientiert sich zunächst nach konkreten Bedürfnissen und Anregungen vor Ort und generiert erst in einem zweitem Schritt konzeptionelle Leitlinien. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich das Goethe-Institut in Bezug auf diese Arbeitsrichtung grundsätzlich von jener der deutsch-französischen Häu- ser unterscheidet, welche sich ja von Beginn an dem grundlegenden Prinzip der regionalen Integration und somit dem ›bottom up-Prinzip‹ verschrieben haben. Joachim Rothacker sieht in diesem Grundprinzip das entscheidende Kriterium für die ›Überlebensfähigkeit‹ der deutsch-französischen Häuser in Frankreich:

Wir sind ja praktisch zum Erfolg verdammt. […] Bei uns ist es ja eine Mischfinanzie- rung, nur ein Teil wird finanziert von Deutschland. Wir müssen also auch für die Rat- häuser und auch für die Départements und die Region vor Ort als attraktiv und wichtig für das kulturelle Leben wahrgenommen werden. (Interview Rothacker 2010)

Dieses neue Grundverständnis kommt einem Perspektivenwechsel gleich, der die Konzeption der kulturellen Programmarbeit entscheidend beeinflusst. Die deutsche Kulturarbeit wird zur ›Dienstleistung‹ vor Ort, ein Begriff, der bei- spielsweise auch explizit auf der Webseite der Maison de Rhénanie-Palatinat ver- wendet wird: »Votre centre culturel allemand en Bourgogne est à votre service pour vos projets avec l’Allemagne et la Rhénanie-Palatinat.«9 Diesem Grundsatz folgend, nennen die einzelnen Mittler in den durchge- führten Interviews auch eine Reihe von Projekten unterschiedlichster Couleur, welche diesem Verständnis der ›Kulturvermittlung als Dienstleistung‹ ver- pflichtet sind. Diese lassen sich vereinfachend in vier unterschiedliche Formen von Dienstleistungen unterteilen.

9 | Online unter: http://www.maison-rhenanie-palatinat.org [Stand: 15.11.2013]. 122 | GERRIT FISCHER

1. Unterstützung historisch gewachsener deutsch-französischer Netzwerke der Zivilgesellschaft

So sieht beispielsweise das Centre Culturel Franco-Allemand in Nantes in der Unterstützung der Städtepartnerschaft zwischen Nantes und Saarbrücken eine seiner Hauptaufgaben. Zu diesem Zweck entwickelte man in Kooperation mit Verantwortlichen beider Stadtverwaltungen im Sinne einer »intensiven Weiter- führung der Städtepartnerschaft« (Interview Barbe 2010) in den letzten Jahren u.a. kleinere Initiativen wie den gemeinsamen Fotomarathon, aber auch wissen- schaftliche Projekte wie die Deutsch-Französische Sommeruniversität (seit 2001 in Kooperation u.a. mit dem Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes), aber auch das Deutsch-Französische Praktikantenbüro, welches seit 2006 Stu- denten der Universitäten Nantes und Saarbrücken Praktika in der Partnerstadt vermittelt. Dieses Projekt wird unter anderem durch zwei ›junge Botschafter‹ geleitet, welche durch das Programm Arbeit beim Partner des Deutsch-Französi- schen Jugendwerks gefördert werden. Marc Chateigner, heutiger Präsident des Centre, stellt in Bezug auf die Ausrichtung des Nanteser Instituts fest, dass man auf diese Weise zu einem wichtigen Bestandteil des Netzwerkes der internati- onalen Beziehungen der Stadt Nantes geworden sei. Durch das Projekt Prakti- kantenbüro gewinne man zudem auch ein ganz neues Publikum:

On est un des acteurs de la politique de la ville. L’autre type de soutien, c’est le bureau des stages. Ce soutien nous permet d’accéder à un public de jeunes nantais auquel nous n’avions pas accès auparavant: des jeunes des quartiers sensibles, des jeunes un petit peu moins intégrés. (Interview Chateigner 2010)

Das Projekt eines Deutsch-Französischen Praktikantenbüros wurde von Till Meyer, dem Leiter des Rheinland-Pfalz-Hauses, entwickelt. Meyer vermittelt seit über einem Jahrzehnt – in Kooperation mit dem Mainzer Institut Maison de Bourgogne – Praktikanten zwischen der Region Burgund und dem Land Rhein- land-Pfalz.

2. Förderung der deutsch-französischen Regionalpartnerschaften

In der Förderung der deutsch-französischen Regionalpartnerschaften sehen die Ex- perten eine zweite Arbeitsachse10 ihres kulturellen Engagements. Sicherlich hat so auch das deutsche Kulturinstitut in Dijon maßgeblich dazu beitragen, dass 40 Jahre nach Unterzeichnung des Partnerschaftsvertrages, im Jahre 2002, die- se Art der Kooperation mit dem Adenauer-de Gaulle-Preis ausgezeichnet wurde. Schwerpunkte der Kulturarbeit in Dijon in Verbindung mit der Regionalpart- nerschaft sind dabei neben den Kulturveranstaltungen vor allem die Bereiche

10 | »Man kann viel bewegen in der regionalen Kooperation. Nun ist in meinem Fall das einzige Bedauerliche, meine Region, Languedoc-Roussillon hat die meisten Part- nerschaften mit Baden Württemberg, aber es gibt keine Regionalpartnerschaft.« (In- terview Brenner 2010) KULTURELLE PROGRAMMARBEIT DEUTSCHER KULTURINSTITUTE IN FRANKREICH | 123

Wirtschaft und Tourismus. Zu der Konzeption der Arbeit seines Hauses stellt Meyer fest:

Das Deutschlandbild, das wir propagieren, ist sehr stark subsidiär gefärbt. Wir machen keine Staatskultur, sondern setzen den Fokus auf Regional- und Kommunalkultur. Wir müssen etwas von unseren Herkunftsregionen und Kommunen erzählen. (Interview Meyer 2011)

Vaillant hat sogar die Vision, durch die Förderung von Regionalpartnerschaften ein durch Kulturveranstaltungen vernetztes Europa der Regionen im Sinne ei- nes »regionalen Weimarer Dreiecks« (Interview Vaillant 2011) aufzubauen. Dem Goethe-Institut Lille kämen in dieser Hinsicht zwei Aufgaben zu: Zum einen die Aufgabe »als Schaufenster von Deutschland in Lille und Region« zu fungie- ren, zum anderen aber zugleich ein Institut »mit Ausstrahlung nach Kattowitz und Düsseldorf« (Interview Ulrich 2011) zu sein.

3. Förderung institutioneller deutsch-französischer Netzwerke interregionaler Prägung

Am häufigsten wurde von den befragten Mittlern in Bezug auf diesen Dienst- leistungsgedanken die Unterstützung bestehender deutsch-französischer Uni- versitätspartnerschaften genannt. Nachhaltige Kulturarbeit knüpft, laut Exper- ten, an diese bereits bestehenden Kooperationen an und wirkt unterstützend auf diese ein. Brenner schlägt einen Bogen, indem er – auf die Entstehungsge- schichte und die Zukunft seines Hauses verweisend – das heutige Heidelberg- Haus gar als »universitäre Begegnungsstätte« und »deutsches Kulturinstitut partnerschaftlicher Prägung« bezeichnet:

Das Heidelberg-Haus war eine mutige Sache, am Anfang eigentlich der Zivilgesell- schaft. Da haben die Uniprofessoren gesagt: Wir wollen ein Begegnungshaus für die Studenten der Deutschen und Franzosen in Montpellier. Dann hat sich die Universität eingeschaltet und so kam eigentlich das Haus als universitäre Begegnungsstätte zu- stande. […] Das hat sich heute entwickelt zu einem deutschen Kulturinstitut partner- schaftlicher Prägung, in dem die städtischen Partner, Heidelberg-Montpellier und die universitären Partner präsent sind, indem sie auch tatsächlich das Haus unterstützen und nicht zu vergessen auch das Land Baden-Württemberg, das eingesprungen ist, weil die Uni eine Landeseinrichtung ist. (Interview Brenner 2010)

Auch andere Mittler, so vor allem Vaillant und Rhein, heben die herausragende strategische Bedeutung der Kooperation mit dem universitären Sektor explizit hervor. Als jüngstes Beispiel einer derartigen Mittlerfunktion im deutschen und französischen Hochschulbereich zitiert Meyer das erste vom Haus Rhein- land-Pfalz im Oktober 2011 mitorganisierte »Colloque franco-allemand sur le management de la culture à Dijon« (Interview Meyer 2011), welches vor dem Hintergrund der finanziellen Krisensituation die Zukunftsperspektiven von 124 | GERRIT FISCHER

Kulturinstituten zum Thema hatte. Meyer verweist in seinem Interview darauf, dass man »noch mehr den pragmatischen und praktischen Nutzen der Einrich- tungen in den Vordergrund stellen sollte« (ebd.), wenn man an einem langfris- tigen Erhalt der deutschen Einrichtungen in Frankreich interessiert sei. Auch für diesen Dienstleitungsgedanken gilt: ›rien n’est jamais acquis‹ – nichts währt für immer. Wie sensibel dieser Programmschwerpunkt in Bezug auf eine nachhaltige und kontinuierliche Weiterführung bereits bestehender institutioneller (und persönlicher) Kontakte reagiert, zeigt Umlauf auf, wel- cher bekennt, dass das Goethe-Institut Paris in der jüngsten Vergangenheit der 1990er Jahre durchaus Fehler begangen und die Zusammenarbeit mit den Uni- versitäten und ihrem Lehrpersonal u.a. im Bereich der Germanistik vernachläs- sigt habe.

Schon in den 90er Jahren hat das Goethe-Institut hier angefangen, die alten Vertre- ter des Franco-Allemand zu schmähen oder einfach nicht mehr in ihre Arbeit einzube- ziehen, also mit der Ansicht, die Versöhnungsgeneration habe ihre Arbeit erledigt, es gelte jetzt, neue Ufer, neue Leute zu gewinnen. Nicht immer mit denselben, Grosser, Ménudier und anderen zu arbeiten. Man hat diese Kreise bis zu einem gewissen Gra- de, einschließlich der Germanistik, vernachlässigt. Und das halte ich für einen Riesen- fehler. […] Wenn sie nicht die Sympathie und die Unterstützung derjenigen haben, die sich vor Ort professionell mit Deutschland beschäftigen, dann ist die Arbeit natürlich sehr schwer. Wenn Herr Grosser zehn Mal pro Jahr in die Maison Heine geht und kein einziges Mal ins Goethe-Institut, dann ist das natürlich von einer gewissen Symbolik. (Interview Umlauf 2010)

4. Förderung und Vermittlung von Kooperation zwischen französischen Institutionen

Nur durch einen engen und beständigen Kontakt mit diversen französischen Partnern vor Ort können Feinabstimmungen in Bezug auf die Ausrichtung ei- nes Kulturprogramms vorgenommen werden. Besteht nach einer Vielzahl von Jahren kulturellen Engagements ein Vertrauensverhältnis zwischen dem deut- schen Mittler und den regionalen Akteuren, kann man, so Dorothee Ulrich, Leiterin des Goethe-Instituts Lille, im interkulturellen Dialog mit dem Partner in ganz andere Dimensionen der Kulturvermittlung vordringen. Ulrich sieht deshalb heute das Goethe-Institut Lille als einen der »Akteure im kulturellen Netzwerk […] vor Ort.« (Interview Ulrich 2011) Dies bedeutet für sie, dass sich ihre Vermittlerrolle nicht nur auf die Vermittlung deutscher Kultur beschränkt, sondern ihrem Institut insbesondere die Aufgabe zukommt, diejenigen franzö- sischen Kulturschaffenden und Institutionen zu vernetzten, die vielleicht nicht dazu tendiert hätten, »miteinander in Dialog zu treten«. (Ebd.)

Weil wir [das Goethe-Institut] nicht in lokalen Sparten denken oder in Zuständigkeits- bereichen. Da uns diese Zuständigkeitsbereiche sogar manchmal fremd sind oder wir diese mit einer gewissen Unschuld oder Naivität betrachten. (Ebd.) KULTURELLE PROGRAMMARBEIT DEUTSCHER KULTURINSTITUTE IN FRANKREICH | 125

Ulrich sieht gerade in der Funktion des neutralen, außen stehenden Mitt- lers »eine wunderbare neue Chance und Aufgabe, […] Dinge in Bewegung zu bringen, die vielleicht ohne uns in der Form nicht so gelaufen wären.« (Ebd.) Auch Ulrich Sacker sieht sein Lyoner Institut in diesem Sinne in der Rolle des »Scouts« (Interview Sacker 2011) der jeweiligen Kulturszene vor Ort. Diese Funktion des Kulturvermittlers ›im Dienste des Partners‹ wäre eine völlig neu- artige Dimension deutscher auswärtiger Kulturpolitik. Das gegenseitige Geben und Nehmen wäre vor dem Hintergrund des interkulturellen Austausch neu definiert: Der Kulturaustausch würde so zu einer multikulturellen Lerngemein- schaft. So sagt Umlauf in Bezug auf das partnerschaftliche Arbeiten vor Ort:

Partnerbezogenes Arbeiten […] hat einen Sekundäreffekt: Man betreibt selber ja auch lebenslanges Lernen, wenn man mit anderen zusammen arbeitet und so auch ein Stück seiner eigenen Kultur preisgibt, nämlich die Art, wie man arbeitet, wie man mit- einander in Kontakt tritt und der andere hoffentlich auch. Also: interkulturellen Dialog betreiben. (Interview Umlauf 2010)

Auch Ulrich ist fest davon überzeugt, dass im interkulturellen Dialog mit Part- nern vor Ort »neue Ideen generiert« werden und dass Deutschland durch diese Dialogbereitschaft ein wichtiges Zeichen setzt, »dass es sich für die Kultur des anderen interessiere.« (Interview Ulrich 2011) Ulrich geht sogar noch weiter, indem sie unterstreicht, dass allein die »physische Präsenz eines Kulturinsti- tuts ein lebendiges Zeichen dafür sei, dass man diesen interkulturellen Dialog sucht.« (Ebd.) Vor diesem Hintergrund bekommen die Schließung des Maison de France in Berlin und die für den 1. September 2013 geplante ›administrative Zusammen- legung‹ der Französischen Kulturinstitute von Leipzig und Dresden eine neue Bedeutung. 50 Jahre nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrages wird an diesen Orten sicherlich ein falsches kulturpolitisches Signal gesetzt.

LITERATUR

1. Interviews (Name, Institution, Funktion zur Zeit des Interviews, Datum und Ort des Interviews)

Barbe, Jean-Paul: Centre Culturel Européen Nantes, Gründer (2. Oktober 2010 in Nan- tes). Brenner, Kurt: Maison de Heidelberg, Montpellier, Leiter (8. Oktober 2010 in Frankfurt a.M.). Chateigner, Marc: Centre Culturel Franco-Allemand, Nantes, Präsident (1. Oktober 2010 in Nantes). Kuntz, Eva-Sabine: Deutsch-Französisches Jugendwerk, Generalsekretärin (26. August 2010 in Paris). 126 | GERRIT FISCHER

Meyer, Till: Haus Rheinland-Pfalz, Dijon, Leiter, Präsident der Föderation deutsch-fran- zösischer Häuser (30. Oktober 2011 in Mainz). Neubert, Stefanie: Goethe-Institut Toulouse, Leiterin.(30. März 2011 in Paris) Rhein, Jan: Centre Culturel Franco-Allemand, Nantes, Leiter (1. Oktober 2010 in Nan- tes). Rothacker, Joachim: Centre Franco-Allemand de Provence, Aix-en-Provence, Leiter (17. September 2010 in Tübingen). Sacker, Ulrich: Goethe-Institut Lyon, Leiter (30. September 2011, Telefongespräch: Lyon-Saarbrücken). Schraut, Elisabeth: Goethe-Institut Nancy, Leiterin (24. August 2010 in Nancy). Ulrich, Dorothee: Goethe-Institut Lille, Leiterin (13. Juli 2011 in Lille). Umlauf, Joachim: Goethe-Institut Paris, Leiter (26. August 2010 in Paris) Vaillant, Jérôme, Professor für Deutschlandstudien an der Universität Lille 3 (13. Juli 2011 in Lille).

2. Forschung

Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kulturpolitik 2005/2006. Online unter: http://www.ifa.de/pdf/aa/akbp_bericht2005.pdf [Stand: 15.11.2013]. Enzensberger, Hans Magnus: Auswärts im Rückwärtsgang. In: Der Spiegel, Nr. 37 v. 11. September 1995, S. 215–216. Espagne, Michel (1997): Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer. In: Hans-Jürgen Lü- sebrink/Rolf Reichardt (Hg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich- Deutschland 1770 bis 1815. Leipzig, S 311–329. Fischer, Gerrit (2013): Von der ›Versöhnung‹ zur Internationalisierung: das Auseinan- derklaffen von Programm und Programmatik. Deutsche Kulturinstitute in Frankreich (1945–2012). Saarbrücken. Fischer, Joschka (2001): Sensibel in der Form, fest in der Sache. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 51, H. 2, S 24–26; online unter: http://www.ifa.de/pub/kultur- austausch/archiv/zfk–2001/mit-kultur-gegen-krisen/fischer0//type/98/ [Stand: 15.11.2013]. Grosser, Alfred (2006): Die deutsch-französische Kulturarbeit ist bedroht. In: Doku- mente: Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 62, H. 4, S. 36–37. Jurt, Joseph (1999): Von den Franzosen lernen. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 49, H. 4, S. 6; online unter: http://www.ifa.de/pub/kulturaustausch/archiv/zfk–1999/ die-zukunft-der-erinnerung/deutsch-franzoesische-kulturbeziehungen-buerokra- tie-statt-phantasie/jurt0/ [Stand: 15.11.2013]. Ders. (2000): Den Neuanfang wagen. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 50, H. 4, S. 29– 31. Le Gloannec, Anne-Marie (2000): Pour une nouvelle avant-garde. In: Zeitschrift für Kul- turaustausch 50, H. 4, S. 12–13. Schneider, Wolfgang (Hg.; 2008): Auswärtige Kulturpolitik: Dialog als Auftrag – Partner- schaft als Prinzip. Essen. Strauss, Dieter (2002): Je me consacre corps et âme aux réformes – et rien que cela, à Propos du processus de réforme à l’Institut Goethe. In: Allemagne d’aujourd’hui, Nr. 162, S. 165–166. KULTURELLE PROGRAMMARBEIT DEUTSCHER KULTURINSTITUTE IN FRANKREICH | 127

Umlauf, Joachim (2000): Wohin mit dem Bilateralen? In: Zeitschrift für Kulturaustausch 50, H. 4, S. 71–74. Uterwedde, Henrik (2000): Lasst Hundert Blumen blühen! In: Zeitschrift für Kulturaus- tausch 50, H. 4, S. 67f. Werner, Michael (2007): Im Zwischenfeld von Politik und Wissenschaft, in: Ulrich Pfeil (Hg): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhun- dert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz. München, S. 381–389. Zeitschrift für Kulturaustausch (2000): Themenheft Auswege aus der Routine 50, H. 4.

Deutsch-französische Aussöhnung als Affront Die Unterzeichnung des Élysée-Vertrages aus niederländischer Perspektive

Katharina Garvert-Huijnen

Abstract Reactions to the Franco-German treaty of friendship were unusually negative in the . Although the Dutch greeted Franco-German reconciliation in principle, they rejected the form and timing of the treaty. This attitude among the Dutch becomes understandable if we locate it in the larger context of the European process of integration in the 1950s and 1960s, which is the aim of this contribution. The author shows that there is a close relationship between the Dutch repudiation of the Franco-German treaty of friendship, the Dutch resistance against the European Political Union (EPU) proposed by de Gaulle and Adenauer, and the rejection of a Common Europe as well as independent French nuclear armament. This article describes the background of Dutch policy in international and European affairs to make it clear why Joseph Luns, the long-serving foreign minister of the Netherlands, pursued an extraordinarily harsh line against Charles de Gaulle’s foreign policy that blocked the progress of the European integration process as much as possible throughout the 1960s.

Title: Franco-German Reconciliation as an Affront. The Signing of the Élysée Treaty from a Dutch Perspective

Keywords: Adenauer, Konrad (1876–1967); de Gaulle, Charles (1890–1970); European political union; Franco-German treaty of friendship; Luns, Joseph (1911–2002)

EINLEITUNG

Die Tinte unter dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag war noch nicht trocken, da regte sich in Den Haag erbitterter Widerstand gegen das als ausgrenzend empfundene binationale Abkommen. Das gesamte niederländi- sche Parlament reagierte mit Ablehnung und es kam zu impulsiven Reaktio- nen. So schlug der Ständige Vertreter der Niederlande bei den Europäischen Gemeinschaften, Dirk Spierenburg vor, ein »Exempel zu statuieren« und im selben Geist wie der deutsch-französische Freundschaftsvertrag zwischen dem Ver- einigten Königreich, der Benelux und wenn möglich Italien eine Übereinkunft zu schlie- ßen, die eine vertiefte Zusammenarbeit auf politischem, militärischem, kulturellem

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 130 | KATHARINA GARVERT-HUIJNEN und wirtschaftlichem Gebiet und eine gegenseitige Konsultation im Vorfeld wichtiger Entscheidungen im Rahmen der EEG vorsieht.1

Aus heutiger Perspektive löst die niederländische Reaktion in erster Linie Er- staunen aus. Man hat sich im Zusammenhang mit dem Prozess der deutsch- französischen Aussöhnung so daran gewöhnt, in positiven Zuschreibungsmus- tern zu denken, dass es nur noch schwer nachvollziehbar erscheint, dass es im Januar 1963 so etwas wie Opposition oder gar Ablehnung gegen die Unterzeich- nung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages gab. Bildet doch gerade der Élysée-Vertrag und der darauf folgende Prozess der deutsch-französischen Aussöhnung das Fundament für die mittlerweile beinahe 50 Jahre andauernde europäische Friedensperiode. Das hier vorliegende Themenheft der Zeitschrift für interkulturelle Germanis- tik hat sich zur Aufgabe gemacht gerade diese festgefahrenen Betrachtungswei- sen im Élysée-Jahr zu hinterfragen. Die niederländische Perspektive auf den Vertrag, die im Folgenden ausführlich beschrieben werden soll, eignet sich hier- zu in besonderem Maße. Sie öffnet den Blick für die Tatsache, dass ein derart exklusives Versöhnungsmodell wie das deutsch-französische auch als ausgren- zend und die deutsch-französische Zusammenarbeit als dominant erfahren werden konnte und bis heute erfahren werden kann. Die Erkenntnis, dass der Élysée-Vertrag zu seiner Zeit nicht unumstritten war, ist dabei nicht neu. Die historische Forschungsliteratur hat sich eingehend mit der Tatsache befasst, dass Adenauers Außenpolitik in den letzten Jahren seiner Kanzlerschaft in der Bundesrepublik stark umstritten war. Seine exklu- sive Ausrichtung auf Frankreich führte innerhalb der Regierung Adenauers zu großen Konflikten und trug nicht unwesentlich zum Verlust seiner Machtbasis in seiner eignen Partei, der CDU, bei. Viel weniger bekannt ist hingegen, dass sich in der niederländischen Haltung zum Élysée-Vertrag deutliche Parallelen zur Haltung der Adenauer-Kritiker in der Bundesrepublik feststellen lassen.2 Insgesamt ist über die niederländische Position im Zusammenhang mit dem Élysée-Vertrag bisher kaum geschrieben worden.3 Vor allem in der deutsch- und englischsprachigen Forschungsliteratur wird der Standpunkt der Niederlande im europäischen Integrationsprozess selten hinterfragt und wenn überhaupt nur mit einer recht knappen und häufig plakativen Analyse versehen. Häufig

1 | Nationaal Archief (Den Haag), 2.05.118, Buitenlandse Zaken, Blok 2, 1955–1964 inv.nr. 20686 (Übers. d. Verf.). – Bei dieser Quelle handelt es sich um eine Note Dirk Spierenburgs an die niederländische Regierung. In einem mehrseitigen Schreiben an den Staatssekretär im niederländischen Außenministerium Dr. H.R. van Houten schlägt Spierenburg der niederländischen Regierung vor, wie sie auf die französische Weigerung Großbritannien in die Europäische Gemeinschaft aufzunehmen, reagieren soll. 2 | Den damaligen niederländischen Außenminister Joseph Luns verleitete diese Par- allele zu der Aussage, dass Ludwig Erhard als wichtigster Adenauer-Kritiker auch »ein Niederländer hätte sein können« (Luns 1971: 310f.). 3 | Einen ersten Eindruck bietet Wielenga 2000: 101ff. DEUTSCH-FRANZÖSISCHE AUSSÖHNUNG ALS AFFRONT | 131 erscheinen die Niederlande auch nur im Zusammenhang mit ihren Benelux- Partnern. Als ob automatisch davon auszugehen wäre, dass die Interessen der kleineren Länder parallel zu fassen sind. Dabei war es vor allem die niederlän- dische Außen- und Europapolitik, die gemeinsam mit der französischen den westeuropäischen Kontinent in den 1960er Jahren in ihrem Bann hielt. Selbstverständlich hatte in den Niederlanden niemand prinzipiell etwas ge- gen eine Aussöhnung zwischen den beiden ehemaligen ›Erbfeinden‹. Es war vor allem die Form und der Zeitpunkt des Vertrages sowie die Angst vor einer französisch-deutschen Dominanz in Europa, die auf Ablehnung stießen. Nur wenige Tage vor der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags hatte der französische Staatspräsident Charles de Gaulle sein Veto gegen einen britischen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ausgesprochen und den Aufbau einer eigenen – von der NATO unabhängigen – französischen Nuklearstreit- macht, der sogenannten Force de frappe, erklärt. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, besteht ein enger Zusammenhang zwischen der niederländischen Zurückweisung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages, dem niederländischen Widerstand gegen die von de Gaulle und Adenauer vorgeschlagene Europäische Politische Union (EPU) und der Ablehnung einer gemeinsamen europäischen wie auch einer selbstständi- gen nuklearen französischen Streitmacht (vgl. Kersten 2011: 225). Vor allem der langjährige niederländische Außenminister Joseph Luns wurde zur Symbolfi- gur eines außergewöhnlich harten Konfrontationskurses der niederländischen Regierung gegen die Außenpolitik Charles de Gaulles, der im Laufe der 1960er Jahre zwischen den sechs Ländern der Europäischen Gemeinschaften zu einer Pattsituation führte und das Fortschreiten des europäischen Integrationspro- zesses weitestgehend blockierte. Zankäpfel waren die von de Gaulle anvisierte Führungsrolle in Europa und der damit einhergehende Streit um die Beteiligung der Briten am europäi- schen Integrationsprozess sowie der Streit um die Frage der institutionellen Einrichtung der Zusammenarbeit. Während de Gaulle ein ›Europa der Nati- onalstaaten‹, also eine intergouvernementale Zusammenarbeit bevorzugte, war die niederländische Regierung ein starker Verfechter der Übertragung von Souveränitätsrechten an europäische Institutionen, also einer supranationalen Zusammenarbeit. Die Niederlande hatten sich dem ›Europa der Sechs‹, das sich in den 1950er Jahren mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom manifes- tierte und zunächst aus Frankreich, Italien, der neu gegründeten Bundesrepu- blik Deutschland und den Beneluxstaaten bestand, nur mit einigem Widerwil- len angeschlossen. Ein wichtiger Grund hierfür war, dass die europäische Zu- sammenarbeit aus Sicht der niederländischen Regierung in erster Linie als ein Projekt gedacht war, dass der exportorientierten niederländischen Wirtschaft zu Gute kommen sollte. Aus diesem Grund lehnte nicht nur Außenminister Luns, sondern auch der sozialdemokratische Ministerpräsident (Partij van de Arbeid 132 | KATHARINA GARVERT-HUIJNEN

[PvdA]) und dessen Staatssekretär Ernst van der Beugel (PvdA) eine vertiefte wirtschaftliche europäische Zusammenarbeit ohne Großbritannien kategorisch ab. Alle drei ließen sich nur in der Hoffnung auf eine baldige Zusammenarbeit mit den Briten im Rahmen einer Europäischen Freihandelszone (FHZ) um- stimmen. Im niederländischen Ministerrat sagte Drees hierzu:

Die Perspektive auf ein Zustandekommen dieser Freihandelszone hat dem Sprecher über seinen Widerstand gegenüber dem EWG-Vertrag4 hinweggeholfen. Mit der Un- terzeichnung dieses Vertrages haben sich die Niederlande in eine protektionistische Kombination von relativ kleinem Umfang begeben. (Zit. n. Brouwer/Merriënboer 213: 63 [Übers. d. Verf.]).

Die Tatsache, dass der französische Staatspräsident Charles de Gaulle mit Unterstützung des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer die Verhand- lungen zur Europäischen Freihandelszone endgültig für beendet erklärte und stattdessen 1960 die Gründung einer Europäischen Politischen Union (EPU) im Rahmen der ›Sechs‹ vorschlug, kam im politischen Den Haag dann auch denkbar schlecht an. Bei der Gründung der EGKS und der EWG hatten – trotz aller vorhandenen Bedenken – in erster Linie wirtschaftliche Argumente den Ausschlag gegeben, sich zu beteiligen. Letztendlich war die Abhängigkeit der niederländischen Wirtschaft von den übrigen fünf Ländern und vor allem von Deutschland zu groß, um der neuen mächtigen kontinentaleuropäischen Gruppe fernzublei- ben, wie der Wirtschaftshistoriker Richard Griffiths zu Recht feststellt (vgl. Grif- fiths 1990: 263f.). Bei der EPU war dies jedoch nicht der Fall. Die niederländische Regierung hatte keinerlei Interesse an einer Ausweitung der politischen Zusammenarbeit im Rahmen der ›Sechs‹ und es gelang ihr erfolgreich, gemeinsam mit der belgi- schen Regierung die unerwünschte EPU ohne Großbritannien zu verhindern. Diesen Erfolg empfand man in Den Haag als wichtigen Sieg gegenüber den bei- den großen europäischen Mächten. Der niederländische Historiker Anjo Har- ryvan wertet das Verhindern der EPU im Rückblick gar als einen der wichtigs- ten niederländischen Beiträge zum europäischen Integrationsprozess in den 1960er Jahren (vgl. Harryvan 2009: 147). Dass Konrad Adenauer und Charles de Gaulle die Fortsetzung der gescheiterten EPU nun im Rahmen des Élysée- Vertrages durchsetzten, musste man daher in den Niederlanden als Niederlage, ja gar als Affront seitens der beiden europäischen Partner empfinden. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die – bereits angerissenen – Hinter- gründe der niederländischen Außen- und Europapolitik einer genaueren Ana-

4 | Beim EWG-Vertrag handelt es sich um den Vertrag zur Schaffung einer Europäi- schen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Er wurde am 25. März 1957 in Rom gemein- sam mit dem Vertrag zur Gründung einer Europäischen Atomgemeinschaft (EAG oder Euratom) unterzeichnet. Beide Verträge werden gemeinsam umgangssprachlich auch als Römische Verträge bezeichnet DEUTSCH-FRANZÖSISCHE AUSSÖHNUNG ALS AFFRONT | 133 lyse zu unterziehen. Dabei sollen auch an einigen Stellen die Parallelen zur Haltung der Adenauer-Kritiker in der Bundesrepublik aufgezeigt werden.

EVER CLOSER ATLANTIC UNION

Ganz im Gegensatz zu Frankreich, dessen Deutschlandpolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges darauf abzielte, das Land für möglichst lange Zeit klein zu halten, befürworteten die niederländischen Nachkriegsregierungen schon relativ rasch eine Reintegration der Deutschen auf der Basis von Gleichberech- tigung (vgl. Wielenga 2000: 51ff.). Das mag überraschen, da die Niederlande sich ja gerade erst von fünf Jahren deutscher Besatzung erholten, fand seine Ur- sache jedoch in erster Linie in der engen wirtschaftlichen Verflechtung mit dem deutschen Nachbarn5 und den Lehren, die man in Den Haag aus den fatalen Friedensschluss mit dem Deutschen Reich nach Ende des Ersten Weltkrieges gezogen hatte. »Angesichts der Tatsache, dass man an der Mentalität der Deutschen nichts ändern kann, muss man dieses Land akzeptieren, wie es ist«, befand der Aus- wärtigen Ausschuss des Parlaments 1950 pragmatisch.6 Nach wie vor vertraute man den Deutschen nicht, aber alleine aufgrund seiner geografischen Lage und der zentralen Bedeutung des Landes als Exportmarkt für die niederländische Wirtschaft war aus niederländischer Perspektive eine Beteiligung Deutschlands am europäischen Wiederaufbau und in den sich entwickelnden Bündnisstruk- turen des Westens unabdingbar. Dafür gab es trotz aller Zivilisationsbrüche, die die Deutschen während der Diktatur der Nationalsozialisten begangen hatten, für die niederländischen Parlamentarier des Auswärtigen Ausschusses nicht nur geopolitische oder wirtschaftliche, sondern auch kulturelle Gründe:

Die Erhaltung des Friedens und die Erhaltung der westlichen Kultur in Europa zwingen die westeuropäischen Länder mehr als je zur Vereinigung sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Diese Notwendigkeit ist, für sich betrachtet, bereits vor- handen. Sie wird durch die Bedrohung seitens des totalitären Rußlands einmal mehr gefordert. Und auch das muss hier gesagt werden: Deutschland muss zu Westeuropa gehören. Ohne Deutschland würde das Gebiet der Länder westlicher Kultur auf die- sem Kontinent sich auf ein derart untiefes Randgebiet mit einer derart geringen Zahl Menschen beschränken, dass bereits im Voraus gesagt werden müsste, dass es sich politisch und militärisch und wahrscheinlich auch wirtschaftlich nicht würde halten

5 | Vgl. hierzu v.a. Kleman 1990 u. 2009, Lak 2009 u. 2011, Lademacher 1988 u. Hirschfeld 1998. 6 | Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Best.-Nr. B 11, Abteilung III: 5–18, Bericht des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten der 2. Kammer der Staten- Generaal an das Außenministerium Haag über die deutsche Frage, Sitzung 1949/50 (Bericht Nr. 3, deutsche Übersetzung Regierungsdirektor Frowein vom 21. Juli 1950). 134 | KATHARINA GARVERT-HUIJNEN können. Für die Verteidigung von Westeuropa – einschließlich Deutschland – sind die Deutschen nötig, sowohl in militärischer als auch in industrieller Hinsicht . (Ebd.)

Die französische Deutschlandpolitik, die in den ersten Nachkriegsjahren darauf abzielte Deutschland, durch eine Abtrennung des Rheinlands und Herauslö- sung des Ruhrgebiets (vgl. Brunn 2004: 35) langfristig politisch und wirtschaft- lich zu entmachten, entsprach dieser Politik auf keiner Weise. Die bereits 1943 entwickelte Idee des französische Generals und Exilpolitikers Charles de Gaul- le, gemeinsam mit den Benelux-Ländern nach Kriegsende eine gegen Deutsch- land gerichtete, westeuropäische Gruppierung unter französischer Führung zu gründen (vgl. Coolsaet 2003: 351), wurde von der niederländischen Regierung dann auch äußerst skeptisch beurteilt. Zwar einigten sich die Beneluxländer und Frankreich im März 1945 tatsäch- lich auf ein Wirtschaftsabkommen, aber weder Belgien noch die Niederlande betrachteten dieses als Beginn einer intensiveren Zusammenarbeit. Im Gegen- teil, bereits kurz nach der Unterzeichnung begann man die Vereinbarungen des Vertrages wieder zu torpedieren. Sowohl in den Niederlanden als auch in Belgien war bereits zu diesem Zeitpunkt deutlich, dass die nationale Deutsch- landpolitik auf eine wirtschaftliche Erholung und Reintegration Deutschlands abzielte (vgl. ebd.). Darüber hinaus waren sich Belgier und Niederländer darin einig, dass Großbritannien und nicht Frankreich eine Führungsrolle in Europa zukommen sollte. Zunächst sah es jedoch nicht so aus, als ob man schnell wieder wirtschaft- liche Kontakte mit Deutschland würde aufnehmen können. Die Alliierten, die die Besatzungsmacht in Deutschland übernommen hatten, betrachteten das Land aus der politischen Perspektive und interessierten sich wenig für wirt- schaftliche Fragen. »Their goal was to keep the German population alive at a minimum, limited cost and recovery of the German economy was, in those first post-war years, not their main priority«, stellt Martijn Lak fest (Lak 2011: 12). Erst als sich seit 1948 der Konflikt mit der Sowjetunion verschärfte und die Politik der atlantischen Mächte auf die Gründung eines westdeutschen Staates abzielte, gerieten auch wirtschaftliche Interessen wieder stärker in den Fokus der westlichen Alliierten. »At this point […] renewed economic interdependency could be expected, as now economic interests became increasingly important and tentative steps were taken to renew economic ties between the Netherlands and Germany« (ebd.). Die Gründung der Bundesrepublik war Teil einer neuen amerikanischen Europapolitik, die sich vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes entwickel- te und vor allem im European Recovery Program (umgangssprachlich Marshall- plan) ihren Niederschlag fand. Da sie den für die niederländische Wirtschaft so zentralen wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands ermöglichte, deckte sie sich aus der Perspektive der niederländischen Regierung viel stärker mit den Interessen ihres Landes als die des benachbarten Frankreichs. Hinzu kam, dass sich bereits im Verlauf des Zweiten Weltkrieges eine starke Überzeugung entwickelt hatte, dass nur die USA mit ihren konventionellen und nuklearen DEUTSCH-FRANZÖSISCHE AUSSÖHNUNG ALS AFFRONT | 135

Streitkräften die territoriale Integrität der Niederlande dauerhaft garantieren konnten (vgl. u.a. Harryvan 2009: 151). Vor diesem Hintergrund entschlossen sich die Niederlande zur Akzeptanz der Marshallhilfe und wurden somit Mitglied der zur Verwaltung und Vertei- lung der amerikanischen Marshallhilfe gegründeten Organization for European Economic Co-operation (OEEC). Außerdem traten sie den militärischen Bünd- nispakten, zunächst dem Brüsseler Pakt, und später der NATO bei (vgl. Hel- lema 2010: 148). Der wirtschaftliche wie auch der sicherheitspolitische Aspekt erleichterte dabei aus niederländischer Sicht die Akzeptanz einer Hegemonial- stellung der USA in Europa auf der einen Seite und den Entschluss, sich end- gültig von der traditionell abseitigen Außenpolitik zu verabschieden, auf der anderen. Möglicherweise mag auch »die jahrhundertelange Gewöhnung an den von England gebotenen Schutz die Hinnahme der Hegemonie einer anderen Überseemacht, der Vereinigten Staaten« dazu beigetragen haben, wie Jérôme Heldering bereits 1976 konstatierte (Heldering 1976: 676). Der neue außenpolitische ›Atlantizismus‹ der Niederlande entwickelte sich in den kommenden Jahren zur Staatsräson und erhielt beinahe einen mysti- schen Status (z.B. bei van Staden 1974). Das außenpolitische Wunschbild, das sich hieraus entwickelte, war das einer immer engeren, atlantischen Bündnis- gemeinschaft, einer Art Ever Closer Atlantic Union, das sich weitestgehend als unrealistisch erwies. Mathieu Segers hat diese Politik kürzlich kritisch als »ma- gischen Realismus« bezeichnet.

Während die Niederlande sich in der Realität fest in die westdeutsche Wirtschaft in- tegrierten, fanden sie ihre Inspiration für das Außenpolitische weiterhin in einer hy- pothetischen Gemeinschaft »atlantischer Inseln«, die aus den USA, Kanada, Großbri- tannien und dem Rumpf Nordwesteuropas des Alten Kontinents bestand: das eigene Atlantis der Niederlande (Segers 2013: 69 [Übers. d. Verf.]).

EUROPAPOLITISCHE WEICHENSTELLUNG

Dass die Zielsetzung niederländischer und französischer Deutschlandpolitik in gänzlich unterschiedliche Richtungen ging, war mittlerweile deutlich gewor- den. Zu einer ersten größeren Konfrontation war es während der Verhandlun- gen um die Verteilung der amerikanischen Marshallhilfen 1947 gekommen. Die Forderungen des niederländischen Verhandlungsführers Hans Max Hirschfeld, die deutsche industrielle Produktionskapazität mit in die Schätzungen der ge- samteuropäischen Produktionskapazität aufzunehmen, empfanden die Franzo- sen als »regelrechten Angriff auf ihre Europapolitik« (Fennema/Rhijnsburger 2007: 168), da sie eine Reintegration der deutschen Industrie in die gesamteu- ropäische suggerierten. Zu einer Einigung kam man nicht. Dazu waren die Aus- gangspunkte zu unterschiedlich. Man einigte sich lediglich auf ein »agreement to disagree« (ebd.). 136 | KATHARINA GARVERT-HUIJNEN

Es waren jedoch nicht nur die Niederlande, die Schwierigkeiten mit den Ausgangspunkten der französischen Deutschlandpolitik hatten. Folgenschwer für die französische Deutschlandpolitik war, dass sie auch von Seiten der an- deren beiden westlichen Alliierten immer weniger Unterstützung fand, da sie ganz und gar nicht den neuen Zielsetzungen entsprach. Der Druck auf die fran- zösische Regierung, zumindest »einer Aufhebung der Begrenzung der west- deutschen Stahlproduktion zuzustimmen«, nahm immer stärker zu (ebd.). Die Franzosen schienen sich mit ihrer Deutschlandpolitik in eine Sackgasse manö- vriert zu haben (vgl. Defrance/Pfeil 2011: 71). Um nicht gänzlich »die Kontrolle über die politische und wirtschaftliche Entwicklung zu verlieren und die Grundlagen der französischen Außen- und Sicherheitspolitik zu garantieren« (ebd.: 72), war demnach ein echtes Umden- ken erforderlich. Um dem französischen Sicherheitsbedürfnis mithilfe der fortbestehenden Kontrolle des Ruhrgebiets weiterhin Rechnung zu tragen und gleichzeitig dem Druck nachgeben zu können, wirtschaftliche Restriktionen für die Bundesrepublik aufzuheben, schlug der französische Außenminister Ro- bert Schuman daher im Mai 1950 als Kompromiss vor, »die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohlen- und Stahlproduktion unter eine oberste Auf- sichtsbehörde zu stellen, welche die wechselseitige Kontrolle garantieren und auch anderen Staaten offenstehen sollte« (Defrance/Pfeil 2011: 70f.). Dieser Vorschlag, den Schuman gemeinsam mit Jean Monnet entwickelt hatte, stellte eine wichtige Zäsur dar, da er sich deutlich von den traditionellen sicherheitspolitischen Konzepten Frankreichs absetzte. Er wurde dann auch von vielen als eine »für Europa völlig neue Friedensstrategie« und als eine für die damalige Zeit wahrlich »kühne Tat« empfunden (ebd.). In jedem Fall war der Schumanplan ein erster wichtiger Schritt hin zur Aussöhnung zwischen den beiden ›Erbfeinden‹ Deutschland und Frankreich, da er auf der Basis von Frei- willigkeit und Gleichberechtigung geschlossen wurde. Bundeskanzler Adenau- er stimmte ihm dann auch erleichtert zu. Für Adenauer bedeutete Schumans Initiative »das Ende einer langen Durststrecke« im Hinblick auf eine Lösung der Ruhrkohlenproblematik und ein wichtiger Schritt, um »auf dem Weg der gleichberechtigten Integration ein wesentliches Stück voranzukommen« (Loth 2004: 44). Wie oben bereits angesprochen, betrachteten viele Mitglieder der niederlän- dischen Regierung den Schumanplan kritischer. Zwar schloss man sich in einer ersten offiziellen Reaktion der allgemeinen Begeisterung an, in den sprichwört- lichen Haager Wandelgängen war die Meinung jedoch deutlich geteilter. Wäh- rend Wirtschaftsminister Jan van den Brink und Landwirtschaftsminister den Plan unterstützten, waren Ministerpräsident Willem Drees und Finanzminister dagegen. Außenminister nahm eine Art Mittelposition ein.7

7 | Vgl. Brouwer/Merriënboer 2013: 40f.; Harryvan, van der Harst/van Voorst 2001; 268 und Segers 2013: 79f. DEUTSCH-FRANZÖSISCHE AUSSÖHNUNG ALS AFFRONT | 137

Der französische Plan kam für die niederländische Regierung und vor al- lem für Außenminister Dirk Stikker ungelegen. Sie hatten gehofft, dass sich eine wirtschaftliche Liberalisierung Europas im Rahmen der OEEC und unter Einbeziehung Großbritanniens umsetzen lassen würde. Der liberale niederlän- dische Außenminister hatte selbst die Initiative ergriffen und den Teilnehmern am Marshallplan eine sektorenweise wirtschaftliche Integration bestimmter In- dustriezweige auf der Basis der intergouvernementalen Zusammenarbeit im Rahmen der OEEC vorgeschlagen (vgl. u.a. Asbeek Brusse 1990). Unterschiedliche nationale Interessen und Ordnungsvorstellungen sowie tief verwurzelte protektionistische Mentalitäten trugen jedoch dazu bei, dass man im Rahmen der OEEC auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Zusammen- arbeit nicht über Absichtserklärungen hinauskam (vgl. Brunn 2004: 45). Vor allem die Briten hatte sich in der OEEC allen Bindungen verweigert, die über eine bloße Kooperation unabhängiger Partner hinausging. Das Land empfand sich nicht als »Küsteninsel von Europa«, sondern vielmehr als das Haupt eines Commonwealth, mit dem es durch Pflichten und Verwandtschaft ver- bunden sei, und in jeder Hinsicht, mit Ausnahme der Entfernung, seien die Engländer ihren Vettern auf der anderen Seite des Kontinents, den Australiern und Neuseelän- dern, näher als Europa (zit. n. Brunn 2004: 74), so hielt es zumindest eine Broschüre der Labourpartei 1950 fest. Die vorläufige Weigerung Großbritanniens, sich an einer institutionalisier- ten europäischen Zusammenarbeit zu beteiligen, brachte die niederländische Regierung in einen schwierigen Spagat. Auf der einen Seite hatte man in Den Haag ähnliche Bedenken gegen die von Schuman vorgeschlagene supranatio- nale EGKS wie die Briten und auch die Skandinavier, denen man sich geistes- verwandt fühlte: Man hatte Angst vor einer französisch-deutschen Dominanz, vor der Übertragung von Souveränitätsrechten und vor der Harmonisierung der Sozialpolitik (vgl. Segers 2013:84). Außerdem war die Ablehnung einer Betei- ligung an jedweder Art von Blockformung in der außenpolitischen Tradition der Niederlande tief verwurzelt. Eine supranationale europäische Gemeinschaft unter französisch-deutscher Führung, die neben den beiden Großmächten le- diglich Italien und die Beneluxländer umfasste und sowohl von Frankreich als auch von Deutschland bereits als Kern einer politischen Föderation gedacht war, löste daher ein großes Unbehagen im politischen Den Haag aus. Ein wichtiger Grund hierfür war die Befürchtung, dass diese Gemeinschaft »weltpolitisch als dritte Kraft ein Eigengewicht entwickeln könnte« (Schwabe 2007: 25, zit. n. De- france/Pfeil 2011: 73). Auf der anderen Seite sprachen sowohl außen- wie sicherheitspolitische Gründe dafür, sich an der EGKS zu beteiligen. Vor allem die oben bereits ange- sprochene enge wirtschaftliche Verflechtung, die sich seit dem 19. Jahrhundert zwischen den Niederlanden und Deutschland entwickelt hatte, spielte hier eine zentrale Rolle. Es lag im vitalen niederländischen Interesse die neu gegründete Bundesrepublik so schnell wie möglich in eine europäische wirtschaftliche und 138 | KATHARINA GARVERT-HUIJNEN politische Zusammenarbeit einzubinden. Darüber hinaus hätte eine Nicht-Betei- ligung für eine „vollständige Abhängigkeit von England« (Brouwer/Merriënboer 2013: 45 [Übers. d. Verf.]) gesorgt, wie die Abgeordnete Marga Klompé (PvDA) in der parlamentarischen Debatte zum Schumanplan feststellte. Da die Keimzelle des europäischen Integrationsprojektes nun doch aus ei- ner kontinentaleuropäischen Kerngruppe bestand, in die die Niederländer mit fünf europäischen Partnern eingebunden war, blieb der niederländischen Re- gierung nichts anderes übrig, als ihre Außen- und Europapolitik an die neuen Realitäten anzupassen. Drei europapolitische Zielsetzungen kristallisierten sich dabei besonders deutlich heraus. Zum einen war das die oben bereits beschriebene, sicherheitspolitische Aus- richtung auf die Vereinigten Staaten. Diese führte zu einer deutlichen Hierar- chie zwischen dem weiteren Ausbau der europäischen Integration und der Zu- sammenarbeit in der NATO: »European options threatening to damage NATO credibility and affectivity and possibly the Dutch-American understanding, were discarded for that very reason« (Harryvan 2009: 151). In der Praxis bedeutete dies, dass man eine wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen einer vertief- ten europäischen Integration befürwortete, eine politische Zusammenarbeit, die die Arbeit oder Kompetenzen der NATO tangieren könnte, jedoch katego- risch ablehnte. Zum zweiten entwickelten sich die Niederländer zum größten Befürworter einer Beteiligung Großbritanniens am europäischen Integrationsprojekt. Das sogenannte Préable anglais wurde zum absoluten Dogma niederländischer Eu- ropapolitik und nahm manchmal beinahe bizarre Züge an, da Großbritannien bis in die 1960er Jahre selbst gar kein Interesse hatte, sich am europäischen Integrationsprozess zu beteiligen. »But The Hague went on hoping that the division that had opened up between Britain and the Six would be temporary«, stellt Piers Ludlow dann auch zu Recht fest (Ludlow 2001: 223). Zum dritten europapolitischen Dogma wurde, seit der Amtsübernahme Jo- han Willem Beyens als Außenministers im Jahre 1952, die Befürwortung einer supranationalen Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaf- ten. Im Zuge der Gründung der EGKS waren als gemeinschaftliche Organe die Hohe Behörde (die spätere Europäische Kommission), die gemeinsame Versammlung (aus der das Europäische Parlament hervorging) und der Ge- richtshof eingesetzt worden. Diesen Organen hatten die Mitglieder der EGKS Hoheitsrechte übertragen, damit diese im Hinblick auf die Kohle- und Stahlpro- duktion gemeinsame Regelungen für alle Mitglieder treffen konnten. Bei den EGKS-Verhandlungen 1950/51 waren die Niederlande zunächst noch resolut gegen die Übertragung von nationalen Hoheitsrechten an eine supra- nationale Behörde gewesen. Vor allem Ministerpräsident Drees und Minister Lieftinck befürchteten, dass eine Hohe Behörde die nationale Wirtschaftspolitik in Gefahr bringen könnte. Erst als sich die Verhandlungsführer auf Drängen der Beneluxstaaten darauf einigten, den supranationalen Organen auch einen Ministerrat an die Seite zu stellen, stimmten die Niederländer dem Vertrag zu (vgl. u.a. Salzmann 1999: 239ff.). Nachdem man sich in der Realität des ›Europa DEUTSCH-FRANZÖSISCHE AUSSÖHNUNG ALS AFFRONT | 139 der Sechs‹ wiedergefunden hatte, entwickelten sich jedoch gerade eben jene Organe aus der Perspektive vieler niederländischer Politiker zum wichtigsten Garanten für eine Gleichwertigkeit der sechs EWG-Staaten, da sie eine Margi- nalisierung der kleineren Mitgliedsstaaten verhinderten. Alle drei Hauptzielsetzungen niederländischer Europapolitik, die sich im Laufe der 1950er Jahre entwickelt hatten, wurden gegen Ende des Jahrzehnts mit der erneuten Machtübernahme Charles des Gaulles in Frankreich bedroht: der supranationale Charakter der Europäischen Gemeinschaft, der im Zuge der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft weiter ausgebaut worden war, die Mitgliedschaft Großbritanniens sowie eine starke NATO unter amerikanischer Führung (vgl. Harryvan 2009: 151). Es mag daher nicht verwundern, dass Frankreich und die Niederlande sich im Laufe der 1960er Jahre zu Gegenspielern auf dem europäischen Parkett entwickelten. Dass Bundeskanzler Adenauer die gaullistische Außenpolitik mittrug, dass er de Gaulles Vision einer europäischen politischen Zusammenarbeit teilte und seine französisch-deutsche Vormachtstellung im ›Europa der Sechs‹ als Selbst- verständlichkeit betrachtete, machte auch die Bundesrepublik in den 1960er Jahren zum schwierigen Partner für die Niederlande. Umgekehrt galt selbstver- ständlich das Gleiche. So sagte Adenauer im Sommer 1964 zu de Gaulle, dass das Europa von heute geradezu lächerlich sei. »Nur weil es Herr Luns nicht gefällt, stehen alle Räder still« (zit. n. Wielenga 2000: 101). Es gelang dem nie- derländischen Außenminister tatsächlich im Laufe der 1960er Jahre den beiden großen Staatsmännern den Schweiß auf die Stirn zu treiben.

KONFRONTATION MIT DE GAULLE UND ADENAUER

Bereits kurz nachdem General Charles de Gaulle am 1. Juli 1958 im Zuge des Algerienkrieges und der damit verbundenen Verfassungskrise erneut die poli- tische Macht in Frankreich übernommen hatte, begann man sich in den Nie- derlanden Sorgen um den zukünftigen außenpolitischen Kurs der Franzosen zu machen. Gerade erst hatte man sich gemeinsam und auf der Ebene der Ebenbürtigkeit zur Unterzeichnung der Römischen Verträge dazu durchgerun- gen, eine enge und weitreichende institutionelle Partnerschaft einzugehen. Vor allem die Aussicht auf die Schaffung der Europäischen Freihandelszone unter Beteiligung Großbritanniens hatte den Ausschlag gegeben, sich der kontinen- taleuropäischen EWG anzuschließen. Nun drohte die gaullistische Wende der französischen Außenpolitik, das bisher Erreichte wieder in Frage zu stellen. Die ideologische Grundlage von de Gaulles außenpolitischem Konzept, sei- ne »certaine idée de la France« (de Gaulle 1954: 7; zit. n. Kramer 2003: 35) und die damit verbundene feste Überzeugung der Grandeur Frankreichs, sah für sein Land eine natürliche Führungsrolle auf dem Kontinent vor. Schon mit dem ideologischen Konzept konnte man in den Niederlanden nur sehr wenig anfan- gen. Außenminister Luns hält hierzu in seinen Memoiren fest: 140 | KATHARINA GARVERT-HUIJNEN

Für die meisten Franzosen ist ›la gloire‹ ein viel lebendigerer Begriff als für die meisten Niederländer. […] In den Niederlanden und Belgien spricht der Verlust an Einfluss und Macht deutlich weniger an als in Ländern wie Frankreich oder England, wo als Folge des Verlustes des Imperiums und des Einbüßens militärischer Macht auf dem Globus ein bestimmter Komplex entstanden ist (Luns 1971: 142; Übers. d. Verf.).

Aus der Überzeugung der eigenen Grandeur folgte für de Gaulle das Primat der Unabhängigkeit Frankreichs, das bei niederländischen Politikern den Angst- schweiß ausbrechen ließ, da es weitreichende Konsequenzen für die eigene Au- ßen- und Sicherheitspolitik hatte. Das Ziel de Gaulles, die dominante Stellung Amerikas in Europa, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit entwickelt hatte, unter anderem mit Hilfe einer Reform der Atlantischen Allianz und dem Aufbau der Force de frappe zu reduzieren, tangierte unmittelbar die sicherheits- politische Ausrichtung der Niederlande auf die USA. Die zweite unmittelbare Konsequenz, die sich für de Gaulle aus dem Primat der Unabhängigkeit Frankreichs ableitete, war die Ablehnung der supranatio- nalen Strukturen der europäischen Organisationen, auf die man sich bei der Gründung der EWG und Euratom geeinigt hatte und die die Handlungsfrei- heit der französischen Regierung einschränkten. Zwar akzeptierte de Gaulle die Römischen Verträge aufgrund ihrer Wichtigkeit für die französische Wirtschaft, er betonte jedoch stets, dass er der Europäischen Kommission, dem Parlament und dem Gerichtshof lediglich technischen Wert zumaß. Damit war das zweite Primat niederländischer Außenpolitik, nämlich das supranationale Prinzip der europäischen Zusammenarbeit, tangiert. Aus der Perspektive vieler niederländischer Politiker waren es gerade diese europäischen Organe, die eine Marginalisierung der kleineren Mitgliedsstaaten verhindern und die Basis für eine Gleichwertigkeit der sechs EWG-Staaten her- stellen sollten. Im niederländischen Parlament argumentierte Außenminister Luns, dass gerade das »in den Verträgen sorgfältig verhandelte« Prinzip der Su- pranationalität die beste Garantie gegen unerwünschte, gegen die Niederlande und die niederländischen Interessen gerichtete, Blockformung wäre.

Dort [in den europäischen Organen] kann folglich nicht die Situation entstehen, dass einer oder mehrere mächtige Staaten die Schwächeren in eine Position manövrieren können, in der diese entweder einschwenken müssen oder isoliert werden. Das ist die Gefahr einer intergouvernementalen Zusammenarbeit erklärte Luns dem niederländischen Parlament (zit. n. Brouwer/van Merriënbo- er 2013: 66; Übers. d. Verf.). Nicht nur in den Niederlanden, auch in der Bundesrepublik betrachtet man den Amtsantritt de Gaulles und den Übergang zur V. Republik mit ihrer auf den General zugeschnittenen Präsidialverfassung mit einiger Skepsis. Vor allem die oppositionelle SPD ließ ihre Ressentiments gegenüber de Gaulle deutlich er- kennen. Fritz Erler fühlte sich bei der Regierungsübernahme des ehemaligen Generals an den Kapp-Putsch erinnert, Erich Ollenhauer fürchtete, das franzö- DEUTSCH-FRANZÖSISCHE AUSSÖHNUNG ALS AFFRONT | 141 sische Beispiel könnte auch in der Bundesrepublik zum Erstarken autoritärer Tendenzen führen und Herbert Wehner zufolge schuf de Gaulle in Frankreich »eine innenpolitische Wüste« (Geiger 2008: 79). Aber auch in den regierenden Unionsparteien war man skeptisch. Außenminister Heinrich von Brentano be- fürchtete, »dass die neue französische Regierung unter Umständen die gesam- te europäische Politik zerstört«, und auch Konrad Adenauer beklagte sich, dass de Gaulle der Bundesrepublik »völlig ablehnend« gegenüberstände. »Sein ein- ziges Ziel sei die Hegemonialstellung Frankreichs in Europa« (zit. n. ebd.: 78). Tatsächlich galt de Gaulle den meisten Europäern vor allem als Nationalist, der den Deutschen und dem europäischen Integrationsprojekt skeptisch gegen- überstand. Seine gaullistische Partei hatte die Europäische Verteidigungsgemein- schaft mit zu Fall gebracht und auch gegen die Römischen Verträge gestimmt (vgl. ebd). De Gaulles ablehnende Haltung gegenüber einer supranationalen eu- ropäischen Integration stand dann auch ganz im Gegensatz zur Europapolitik der Bundesregierung, die ebenso wie die Europäische Kommission und ihr Präsident Walter Hallstein die Auffassung vertrat, dass die europäischen Institutionen so angelegt waren, dass sie eines Tages »Exekutive, Legislative und Judikative einer europäischen Föderation bilden könnten« (Haftendorn 2001: 72). Darüber hinaus gab es in der Bundesregierung, ähnlich wie in den Nie- derlanden, einen starken Flügel, der sich bereits in den Verhandlungen zur EWG nur mit Widerwillen dem ›Europa der Sechs‹ angeschlossen hatte. Vor allem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) bevorzugte das britische Mo- dell einer alle OEEC-Staaten umfassenden Europäischen Freihandelszone und erklärte sich nur mit der Perspektive auf die Realisierung der FHZ mit der »kleineuropäischen Inzucht« der EWG einverstanden (zit. n. Geiger 2008: 84). Frankreich stand der FHZ jedoch von Anfang an ablehnend gegenüber, da die Freihandelszone landwirtschaftliche Produkte ausschloss. Das machte sie für Frankreich mehr als unattraktiv, da das Land über eine starke exportorientierte Landwirtschaft verfügte. In der FHZ wäre französischen Agrarprodukten der britische Markt versperrt gewesen, während britische Industrieprodukte als zu- sätzliche Konkurrenz auf den französischen Markt gespült worden wären. Dennoch befand sich die Bundesrepublik in ihrem Verhältnis zu Frankreich in einer ganz anderen Position als die Niederlande. Weitsichtig stellte der Ge- schäftsträger der deutschen Botschaft in Paris, Josef Jansen, dann auch bereits 1958 in einem Brief an das Auswärtige Amt fest:

[D]ie Bundesrepublik habe keine Alternative zu einer um Frankreich bemühten Poli- tik, und de Gaulle sei nicht a priori antideutsch. Wir müssen versuchen, ihn klug und nachsichtig – was oft schwer sein wird – noch stärker an uns zu binden und ihn damit fest im westlichen Bündnis zu verankern (zit. n. Geiger 2008: 79).

Diese Politik wurde tatsächlich zum Kurs, den die Bundesrepublik in den nächsten Jahren verfolgte. Sie war jedoch alles andere als konfliktfrei, da sie der Bundesrepublik einen beinahe unmöglichen außenpolitischen Spagat zwi- schen der Politik der ehemaligen Besatzungsmächte abverlangte und innenpo- 142 | KATHARINA GARVERT-HUIJNEN litisch große Kontroversen auslöste. Zu jedem Zeitpunkt war man sich in der Bundesrepublik der Tatsache bewusst war, dass die Sicherheit der Bundesrepu- blik in erster Linie von den Vereinigten Staaten abhing. Adenauer hatte seine persönliche Meinung zu de Gaulle schon beim ersten Treffen im September 1958 in Colombey-les-deux-Églises geändert. Diese erste Kontaktaufnahme erwies sich als grundsätzlich und stellte den Beginn einer engen Konsultation zwischen den beiden Regierungschefs dar (vgl. Defrance/ Pfeil 2011: 99). Die Frage, warum Adenauer und de Gaulle, trotz anfänglichen Misstrauens und vieler Widerstände zu einer so tiefen und vertrauten Form der Zusammenarbeit gefunden haben, ist in der Forschungsliteratur immer wieder unterschiedlich beantwortet worden. Häufig wird auf lebensgeschichtliche Parallelen und persönliche Gemein- samkeiten hingewiesen. Neben diesen ›weichen Faktoren‹ werden in der Regel konsensuell jedoch machtpolitische Faktoren als ausschlaggebend betrachtet.8 Ein wichtiger Schlüsselmoment in der persönlichen Beziehung zwischen Ade- nauer und de Gaulle war sicherlich die im November 1958 beginnende Berlin- krise. Im Gegensatz zu den USA und Großbritannien profilierte sich der franzö- sische Staatspräsident in der Krise erfolgreich als Fürsprecher (westdeutscher) Interessen, indem er die Bonner Position in der Wiedervereinigungsfrage und den Status quo in Berlin unterstützte.9 Das »uneingeschränkte, beinahe kindliche deutsche Vertrauen in die USA« (Geiger 2008: 106f.) wurde hingegen durch den Bau der Berliner Mauer, den die USA nicht verhindert hatten, dauerhaft erschüttert. Auch der sicherheitspo- litische Kurswechsel des neuen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy (1961–1963), weg vom geltenden Prinzip der Abschreckung und hin zu einer Politik der ›flexible response‹, entsprach ganz und gar nicht den Vorstellungen Adenauers, sondern schürte bei ihm die Angst, dass die USA sich längerfris- tig endgültig aus ihrer Verantwortung für die Sicherheit Europas zurückziehen könnten. Trotz aller vorhandenen Differenzen ergaben sich im kurz- und mittelfris- tigen Bereich weitgehende Übereinstimmungen in Adenauers und de Gaulles Europakonzeptionen: »[B]eide waren entschlossen, die europäische Einigung auf der Basis enger deutsch-französischer Kooperation voranzutreiben […]« und beide »erstrebten größere europäische Eigenständigkeit gegenüber dem transatlantischen Verbündeten, um so mehr Einfluss auf die westliche Politik insgesamt zu erzielen.« (Vgl. ebd.: 88). Vor diesem Hintergrund lässt sich bes-

8 | Z.B. bei Defrance/Pfeil 2011: 101ff.; Geiger 2008: 65ff.; Haftendorn 2001: 76ff., Köhler 1994: 1183ff. 9 | Corinne Defrance und Ulrich Pfeil haben zu Recht darauf hingewiesen, dass de Gaulle diese Entscheidung dadurch erleichtert wurde, »dass die Vereinigung der bei- den deutschen Staaten während der Berlinkrise außerhalb jeder Vorstellung lag« und »die Sanktionierung der deutschen Zweistaatlichkeit den Interessen des französischen Staatspräsidenten viel eher entsprach«. Dennoch war das Ergebnis, dass sich die deutsch-französische Beziehung als Folge der Berlinkrise durch eine »besondere Soli- darität« auszeichnete (Defrance/Pfeil 2011: 101). DEUTSCH-FRANZÖSISCHE AUSSÖHNUNG ALS AFFRONT | 143 ser verstehen, warum Adenauer bereit war – zum Entsetzen auch vieler seiner Parteigenossen – de Gaulles Vorschlag zur Gründung einer intergouvernemen- talen politischen Union mitzutragen und sich auch nicht gegen das endgültige französische Veto gegen die Europäische Freihandelszone auszusprechen. Während eines weiteren Treffens der beiden in Rambouillet am 29. und 30. Juli 1960 erklärte Adenauer sich weitestgehend mit den Plänen de Gaulles ein- verstanden, »eine organisierte Zusammenarbeit der Staaten […] ausgehend von Frankreich und Deutschland« zu gründen, »an der zunächst Italien, die Nieder- lande, Belgien und Luxemburg teilnehmen sollten« (zit. n. Defrance/Pfeil 2011: 105). Wie schwierig es ist, diese Entscheidung Adenauers wirklich nachzuvollzie- hen, zeigt jedoch die breite Spanne möglicher Erklärungen, die die Forschungs- literatur bisher anbietet. Außenminister Brentano lehnte die – aus de Gaulles Plänen resultierende – Aushöhlung der Römischen Verträge und eine Brüskierung der amerikanischen Schutzmacht in jedem Fall entschieden ab (Geiger 2008: 91). Auch Wirtschaftsminister Erhard setzte alles daran, die Freihandelszone zu retten. Mächtige deutsche Wirtschaftsorganisationen wie der Deutsche Indus- trie- und Handelstag, der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) unterstützen Erhards Forderung nach Wiederaufnahme der Verhandlungen. Ein von der oppositionellen SPD einge- brachter Antrag, die Bundesregierung möge sich »mit aller Entschiedenheit« (ebd.: 86) für die Verwirklichung der FHZ einsetzten, fand die Unterstützung aller Bundestagsparteien inklusive der Unionsparteien. Schnell wurde deutlich, dass der außenpolitischen Kurs Adenauers auf eine starke Gegnerschaft auch innerhalb seiner Regierung und seiner Partei stieß, die seine ohnehin labiler werdende Machtposition in der Bundesrepublik weiter untergrub. Erwartungsgemäß reagierte man auch in den Niederlanden ablehnend auf die Einladung der französischen Regierung an die Ministerpräsidenten und Außenminister der ›Sechs‹, sich am 10. und 11. Februar 1961 auf einer Konferenz in Paris zum Thema »une début d’organisation politique entre le Six« auszutau- schen. Baron Samuel John van Tuyll van Seerooskerken, Generalsekretär im Außenministerium, legte dem Ministerrat unmittelbar seine Einschätzung der Lage vor:

In den von General de Gaulle entwickelten Plänen bezüglich der Reorganisation der politischen Zusammenarbeit der ›Sechs‹ spielen französische nationale Motive eine wichtige Rolle. Faktisch kann man sich nur schwer dem Eindruck entziehen, dass die politische Organisation der ›Sechs‹, die der französische Präsident vor Augen hat, nicht zuletzt dem Ziel dient, Frankreich die Möglichkeit zu bieten, als Leiter West-Euro- pas, neben den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und der Sowjetunion eine Position als Weltmacht zu erwerben.10

10 | Mitteilung von S.J. Baron van Tuyll van Serooskerken an den niederländischen Mi- nisterrat bezüglich der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaften und ihrer Außenminister am 10. Februar 1961 in Paris (Nationaal Ar- chief [Den Haag], 2.02.05.02 (Arch. MR), NA inv. Nr. 639; Übers. d. Verf.). 144 | KATHARINA GARVERT-HUIJNEN

Dieses gaullistische Konzept steht, so macht es Baron van Tuyll van Seeroosker- ken den Mitgliedern des Ministerrats weiterhin deutlich: im direkten Gegensatz […] zu den Grundsätzen der durch die niederländische Regie- rung seit vielen Jahren entwickelten Integrationspolitik […]. Resümierend muss festge- halten werden, dass weder den Belangen der Nordatlantischen Allianz, noch die der in- tegrierten Zusammenarbeit in Europa mit dem oben gezeigten französischen Konzept gedient wird. […] Dies führt in der Summe dazu, dass Frankreich auf der einen Seite des Farbspektrums steht und die Niederlande auf der anderen. Dazwischen sind die vier übrigen Partner der ›Sechs‹ in unterschiedlichen Nuancierungen sichtbar. (Ebd.; Übers. d. Verf.)

Auch Außenminister Luns reagierte unmittelbar nach dem Gespräch zwischen Adenauer und de Gaulle in Rambouillet ablehnend auf die politische Union. Noch am 5. August 1960 teilte er im Ministerrat mit, dass er erwarte, dass Ade- nauer und Macmillan sich beide ebenfalls gegen das Hegemonialstreben Frank- reichs aussprechen würden (NA 2.02.05.02 [Arch. MR], inv.nr. 619). Im Falle Adenauers wurden die Hoffnung Luns jedoch enttäuscht. Adenauer blieb an der Seite de Gaulles und trieb gemeinsam mit ihm das Projekt einer politischen Union voran. Die niederländische Antwort hierauf war eine harte Konfrontationspolitik, die vor allem von Außenminister Luns getragen wurde. Auf dem Pariser Gipfel im Februar 1961 gelang es ihm zunächst eine Entscheidung zu vertagen und stattdessen einen Untersuchungsausschuss einsetzen zu lassen. Da alle ande- ren Partner die EPU jedoch zunächst unterstützten, befanden sich die Nieder- lande in einer isolierten Position. Auf dem folgenden Gipfel in Bonn musste die niederländische Verhandlungsdelegation dann auch ein Stück weit von ihrer Position abrücken. Erst als die Regierung unter Premierminister Edward Heath am 31. Juli 1961 einen Beitrittsantrag zur EWG stellte, wandte sich das Blatt für die niederländi- schen Verhandlungsführer. Im Zuge der nun folgenden Beitrittsverhandlungen überschlugen sich die Mitglieder der neuen Regierung unter Ministerpräsident Victor Marijen, allen voran Wirtschaftsminister Jan de Pous und Außenminister Luns, die Briten auf jede erdenkliche Weise bei ihrem Beitrittsgesuch zu un- terstützen (vgl. Ludlow 2001: 225). Für die niederländische Regierung war klar, dass auch die Verhandlungen zur EPU nur noch gemeinsam mit den Briten geführt werden könnten. Die gemeinsame Weigerung von Luns und dem belgischen Außenminis- ter Paul Henry Spaak, ohne die Briten weiter zu verhandeln, führte dann auch am 17. April 1962 zum endgültigen Scheitern der EPU-Pläne. Dies veranlasste wiederum die Franzosen, sich im Folgenden in den Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien querzustellen und die Aussöhnung mit Deutschland im Rah- men eines bilateralen deutsch-französischen Vertrages voranzutreiben. Am 14. Januar 1963 sprach de Gaulle sein Veto gegen eine weitere Fortsetzung der Bei- trittsverhandlungen mit Großbritannien aus und ein paar Tage später, am 22. DEUTSCH-FRANZÖSISCHE AUSSÖHNUNG ALS AFFRONT | 145

Januar, unterschrieben Adenauer und de Gaulle den Élysée-Vertrag. Die Reakti- onen darauf sind am Anfang dieses Beitrages ausführlich beschrieben worden. Einen Blick vorauswerfend, lässt sich sagen, dass sich die Positionen bis zum Ende der 1960er nicht annäherten. Die Problematik ›Politische Zusammenarbeit‹ versus ›Britischer Beitritt‹ und der niederländisch-französische Gegensatz sollten die Europäischen Gemeinschaften bis Ende der 1960er Jahre in ihrem Bann hal- ten. Für Adenauers Amtsnachfolger Ludwig Erhard und Kurt-Georg Kiesinger war diese Verhärtung der Fronten ein schwieriges Erbe. Sie nahmen im Laufe der 1960er Jahre auf der europäischen Bühne eine Art Mittlerposition ein, um das im Zuge des europäischen Integrationsprozesses bisher Erreichte nicht in Gefahr zu bringen. Erst nach dem Rücktritt de Gaulles in Frankreich gelang es auf dem Europäischen Gipfel in Den Haag 1969 die Fronten zu klären. In Europa hatte die »Zweite Generation« (Knipping/Schönwald 2004) das Ruder übernommen.

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Keywords: multiculturalism; diversity; sociology; difference; organization Kultur und Zugehörigkeit

Andreas Langenohl

EINLEITUNG

In diesem Aufsatz thematisiere ich begriffliche Strategien, Kulturbegriffe mit Konzepten sozialer Zugehörigkeit in Verbindung zu bringen, und beziehe dies auf Möglichkeiten eines an Zugehörigkeit orientierten Begriffs von Kultur. Der Kulturbegriff selbst wurde in der Kulturtheorie nicht oft dazu genutzt, die Frage nach Zugehörigkeit explizit zu stellen. Es ging eher um Identität oder, im Ge- genteil, Differenz als Wesen des Kulturellen. Das lag erstens daran, dass essen- zialistische Verständnisse von Kultur die Frage nach den Regeln von Zugehörig- keit selbst zu einem Knockout-Kriterium selbiger machten. Ein identitäres Je me souviens (Québec – aber woran?) oder Mir san mir (Bayern – aber wer/was?) mag Zugehörigkeit ins Werk setzen, stellt sich jedoch stur, wenn es um Fragen kon- kreter Teilhabe geht. Verwundern kann dies den phänomenologisch aufgeklär- ten Beobachter nicht: Wie bereits Alfred Schütz (1944) feststellte, gehört es zum Wesen der sozialen Zugehörigkeit zur »in-group«, zu deren kulturellen Wesen keine Fragen aufzuwerfen und auf der Grundlage genau dieser Tugend die Widersprüche des Kulturellen auszuhandeln, um nicht zu sagen auszusitzen. Konstruktivistische Zugänge mühten sich, zweitens und umgekehrt, damit ab, jene Aporien und Paradoxa in den Regeln der Zugehörigkeit einzig auf die Frage nach dem (Nicht-)Wesen der Kultur zu projizieren, d.h. sie behandelten Zuge- hörigkeit als Residualkategorie, deren soziale Regeln nicht wirklich empirisch interessierten, gerade weil man wie selbstverständlich davon ausging, dass sie kulturelle Regeln durcheinanderbrächten.1 Diese der Gesellschaftswissenschaft auf den ersten Blick schmeichelnde, aber empirisch meist eher uninformierte Anrufung des Sozialen, um das Kulturelle zu irritieren, genügte großen Teilen des identitäts- und kulturkonstruktivistischen Programms.

1 | Dies trifft beispielsweise auf die früheren Arbeiten von Judith Butler (1991) zu, in denen sie die binäre Geschlechterkultur in ihrer Hergestelltheit und Kontingenz mit Verweis auf parodistische Praktiken angreift, die den Binarismus unterliefen, aber zu den Praktiken selbst und den Bedingungen, unter denen man sie legitimerweise aus- üben kann, so gut wie nichts sagt. Denn auch ›subversive‹ Kulturen haben Zugehörig- keitsstrukturen. Garfinkels (1967) noch frühere Studien über Interaktionsstrategien, die dazu führen, dass eine Person als zu einer Geschlechterkategorie gehörig angese- hen wird, machen dies zum Thema.

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 150 | ANDREAS LANGENOHL

Im vorliegenden Aufsatz steht hingegen eine Diskussion darüber an, wie sich Konzepte von Kultur mit solchen sozialer Zugehörigkeit verbinden (las- sen). Damit wird keineswegs Neuland betreten, wie ein Rückblick auf einige der bekanntesten diesbezüglichen Versuche in der Soziologie zeigt. Ein Beispiel hierfür bildet Talcott Parsons’ (1966) Konzept der Societal community als eines normativ relativ eindeutig geregelten Sets von Erwartungen an legitime Mitglie- der einer Gemeinschaft, die Pflichten wie Rechte umfassen. ›Kultur‹ hingegen fungierte bei Parsons als ein Sektor des Handlungssystems, der aus sich selbst heraus keinerlei Mitgliedschaftsregeln zu generieren imstande war, gerade weil er sich auf Sinnbestände bezog, die nicht durch soziale Normen, sondern durch eine semantische Binnenstrukturierung integriert wurden, paradigmatisch im Bereich der Religion, der Wissenschaft und der Kunst (Parsons 1951). Wohl aber gibt es Parsons zufolge Institutionen, die die abstrakten Wertverallgemeinerun- gen der Kultur in Normen – und das heißt, in Zugehörigkeitsregeln – überset- zen. Kultur dient hier also nicht als Generator von Mitgliedschaft, sondern als Generator von Sinn (Parsons/Platt 1973). Dem entsprechend lautet die Unter- scheidung in der berühmt gewordenen Übereinkunft zwischen Talcott Parsons und Alfred Kroeber zur Arbeitsteilung zwischen Soziologie und Anthropologie, dass der Referenzbegriff ersterer die ›Gesellschaft‹ und der der letzteren ›Kul- tur‹ sei, wobei Kultur sich großenteils auf die semantische Organisation von Symbolsystemen beziehen sollte (Kroeber/Parsons 1958). Einen solchen Kultur- begriff konnte Parsons in sein Modell der differenzierten Gesellschaft einord- nen, dem zufolge Kultur aus einem Set von ›latenten Mustern‹ besteht, dessen Pflege bestimmten Institutionen und Professionen obliegt und das die Gesell- schaft mit Letztbegründungen (»ultimate reality«) versorgt, die der moralischen Aufladung und Verankerung von Normsystemen dient, welche wiederum Zuge- hörigkeit organisieren (Parsons 1966). Parsons bildet dabei nur ein besonders ausgearbeitetes Exempel für eine allgemeinere Tendenz der Soziologie, die Unabweislichkeit eines Begriffs von Sinn, und damit Kultur, einzugestehen und dies zugleich in die Frage nach den sozialen Strukturierungseffekten dieses Sinns bzw. seinen sozialstruktu- rellen Manifestationen zu überführen. Bei Max Weber etwa findet sich diese doppelte Schwerpunktsetzung in der Religionssoziologie und gerade auch in ihrer Ouvertüre der »Protestantischen Ethik« (Weber 1988a) – allerdings nur dann, wenn man nicht nur diesen Aufsatz, sondern auch (zumindest) denjeni- gen über die protestantischen Sekten in Nordamerika liest (1988b). Denn dann zeigt sich, dass das zumeist mit der »Ethik« verbundene Argument – nämlich dass bestimmte Glaubenssätze sich in eine ›Lebensführung‹ übersetzten, die bestimmte Wirtschaftspraktiken zwingend nahelegten und auf lange Sicht zu einer Ausbreitung des Profitkapitalismus führten – nur die halbe Miete zahlt. Denn man muss, wie Weber es tut, mit berücksichtigen, dass jene Ethik erst in Verbindung mit bestimmten Praktiken sozialer Öffnung und Schließung – ver- trauensvolle wirtschaftliche Öffnung gegenüber Glaubensgeschwistern, ökono- mische Abschottung gegenüber Andersgläubigen – sich zu einer systemischen Aufstufung kapitalistischer Zirkulation steigern konnte. Mit anderen Worten: KULTUR UND ZUGEHÖRIGKEIT | 151

Kultur lieferte die Letztbegründungen der Profitwirtschaft, aber damit diese schließlich zu einer Weltkultur werden konnte, musste Kultur mit Kodierungen sozialer Zugehörigkeit kurzgeschlossen werden, damit sich Zellen des Kapita- lismus in Form der protestantische Sekten und ihrer strikten Inklusions- und Exklusionspraktiken überhaupt entwickeln und schließlich systemische Wir- kung entfalten konnten. Parsons’ Strukturfunktionalismus wie auch Webers Einbettung der Sozio- logie in eine ›Kulturwissenschaft‹ (Weber 1988c: 180) bildeten somit Versuche, die konzeptionelle Beziehung zwischen einerseits dem Kulturbegriff und sei- ner Betonung des Eigenlebens von Sinnsystemen und andererseits dem Gesell- schaftsbegriff und seiner Herausstellung der Dimension sozialer Bindungen einer Klärung zuzuführen. Indes wurde in diesen Versuchen der Kulturbegriff zumindest implizit als ein selbstidentischer aufgefasst. Weber wie Parsons in- teressierte vor allem die Kohärenz, Stringenz, Systemhaftigkeit und inhaltliche Logik von Kultur – ein Interesse, das dann ab den 1950er Jahren den Struktura- lismus auch gerade in der Ethnologie groß werden ließ. Die heutigen Debatten operieren hingegen, wie man weiß, mit Kulturbegriffen, die Differenz in den Mittelpunkt rücken. Dem soziologischen ›Kultur-Interessierten‹ heute stellt sich somit die Frage, auf welche Weise die Verknüpfung von Kulturkonzepten mit Zugehörigkeitsmodi unter Berücksichtigung des Umstands erfolgen kann, dass für Kultur mittlerweile eher Differenz als Identität einsteht. Um das Rad nicht neu zu erfinden, erscheint es dabei sinnvoll, die Ver- bindung zwischen Konzepten von kultureller Differenz und solchen von Zu- gehörigkeit zunächst wissenschaftssoziologisch dort zu beobachten, wo es sie bereits gibt, und dann zu sehen, was sich daraus ergibt. Im folgenden Ab- schnitt versuche ich mich daher an einer Einordnung zweier Konzepte nebst zugehörigen Auseinandersetzungen, die diese Verbindung zuwege brachten: der Debatte über Multikulturalismus und der über Diversity. Beide Debatten rücken Differenz als Zentralachse von Kultur in den Mittelpunkt und adres- sieren zugleich Problematiken der Zugehörigkeit. Nach diesem Ausflug in das wissenschaftliche, soziale und politische Leben des Differenzbegriffs komme ich dann zum Kernanliegen der ZiG-Rubrik zurück, in der der vorliegende Text erscheint, nämlich: Was ergibt sich aus diesen Erörterungen für eine Konzep- tion von ›Kultur‹?

KULTURELLE DIFFERENZ UND ZUGEHÖRIGKEIT: DIE BEISPIELE ›MULTIKULTURALISMUS‹ UND ›DIVERSITÄT‹

Dass die Frage nach der Weise, wie sich Idiome des Kulturellen – einerlei ob als Identität oder Differenz verhandelt – mit Regeln oder Modi von Zugehörigkei- ten verbinden, kann gut anhand einer Diskussion dargestellt werden, die zwei verschiedene Idiome kultureller Identität und Differenz einander gegenüber- stellt: Multikulturalismus und Diversity. Der Begriff des »Idioms« wird hier in 152 | ANDREAS LANGENOHL dem Sinne gebraucht, dass er eine im Voranalytischen angesiedelte Verbindung zwischen dem Analyseinstrumentarium und dem Ort, an dem sich die Analyse artikuliert und zur Analyse wird, umschreibt (vgl. Langenohl 2012). Konkret wird es darum gehen nachzuzeichnen, wie »Multikulturalität« und »Diversi- ty« ihre spezifischen Blicke auf kulturelle Identität und Differenz anhand ei- ner je spezifischen Gebrauchsweise gewannen, welche sie in Verbindung mit unterschiedlichen Modi sozialer Zugehörigkeit brachte. Beides sind Verarbei- tungsweisen gesellschaftlicher Differenz, und beide operieren vor dem gesetz- ten Hintergrund differenzierter Gesellschaften mit formalen Mitgliedschafts- regeln – aber sie entfalten unterschiedliche Paradigmata von Zugehörigkeit. Deren Gegenüberstellung gilt, den fraglosen Querverbindungen zwischen den beiden Begriffen zum Trotz, hier das Interesse. Der Vergleich der beiden Debatten erfolgt auf folgenden Ebenen. Während im Zentrum und daher am Ende die Frage nach dem jeweils angezielten Pa- radigma von sozialer Zugehörigkeit steht, das durch die beiden Konzepte von Multikulturalismus und Diversität jeweils aufgerufen wird, beruhen die beiden Konzeptionen samt ihrer Zugehörigkeitsparadigmata auf unterschiedlichen in- haltlichen Ausprägungen entlang vierer Dimensionen:

1. Sowohl ›Multikulturalismus‹ wie ›Diversität‹ rekurrieren auf Debatten, die sich nicht einzig mit sozialwissenschaftlichen, sondern auch mit gesell- schaftlich wirksamen Kategorien befassen, die als solche normative Flucht- punkte artikulieren oder aufrufen. Dies geschieht teils explizit, teils indirekt durch Kontextualisierung in normativ markierten performativen Umfeldern der Begriffe. 2. Die Konzepte artikulieren unterschiedliche Schauplätze kultureller Diffe- renz, d.h. sie richten die Aufmerksamkeit auf verschiedene Bühnen, auf de- nen sich kulturelle Andersartigkeit zur Schau stellt (oder zur Schau gestellt wird). 3. Als normativ aufgeladene Konzepte sind Multikulturalismus und Diversi- tät mit Vorstellungen von Bewährungsproben verbunden. Das bedeutet, sie formulieren implizit oder explizit Vorstellungen, woran man einen gelunge- nen oder gelingenden Umgang mit kultureller Differenz erkennt, die sich voneinander unterscheiden. 4. Schließlich platzieren Multikulturalismus und Diversität Individuen in ih- rer Beziehung zu Kultur und Differenz an unterschiedliche Konzeptstellen.

NORMATIVE FLUCHTPUNKTE

Die Debatten über Multikulturalismus und Diversität entspannen sich in ge- sellschaftlichen und politischen Kontexten und waren insofern Teil von Krisen- beschreibungen. Die Multikulturalismus-Debatte, die ihren Ursprung auf dem nordamerikanischen Kontinent und insbesondere in Kanada hatte, wurde zwar in erster Linie von Sozialphilosophen und politischen Theoretikern geführt (vgl. KULTUR UND ZUGEHÖRIGKEIT | 153 die Beiträge in Gutman 1994), hatte aber ein sehr unmittelbares gesellschafts- politisches Korrelat, nämlich die Frage, ob und unter welchen Umständen den Mitgliedern einzelner, als ›kulturell‹ bestimmter Gruppen innerhalb der kana- dischen Gesellschaft besondere Rechte, die über die allgemeinen Bürgerrechte hinausgingen, zugestanden werden sollten. Die Befürworter – am prominen- testen Charles Taylor (in Gutman 1994) – argumentierten, dass dies unter der Bedingung nicht nur möglich, sondern geboten sei, dass sich eine Kultur am Rande der Auflösung oder Zerstörung befände. Multikulturalistische Politiken sollten demnach dazu dienen, die Pluralität von Kulturen innerhalb einer Ge- sellschaft aufrechtzuerhalten und zu stärken. Das paradigmatische Beispiel Taylors waren dabei nicht etwa indigene Gruppen, sondern die französischspra- chigen Kanadier vor allem in Québec, was deutlich machte, dass Taylor faktisch ›Kulturen‹ mit ›Nationalitäten‹ gleichsetzte. Zum normativen Fluchtpunkt ei- nes gelingenden Multikulturalismus als Umgang mit kultureller Differenz wur- de somit die Anerkennung partikularer kollektiver Rechte auf der Grundlage und zum Schutz kultureller Besonderheiten, welche in Kanada seit dem Ca- nadian Multiculturalism Act von 1988 auch politisch-institutionell verankert ist. Die Gegner dieses Ansatzes argumentierten hingegen liberal-individua- listisch, beispielsweise Jürgen Habermas (in Gutman 1994), demzufolge die Vergabe von Rechten nicht an Gruppen, sondern an Individuen erfolge und es auch Individuen und nicht Gruppen als solche seien, die Rechte ausübten. Ergo dürfe die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, rechtsphilosophisch gesehen, keinen Grund zur Gewährung und Ausübung von Sonderrechten darstellen. Andere Kritiker des Ansatzes hoben hervor, dass Multikulturalismus zwingend in eine identity politics einmünden müsse, d.h. einen politischen Auseinandersetzungs- stil, in dem das Beharren auf unverhandelbaren kulturellen Wesenheiten der eigenen Gruppe politisch gratifiziert werde. Multikulturalismus erzeuge somit unabwendbar ein Interesse an der Essenzialisierung von Kultur (vgl. die Zu- sammenfassung der Debatte bei Scott 1992). Indes markiert diese Kritik, die sich durchaus mit einem poststrukturalis- tisch und postkolonial belehrten Konstruktivismus trifft (vgl. Brah 1996), we- niger den Untergang des Multikulturalismus als eher den Formationsort eines Schaltpunktes, der die Verhandlung kultureller Differenz vom multikulturalis- tischen in das Diversity-Idiom überwechseln ließ. Denn eine mögliche Reakti- on auf Habermas’ Argument war es ja, dass, wenn die Zugehörigkeit zu einer bestimmten, etwa als minderheitlich markierten, kulturellen Gruppe keinen Anlass zur Gewährung und Ausübung von Rechten bieten könne, sie auch kei- nen Anlass zur Ausübung oder Rechtfertigung von rechtlichen oder sonstigen Diskriminierungen darstellen dürfe. Dieses Argument ließ sich relativ umstands- los mit bereits früher formierten Positionen innerhalb der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung vereinen, denen zufolge die gesellschaftlich zugeschrie- bene Angehörigkeit zu einer Gruppe – etwa den Schwarzen – einem Individu- um nicht zum Nachteil gereichen dürfe (vgl. Vedder 2006, Schür 2013: 87–95), bewirkte allerdings zugleich dessen Transformation. Denn nun, nach der libe- ral-individualistischen und poststrukturalistischen Kritik des Multikulturalis- 154 | ANDREAS LANGENOHL mus, konnte es nicht mehr darum gehen, auf gruppenspezifische Diskriminie- rung mit gruppenspezifischer Vorteilsbehandlung wie Affirmative action oder kulturellen Sonderrechten zu reagieren (auch wenn diese politisch in einigen Staaten wie etwa Kanada fortleben), sondern mittels einer Verschiebung des Ortes kultureller Differenz von der Gruppe auf das Individuum. Anders gesagt: War für die Bürgerrechtsbewegung der 1960er und 70er Jahre das Problem die inhaltliche Zuschreibung negativer Merkmale auf bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Gruppen, der man sich durch eine inhaltliche Aufwertung und Auszeichnung zu erwehren versuchte, legte unterhalb dieser Ebene von Fremd- und Selbstzuschreibung die Kritik des Multikulturalismus die strukturelle und epistemologische Problematik der Eingemeindung des Individuums in das kul- turell bestimmte Kollektiv frei. Das Konzept der Diversity stellte daher, als Resultat von Lernprozessen aus Entwicklungen der Bürgerrechtsbewegungen wie auch der Kritik des Multikul- turalismus, nicht die Gewährung und Ausübung kollektiver, kulturell begrün- deter Rechte ins Zentrum, sondern gerade im Gegenteil die Anerkennung der Nichtreduzierbarkeit des Individuums auf nur eine Differenzachse. Individuen gelten daher – eigentlich ganz im Sinne Simmels (1992) – als einzigartig, inso- fern sie »Schnittpunkte sozialer Kreise« bzw. von Differenzen darstellen. Sie impliziert eine konstruktivistische Perspektive, insofern »Diversität das Resul- tat von Differenzierungen, von Differenzhandlungen« ist (Fuchs 2007: 17).

SCHAUPLÄTZE KULTURELLER DIFFERENZ

Damit ist bereits angesprochen, worin sich die Schauplätze kultureller Differenz gemäß Multikulturalismus und Diversity unterscheiden. Die Schauplätze des Multikulturalismus sind öffentliche. Man kennt sie auch heute noch in ihrem Fortleben jenseits der weitgehenden Verabschiedung des Konzepts als solchen: Stadtteilfeste, Prozessionen und Umzüge, Tage Offener Türen, interkulturel- le Begegnungsabende etc. Die Subjektivität, die sich bei diesen Gelegenheiten formiert, ist stets im Plural, ist eine des ›Wir‹. Darin unterscheiden sich diese öffentlichen Manifestationen auch von Zirkusveranstaltungen, die zwar eben- falls öffentlich sind, jedoch auf die Einzigartigkeit und Unnachahmlichkeit der Darbietenden abzielen – und darin dem Konzept der Diversity näher stehen. Al- lerdings nicht so nahe, dass dadurch übersehen werden könnte, dass die Schau- plätze von kultureller Differenz, verstanden als Diversity, nicht-öffentliche sind. Diversität bringt sich eher unauffällig und gleichsam nebenbei zur Geltung. Gerade weil sich gemäß dem Konzept der Diversität Differenz nicht auf eine einzige Achse festlegen lässt, kann eine solche Achse auch nicht theatralisiert und inszeniert werden. Differenz im Sinne von Diversität versteht sich immer als ein Add-on, niemals als Hauptsache. Daher auch verträgt sich das Konzept hervorragend mit Mitgliedschaften in Organisationen: Niemandem wird allein aufgrund seiner kulturellen Besonderheiten Zugang zu einer Organisation gewährt, aber immer mehr Organisationen wissen es zu schätzen, wenn ein KULTUR UND ZUGEHÖRIGKEIT | 155

Quentchen Diversität mit von der Partie ist. Der Diversitätsbegriff kommt inso- fern einer Kulturalisierung im Sinne von Konstruktionseinsicht (vgl. Kleeberg/ Langenohl 2011), von Differenz per se gleich, als er davon ausgeht, dass Differen- zen von den Individuen in konkreten sozialen Situationen aktualisierbar und gestaltbar sind, so dass auch solche Unterschiede, die man in der Soziologie als klassisch sozialstrukturelle interpretieren würde wie etwa Schichtzugehörig- keit, in erster Linie in Bezug darauf interessieren, ob und wie sie in ihren jewei- ligen partikularen Mischungen mit anderen Differenzen zur Geltung gebracht werden (können). Unter solchen Bedingungen eines ›Differenzvoluntarismus‹ besteht allerdings, so Kritiker, auch die Gefahr, dass alle Differenzen – etwa bezüglich Ethnizität, Gender, sexueller Orientierung, körperlicher, psychischer und mentaler Herausforderungslagen, sozialer Schichtung – über einen Kamm geschoren werden und unkenntlich wird, dass eine Differenzachse die anderen überdeterminieren kann; und grundlegender, dass Individuen, je nach Situati- on, bei der Aufrufung ›ihrer‹ Differenzkombinationen nicht immer selbst die Zügel in der Hand haben (MacCall 2005).

BEWÄHRUNGSPROBEN

Dies leitet zu der Frage über, unter welchen Bedingungen Multikulturalis- mus und Diversität als gelungene Bearbeitungsformen von Differenz in der Gesellschaft gelten. Für den originären Multikulturalismus, dies wurde bereits erwähnt, besteht ein gelingender Umgang mit kultureller Differenz in der An- erkennung gruppenspezifischer, aus kulturellen Besonderheiten hergeleiteter kollektiver Rechte. Deswegen lag ein besonderes Augenmerk auf der Authenti- zität kultureller Differenz; dies erklärt die Zähigkeit der Debatte darüber, welche Kulturen als Kulturen im Sinne des Multikulturalismus, also als schützenswert, zu gelten hätten. Allerdings ist das nicht alles. Denn die Multikulturalismus-De- batte war in ihrem Entstehungs- und Wirkungskontext zugleich auf den Erhalt gesellschaftlicher Kohäsion und zuletzt staatlicher Integration bezogen. Die Fra- ge nach der Gangbarkeit kulturell begründeter Gruppenrechte wurde vor dem Hintergrund eines Szenarios gestellt, das die Integrität des kanadischen Staa- tes auf politisch sehr durchdringende Weise in Frage stellte: nämlich einerseits die in den 1980er und 90er Jahren fortdauernden Debatten über einen Austritt Québecs aus dem kanadischen Bundesstaat, andererseits die lauter werdenden Forderungen nach Anerkennung auf Seiten derjenigen Gruppen, die in dem Gegensatz zwischen britischen und französischen Wurzeln nicht vorkamen. Der Multikulturalismus-Debatte lag somit eine epistemologisch-politische Kon- stellation zugrunde, in der über gesellschaftlichen und staatlichen Zusammen- halt und Zerfall auf verfassungs- und bürgerrechtlicher Ebene in einem Idiom kultureller Differenz gesprochen wurde. Dies machte den Multikulturalismus überaus angreifbar, und zwar nicht so sehr, weil Desintegrationstendenzen, einerlei ob tatsächliche oder behaup- tete, in stringenter und nachprüfbarer Weise auf ein Scheitern multikultura- 156 | ANDREAS LANGENOHL listischer Politiken zurückzuführen gewesen wären, sondern grundlegender, weil sich der Multikulturalismus auf eine Augenhöhe mit der Frage gesamtge- sellschaftlicher Integration begeben hatte. Dies setzte ihn selbst dort massiver Kritik aus, wo es ihn nur in Ansätzen gegeben hatte, wie etwa in Deutschland oder (abgeschwächter) in Großbritannien (vgl. Vertovec/Wessendorf 2010). Das Verdienst der multikulturalistischen Debatte, nämlich ›Kultur‹ als Bestandteil der Rechtsverfassung von Staat und Gesellschaft in die Explizität geholt und zu einer Generalfrage gemacht zu haben, besiegelte zugleich ihr Schicksal (au- ßerhalb Kanadas). In einer Lage, in der gesellschaftliche, politische und inter- nationale Konflikte primär auf kulturelle (zunehmend religiöse) Impulse zuge- schrieben werden, wie es seit den 1990er Jahren zunehmend der Fall gewesen ist, bestätigte sich zwar das epistemologische Grundanliegen des Multikulturalis- mus, dass Kultur eine Größe von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sei; sein politisches Anliegen, dass es ein Recht auf kollektiv-kulturelle Differenz gebe, das verteidigt werden müsse, wurde hingegen zur Hauptursache aller Culture troubles erklärt. Über Bord ging damit auch die Bewährungsprobe kultureller Authentizität, ja sie verkehrte sich ins Gegenteil: Wo kulturelle Differenz aus minderheitlicher Perspektive mit großer Überzeugung formuliert wurde, war nun nicht länger die multikulturalistische Gesellschaft verhießen – vielmehr drohte die ›Parallelgesellschaft‹. Authentizität geriet so in den Ruch des Funda- mentalismus, während kulturelle Reflexivität und Selbstdistanz zu schützens- werten Gütern (und ganz nebenbei zu Errungenschaften der ›westlichen Mo- derne‹) proklamiert wurden. Die Bewährungsproben von Diversity sind gänzlich anderer Art, zumindest heutzutage. Betrachtet man den Ursprung des Konzepts, würde es naheliegen anzunehmen, dass die zentrale Bewährungsprobe eines gelingenden Umgangs mit kultureller Differenz aus Sicht des Diversity-Konzepts in einer Verhinderung von Diskriminierung bestehe, die aus Fremdfestschreibungen von Individuen auf Gruppen und deren kulturelle und sonstige Besonderheiten resultiert. So will es etwa das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Deutschland. Die Zielfor- mulierung der Antidiskriminierung ist auch das normative Programm von Stu- dien, die mit dem Begriff der Intersektionalität arbeiten, welcher, in der ameri- kanischen Bürgerrechtsbewegung vorformuliert, Individuen als Schnittpunkte unterschiedlicher, und unterschiedlich wirkungsvoller, hierarchischer Unter- scheidungslinien entwirft (MacCall 2005, Knapp 2005). Es handelt sich dabei um einen ungleichheitstheoretischen Ansatz, der nach den je spezifischen Ef- fekten unterschiedlicher Hierarchisierungsachsen fragt – klassisch Race, Class und Gender, neuerdings aber auch Sexuality im Sinne sexueller Orientierung, Age sowie Disability. Mit Blick auf die Gebrauchsweisen des Konzepts der Di- versity ist jedoch, und im Gegensatz zu intersektionalistischen Ansätzen zu be- obachten, dass gelingende Differenzbearbeitung nicht so sehr als Vermeidung von Diskriminierung, sondern eher als eine effektive Selbstaktualisierung und ›Einbringung‹ von Individuen in soziale Situationen und Organisationen for- muliert wird. Dies gilt zuallererst für Managementdiskurse, denn »[i]n Mode gekommen – allerdings auch zugleich ins Gerede – ist Diversity […] erst durch KULTUR UND ZUGEHÖRIGKEIT | 157

Diversity Management« (Krell u.a. 2007: 9). So heißt es in der Charta der Viel- falt, einer Initiative deutscher Unternehmen:

Wir können wirtschaftlich nur erfolgreich sein, wenn wir die vorhandene Vielfalt er- kennen und nutzen. Das betrifft die Vielfalt in unserer Belegschaft und die vielfälti- gen Bedürfnisse unserer Kundinnen und Kunden sowie unserer Geschäftspartner. […] Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen Wertschätzung erfahren – unabhängig von Geschlecht, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behin- derung, Alter, sexueller Orientierung und Identität. Die Anerkennung und Förderung dieser vielfältigen Potenziale schafft wirtschaftliche Vorteile für unsere Organisation.2

Individuen sollen durch geeignete institutionelle Arrangements in die Lage ver- setzt werden, ihre aus unterschiedlichen Differenzkonstellationen erwachsen- den je einzigartigen Erfahrungen, Perspektiven und Herangehensweisen zur Geltung und mit anderen Perspektiven in Dialog zu bringen. Der entscheidende Unterschied zur Multikulturalismus-Debatte ergibt sich also aus den im letzten Abschnitt diskutierten Strukturmerkmalen der Bühne, auf der Diversity in Anschlag gebracht wird, denn es geht hier weniger um ma- krosoziale Öffentlichkeiten der Massenmedien, der Festivals oder der Straße, in denen Forderungen nach Anerkennung eines Rechts auf kulturelle Differenz gestellt werden, sondern zuallererst um mikrosoziale Kontexte (typischerweise Unternehmen, vgl. kritisch hierzu Schönwälder 2007), in denen Differenz in kulturellen Praktiken durch die Individuen produktiv und anschlussfähig ge- macht werden muss. Es geht, mit anderen Worten, bei Diversität nicht um kul- turelle Differenz sans phrase, sondern um die kulturelle Bearbeitbarkeit je spezi- fischer Differenzen. Nicht die Differenz an sich ist von Wert und zu hegen, son- dern das, was Individuen aus ihr ›machen‹, d.h., wie sie sie kommunizieren, inszenieren und zur kollektiven Verfügung stellen. Das ›Kulturelle‹ der Diversity-relevanten Differenzen beschließt sich somit auch nicht in ihrer Einlagerung in traditionsreiche Sinn- und Wertsysteme, son- dern in ihrem performativen Charakter. Hieraus entsteht wiederum eine konzep- tionelle Nähe zu den erwähnten intersektionalistischen Studien, welche ebenfalls durch einen performativen Kulturbegriff gekennzeichnet sind, indem sie argu- mentieren, dass hierarchisch organisierte Differenzlinien in Bezug auf race, class, gender etc. nicht aufgrund essenzieller Unterschiede Wirkmächtigkeit entfalten, sondern durch Zuschreibungs-, Visibilisierungs- und Dramatisierungsstrategi- en zustandekommen, deren Natur eine performative ist (s. hierfür exemplarisch Dören 2007). Auf diese Weise machen sich Intersektionalitätsstudien gegenüber poststrukturalistischen Einwänden bezüglich einer drohenden Essenzialisierung von Differenz wesentlich weniger angreifbar als der Multikulturalismus, denn ihnen ist eine konstruktivistische Lesart, die ›Kultur‹ als Ontologiezuschreibung verneint und sie demgegenüber als Performativität kultureller Praktiken der Dif-

2 | Vgl. http://www.charta-der-vielfalt.de/charta-der-vielfalt/die-charta-im-wortlaut. html [Stand: 15.11.2013]. 158 | ANDREAS LANGENOHL ferenzaktualisierung auffasst, von Beginn an eingeschrieben. Und hiervon profi- tiert auch das Konzept der Diversity, auch wenn sein performativer Kulturbegriff weniger auf die Beseitigung gesellschaftlicher Diskriminierungen als auf die Aktualisierung individueller Potenziale abzielt. Es handelt sich hierbei somit um ein Beispiel für einen Vorgang, in dem kulturtheoretische und durchaus auch kritisch intendierte Erwägungen unter die Leute kommen und Effekte zeitigen, die von der Kulturtheorie so nicht intendiert waren. Dass also der poststrukturalistischen Kritik durch die performative Wende des Kulturbegriffs weitgehend die Spitze genommen wird, bedeutet nicht, dass Differenz à la Diversity gesellschaftlich, politisch und epistemologisch unprob- lematisch wäre; es bedeutet lediglich, dass Kritik, so man sie beabsichtigt, an einem anderen Punkt als dem der Essenzialisierung anzusetzen hätte.

INDIVIDUUM UND KULTUR

In den bisherigen Erörterungen ist bereits angeklungen, dass Multikulturalis- mus und Diversity aus idealtypischer Sicht, und ungeachtet ihrer Kreuzungs- und Schaltpunkte, sehr unterschiedliche Entwürfe des Verhältnisses zwischen Individuum und kulturell bestimmter Gruppe vorlegen. Diese Entwürfe sind nicht nur inhaltlich sehr verschieden, sondern bewegen sich auch innerhalb unterschiedlicher Ontologien des Kulturellen. Denn während der Multikultu- ralismus von Kultur ›mit großem K‹ und Differenz ›mit großem D‹ ausgeht und damit die Debatte über den Kultur-Differenz-Essenzialismus und die Identity politics auf den Plan ruft, residiert im Falle des Konzepts der Diversity das Kulturelle in Praktiken der Differenzaktualisierung, und zwar insbesonde- re in Kontexten, die Gegenwartsgesellschaften für besonders wichtig halten, nämlich organisationalen (siehe hierzu den nächsten Abschnitt). Dies bedingt auch unterschiedliche Konzeptionen des Verhältnisses zwischen Individuum und Kultur. Im Multikulturalismus wird das Individuum mehr oder weniger als Exemplar ›seiner‹ Kultur angesehen. Dies geht zwingend aus dem Argu- ment kollektiver, kulturell begründeter Rechte hervor. Individuen fungieren somit als Authentifikatoren oder Indikatoren von Kultur, indem sie beispiels- weise ›ihre‹ Kultur auf öffentlichen Veranstaltungen, aber auch in der alltägli- chen Öffentlichkeit, etwa der Bekleidungswahl, zur Schau stellen. Im Falle von Diversity hingegen, wie bereits angeklungen, fungiert das Individuum eher als Schnittpunkt unterschiedlichster Differenzlinien, die ›kulturell‹ darin sind, als sie erst durch kulturelle Praktiken aktualisiert, in Kommunikation überführt und damit als bedeutsam gesetzt werden. Dies impliziert eine gegenüber dem Multikulturalismus verschiedene konstitutionslogische Anordnung von Kultur und Individuum. Während im Multikulturalismus die kulturelle Spezifik dem Individuum vorgängig ist und es somit in entscheidenden Aspekten seiner Identität prägt (eigentlich ein durkheimsches Argument), bleibt sie gemäß dem Diversity-Konzept solange in der Latenz und Virtualität, wie sie unangerufen bleibt (das entspricht eher einer garfinkelschen oder goffmanschen Soziologie). KULTUR UND ZUGEHÖRIGKEIT | 159

Differenz ist gemäß dieser Auffassung somit eine Frage von (Selbst-)Adressie- rung, über die letztlich situativ, nicht ontologisch, entschieden wird. Anders gesagt: Während im Multikulturalismus ›Kultur‹ zu einer situationsübergrei- fenden Größe wird, die ja gerade spezifizieren soll, welche besonderen Rechte und Pflichten kulturell definierte Individuen über Situationsgrenzen hinweg haben, ist es im Falle der Diversity die Situation, die darüber entscheidet, inwie- weit Differenz durch kulturelle Praktiken aufgerufen werden darf, sollte oder muss. Differenz und Spezifik, einerlei um welche es sich dabei handelt, kann so in der einen Situation als wichtig erscheinen, etwa wenn es darum geht, spezifische Zielgruppen gezielt über deren Differenz anzusprechen, und in ei- ner anderen Situation vollkommen ausgeblendet werden. Polizisten, die einer ethnischen Minderheit angehören, fahren Streife in ethnischen Stadtvierteln, und Ikea stellt gezielt Verkäufer ein, die minderheitliche Sprachen sprechen; aber diese ethnisch kodierten Differenzmarker enden in ihrer Bedeutsamkeit an der Grenze der jeweiligen Situationen, beispielsweise am Übergang zum Besprechungs- oder Pausenraum.

MULTIKULTURALISMUS UND DIVERSITY: UNTERSCHIEDLICHE PARADIGMATA VON ZUGEHÖRIGKEIT

Aus dem bisher Gesagten kann nun eine Generalisierung hinsichtlich der unterschiedlichen Paradigmata von Zugehörigkeit der Diskurse des Multikul- turalismus und der Diversity erfolgen. Der Multikulturalismus bewegt sich innerhalb des Paradigmas von Citizenship, d.h. er fordert gruppenspezifische, kulturell begründete Rechte auf der Grundlage der formalen, und vorgängigen, Angehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen. Multikulturelle Politiken sollen so gleichsam die abstrakte Staatsangehörigkeit und die damit einherge- henden Rechte kulturell differenzieren und spezifizieren (und meist erweitern). Im Gegensatz dazu ist das Zugehörigkeitsparadigma von Diversity das der Mit- gliedschaft in einer Organisation, innerhalb der bestimmte Organisationsrollen erfüllt werden müssen, mit Blick auf welche es zuweilen, jedoch nicht immer, sinnvoll erscheinen mag, Differenzen in kulturell spezifischen Praktiken zu ak- tualisieren. Wenngleich es zuerst Unternehmen waren, die Diversity als Aspekt der Personalsteuerung für sich nutzbar machten, entdecken zunehmend auch öffentliche Verwaltungen, Bildungseinrichtungen und Vereine, die mit Unter- nehmen das Kriterium formaler Mitgliedschaft aufgrund einer inhaltlich de- finierten Mitgliedschaftsrolle gemein haben, Diversity als steuerungsrelevante Kategorie.3

3 | Dies ist nicht zu verwechseln mit der Einrichtung von Gleichstellungs- und Schwer- behindertenbeauftragten oder Equal Opportunities Commitees, welche zum Ziel ha- ben, Diskriminierungen in Organisationen abzubauen (wenngleich auch diese von den Organisationen strategisch genutzt werden können, um ihre gesellschaftliche Legiti- 160 | ANDREAS LANGENOHL

Aus diesen Unterschieden ergibt sich allerdings auch eine Gemeinsamkeit hinsichtlich des Verhältnisses zwischen kultureller Differenz und Zugehörig- keit. Denn kulturelle Differenz hat in beiden Diskursen die Qualität von etwas Hinzutretendem, das das jeweilige Inklusions- und Exklusionsparadigma zwar modifiziert, aber grundsätzlich unangetastet lässt. Im Falle des Multikultura- lismus ist es die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen, die gege- ben sein muss, um gruppenspezifische kulturelle Rechte einzuklagen. Dies gilt auch unter Bedingungen von mittlerweile hochdifferenzierten Zugehörig- keitsabstufungen, die qua ›Aufenthaltsstatus‹ definiert sind und, am Beispiel Deutschlands, von voller Staatsangehörigkeit bis hin zur Duldung reichen, denn je valider und permanenter ein Aufenthaltsstatus ist, desto gewichtiger erscheint die Forderung nach rechtlicher Anerkennung kulturell spezifischer Rechte und desto eher gelangen Individuen in den Genuss bereits gewährter gruppenspezifischer Rechte. Im Falle von Diversity gewähren, wie bereits be- merkt, noch so einzigartige Differenzüberkreuzungen nicht aus sich selbst heraus Mitgliedschaft in Organisationen, was damit zu tun hat, dass formale Organisationen über auf das Organisationsziel inhaltlich bezogene Mitglied- schaftsrollen definiert sind. Diversität ist also nur dann eine Ressource bei der Erlangung von Mitgliedschaft, wenn die Organisation sie zuvor als ihre Ziele befördernd definiert hat, beispielsweise als eine wichtige ›Kompetenz‹, die ei- nen Vorteil gegenüber Mitbewerbern darstellt. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Zugehörigkeitsparadigmen von Multikulturalismus und Diversity besteht somit darin, dass beide ihre Virulenz in formalen Kontexten sozialer In- und Exklusion entwickeln. Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen wie Organisationsmitgliedschaft sind eminent formale Angelegenheiten, die strikten administrativen Regeln und Prozeduren unterliegen. Außerhalb solcher formaler Kontexte, d.h. in Bezug auf nichtfor- malisierte soziale Gebilde wie etwa Familien oder Freundeskreise,4 finden bei- de Konzepte daher auch nur selten Gebrauch. Ausdrücke wie ›multikulturelle Familien‹ oder ›Freundeskreise mit hoher Diversität‹ sind ausgesprochen rar und muten seltsam an. Stattdessen – und dies bringt mich auf die Zielgerade dieses Artikels – ist häufiger von ›interkulturellen Familien‹ und ›interkulturel- len Freundschaften‹ die Rede. Dies kann, im Umkehrschluss, als ein indirekter Hinweis darauf angesehen werden, dass Interkulturalität (und damit Kultur) bislang wenig oder gar nicht in Begriffen formeller Zugehörigkeit, oder gar von mität zu erhöhen), denn diese Einrichtungen basieren auf einer juristischen Idee, näm- lich der des Rechts auf gleiche Behandlung ohne Ansehung von Unterschieden. 4 | Der Gegensatz zwischen nichtformalisiert und formalisiert, wie er hier verwendet wird, basiert auf der soziologischen Unterscheidung zwischen primären und sekundär- en Rollen bzw. Zugehörigkeiten: Während letztere Zugehörigkeit und Status an die Er- füllung bestimmter definierter Ziele binden (etwa Leistungsziele in Organisationen und Loyalitätsziele beim Erwerb von Staatsbürgerschaft), die das Individuum erreichen muss, erteilen erstere beides ohne eine explizite Zielvorgabe sowie auf der Grundlage von Zuschreibungstechniken, auf die die Leistungen des Individuums wenig bis keinen Einfluss haben, etwa Verwandtschaft oder Neigung. KULTUR UND ZUGEHÖRIGKEIT | 161

Zugehörigkeit überhaupt, gedacht wurde. Daraus ergeben sich zwei Anschluss- fragen: Was kann die Kategorie der Kultur aus Diskursen wie denjenigen zu Multikulturalismus und Diversität lernen, in denen sie, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, mit der Kategorie der Zugehörigkeit verschaltet wurde? Und anders gewendet: Besteht die Chance, den Nexus von Kultur und Zuge- hörigkeit auch auf dem Gebiet informaler Zugehörigkeit zu thematisieren und dabei vielleicht die Schwierigkeiten zu umgehen, die die Konzepte des Multi- kulturalismus und der Diversity im Bereich formaler Mitgliedschaft, nämlich citizenship und Organisationsmitgliedschaft, jeweils mit sich gebracht haben?

ZUGEHÖRIGKEIT: KONSEQUENZEN FÜR KULTUR

Als Szene der folgenden Darstellung dient mir die Schule als Organisation und das Klassenzimmer als der Ort, in dem die Organisationsziele erreicht werden sollen. Dies geschieht aus mehreren Gründen. Erstens ist die Schule in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand kulturessenzialistischer Deutungen kultureller Differenz gewesen, von denen die sogenannte Sarrazin-Debatte nur ein besonders penetrantes Beispiel war. Dies wiederum hängt, zweitens, damit zusammen, dass Schulen als ein neuralgischer Punkt gesellschaftspolitischer Integrationsbemühungen – und damit auch der Differenzbearbeitung – zu se- hen sind, da hier maßgebliche Weichen für die Erlangung von Lebenschancen gestellt werden. Drittens – und dies ist aus konzeptioneller Sicht der wichtigste Punkt – ist die Schule, und wiederum insbesondere das Klassenzimmer, aus soziologischer Sicht ein Ort ausgesprochen hybrider und einander widerspre- chender Zugehörigkeitsstrukturen, was wiederum auf dem Gebiet des Um- gangs mit kultureller Differenz wichtige Konsequenzen zeitigt. Die Hybridität der Zugehörigkeitsstrukturen des Klassenzimmers hat damit zu tun, dass die in ihm Versammelten sich nicht alle aus denselben Gründen dort wiederfinden.5 Während das Lehrpersonal auf freiwilliger Grundlage in die Schule eingetreten (man müsste eigentlich sagen: zurückgekehrt) ist, werden Schüler per Gesetz gezwungen, die Schule zu besuchen (zumindest in den ers- ten neun Jahren). Daraus erwachsen unterschiedliche Rollenstrukturen. Lehrer sind Angehörige von Organisationen und damit auf die Ziele der Organisati- on verpflichtet, was im Extremfall von Nichterfüllung ihrer Rolle dazu führen kann, dass sie aus der Schule ausgeschlossen, d.h. vom Dienst suspendiert wer- den. Schüler hingegen sind ›Insassen‹ (»inmates«) im Sinne Erving Goffmans (1971), d.h. sie sind zwangsinstitutionalisiert. Daraus resultiert, nur scheinbar paradoxerweise, auf Seiten der Schüler ein niedrigerer Grad an Verpflichtung auf die Organisationsziele. Wenn Schüler nicht an der Erreichung des Orga- nisationsziels mitarbeiten, d.h. an ihrer eigenen Weiterqualifizierung, werden sie nicht etwa aus der Organisation ausgeschlossen, sondern schlecht benotet. Mit anderen Worten: Schülern steht im Vergleich zu Lehrern ein weitaus grö-

5 | Vgl. zu den folgenden Ausführungen Langenohl (2008). 162 | ANDREAS LANGENOHL

ßerer Spielraum bei der Nichterfüllung der für sie entworfenen Rollen zur Ver- fügung, gerade weil es sich nicht um Organisationsrollen handelt, die freiwillig eingegangen worden wären, sondern um Anstaltsrollen. Zugespitzt formuliert, verläuft die Grenze zwischen der Organisation Schule und der Anstalt Schule mitten durchs Klassenzimmer. Die ungleiche Weise, wie im Klassenzimmer Rollen formiert und Zugehö- rigkeiten installiert werden, wirkt sich auch auf die Interaktion zwischen Leh- renden und Beschulten, d.h. ihre jeweilige Inklusion in die Unterrichtssituation aus. Die Professionssoziologie hat darauf aufmerksam gemacht, dass die päda- gogisch-didaktische Beziehung zwischen Lehrenden und Beschulten nicht nur, wie immer wieder kritisiert, asymmetrisch ist, weil die Zensurmacht beim Leh- rer liegt, sondern dilemmatisch strukturiert, weil der Lehrer beim Lernenden eine Rolle voraussetzen muss, die der Lernende aufgrund der Spezifik seiner Anstaltsrolle nicht zwingend einzunehmen hat (vgl. Schmidt 2008). Konkret: Während der Lehrer den Schüler aus Sicht seiner eigenen Professionalität als ›Klienten‹ behandeln müsste, d.h. als einen Akteur, der ein Handlungsproblem hat, das er selbst nicht lösen kann und daher motiviert ist, mit einem Experten (dem Lehrer) zusammenzuarbeiten, herrscht bei Schülern zumeist die Einstel- lung vor, sie bekämen ihre Probleme erst im Klassenzimmer, also genau in der- jenigen Situation, die aus professionstheoretischer Sicht eigentlich das Problem lösen sollte. Dementsprechend mangelt es häufig an Bereitschaft zur Koopera- tion. Zudem nehmen Beschulte ihre Position im Klassenzimmer nicht nur in Bezug auf den Lehrer, sondern auch in Bezug auf die Mitbeschulten wahr – und diese Beziehungen folgen dem Muster von Freundschaft und Feindschaft, nicht dem individueller Zielerreichung. Was hat dies nun mit Kultur zu tun? Versuchen wir zunächst, die Situation im Klassenzimmer innerhalb der diskursiven Logiken von Multikulturalismus und Diversity zu rekonstruieren, um darauf aufbauend dann die mögliche Spe- zifik eines alternativen Zugangs zu jener hybriden und in sich widersprüchli- chen Zugehörigkeitsstruktur herauszuarbeiten. Der Multikulturalismus-Diskurs würde die Schule vermutlich als eine öf- fentliche Arena begreifen, in der kulturelle Besonderheiten und Abweichungen vom Mainstream artikuliert und darauf aufbauende besondere Rechte eingefor- dert werden. In dieser Hinsicht gibt es ›Multikulturalismus‹ – darauf haben Ver- tovec und Wessendorf (2010) hingewiesen – durchaus auf lokaler Ebene, d.h. in Organisationen und unterhalb des Rechts- und Citizenship-Diskurses. Man mag hier etwa an Befreiungen vom Leibesübungsunterricht für muslimische Schü- lerinnen oder an die Befreiung vom Biologieunterricht für Schüler aus Familien mit fundamentalistisch-protestantischer Konfession denken. Es ergibt sich so der Eindruck, dass multikulturalistische Weisen der Differenzbearbeitung in der Schule weniger auf der Ebene des Klassenzimmers ansetzen als eher auf der Ebene der Schulleitung bzw. -verwaltung – und in der Regel dazu führen, dass Beschulte von bestimmten Lehrprogrammen, und damit von einem Teil ihrer rechtlich verankerten Schulpflicht, entbunden werden. Umgekehrt ist der Multikulturalismus daher für die komplexen Dynamiken im Klassenzimmer – KULTUR UND ZUGEHÖRIGKEIT | 163 und vermutlich generell auf der situativen Ebene – unempfänglich, weil sei- ne Hauptintervention darin besteht, bestimmte Situationen zu verhindern. Das oben für den Multikulturalismus festgehaltene, typische Anordnungsverhältnis von vorgängiger Kultur und nachgeordnetem Individuum zeigt sich nicht zu- letzt darin, dass die Differenzbearbeitung dazu führt, dass Individuen aus Situ- ationen, die als mit ›ihrer‹ Kultur unvereinbar gehalten werden, verschwinden. Dies ist beim Diversity-Paradigma gerade umgekehrt. Wie oben ausgeführt, beruht es darauf, Individuen in ihrer Verschiedenartigkeit zum Erscheinen zu bringen, d.h. sie zu kulturellen Praktiken zu veranlassen, die ihre je spezifi- sche Differenzkonstellation kommunikativ anschließbar und zu einer kollek- tiv verfügbaren Ressource machen. Vieles von dem, was derzeit in der Erzie- hungswissenschaft unter ›interkulturelle Pädagogik‹ firmiert, folgt offensicht- lich diesem Ansatz (vgl. Müller 2012). Es geht hier darum, im Unterricht die je spezifischen Differenzfigurationen von Schülern zur Anschauung zu bringen, und zwar gerade auch durch sie selbst. Dies entspricht einem allgemeineren, derzeit prominenten pädagogisch-didaktischen Prinzip, nämlich dem der ›Dif- ferenzierung‹, demzufolge die Schüler einer Lerngruppe keine uniforme Mas- se darstellen, sondern mit je spezifischen Herausforderungslagen konfrontiert sind, die fallspezifisch angegangen werden müssen. Die (Selbst-)Aktualisierung als ›verschieden‹ seitens der Beschulten soll hierzu beitragen. Allerdings wird hierdurch noch nicht das vorausliegende Problem der ungleichen Rollenstruk- turen (Organisations- versus Anstaltsrolle) im Klassenzimmer gelöst. Denn das Diversity-Paradigma geht ja davon aus, dass (kulturelle) Differenz nur dann ak- tualisiert wird, wenn es den Organisationszielen dienlich ist. Auf diese aber sind, wie oben festgestellt, Beschulte qua Zwangszugehörigkeit in weitaus ge- ringerem Maße verpflichtet als Lehrende. ›Interkultureller‹ Unterricht dieser Art ist also ebenso in Gefahr des Scheiterns wie andere Ansätze, die bei der pädagogisch-didaktischen Aktivierung von Zwangsbeschulten ansetzen, deren Macht zum Boykott gerade dadurch steigt, dass sie mitarbeiten sollen.6 Festzuhalten bleibt somit, dass sowohl multikulturalistische wie Diversity- orientierte Bearbeitungsweisen kultureller Differenz die hybride Zugehörig- keitssituation im Klassenzimmer auf je spezifische Art verfehlen: der Multi- kulturalismus, weil er situative Konstellationen nur als Bühnen des Kulturellen begreift und damit nicht in Rechnung stellt, dass sie komplexe Interaktions- strukturen bilden, in denen sich kulturelle Differenz und Zugehörigkeit ver- ästeln; Diversity, weil dieses Konzept von einer voluntaristischen und zugleich instrumentalistischen Konzeption situativer Spezifik ausgeht, die die kulturelle Aktualisierung von Differenz stets einem Organisationsziel unterordnet und

6 | Die Frustration mit ›interkulturellem‹, tatsächlich allerdings Diversity-orientierten Unterricht auf diese Fundament schulischer Zugehörigkeitsstrukturen zurückzuführen, bewahrt einen übrigens vor einer Haltung, die die Unwilligkeit zur Kooperation auf die ›Kultur‹ der Beschulten zuschreibt, der man ja doch entgegengekommen sei und die sich dennoch so renitent zeige. Es besteht eine gefährliche Nähe zwischen Diversity- Ansätzen und Kulturessenzialismus dann, wenn die Kooperation scheitert. 164 | ANDREAS LANGENOHL daher nicht darauf vorbereitet ist, dass es Situationen und Zugehörigkeits- strukturen gibt, in denen Akteure weder den Wunsch haben noch den Druck verspüren, auf jenes Ziel hinzuarbeiten. Es bleibt also zu ergründen, ob es zu diesen Konzeptionen, die an der Komplexität situativer Zugehörigkeitsstruktu- ren scheitern, eine Alternative geben könnte – und ob eine solche Alternative darüber hinaus auch unser Verständnis von Kultur grosso modo informieren könnte. Wenn ich also beim Beispiel des Klassenzimmers bleibe, geschieht dies nicht aus pädagogischem Anspruch, sondern weil diese Situation in der Wider- sprüchlichkeit der sie prägenden Zugehörigkeitsstrukturen einen exzellenten Demonstrationsfall für die Widersprüche und Ambivalenzen der Verschrän- kung von Zugehörigkeit und kultureller Differenz bildet.7 Es geht also darum, ›interkulturellen‹ Unterricht in seiner Situations- und Zugehörigkeitsspezifik soziologisch zu rekonstruieren und dann nach Generalisierbarkeiten Ausschau zu halten. Interkulturalität als Merkmal einer Situation stellt zunächst nicht mehr dar als eine Adressierungsweise, die kulturelle Differenzen zum Thema macht mit dem Ziel, sie miteinander ins Verhältnis zu setzen. Schon hier ist zu sehen, dass die Entscheidung, Differenz – auch: kulturelle Differenz – in die situative Bear- beitung von Differenz einzubeziehen, genau das darstellt: eine Entscheidung, oder anders gesagt, eine Kontingenz. Dieser Sachverhalt ist nur scheinbar tri- vial. Kürzliche Überlegungen zur Kategorie der Ähnlichkeit weisen darauf hin, dass Differenzbearbeitung nicht zwingend auf eine Anrufung von Differenz abzielen muss, sondern im Gegenteil auch Similaritäten zum Ausgangspunkt der Differenzbearbeitung machen können (Bhatti 2010). Damit ist weniger ge- meint, das Gemeinsame (scheinbar) differenter Lebens- und Deutungszusam- menhänge zu thematisieren, sondern eher, diese (scheinbaren) Differenzen in ihren wechselseitigen Kontiguitäten und Kontinuitäten zu verorten und genau dadurch – also eher an ihren Rändern als in ihrem Wesenskern – bearbeitbar zu machen. Das Konzept der Ähnlichkeit verweist somit darauf, dass Differenz- bearbeitung nicht mit Differenzaktualisierung identisch ist. Interkulturalität als Situationsmerkmal ist somit in erster Linie kontingent, unwahrscheinlich und voraussetzungsvoll. Dies wiederum bringt es mit sich, dass Interkulturalität niemals Merkmal der Situation als solcher ist, sondern stets ein Kommunikationsangebot dar- stellt, welches angenommen oder zurückgewiesen werden kann. Die Zugehö- rigkeitsstruktur der Schulklasse stellt dies überdeutlich aus: So wie hier, streng betrachtet, seitens der Schüler überhaupt kein Kommunikationsangebot ange- nommen werden muss, so gilt dies auch für ein solches, das kulturelle Diffe- renz thematisiert und Differenzen miteinander in Verbindung bringen möch- te. Aber selbst wenn interkulturelle Situativität hergestellt wird, d.h. wenn die Beteiligten darin übereinstimmen, dass es hier und jetzt (auch) um kulturelle Unterschiede geht, entscheidet dies noch nicht über den Ausgang, bzw. den ›Er-

7 | Für einen nicht minder exzellenten Demonstrationsfall, nämlich die Deutsche Is- lam Konferenz, verweise ich auf Tezcan 2012. KULTUR UND ZUGEHÖRIGKEIT | 165 folg‹, einer solchen Interaktion, die allzu leicht ins Essenzialistische abgleiten kann – vor allem dann, wie die situative Kooperation scheitert und ihr Scheitern zirkulär auf eben jene ›kulturelle Differenz‹ zugeschrieben wird, die doch dem Erfolg hatte dienen sollen. Ein solches Szenario wird auch dadurch wahrscheinlich, dass interkulturel- le Kommunikation gerade nicht, wie zuweilen behauptet, eine holistische und den ganzen Menschen in seiner kulturellen Bedingtheit ansprechende Kommu- nikationsform ist, sondern, wie gesagt, eine Entscheidung für ein bestimmtes Idiom der Differenzbearbeitung darstellt und daher immer vereinseitigt, beson- ders dann, wenn spezifische Differenzen gleichsam herauspräpariert werden. Dies ist der Fall etwa bei Versuchen, im Unterricht die ›Herkunftskultur‹ der Beschulten zum Thema zu machen – und sie damit, eigentlich in multikultura- listischer Weise, zu Exemplaren ›ihrer‹ Kultur. Die normative Herausforderung besteht dann darin, im Rahmen der Aktualisierung der spezifischen Differenz die Möglichkeit der Aktualisierung anderer Differenzen offenzuhalten, also gleichsam einen intersektionalen Horizont auch in einer interkulturellen Kom- munikation mitlaufen zu lassen, und daher auch darauf zu achten, dass die interkulturelle Kommunikation andere Differenzen, wie etwa die entlang der Gender- oder der Sexuality-Achse, nicht überdeterminiert (vgl. Müller 2012).8 Schließlich ist zu bedenken, dass sich die Bedeutung von Interkulturalität als Adressierung kultureller Differenz je mit der Situation ändern kann. Beschulte machen diese Erfahrung etwa dadurch, dass Interkulturalität in manchen Un- terrichtsstunden eine Rolle spielt, in anderen hingegen überhaupt nicht – zum Beispiel nicht in Sportstunden, die durch multikulturalistische Politiken von vornherein kulturell vereinheitlicht wurden. Dies macht auf ein allgemeineres Merkmal von Interkulturalität aufmerksam: Sie kann gesellschaftlich, also situ- ationsübergreifend, nicht überall gleichermaßen präsent sein, schon allein des- halb nicht, weil es nach wie vor zahllose soziale Kontexte gibt, die weitgehend monokulturell sind: Man denke hier an Vereine, Kirchengemeinden, aber auch Arbeitsplätze und nicht zuletzt Freundes- und Familienkreise. In solchen Kon- texten wäre ein interkulturelles Kommunikationsangebot bezugslos. Interkulturalität würde also eine genuin kulturelle Weise der Herstellung von Zugehörigkeit bezeichnen, d.h. eine solche, in der kulturelle Aspekte durch gesellschaftliche und situative Institutionalisierung zu dominanten Verhand- lungsmitteln von Zugehörigkeit werden. Interkulturalität bezöge sich somit nicht ontologisch auf eine Kontaktfläche ›zwischen Kulturen‹, sondern auf einen Modus der Aushandlung sozialer Zugehörigkeit (Öffnung bzw. Schlie- ßung), der kulturelle Gesichtspunkte privilegiert, dessen Gangbarkeit weitest- gehend von der jeweiligen Situation abhängt und der schließlich auf Wechsel- seitigkeit beruht, insofern er angenommen oder zurückgewiesen werden kann.

8 | Im Falle der Diskussion über den Islam als ›Kultur‹ zeigt sich dies etwa im mehr- heitsgesellschaftlichen Kurzschluss von muslimischer Männlichkeit und Homophobie einerseits und muslimischer Weiblichkeit und Servilität andererseits (s. kritisch hierzu Yilmaz-Günay 2010). 166 | ANDREAS LANGENOHL

Der dem zugrunde liegende Kulturbegriff wäre von einem multikulturalisti- schen Verständnis kultureller Differenz dadurch abgegrenzt, dass er die situ- ationsspezifische Thematisierung kultureller Differenz überhaupt erst zuließe und die Individuen nicht hinter ›ihrer‹ Kultur zum Verschwinden brächte; von einer Diversity-Perspektive wäre er dadurch unterschieden, dass er die Möglich- keit seines Scheiterns (die von der Abweisung der kulturellen Adressierung bis zu einer Verfestigung kultureller Stereotype reichen kann) mit einkalkuliert. Kultur wäre, aus dieser Perspektive, also kein Ausgangspunkt zur Lösung ge- sellschaftlicher Probleme (der Integration, der Zugehörigkeit, der Anerkennung etc.), sondern, vorgelagert, die sehr voraussetzungsreiche Entscheidung, Prob- leme von Zugehörigkeit, die mit der Differenzierung von Zugehörigkeitsstruk- turen zusammenhängen, aus einer Perspektive anzugehen, die die Bedeutsam- keit von Sinngebungsprozessen und Interpretationen in den Mittelpunkt rückt, und diese Entscheidung zugleich der Bewährungsprobe der Wechselseitigkeit und dem Risiko des Scheiterns auszusetzt.

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Literarischer Essay Wiederabdruck nach: Talisman. Literarische Essays. Tübingen: Konkursbuch-Verlag 72011 (zuerst 1996). © konkursbuch Verlag Claudia Gehrke Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch

Yoko Tawada

Es gibt Menschen, die behaupten, dass ›gute‹ Literatur eigentlich unübersetz- bar sei. Als ich noch nicht Deutsch lesen konnte, habe ich diesen Gedanken tröstlich empfunden, weil ich mit der deutschsprachigen Literatur – beson- ders mit der, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist – nichts anfan- gen konnte. Ich dachte mir, ich müsste Deutsch lernen und sie im Original lesen, dann würde sich mein Problem mit der deutschen Literatur wie von allein auflösen. Es gab aber Ausnahmen, wie z.B. die Gedichte von Paul Celan, die mich schon in der japanischen Übersetzung faszinierten. Mir fiel gelegentlich die Frage ein, ob seine Gedichte vielleicht keine Qualität besäßen, weil sie übersetz- bar waren. Mit der Frage nach der ›Übersetzbarkeit‹ meine ich nicht, ob ein Ge- dicht sein perfektes Abbild in einer fremden Sprache findet, sondern ob seine Übersetzung auch Literatur sein kann. Außerdem wäre es nicht ausreichend, wenn ich sagen würde, Celans Gedichte seien übersetzbar. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass sie ins Japanische hineinblicken. Nachdem ich gelernt hatte, deutsche Literatur im Original zu lesen, stell- te ich fest, dass meine Eindrücke keine Täuschung waren. Es muss zwischen Sprachen eine Kluft geben, in die alle Wörter hineinstürzen. Umso stärker be- schäftigte mich die Frage, warum Celans Gedichte eine fremde Welt, die außer- halb der deutschen Sprache liegt, erreichen können. Eine mögliche Antwort auf meine Frage begegnete mir später auf überra- schende Weise. Eines Tages rief mich Klaus-Rüdiger Wöhrmann an, um sich bei mir für die Fotokopie zu bedanken, die ich ihm auf seinen Wunsch hin ge- macht hatte. Es war die Kopie der japanischen Übersetzung von Celans Gedicht- band Von Schwelle zu Schwelle (1955). Der Übersetzer des Bandes war Mitsuo Iiyoshi, durch dessen japanische Version ich Celans Text kennengelernt hatte. Als Wöhrmann mir sagte, dass das Radikal 門 (Tor) für diese Übersetzung eine entscheidende Rolle spiele, blitzte eine Idee durch meinen Kopf: Genau dieses Radikal verkörperte die »Übersetzbarkeit« der Literatur Celans. Ein Radikal ist so etwas wie der »Hauptbestandteil« eines Ideogramms (Ideogramm = Schriftzeichen, das einen ganzen Begriff ausdrückt und nicht einen Laut wie das Alphabet). Es gibt auch ldeogramme, die nur aus dem Ra- dikal bestehen, wie z.B. 門 (Tor), aber die meisten haben noch zusätzliche Be-

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 172 | YOKO TAWADA standteile. Alle Schriftzeichen, die das Radikal »Tor« in sich tragen, haben auf der semantischen Ebene etwas mit Tor zu tun. Allerdings sind die Bedeutung des Radikals und die des ganzen Schriftzeichens manchmal so weit voneinan- der entfernt, dass man den Zusammenhang ohne Hilfe des Lexikons nicht er- kennen kann. Außerdem denkt man beim Lesen nicht darüber nach, welche Bedeutungen die einzelnen Bestandteile eines Schriftzeichens haben, sondern man erfasst das ganze Zeichen als solches. Deshalb wäre ich alleine nicht auf die Idee gekommen, über ein Radikal bei Celan nachzudenken. Nur der klare Blick von außen konnte mich darauf aufmerksam machen. Wie aber ist es möglich, dass in diesem schmalen Gedichtband immer wie- der an einer entscheidenden Stelle die Ideogramme mit dem Radikal »Tor« auf- tauchen? Es kann kein Zufall sein, denn einen Zufall gibt es vielleicht in der Li- teratur, aber nicht in der Lektüre der Literatur. Die Frage nach der Intention des Autors hilft uns gar nicht: Es ist nicht möglich, dass Celan heimlich Japanisch gelernt und mit Absicht so gedichtet hat, dass in der japanischen Übersetzung das Radikal »Tor« zu einem Schlüsselzeichen wird. Das Radikal »Tor« erscheint bereits zweimal im Titel des Gedichtbandes Von Schwelle zu Schwelle. Das Schriftzeichen 閾 (Schwelle) hat das Radikal »Tor«. In diesem Fall ist es nicht schwer, die Gemeinsamkeit zwischen der Bedeutung des Radikals und der des Zeichens zu erraten: Es geht in beiden Fällen um eine Grenze. Dieser Titel zeigt aber schon, dass die Grenzüberschreitung nicht beabsichtigt ist: Es geht nicht darum, eine bestimmte Grenze zu überschreiten, sondern darum, von einer Grenze zu einer anderen zu wandern. Im ersten Gedicht des Buches taucht schon wieder ein Schriftzeichen mit dem Radikal »Tor« auf: 聞 (Hören). Ich hörte sagen heißt das Gedicht und fängt an mit dem Satz:

Ich hörte sagen, es sei im Wasser ein Stein und ein Kreis und über dem Wasser ein Wort, das den Kreis um den Stein legt.

In dem Zeichen 聞 (hören) sieht man ein Ohr 耳, das unter dem Tor 門 steht. Folgt man dem Zeichen, so bedeutet Hören, wie ein Ohr an der Schwelle zu stehen. In der nächsten Strophe sieht das Ich eine andere Figur, die nicht auf der Schwelle stehenbleibt, sondern sie überschreitet.

Ich sah meine Pappel hinabgehn zum Wasser, ich sah, wie ihr Arm hinuntergriff in die Tiefe, ich sah ihre Wurzeln gen Himmel um Nacht flehn.

Die Welt unter Wasser befindet sich hinter der Schwelle. Das lyrische Ich sieht, wie die »Pappel« in die fremde Welt des Wassers eintaucht, aber es bleibt Beob- achter und eilt ihr nicht nach. DAS TOR DES ÜBERSETZERS ODER CELAN LIEST JAPANISCH | 173

Ich eilt ihr nicht nach, ich las nur vom Boden auf jene Krume, die deines Auges Gestalt hat und Adel, ich nahm dir die Kette der Sprüche vom Hals und säumte mit ihr den Tisch, wo die Krume nun lag.

Das Ich steigt nicht ins Wasser, sondern bleibt auf der Schwelle und treibt ein magisches Spiel: Der Stein und der Kreis werden mit Hilfe der Krume und der Kette nachgezeichnet, und so wird das Bild, das unter Wasser zu sehen sein soll, auf dem Tisch wiederholt. Dieses magische Spiel wirkt wie ein Übersetzungsvorgang. Der Übersetzer bildet das Bild, das sich unter Wasser befindet, auf dem Schreibtisch nach. Die Pappel ist dagegen keine Übersetzerin. Ihr Körper verschwindet im Wasser. Wenn man die fremde Welt unter Wasser mit dem Reich der Toten gleich- setzen würde, dann wäre das magische Spiel eine Übersetzung der Sprache der Toten in die Schrift. Der Übersetzer hört das Wort der Toten und liest es (liest er es wie Ähren vom Boden auf oder liest er es wie ein Schriftzeichen?) und stellt es auf den Schreibtisch, also er schreibt. Die Pappel dagegen schreibt nicht. Sie verschwindet wie eine Sterbende im Wasser: Und sah meine Pappel nicht mehr. Das Hören spielt in der ersten Gedichtserie dieses Buches, welche Sieben Ro- sen später betitelt ist, durchgehend eine wichtige Rolle. Mir kam es vor, als wür- den die Gedichte mich daran erinnern, dass das Hören nicht von der Schwelle getrennt zu denken ist. Ich hatte das gewusst, als ich noch ausschließlich in der japanischen Sprache lebte. Das Schriftzeichen 聞 (hören) hielt damals dieses Wissen fest, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre. Es gibt ein Sprichwort, das vielleicht auch zu diesem Wissen gehört. Es lautet: Monzen na kozoo nara- wanu kyoo o yomu (Der Knabe, der vor einem Tempeltor lebt, kann das Gebet rezitieren, ohne es zu lernen). Der Knabe, der nicht in den Tempel hineingeht und am Tor steht, verkörperte für mich den Hörenden. Aber seitdem ich oft in der deutschen Sprache denke, hängt das »Hören« hauptsächlich mit dem »Zugehören« zusammen, so dass ich beim Hören das Bedürfnis bekomme, der fremden Stimme nachzueilen, und nicht an der Schwelle zu bleiben. Je intensiver ich las, desto stärker wurde mein Eindruck, dass Celans Ge- dichte ins Japanische hineinblicken. Der Dichter muss den Blick der Überset- zung, der aus der Zukunft auf den Originaltext geworfen wird, gespürt haben. Interessant ist, dass man Celans Fähigkeit, diesen Blick wahrzunehmen, nicht mit sogenannter Sprachkenntnis begründen kann. Es muss eine Fähigkeit ge- ben, beim Schreiben ein oder mehrere fremde Denksysteme (in diesem Fall das System der chinesischen Schriftzeichen, so wie es heute u.a. in der japanischen Sprache weiterlebt), die außerhalb der konkret verwendeten Sprache liegen, zu sich zu rufen und im Text präsent zu machen. Der Titel des dritten Gedichtes Leuchten enthält das Schriftzeichen 閃 (Leuchten), das auch das Radikal »Tor« hat. Hier sieht man, wie ein Mensch 人 unter einem Tor 門 steht. Ich hatte mir noch nie Gedanken darüber gemacht, warum aus der Kombination von einem Tor und einem Menschen ein Leuchten erzeugt werden kann. Vielleicht ist einer, der unter einem Tor (oder auf einer 174 | YOKO TAWADA

Schwelle) steht, besonders fähig, ein Leuchten aus einer unsichtbaren Welt zu empfangen. (Diese Idee wurde während der weiteren Lektüre bestätigt.) Außerdem spürte ich etwas, was das deutsche Wort »Leuchten« stark mit diesem Schriftzeichen verbindet: Mir fiel auf, dass das Wort »Ich« in der Mitte des deutschen Wortes »Leuchten« kurz auftaucht, wenn man es deutlich und laut ausspricht. Das Wort »Ich« kommt sonst nicht in dem Gedicht vor, sondern nur »mir«, »du« und »uns«. Nur in dieser Leuchte blitzt das Ich einmal auf, ganz kurz und gebrochen. Wenn ich mir ein Gedicht als einen Strahlenempfänger vorstelle, so ist es sinnlos, in einem deutschen Gedicht etwas ›typisch Deutsches‹ zu suchen. Denn es empfängt immer etwas Fremdes und niemals sich selbst. Vielleicht gibt es auch deutsche Gedichte, die aus der deutschen Erde gemacht sind. Mich interessieren aber eher die Gedichte, die mit Konstellationen fremder Sprachen und Denkweisen korrespondieren, denen sie bei ihrer Entstehung noch nicht begegnet waren. Ich bezeichne hier die fremden Denksysteme deshalb als Kon- stellationen, weil jedes Zeichen aus ihnen wie ein Stern ein Licht auf das Origi- nal wirft. Wenn man das Gedicht Strähne liest, kann man sich vorstellen, dass zwar der Mund des Dichters aus Erde bestehen könnte, aber nicht seine Worte. Dieser Mund spürt ein Sternenlicht und spricht die Worte, die sich von der ver- trauten Sprache unterscheiden.

Niedergehn hier die Fernen, und du, ein flockiger Haarstern, schneist hier herab und rührst an den erdigen Mund.

Der Strahl aus dem Stern ist hier noch nicht sichtbar. Erst wenn der Übersetzer später dem Strahl eine Form gibt, sieht man ihn endlich. Wie ist aber dieser Vorgang zeitlich zu verstehen? Wie soll die ›Zeit‹ aussehen, in der die Überset- zung das Original anstrahlen kann? In der ersten Zeile des fünften Gedichtes Mit Äxten spielend kommt das Wort »Stunden« vor, deren Übersetzung wieder ein Schriftzeichen mit dem Radikal »Tor« enthält. Das Wort »Stunde« 時間 wird aus »Zeit« 時 und »Zwischenraum« 間 zusammengestellt. In dem zweiten Zei- chen 間 sieht man die Sonne 日, die unter einem Tor steht. In der früheren Form dieses Zeichens stand der Mond und nicht die Sonne unter dem Tor. Das Mondlicht scheint durch die Spalte des leicht geöffneten Tors hindurch: So stell- ten sich die Menschen damals einen Zwischenraum vor.

Mit Äxten spielend

Sieben Stunden der Nacht, sieben Jahre des Wachens: mit Äxten spielend, liegst du im Schatten aufgerichteter Leichen – o Bäume, die du nicht fäIIst! –‚ DAS TOR DES ÜBERSETZERS ODER CELAN LIEST JAPANISCH | 175

zu Häupten den Prunk des Verschwiegnen, den Bettel der Worte zu Füßen, liegst du und spielst mit den Äxten – und endlich blinkst du wie sie.

Dieses »Du« blinkt wie die Axt, das heißt, es hat wahrscheinlich keinen eigenen Strahl, sondern es empfängt »endlich« ein fremdes Licht und blinkt. Dieses »Du« kann ein Gedicht sein, das eine Zeitlang auf das Licht der Übersetzung wartet. Dieses Gedicht liegt wie eine Brücke zwischen dem »Prunk des Ver- schwiegnen« und dem »Bettel der Worte«. Dabei bildet das Gedicht einen Zwi- schenraum. Ein ähnlicher Raum auf einer Schwelle kommt auch im Gedicht Gemeinsam vor.

Da nun die Nacht und die Stunde, so auf den Schwellen nennt, die eingehn und ausgehn,

Die Begegnung des Originals mit seiner Übersetzung findet bei der Entstehung des Textes statt und nicht später. Das kann man nur verstehen, wenn man sich diese Entstehung nicht in einem Zeitpunkt auf einer fortlaufenden Zeitlinie vorstellt, sondern in einem Zwischenraum auf einer Schwelle. Der Zwischen- raum ist kein geschlossenes Zimmer, sondern er ist der Raum unter einem Tor. Ich fing an, Celans Gedichte wie Tore zu betrachten und nicht etwa wie Häuser, in denen die Bedeutung wie ein Besitz aufbewahrt wird. Dabei fiel mir ein Satz ein, den Gershom Scholem in Religiöse Autorität und Mystik schrieb:

Je präziser solche mystische Exegese, desto größer die Chancen der fortdauern- den Anerkennung des so verwandelten Textes auch in seinem Wortsinn, der nur das Tor bildet, durch das der Mystiker schreitet, aber ein Tor, das er sich immer wieder offenhält.

Celans Wörter sind keine Behälter, sondern Öffnungen. Ich gehe durch die Öff- nung der Tore, jedes Mal, wenn ich sie lese. Das Schriftzeichen 開 (sich auftun) kommt übrigens auch vor, und zwar in der entscheidenden letzten Zeile des Gedichtes Ein Körnchen Sands.

und ich schweb dir voraus als ein Blatt, das weiß, wo die Tore sich auftun.

Ein Wort zu schreiben bedeutet, ein Tor zu öffnen. Die Lektüre der Schriftzei- chen ist die der Wörter, und nicht die der Sätze oder des Klangs. Die faszinieren- de Übersetzbarkeit der Gedichte Celans kann u.a. an ihrer Wörtlichkeit liegen. Celan selbst spricht immer wieder vom »Wort«, z.B. im ersten Gedicht: »und über dem Wasser ein Wort«, oder in Strähne: 176 | YOKO TAWADA

Dies ist ein Wort, das neben den Worten einherging, ein Wort nach dem Bilde des Schweigens, umbuscht von Singrün und Kummer.

In diesem Gedicht wird das Wort klar von der »Sprache« unterschieden: Das Wort bildet das Schweigen nach, während die Sprache den Körper des Dichters verletzt:

ein Wort, das mich mied, als die Lippe mir blutet’ vor Sprache

Ich vergleiche Celans Wörter mit den Toren und erinnere mich dabei daran, dass Benjamin die Wörtlichkeit einer Übersetzung als »Arkade« bezeichnet:

Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern lässt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Me- dium, nur um so voller aufs Original fallen. Das vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Ur- element des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit die Arkade.

Eine Arkade besteht – wenn man so will – aus vielen Toren, die hintereinander stehen. Wenn jedes Wort von Celan ein Tor bildet, so kann das ganze Gedicht wie eine Arkade aussehen. Ich werde jetzt durch das letzte Tor von Sieben Rosen später hindurchgehen: Das siebte Zeichen mit dem Radikal »Tor« 闇 (Dunkel) taucht in zwei Gedich- ten auf: in Von Dunkel zu Dunkel und in Der Gast. Es ist von seiner Zusam- mensetzung her ein besonders rätselhaftes Zeichen, denn dort steht ein Ton 音 unter dem Tor 門 und soll »Dunkelheit« bedeuten. Ich las Celans Gedicht Von Dunkel zu Dunkel, als könnte ich dadurch die Entstehung dieses Zeichens besser verstehen.

Von Dunkel zu Dunkel

Du schlugst die Augen auf – ich seh mein Dunkel leben. Ich seh ihm auf den Grund: auch da ists mein und lebt.

Setzt solches über? Und erwacht dabei? Wes Licht folgt auf dem Fuß mir, dass sich ein Ferge fand?

Nach der Lektüre des Gedichtes erkläre ich mir das rätselhafte Schriftzeichen 闇 folgendermaßen: Das sprachlich nicht Darstellbare, das »Dunkel«, befindet sich vermutlich hinter dem Tor, aber man kann nicht durch das Tor blicken, weil ein Ton ihm im Weg (d.h. direkt unter dem Tor) steht. Gleichzeitig fürchtet DAS TOR DES ÜBERSETZERS ODER CELAN LIEST JAPANISCH | 177 man, dass man überhaupt keinen Zugang mehr zu dem Dunkel haben könnte, wenn es keinen Ton mehr gäbe. Der Ton stopft das Tor zu, aber er ist auch das Medium, das diese Seite des Tors mit der anderen verbindet. Man muss ihn hören, dann verhindert er nicht die Sicht. Das Gedicht Von Dunkel zu Dunkel, besonders die Frage »Setzt solches über?« lädt mich ein, über die Entstehung eines Gedichtes und seiner Über- setzung weiter nachzudenken. In der ersten Strophe blickt eine Übersetzung, die noch nicht existiert, auf den Dichter (»Du schlugst die Augen auf«), und er spürt das »Dunkel« in sich selbst. Damit wird die Dichtung in Gang gesetzt. In der zweiten Strophe geht es um die Suche nach einer Übersetzung. Es wird gefragt, ob solches (Dunkel) überhaupt hinübergesetzt (übersetzt) werden kann und ob es dabei erwacht. Es ist eine schöne Vorstellung, dass etwas durch die Übersetzung erwachen kann. Bis der Übersetzer (»Ferge«) gefunden wird, steht der Autor orientierungslos, einsam und unsicher da. Er fragt sich: »Wes Licht folgt auf dem Fuß mir, dass sich ein Ferge fand?« Es ist schön, dass es offen bleibt, wann der Arbeitsprozess des Schreibens beginnt und wann er vollendet ist. Vielleicht dauert dieser Prozess so lange, bis das Gedicht in die letzte Sprache übersetzt ist. Auf jeden Fall ist es ein Wunder, dass Celan ohne Hilfe eines Lexikons chi- nesischer Schriftzeichen Sieben Rosen später geschrieben hat. Das sind genau sieben unterschiedliche Schriftzeichen mit dem Radikal »Tor«, die in der Über- setzung verwendet werden: 閾⦆(Schwelle). 門 (Tor), 聞 (Hören), 開 (Sich auf- tun), 間 (Zwischenraum), 閃 (Leuchten), 闇 (Dunkel). Das entspricht den sieben Rosen oder den sieben Stunden; die magische Zahl, auf die immer wieder ange- spielt wird. Die »sieben Rosen« drücken einen Zeitraum aus, wie man an dem Ausdruck »sieben Rosen später« sieht. Bei der Lektüre öffnet sich jede Rose wie ein Schriftzeichen, wie ein Tor oder wie ein Zwischenraum. Das Radikal »Tor« ist das sichtbare Element in dieser Übersetzung, das zeigt, warum sie als Literatur wirksam ist. Die Übersetzung ist nicht Abbild des Originals, sondern in ihr bekommt eine Bedeutung des Originals einen neuen Körper (in diesem Fall nicht einen Klangkörper, sondern einen Schriftkörper). Walter Benjamin schreibt:

Übersetzbarkeit eignet gewissen Werken wesentlich – das heißt nicht, ihre Überset- zung ist wesentlich für sie selbst, sondern will besagen, dass eine bestimmte Bedeu- tung, die dem Original innewohnt, sich in ihrer Übersetzbarkeit äußere.

Forum Title: ›Explaining‹ Gangnam Style. A Contribution to German-Korean Understanding

Keywords: Gangnam Style; Psy (Park Jae-Sang, 1977–); K-Pop; Korea; youth culture Gangnam Style ›erklärt‹ Ein Beitrag zur deutsch-koreanischen Verständigung

Klaus H. Kiefer

für Bog-Za

K-POP UND PSY1

Gagnam Style pfeifen mittlerweile nicht nur die Spatzen vom Dach; YouTube zeigte bereits mehrere Papageien, die verbal und nonverbal – durch rhythmi- sches Wippen auf der Stange – den lustigen Song imitieren. K-Pop ist schon seit geraumer Zeit ein (süd-)koreanischer Exportschlager neben Computern, Kühlschränken, Autos, Containerschiffen und vielem ande- ren mehr. Psy, ausgesprochen ›Sai‹ (von engl. ›psycho‹) und mit bürgerlichem Namen Park Jae-Sang (* 1977),2 schlägt jedoch seit Juli 2012 alle Rekorde in der Musikbranche.3 Ohne Zweifel haben die unterschiedlichsten Mediatoren und Multiplikatoren der Kulturindustrie zu diesem weltweiten Erfolg beigetragen:

1 | Prof. Kim Jeong-Yong von der Seoul National University danke ich für zahlreiche Informationen und Anregungen. Der am 7. Februar 2013 an der Ludwig-Maximilians- Universität München gehaltene und für die ZIG überarbeitete Vortrag richtete sich an Publikum, das sich nicht unbedingt mit K-Pop und koreanischer Sprache und Kultur auskannte. An der Übersetzung am Ende dieses Beitrags), die so wörtlich wie möglich am Original bleiben sollte – wenn das angesichts der Grundverschiedenheit der bei- den Sprachsysteme überhaupt möglich war –, wirkte Shin Hyuijae mit. Sie gab mir auch viele Tipps zur koreanischen Jugendkultur. Wolfgang Delseit lektorierte kritisch und kreativ. 2 | Vgl. [Art.] Psy. In Korea wird der Familienname vorangestellt. Der Raptext stammt von Yoo Gun-Hyung in Zusammenarbeit mit Psy. 3 | Vgl. [Art.] Gangnam Style. Den Rapsong kann man als MP3-Datei zum Download käuflich erwerben, auch als Karaoke; das Musikvideo ist im Internet mehrfach kopiert, z.B. Psy: Gangnam Style [Video]; zu Psy: Gangnam Style [Video mit deutschen Unterti- teln] vgl. meine Übersetzung am Ende des Beitrags. Eine im Internet kursierende deut- sche Nachdichtung ist fehlerhaft, s. Psy: Oppa [sic!] Gangnam Stil. Auf die Wiedergabe der koreanischen (Laut- und Silben-)Schrift (= Hangul; s. Haarmann 1990: 355ff.) in lateinischer Transkription verzichte ich, da Koreaner und erst recht Nicht-Koreaner die- se ›romanization‹, die auf das ohnehin vertrackte englische Laut- und Schriftsystem zurückgreift und die sich als Beigabe zu englischen Übersetzungen im Internet findet,

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 182 | KLAUS H. KIEFER

YouTube, Talk Shows, Blogs und was es nicht alles gibt. Warum Psy mit Gangnam Style ein so großer – und vermutlich einmaliger – Wurf gelang, wo er doch nur »as ridiculous as possible« (Psy 2012)4 sein wollte, harrt nach wie vor der Erklärung.5 Verblüffend dabei ist, dass kaum jemand den Song-, genauer: den Raptext versteht – mit Ausnahme natürlich der Koreaner,6 aber auch nicht al- ler. Wirklich erhellend wirken auch nicht die Videosequenzen, die den Rap in bunter Folge eher begleiten, als ihn Schritt für Schritt zu kommentieren. Sie erzählen eine andere Geschichte als der Text. Zur Auflösung dieser Paradoxie weiter unten Genaueres. Die musikalische Komposition werde ich im Folgenden wohlweislich nur am Rande behandeln. »Singe, wem Gesang gegeben«, tönte Ludwig Uhland um 1813. Das Dichterwort hat noch nichts an Bedeutung verloren, jedenfalls was mich betrifft. Bleibt noch der innovative Tanzschritt zur Erklärung des Mas- senphänomens? Aber auch der koreanische Reitertanz oder Pferdetanz (»horse riding dance«, so Psy selber) ist so absonderlich wie Michael Jacksons Moonwalk oder der französische Ententanz (Cancan) im Moulin Rouge (vgl. Kiefer 2012). Das hochtechnifizierte Korea ist gewiss keine Reiternation; allerdings gibt es in Seoul drei Reiterstadien. Ich wette aber fast, dass Psy ebenso selten im Sattel saß, wie Michael Jackson auf dem Mond spazierte. Wie soll man nun verstehen, dass im Lande von Hyundai, Samsung, KIA & Co. ein per pedes durch die Welt galoppierender Rapper Erfolg hat? Und wie soll man verstehen, dass auf der ganzen Welt junge Menschen zusammen laufen – man nennt das ›Flashmob‹ –, um auf einem imaginären Steckenpferd den Gangnam Style zu zelebrieren. Marching Bands US-amerikanischer Universitäten pauken und trompeten ihn, Gefängnisinsassen auf den Philippinen werden damit the- rapiert (von Psy persönlich). Ein ›quasi-religiöses‹ Phänomen, meint der Phi- losoph Slavoj Žižek (2012), der am 16. Oktober 2012 bei einem Vortrag über Buddhismus an der Universität Vermont einen kritischen, aber wenig verständ- nisvollen Exkurs zum Gangnam Style unternahm. Was mir ideologieverdächtig wirkt, ist eher die Erleichterung, die viele Interpreten an den Tag legen, dass es sich bei Psys Rap (nur) um eine Parodie handle.7 Durch die ironische Distanz nur nach längerem Herumrätseln lesen können. Ein paar wichtige Wörter gebe ich so wieder, dass sie Deutsche aussprechen können. 4 | Vor Psy sprachen im Union Club der Universität Oxford u.a. der Dalai Lama und Mutter Theresa. 5 | Die Gattungsbezeichnung meines Vortrags spielt ironisch auf so ›pragmatische‹ Ti- tel an wie z.B. Heidegger explained. 6 | Psy, der sehr gut Englisch spricht und wohl auch (mehr als nur »hey sexy lady«, und »you know what I’m saying«) singen könnte, erweist sich in seiner Oxforder Rede (Psy 2012) als ein durchaus reflektierter Patriot, der den Wert der Muttersprache zu schät- zen weiß. 7 | Diese angebliche Parodie wiederum hat unzählige, zum größten Teil ziemlich ein- fältige Parodien erzeugt, auf deren Nachweise ich hier im Einzelnen verzichte: Gan- dalf-, Gunmen- und Obama-Style, selbst den Gaza-Style (ohne Frauen) usw; es gibt Hitler-, Kim-Jong-Il- und Kim-Jong-Un-Adaptationen usw. Eine Gangnam-Style-Inter- GANGNAM STYLE ›ERKLÄRT‹ | 183 werde die »guilty pleasure« (N.N. 2013a),8 d.h. das zweifelhafte Vergnügen an einem minderwertigen Produkt der Spaß- und Konsumgesellschaft gesühnt. Ich jedenfalls nehme den Spaß an Gangnam Style ganz ernst – so wie die Rolling Stones (2012) einst bekannten: »It’s only Rock ’n’ Roll, but I like it.« Oder, wenn Sie es etwas klassischer wollen: »Greift nur hinein ins volle Menschenleben! […] Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.« (Goethe 1986: 539)

TEXT UND BILD

Um plausibel zu machen, was ich im Folgenden biete, fiel mir der von Hugo Kuhn (1973: 3) geprägte Begriff »Strukturerzählung« ein, eine narrative Form der Strukturanalyse.9 In diesem Sinne werde ich also nacheinander zwei Er- zählstränge referieren, die in unserem Gesamtkunstwerk parallel laufen und sich dann am Ende doch in die ›Quere‹ kommen. Man könnte sagen: Es han- delt sich um Ideen, Wünsche, Postulate auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung. Doch zunächst die Filmhandlung, soweit sie aus der Bilder- und Szenenfolge zu erschließen ist.

FILMHANDLUNG

Zu Beginn befindet sich der Held, personifiziert durch Psy (aber natürlich nicht mit ihm identisch), in derselben Lage wie der jüngste Müllerssohn (Brüder Grimm 2009b: 819)10 aus dem Gestiefelten Kater – man würde sie heute ›prekär‹ nennen. Wie im Märchen ist der Held freilich ein Pseudo-, man könnte hier sagen: ein Psydoheld.11 Im Liegestuhl auf einem Kinderspielplatz (also keines- wegs ›weich‹ gebettet, etwa in einer luxuriösen Wellnessoase Gangnams) döst er, eine Cola neben sich,12 vor sich hin, bis ihn eine Art Erleuchtung durchfährt: pretation des chinesischen Künstlers Ai Wei Wei (mit Handschellen) wurde von Staats wegen gelöscht. 8 | Der Anonymus irrt, dass der Songtext »extrem vulgär« sei, da er offenbar nur die freie bzw. fehlerhafte Nachdichtung (s. Anm. 3) zur Kenntnis genommen hat. 9 | Zur Methodik vgl. auch die Ausführungen weiter unten mit Hinweis auf Barthes 1964, Jakobson 1989 u. Matthes 2003. 10 | Es geht hier nicht um Einflussforschung, aber Grimms Märchen sind auf jeden Fall in Korea bekannt. 11 | Das Mangelhafte fällt nur im Kontrast mit dem unsäglichen Reichtum Gangnams auf, dessen der Held nicht teilhaftig ist. Allerdings ist in Gangnam auch nicht mehr al- les Gold, was glänzt. Viele Wohnungs- und Hausbesitzer haben sich überschuldet (in Korea muss man Wohnungen und Häuser kaufen; Mietwohnungen sind selten), die man jetzt nur noch »house poor« nennt. 12 | In einer anderen Aufnahme nur ein Glas Wasser. Auch wechselt Psy häufig die Garderobe, insbesondere das Jackett: blau, schwarz, weiß usw. Blau ist das Jackett 184 | KLAUS H. KIEFER

»Oppan Gangnam Style« (s. Abb. 1). Dieses ›Erweckungserlebnis‹ ist wie bei Goethe ästhetisch konnotiert.13

Abb. 1

Die junge Frau neben ihm ist seine Muse, die ihn zwar nicht küsst, aber sein ›kreisendes‹ Haupt mit einem Fächer bewedelt, der auf seinen Erfolg voraus- deutet; zu sehen: sein stilisiertes Konterfei, wie auf dem Werbebanner, den ein Flugzeug im selben Augenblick über den Himmel zieht (und alles spiegelt sich in Psys Sonnenbrille). Hier liest man »Gangnam Style« – ironisch! – verkehrt herum. Aber warum spielt die Szene gerade auf einem ›Kinderspielplatz‹? Hier gibt es einen kleinen Helfer-Genius, einen tanzenden Putto,14 der die kindliche Kreativität personifiziert, das Kind im Manne, das ›spielen‹ will … (vgl. Nietz- sche 1980b: 85). Der Gangnam-Distrikt ist seit 20 Jahren ein solcher ›Spielplatz‹; konkret er ist – viele wissen es nicht oder wussten es ›before Psy‹ nicht – Seouls Zentrum des Geschäftslebens, aber auch des Vergnügens (s. Abb. 2),15 ein Viertel der un- begrenzten Möglichkeiten, das koreanische »Mahagonny«, in dem es, so Bertolt Brecht (1988b: 381), ein Kapitalverbrechen ist, kein Geld zu haben.16

Uncle Sams, blau aber auch Werthers Frack (vgl. Goethe 1987b: 262 u. 298). Da der Firmengründer des allen Koreanern bekannten Lotte-Konzerns, Shin Kyuk-Ho, ein Goe- the-Verehrer ist und die Firma nach Werthers Lotte benannte, könnte hier eine Verbin- dung bestehen. Filmfehler (engl. ›goof‹) sind im Gangnam-Video so häufig, dass der fröhliche Dilettantismus nach Absicht aussieht. Aus (scheinbarer) ›Nachlässigkeit‹ wird dadaistisches Spiel. 13 | Zum ›Erweckungserlebnis‹ (das in Europa seine Ursprünge im Pietismus hat – eine spätere Säkularisation nicht ausgeschlossen) s. Kiefer 1978: 12 u.ö. 14 | S. Anm. 50. Zu »Putto« (ital. = Knäblein) vgl. Cupido in Abb. 5. 15 | Natürlich lässt sich ein Mythos nur schwer fotografieren. Allgemein vgl. Hess-Lüt- tich 2009 u. Hess-Lüttich u.a. (Hg.) 2011. 16 | Der Gangnam-(irr-)relevante Teil findet sich ca. ab der 35. Minute. GANGNAM STYLE ›ERKLÄRT‹ | 185

Abb. 2

»Oppan« wiederum bedeutet »älterer Bruder«. Im Koreanischen werden sozi- ale bzw. familiäre Hierarchien eigens lexikalisiert; man kann also einen (we- nig) älteren Fremden oder auch Freund vertraulich als »Oppan« anreden.17 Das grammatikalisch offene »Oppan Gangnam Style« fungiert zunächst als Sprech- akt, d.h. hier als Imperativ, ähnlich wie Buster Keatons Go West! (1925), eine Per- siflage des sicher auch Psy bekannten Uncle Sam wants you … (vgl. Abb. 3 u. 4),18 oder noch besser: Franz Josef Degenhardts »Geh doch in die Oberstadt / Mach’s wie deine [älteren] Brüder!« (Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, 1965) Also finde dein Glück in Gangnam! Das topografische Profil von ›Gangnam‹ ist das von ›unten‹ und ›oben‹ bzw. von ›Realität‹ und ›Mythos‹. Vom Einen zum An- deren führt der Aufstieg bzw. die Verwirklichung. Was nach dem anfänglichen Erweckungserlebnis folgt, kann sowohl als Tagtraum19 als auch als (fingierte) ›Realität‹ verstanden werden.

17 | ›Oppa + n‹ ist Nominativ, die Assoziation mit dt. ›Opa‹ (Großvater) ist rein zufällig. Der Ausdruck kann auch, von einer jungen Frau ausgesprochen, ›Darling‹ oder Ähnli- ches bedeuten. Im Deutschen vergleichbar ist lediglich das kanaksprachliche ›Alder‹: »He Alder, hassu Ei-Pott bei?« (zit n. Hübner 2013). In Wikipedia wird mit der Über- setzung ›Alter Bruder‹ eine falsche Vorstellung geweckt. Eine jüngere Frau spricht eine (etwas) ältere mit ›ältere Schwester‹ an (kor. ›onji‹); vgl. Anm. 52. 18 | Der geradewegs zum Topos gewordene ›pointing finger‹ unterstreicht ikonisch, dass sich die neutrale Aussage in einen Imperativ verwandelt, akustisch verstärkt durch den Kommandoton; vgl. Abb. 1, wo die Geste (links oben im Bild) schon ange- deuet ist. – Keaton parodiert Horace Greeleys Slogan »Go West, Young Man, Go West« (1865); vgl. Greeleys Standbild im Film mit ›wegweisender‹ Geste. 19 | Völlig als »Männerphantasie« erscheint nur – auch hier irrt die Süddeutsche Zei- tung – die Szene im ›Windkanal‹, wo sich der Möchtegern-Casanova mit zwei jungen Frauen im Arm im (symbolisch-widrigen) Gegenwind produziert (vgl. N.N. 2013a). Die- se beiden sind im Unterschied zu der später gefundenen ›Einzigen‹ neutral stilisiert, also eher Phantasiefiguren. 186 | KLAUS H. KIEFER

Abb. 3

Die syntaktische Äquivalenz lässt aber auch andere Lesarten zu: Eine zweite wäre: »Gangnam« als »Oppan« ist der »Big Brother«,20 der über den ›Style‹ des gesellschaftlichen Lebens wacht; anders gesagt: »Gangnam« ist der Mythos, der die ›obersten Werte‹21 repräsentiert. Und so macht sich denn unser Held auf den Weg. Die Aventüre, die Psy-Orpheus in die ›Oberwelt‹22 führt, beginnt nicht zufällig in einer Reithalle, wo Seouls Upperclass dem kostspieligen Hobby des Reitens nachgeht. Da der Held aber selber kein Pferd hat bzw. sich keines

20 | George Orwells Nineteen Eighty-Four ist nicht ins Koreanische übersetzt; man ge- braucht den Ausdruck ›Big Brother‹ quasi als Internationalismus und würde ihn vermut- lich in einer Übersetzung so stehen lassen. 21 | Dies ein Begriff Friedrich Nietzsches (1980a: 633): »Der Mensch […], der die obersten Werthmaase seiner Zeit selbst in Sicht bekommen will, hat dazu vorerst nöthig, diese Zeit in sich selbst zu ›überwinden‹ – es ist die Probe seiner Kraft – und folglich nicht nur seine Zeit, sondern auch seinen bisherigen Widerwillen und Wider- spruch gegen diese Zeit, sein Leiden an dieser Zeit […].« 22 | Vgl. Jacques Offenbach: Orpheus in der Unterwelt (»Orphée aux Enfers«). GANGNAM STYLE ›ERKLÄRT‹ | 187

Abb. 4

leisten kann, erfindet er sich eines – in Form eines Pferde- oder Reitertanzes!23 Anders ist diese Metamorphose nicht zu verstehen; sie ist der Schlüssel zum Ganzen.24 Psy mutiert zum postmodernen Kentaur (vgl. Abb. 5). Seine Erfin- dung ist in der Rhetorik als Synekdoche bekannt: ›galoppierender Reiter‹ statt ›Ross und Reiter‹ (s. Abb. 6). Wie im Kinderspiel genügen Psy einige Andeutungen,25 die etwas unge- wöhnlich gekreuzten Handgelenke, die Zügel halten (sollen), und der galop- pierende Gang. Nicht zu vergessen: das Lassoschwingen, das wie der ›poin- ting finger‹ Uncle Sams ein Amerika-Import zu sein scheint,26 denn in Korea gibt es keine Cowboys. Das Lassoschwingen als Geste hat auf jeden Fall etwas

23 | So wie das arme Schulmeisterlein Maria Wuz, das bei Jean Paul die Bücher selber schreibt, die es sich nicht kaufen kann (s. Jean Paul 1960: 425f.) Der Pars-pro-Toto- Witz ist – naheliegend – einer Gruppe von Jockeys aufgefallen, die in voller Montur, aber ohne Pferd ihre Reitkünste zeigen (s. [Jockey-Parodie]). Eine Verbindung des Tier- tanzes mit dem noch heute praktizierten koreanischen Schamanismus wäre wohl an den Haaren herbeigezogen. 24 | Man beachte, dass Psy erst nach einigen normalen Schritten im Stall (die Pferde stehen!) in den typischen Galopp findet: Gangnams ›heiliger Geist‹ ist über ihn gekom- men (exakt in Abb. 6), und von da an hoppelt er durch die Stadt. Der Transfer macht aus der Not eine Tugend. Solche Zeichenmetamorphosen untersucht allgemein Rudi Keller (1995: 150ff.). In unserem Fall zieht der allmächtige ›Interpretant‹ ›Gangnam‹ das ›Sympton‹ einer natürlichen Bewegung (des Pferdes) in den körpersprachlichen Bereich (des Menschen) hinüber, wo es zum ›Hippo-Hypoikon‹ wird, eben zu einem künstlichen (Pferde-)Tanzschritt. Dieser wiederum repräsentiert pars pro toto (und er- satzweise) ›Pferdebesitz‹ als ›Symbol‹ für Luxus. 25 | Zum Spiel s. allgemein Anz/Kaulen 2009. 26 | Psy hat einige Jahre in USA Musik studiert; einem Interview zufolge scheint er das Studium allerdings nicht sehr ernst genommen zu haben. Abb. 5

Abb. 6 GANGNAM STYLE ›ERKLÄRT‹ | 189

›Eroberndes‹ an sich: Der Cowboy fängt die Kuh, biblisch gesprochen (1 Mos 1,28): Er macht sich die Erde, die Welt untertan, und zu dieser Welt gehört für den Mann wesentlich die Frau: »Vrô [Frau] Welt«, die Gleichung hat schon Wal- ther von der Vogelweide (1971: 102) bedichtet.27 Es ist freilich gut, dass auch die Gangnam-Style-Tänzerinnen das Seil schwin- gen dürfen: Männerfang! Die Lasso-Offensive bedeutet also generell: Die Welt gehört mir! »So ist die Jugend«, würde Mynona (1985: 121) spötteln, um fortzu- fahren: »Helf’ ihr Gott! Ich pruste.« – was sich notabene auf »Puste« reimt.28 Solchermaßen gerüstet, präsentiert sich der Held freilich mehr oder weniger glücklich in verschiedenen Situationen, die alle davon zeugen, dass er zumin- dest nicht voll bzw. noch nicht zu Gangnam und seinem fabulösen Lebensstil gehört. Neben landeskundlichen Zitaten aus dem Stadtleben Seouls (der Bus, die Hochhaussiedlung, der Trade Tower, die Autobahnbrücke, die Brücke über den Han-Fluss, die im Park Go-spielenden Senioren, die Sauna usw.) – die Aus- länder in ihrer Authentizität gar nicht erkennen29 – gibt es vor allem eine Szene, nun in einer Tiefgarage, die die archetypische Notlage des Märchenhelden30 voll zum Ausdruck bringt. Mit einem à la mode gekleideten (kanariengelber Anzug) und (Adidas-)beschuhten jungen Mann, der in einem roten Mercedes-Cabrio an- fährt, einem SLK 200 BlueEfficiency,31 – alles deutsche Wertarbeit – konkurriert er in seinem Tanzstil (s. Abb. 7), aber der andere ›zeigt es ihm‹ und rauscht triumphierend in seinem Sportscar ab.32

27 | Die Bedeutung der Personifikation ist bei Walther oder im Barock natürlich eine andere als in Gangnam Style. 28 | Auch Psy prustet in der Eingangsszene seine Cola oder (eher) sein Wasser in die Luft. 29 | Die meisten Aufnahmen stammen gar nicht aus dem Gangnam-Distrikt; sicher ge- hört hierher nur das Korea World Trade Center oder kurz: der Trade Tower (mit seiner riesigen Coex Mall, durch die täglich 100 000 Menschen passieren, s. [Art.] Trade Tow- er; die Tanzszene mit der Lichtershow ist im ASEM Tower gedreht; s. [Art.] Asem Tower. 30 | Vgl. Propp 1975: 39. Die »Mangelsituation« ist vor allem gekennzeichnet durch eine fehlende Braut. Auch die Kentauren sind immer auf der Jagd nach Frauen, Nym- phen und dergleichen; vgl. Abb. 5. 31 | Der Wagen wurde Psy seitens Mercedes-Benz Korea zur Verfügung gestellt. Er kostet in Deutschland je nach Ausstattung ab 38 675,00 €, in Korea sicher weit mehr. Diese Informationen verdanke ich Dominika Brodrick, Daimler AG, Product Placement, BC/MB - Branded Entertainment (Mail vom 29. Januar 2013). Der Chef der Daimler AG Dieter Zetsche, der den überraschenden Werbeeffekt erfreut zur Kenntnis nahm, litt einer Mitteilung der Süddeutschen Zeitung (N.N. 2013b) zufolge noch lange unter dem Gangnam-Style-Ohrwurm. 32 | Diese aussagekräftige Szene wird, allerdings unmotiviert, am Ende wiederholt; ebenso die ›pointing finger‹-Szene. 190 | KLAUS H. KIEFER

Abb. 7

Der arme Psy hat weder Pferd noch Wagen; dennoch findet er unmittelbar nach der jämmerlichen Niederlage sein Glück. Das Stationendrama kulminiert nämlich in der erotischen Begegnung (s. Abb. 8) mit einer rot-erblondeten jungen Frau33 in der Seouler U-Bahn (auch dies kein typischer Gangnam-Treff – hier wäre eher an eine VIP-Lounge oder -Bar zu denken), aber bevor die beiden, anders als angekündigt, »bis zum Ende« gehen (s. Abb. 9), rückt, ja rüttelt das Video die Handlung wieder ›zurecht‹ – der Dezenz des jugendfreien Videos geschuldet und der koreanischen Etikette.

Abb. 8

33 | Da alle Koreanerinnen schwarzbraunes Haar haben, ist das Haar der Auserwähl- ten modisch gefärbt. Das koreanische ›Fräuleinwunder‹ verdankt sich auch Schön- heitsoperationen wie der Augenvergößerung, die junge Frauen z.B. zum Abitur ge- schenkt bekommen. Die meisten (weiblichen) Stars und Sternchen, so auch die Tänze- rin, haben diese Operation über sich ergehen lassen. GANGNAM STYLE ›ERKLÄRT‹ | 191

Abb. 9

Dem Text zufolge muss die Idealfrau in der Öffentlichkeit Anstandsregeln ein- halten, und wie Psy in seiner Oxforder Rede bekennt, hat das koreanische Publi- kum dem Künstler gegenüber durchaus ›moral expectations‹. Wie der Wunsch nach Reichtum (Pars pro Toto: Pferdesport) wird auch das erotische Verlangen in den Tanz verschoben; dem ›coitus interruptus‹34 folgt wieder eine Tanz szene als Ersatz (s. Abb. 10). Man könnte auch sagen: Gier und Trieb werden im Tanz ›ver- staut‹, und das erklärt auch die Wucht der Entladung, wenn sich dieser ›Stau‹ löst…

Abb. 10

TEXTHANDLUNG

Die bildlich demonstrierte Handlungssequenz deckt sich, wie schon bemerkt, nur minimal mit der sprachlichen Abfolge; die Musik folgt ohnehin ihren eige-

34 | Lat. ›coitus interruptus‹ = wörtlich: ›unterbrochenes Zusammengehen‹. 192 | KLAUS H. KIEFER nen Gesetzen. Genauer gesagt, im Text gibt es gar keine ›narratio‹, sondern nur zwei aufeinander folgende ›descriptiones‹: Personenbeschreibungen. Dem sich entfaltenden ›pursuit of happiness‹35 steht im gesprochenen Text von Anfang an das Wunschbild einer Partnerin gegenüber, ein Tugendkatalog, mehrfach unter- brochen durch Lockrufe wie: »Eh – Sexy Lady!« oder »Hey, du, ja, du!«, Erste- res international verständliche, Letzteres koreanische ›Anmache‹, die aber im Grunde jede Hörerin/Tänzerin auf sich beziehen kann. Auch das mehrfach wie- derholte Kompliment »So schön, so lieb« ist zu erwähnen – »Ja, wer wär’s nicht gern?« (Brecht 1988a: 262) Es ist also das alte Lied in koreanischer Fassung, mit Friedrich Dürrenmatt (1955) zu sprechen: Koreaner sucht Koreanerin.36 Der Held hat diesbezüglich nämlich sehr bestimmte, weil koreanische Vorstellun- gen, die er in zwei Strophen ausbreitet. Diese durchaus konventionellen Vor- stellungen sind allerdings voll vom Gangnam-Prinzip infiltriert: Tagsüber soll sie, bitteschön, anständig arbeiten – in Gangnam etwa als Bürokraft, Go-go-Girl37 oder was auch immer –, nachts aber soll ihr Herz ›erglühen‹:

[I] Eine Frau, die tagsüber menschliche Wärme zeigt, Eine Frau mit Klasse, die die Ruhe bei einer Tasse Kaffee zu schätzen weiß, Eine Frau, deren Herz heiß wird, wenn die Nacht kommt, Eine Frau, die sich zu verwandeln versteht.38

[III] Eine Frau, die ruhig aussieht, aber wenn sie spielt, richtig spielt, Eine Frau, die ihre Haare löst, wenn der richtige Zeitpunkt kommt, Eine Frau, die, obwohl sie anständig angezogen ist, schärfer aussieht als halbnackt, So eine sensible Frau!39

Erst in der Begegnung mit der rotblonden Schönheit in der U-Bahn holt die Handlung die bereits ausgesprochenen Desiderata wieder ein, kreuzt die ›Brautschau‹ mit ihren erotischen und moralischen Postulaten die konkrete Er- lebniskette des bis dato nicht gerade glücklichen Hans.40 Zweigeteilt zwischen

35 | Der Ausdruck, der sich in der United States Declaration of Indipendence findet, geht vermutlich zurück auf John Locke (1974: I, 219). Hier wäre über den Grad der Amerikanisierung Südkoreas nachzudenken. 36 | Ich adaptiere hier nur den Titel von Dürrenmatts Grieche sucht Griechin. 37 | Natürlich arbeiten Go-go Girls eher nachts, aber da sie an der U-Bahn-Haltestan- ge zumindest semiprofessionell tanzt, muss sie eine entsprechende Vorbildung haben. Man sieht natürlich in der U-Bahn nicht, ob es draußen Tag oder Nacht ist. 38 | Strophe I und III reimen auf »jodja« = ›Frau‹. 39 | Dieses ›sensibel‹, ein englisches Fremdwort im Koreanischen, ist ein übersetzeri- scher Notbehelf; es meint weniger das Empfindsame als das Verständige: Jemand tut das Passende; aber auch ein hübsches passendes Geschenk ist (engl.) ›sensible‹. 40 | Die Handlung ist nicht so streng komponiert wie im Märchen mit dem konsequen- ten Abstieg (Deszensus) des Helden (vgl. Brüder Grimm 2009a: 388–393), aber alles, GANGNAM STYLE ›ERKLÄRT‹ | 193

Arbeitsethik und Sexualtrieb wie sein weibliches Ideal outet sich auch der Held selbst als ›stilles Wasser‹, das bekanntlich ›tief‹ ist.

[II] Ich bin ein Kerl, Ein Kerl, der tagsüber so warm ist wie du, Ein Kerl, der seinen Kaffee in einem Zug austrinkt, bevor er kalt wird, Ein Kerl, dessen Herz platzt, wenn die Nacht kommt, So ein Kerl bin ich.41

[IV] Ich bin ein Kerl, Ein Kerl, der ruhig scheint, aber richtig spielt, wenn er spielt, Ein Kerl, der völlig verrückt wird, wenn der richtige Zeitpunkt kommt, Ein Kerl, dessen Ideen markanter sind als seine Muskeln,42 So ein Kerl bin ich.

Still werkelt der subalterne Held des Tags am koreanischen Bruttosozialpro- dukt, um dann nach Dienstschluss privatim zu explodieren; man kennt das Phänomen etwa aus Saturday Night Fever (mit John Travolta, 1977; die meisten Gangnam-Style-Tänzerinnen und -Tänzer waren damals noch gar nicht gebo- ren). Diese ›Verwandlung‹ (Str. [I], V. 4) von ›Tag‹ zu ›Nacht‹, von ›kühl‹ zu ›heiß‹, von ›Stress‹ zu ›Sex‹, das ist Gangnam-Style. Frei nach Goethe (1988: 864) könnte man formulieren: »Tages Arbeit, abends Feste …« Die (koreani- sche) »sexy lady« vereint beide Komponenten, Anstand und Leidenschaft, in sich und switcht – alles zur rechten Zeit – von einem Kode zum anderen. Das soll aber auch andernorts vorkommen. Um seinen Minderwertigkeitskomplex zu kompensieren, den er in ein al- tes koreanisches Sprichwort kleidet: »Über dem ›rennenden‹ Mann ist immer noch ein ›fliegender‹ Mann«,43 schlüpft er selber in die Rolle des »Oppan«, was der Pseudoheld (Psy) tut, spielt nicht in der ›obersten Liga‹: Er hat kein Pferd, in der Sauna nickt er ein (und kuschelt sich in seinen Träumen versehentlich an seinen finster dreinschauenden Nachbarn), beim Tanz in der Tiefgarage kann er nicht mithal- ten, er besitzt kein Auto, sein Motorboot ist keine Luxusjacht, er triftt seine Traumfrau in der U-Bahn usw. 41 | Str. II und IV reimen auf »sanaï« = ›Kerl‹ im Sinne von ›männlichem Typ‹; vgl. Anm. 46. 42 | Das lautmalerische Wortspiel »ultung bultung« kann nur annähernd wiedergege- ben werden: Psys Ideen sind ›hervor-ragender‹ als seine Muskeln. 43 | Die Bedeutung dieses Bescheidenheitstopos ist vermutlich die: Ich gehöre zwar nicht zur obersten Klasse von Gangnams Society, aber ich weiß immerhin Bescheid, wobei hier ein ›glissement sémantique‹ zum Erotischen stattfindet: wenigstens da – worauf es jetzt ankommt – bin ich kompetent. Dabei klingt mit an, dass er dank Gang- nam Style vom ›älteren Bruder‹ selbst zum ›Überflieger‹ (»›fliegenden‹ Mann«) wird. Die Aussage, mehr als Muskeln (zum ›Rennen‹), nämlich originelle Ideen (zum ›Fliegen‹) zu 194 | KLAUS H. KIEFER des besserwisserischen »älteren Bruders«, der weiß, wo’s lang geht, der »sich auskennt« – das ist die dritte Auslegung des »Oppan Gangnam Style«. Und in der Tat: Im Verhältnis zu den nachgerade minderjährig aussehenden Damen44 kann und darf sich der etwas korpulente 35-jährige Psy, der ja den Helden ver- körpert, durchaus rechtens als »Oppan« darstellen. Dessen Pakt mit Gangnam, dem »Gott der Stadt« (Heym 1964: 192),45 dient einerseits der Heroisierung des Helden, prägt dessen Imponiergehabe, erscheint aber zugleich als ideologische Unterwerfung – das Understatement ist so ehrlich wie gelogen:

[V] »Über dem rennenden Mann ist der fliegende Mann.« Baby, baby! Ich bin ein Mann, der sich ein bisschen auskennt. »Über dem rennenden Mann ist der fliegende Mann.« Baby, baby! Ich bin ein Mann, der sich ein bisschen auskennt. You know what I’am saying?46

Wie häufig in der Brautwerbung47 ist der Kandidat ein ›Angeber‹, zumal die Be- teuerungen seiner Kompetenz beim Tanz allmählich in die seiner Potenz hin- überspielen. Dank seiner obszönen Gestik (s. Abb. 11) ahnt man, was er meint, und so soll sie, die die Unschuldige, Ahnungslose spielt,48 ahnen, was er vorhat, wenn er sagt, er kenne sich da »ein bisschen« aus: »You know what I’m say- ing?« (Str. [V], V. 7) Zu dieser rhetorischen Frage vergleiche man die Fahrstuhlszene, deren eindeutige Sexsymbolik Psy anstandshalber an eine andere Figur delegiert hat. Die Filmhandlung (die die Umworbene freilich nicht kennt) straft ihn zwar der Lüge, ironisiert ihn, aber diese Negativität wird in Musik und Tanz aufgehoben.

haben, bezieht Psy auch auf sich selber; er weiß, dass er nicht die Figur eines Sportlers oder Tänzers hat. 44 | Traditionsgemäß beginnt in Korea die Zählung des Lebensalters bei der Geburt ohnehin mit eins; man ist bei der Geburt in Korea ein Jahr alt; ist man also z.B. 27, so in ›Wirklichkeit‹ doch nur 26. 45 | Georg Heyms Gott der Stadt aus dem Jahr 1910 ist freilich viel dämonischer; zur »participation mythique« vgl. Lévi-Brühl 1951: 68ff. 46 | Strophe V hat das Reimwort »nom« = ›Mann‹, aber etwas pejorativer als »sanaï«. 47 | Vgl. Dinzelbacher 1992: 112. ›Brautwerbung‹ besitzt dank anthropologischer Konstanten zu allen Zeiten und in allen Kulturen ähnliche Strukturen: Mangel, Suche, Begegnung, Anrede (»Mein schönes Fräulein, darf ich…«; Goethe 1986: 609), Schön- heitspreis, Eigenlob, Paarungswunsch etc. 48 | Das bedeuten die vor der Brust zusammengeführten Zeigefinger. Junge Frauen finden diese Unschuldsbeteuerungen auch schon lächerlich, aber man mache es eben so. Aus sittlichem Zeichen wird erotisches Spiel. GANGNAM STYLE ›ERKLÄRT‹ | 195

Abb. 11

GESAMTKUNSTWERK

Was ich erzählerisch vorgeführt habe, ist die narrative ›Oberfläche‹ einer klas- sischen Strukturanalyse à la Roland Barthes: Man nimmt den Text auseinander und setzt ihn wieder so zusammen, dass und damit man sieht, wie er ›funktio- niert‹ (vgl. Barthes 1964: 214f.). Ich hoffe, diese Tiefenstruktur schon in meiner Erzählung vermittelt zu haben. Das Musikvideo ist jedoch ein ›Gesamtkunst- werk‹ (vgl. Söring 1997), womit ich neben seiner Multimedialität und interak- tiven Performanz auch meine, dass es seine Bauelemente poetisch frei, ›mu- sikalisch‹, disponiert, nicht streng nach der Logik von Anfang und Ende oder Ursache und Wirkung. So klingt z.B. in einer Ouvertüre schon das Motiv an, das sich erst im Laufe der Opernhandlung voll entfaltet. Kein Werk ist dazu ver- pflichtet, das Geheimnis seiner ›Mache‹ zu enthüllen, sich zu erklären. »Bilde, Künstler! Rede nicht!«, fordert Goethe (1987b: 95). Daher kann die Erfolgsmusik schon beginnen, bevor überhaupt ihre ›inventio‹ im Pferdestall zu Seoul (und nicht bei Ochs und Esel zu Bethlehem – Psy ist ein Heilsbringer!) gezeigt wird, daher kann der Held von sich – als dem Supertypen – und seiner Traumfrau sin- gen, während er noch ganz andere und gar nicht rühmliche Abenteuer besteht und ihr noch nicht einmal begegnet ist. Der Interpret hat die Aufgabe, die ›Schaltungen‹ zu erkennen, wo die Paradigmata in den Handlungsverlauf, das Syntagma, einrasten und es vo- ranbringen.49 Paradigmata sind Wertkomplexe, hier z.B. die Tugenden einer Frau, die Fähigkeiten eines Mannes oder aber die ›Macht und Pracht‹ Gang- nams. Wer an dieser Macht partizipiert, hat in Korea – konkret gesprochen – mehr Chancen auf dem Heiratsmarkt. Immer noch werden junge Frauen auf die besten Universitäten geschickt, nur um den erfolgversprechenden oder möglichst schon begüterten jungen Mann fürs Leben zu finden. Gemessen an

49 | Vgl. Jakobson 1989: 94: »Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äqui- valenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.« 196 | KLAUS H. KIEFER dem ungemeinen Luxus Gangnams, ist unser Held samt seiner Braut nicht gerade ein Underdog – auch kein ›Top Dog‹ (Widmer 2010) –, sondern durch- aus mittelmäßigen Charakters: Er stapelt etwas hoch, und sie ist nicht gerade so gestylt, dass man ihr eine große Karriere prophezeien würde. Das ist schon mal rührend. Allerdings gilt es zu bedenken, dass Psy selber mit Gangnam Style der Tiger- sprung gelungen ist. Siegessicher feiert er sich in seinem unerwarteten Erfolgs- schlager von Anfang an selbst. Er bildet die Spitze einer Pyramide von unzäh- ligen koreanischen Sängern und Tänzern, Sängerinnen und Tänzerinnen, die die Marke ›K-Pop‹ kreiert haben. Das koreanische Fernsehen ist sehr nahe an der Jugendkultur, was meinerseits nicht unbedingt als Kompliment gedacht ist. Der tanzende Junge in der Spielplatzszene z.B. ist in Korea bereits ein wohldres- sierter Star, Little Psy, Hwang Min-Woo mit Namen.50 Während die Brüder und Schwestern in Nordkorea super gestylte Parademärsche oder je nach Bedarf Freudentänze/Klagelieder aufführen müssen/wollen/dürfen, exzelliert 50 km jenseits der Landesgrenze der K-Pop Südkoreas in der Unterhaltungskunst: im Gesang, vor allem aber auch in der Choreografie. Den lieben langen Tag und die Nacht hopsen unzählige Tanzgruppen mit größtem Elan über den Bildschirm, werden Musikwettbewerbe ausgefochten usw. Was bemerkt das Publikum, was bemerken die Mitläufer (des Pferdega- lopps) von all dem? Nicht viel, zumal wenn man des Koreanischen nicht mäch- tig ist. Man könnte hier eine reduktive Hermeneutik postulieren oder aber eine Hermeneutik der Universalismen. Beide Konzeptionen können das Argument entkräften, dass ich Gangnam Style überinterpretiere. Auch die schlichtesten Gemüter – 1955 (142) hatte Dürrenmatt noch geschrieben: Die Nutzer von »Leihbibliotheken« – verstehen dank der zahlreichen Wiederholungen, dass es hier ein bestimmendes Prinzip gibt, eine Pfeife, nach der man tanzen soll, oder man tanzt einfach den Gangnam-Style. Das Ritual reicht (vielen) schon – wie in der katholischen Kirche oder im Islam. Ich belege den Universalismus des Weltschlagers mit zahlreichen Zitaten, die in Psys ironischem ›Kunstmärchen‹ allesamt den Heine-Vers (1968: 91) bestätigen: »Es ist eine alte Geschichte, / Doch bleibt sie immer neu […].« Auch die lustigen Figurenkonstellationen und schließlich die Verbindung von Psy und Partnerin in der Schlussszene sind all- gemein verständlich. Wozu da noch die vielen Zitationen und Anspielungen? Nicht zuletzt sollen und können sie ein Werk der Popkultur aufwerten! Kanon und Klischee sind nicht so weit auseinander. Das könnte mutmaßlichen Vertretern der Intelligenz und Hochkultur Berührungsängste nehmen. Auch kann es für Koreaner interessant sein, welch reiche Assoziationen ein koreanischer Exportschlager im deutsch-eu- ropäischen Weltbild auslöst – ›Feedback‹. Umgekehrt gilt: Wer seine eigene Kul- tur hinreichend reflektiert und generalisiert, d.h. auf Oberbegriffe bringt, kann auch fremde Kulturen verstehen, die auf der entsprechenden Ebene – die zu fin-

50 | S. Little Psy: »I’am good at anything!« Korea’s Got Talent [Video]. GANGNAM STYLE ›ERKLÄRT‹ | 197 den wäre – vergleichbar sind (vgl. Matthes 2003: 328). Das Fremde rückt so in die Kategorie des Anderen ein, wird zu einer Variante der Weltkultur. Mitnichten muss Psy seine Komposition völlig durchdacht haben. Gang- nam Style ist ein Glückstreffer, bei dem sich alles wundersamer Weise zu ei- nem Ganzen rundet. Da der koreanische Pferde- oder Reitertanz jedoch in der Handlung verankert, in einer spezifischen Situation und Lokalität, Gangnam, begründet ist, dürfte seine Übertragung auf andere Themen bzw. seine Ge- neralisierung zu einer Gattung, wie z.B. Walzer oder Rock ’n’ Roll, schwer fallen. Das ist der Pferdefuß des Clickhits. Gangnam Style ist ein verteufeltes Unikat – alle Nachahmungen und Parodien bezeugen dies, weil sie eben den ›genetischen Kode‹ des Gangnam Style nicht erfassen, den Kairos seiner Er- findung verpassen. Wie eingangs schon bemerkt, fehlen mir die Worte, um fachgerecht von der ohne Zweifel mitreißenden Musik zu sprechen, dem hämmernden Rhyth- mus usw. Bemerkenswert scheint mir indes, dass Psy eine eindrucksvolle Stimme hat, die dank der Tonalität des Koreanischen, anders als z.B. im Falle anderer asiatischer Sprachen, in der westlichen Hemisphäre gut zu rezipie- ren ist. Das »Op op op …« von »Oppan« hat zwar nichts mit dem deutschen »Hoppe, hoppe Reiter« (einem sog. Kniereitvers) zu tun, rhythmisiert aber gleichwohl den Pferdegalopp und animiert zum regressiv-kindlich-unschul- digen Vergnügen des Mitmachens: »Infantiltraining« würde es Carl Einstein (zit. n. Kiefer 1994: 480) nennen. ›Kindlichkeit‹ setzt sich seit dem Auftritt von Little Psy im Ross-und-Reiter-Spiel des Tanzes isotopisch fort. Während im Hip-Hop meist einzeln getanzt wird, ist Gangnam-Style ein Gruppentanz (mit möglichen Partnertanzeinlagen);51 d.h. er ermöglicht in der Interaktion mit dem Sänger ein Gemeinschaftserlebnis; daher auch die vielen Flashmobs und Großveranstaltungen. In seiner Oxforder Rede betonte Psy, dass er im Unterschied zur bisherigen Pop- oder Rockmusik das Motto »participation instead of exhibition« beherzigt habe. Der Refrain »Eh – Sexy Lady« ist in- ternational leicht mitzusingen, ein universaler Brunftschrei, den jeder jun- ge Mann ›drauf‹ hat, und welche Frau möchte heutzutage nicht »sexy« und »lady« sein … Ist das Sexismus? Durchweg wird das männliche Imponiergehabe lächerlich gemacht bis hin zu der (albernen) Szene, wo Psy, auf der Toilette sitzend, seine männlichen Qualitäten preist, aber die weiblichen Figuren bleiben gleichwohl Staffage, nachgeordnet. Dennoch ist die Eroberung der Frau das wichtigste, wenn auch nur vordergründige Ziel der männlichen Jugend, weil nämlich die hübsche U-Bahn-Prinzessin lediglich als Verzichtprämie dient, wenn das große Ganze, der Mythos, das Königreich – ›Gangnam‹ – nicht erreicht wird –, so wie sich auch Marilyn Monroe alias Sugar in Billie Wilders Some Like It Hot (1959) am Ende damit abfindet, dass es nicht Shell-Junior, sondern wieder nur ein Sa- xofonist ist. Nur wenigen gelingt der Aufstieg (Aszensus) auf den Olymp – Psy

51 | Neben dem ›Pferdegrundschritt‹ gibt es Aerobic-Einlagen und was ich ein ›Umbal- zen‹ der Partnerin nennen möchte, d.h. die Sidesteps aus der Hüfte. 198 | KLAUS H. KIEFER selber hat es geschafft. Der Rest der Zukurzgekommenen singt, schreit und tanzt sich die unterbewusste Frustration vom Leibe und vergisst, dass vor dem Lokal (oder in der Tiefgarage) eben nicht ein rotes Mercedes-Cabrio parkt – oder gar ein Porsche.52 – Und wenn sie nicht gestorben sind, dann hopsen sie morgen noch.

LITERATUR

1. Quellen, Medien und Internetseiten

[Art.] ASEM Tower. Online unter: http://en.wikipedia.org/wiki/ASEM_Tower [Stand: 15.11.2013]. [Art.] Gangnam Style. Online unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Gangnam_Style [Stand: 15.11. 2013]. [Art.] Psy. Online unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Psy_(Rapper) [Stand: 15.11. 2013]. [Art.] Trade Tower. Online unter: http://skyscraperpage.com/cities/?buildingID=250 [Stand: 15.11.2013]. Brecht, Bertolt (1988a): Die Dreigroschenoper (nach John Gays »The Beggar’s Opera«). In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Wer- ner Hecht u.a. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M., Bd. 2: Stücke 2, S. 229–322. Ders. (1988b): Mahagonny. Songspiel. In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht u.a. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M., Bd. 2: Stücke 2, S. 323–392. Brüder Grimm (2009a): Hans im Glück. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichten Mär- chen v. Heinz Rölleke. Stuttgart, S. 388–393. Dies. (2009b): Der gestiefelte Kater. In: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichten Mär- chen v. Heinz Rölleke. Stuttgart, S. 819–824. Degenhardt, Franz Josef (1965): Spiel nicht mit den Schmuddelkindern. Online unter: http://www.magistrix.de/lyrics/Franz%20josef%20Degenhardt/Spiel-Nicht-Mit- Den-Schmuddelkindern-29052.html [Stand: 15.11.2013]. Dürrenmatt, Friedrich (1955): Grieche sucht Griechin. Eine Prosakomödie. Frankfurt a.M./Berlin. Goethe, Johann Wolfgang (1986): Faust. Eine Tragödie. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. In Zusammenarb. mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller u. Gerhard Sauder hg. v. Karl Richter. München, Bd. 6.1: Weimarer Klassik 1798–1806. Hg. v. Victor Lange, S. 535–673.

52 | Dass es sich im Video um einen SLK handelt, ist signifikant. Die jungen aufstre- benden Leute in Gangnam denken über SLK oder Audi TT kaum hinaus. Ein Porsche 911 wäre mehr als doppelt so teuer. Er käme der Königskutsche des Märchens gleich; vgl. aber Kiefer 2011: 240. GANGNAM STYLE ›ERKLÄRT‹ | 199

Ders. (1987a): Die Leiden des jungen Werthers. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epo- chen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. In Zusammenarb. mit Herbert G. Göp- fert, Norbert Miller u. Gerhard Sauder hg. v. Karl Richter. München, Bd. 1.2: Der junge Goethe 1757–1775. Hg. v. Gerhard Sauder, S. 197–299. Ders. (1987b): Bilde, Künstler… In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaf- fens. Münchner Ausgabe. In Zusammenarb. mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller u. Gerhard Sauder hg. v. Karl Richter. München, Bd. 9: Epoche der Wahlverwandt- schaften. Hg. v. Christoph Siegrist u.a., S. 95. Ders. (1988): Der Schatzgräber. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaf- fens. Münchner Ausgabe. In Zusammenarb. mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller u. Gerhard Sauder hg. v. Karl Richter. München, Bd. 4.1: Wirkungen der Französischen Revolution 1791–1797. Hg. v. Reiner Wild, S. 864. Heine, Heinrich (1968): Ein Jüngling liebt… (»Buch der Lieder« XXXIX). In: Ders.: Sämtli- che Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. München, Bd. 1, S. 90f. Heym, Georg (1964): Gott der Stadt. In: Ders.: Dichtungen und Schriften. Gesamtaus- gabe. Hg. v. Karl Ludwig Schneider. München, Bd. 1, S. 192. Hübner, Klaus (2013): »He Alder, hassu Ei-Pott bei?« In: Goethe-Institut: Mehrsprachig- keit & Identität; online unter: http://www.goethe.de/Ihr/prj/mac/msp/de1398809. htm [Stand: 15.11.2013]. Jean Paul [Richter] (1960): Die unsichtbare Loge. In: Ders.: Werke. Hg. v. Norbert Miller. München, Bd. I/1, S. 7–469. [Jockey-Parodie]. Online unter: http://www.joe.ie/sports/horse-racing/video-this- gangnam-style-spoof-by-some-jockeys-is-either-the-best-or-worst-thing-on-the- internet-00330156-1 [Stand: 15.11.2013]. Little Psy (= Hwang Min-Woo): »I’am good at anything!« Korea’s Got Talent [Video]. In: http://www.youtube.com/watch?v=8tEFsrc9 fDM [Stand: 15.11.2013]. Mynona (= Salomo Friedlaender) (1985): ’ne Jungfrau ist ein süßes Stückchen Fleisch … In: Hartmut Geerken (Hg.): Dich süße Sau nenn ich die Pest von Schmargendorf. Eine Anthologie erotischer Gedichte des Expressionismus, geordnet nach Positio- nen, Situationen, Körperteilen, Organen und Perversionen. München, S. 121. Orwell, George (1979): Nineteen Eighty-Four. A Novel. Harmondsworth u.a. Psy: Gangnam Style. MP3 Download. Amazon Media. Ders.: Gangnam Style [Video]. Online unter: http://www.dailymotion.com/video/xu- 5jq6_gangnam-style_lifestyle [Stand: 15.11.2013]. Ders.: Gangnam Style [Video mit deutschen Untertiteln]. Online unter: http://www. dailymotion.com/video/xs99s8_psy-gangnam-style-german-sub_music [Stand: 15.11.2013]. Ders.: Oppa [sic!] Gangnam Stil – Auf Deutsch [Übersetzung mit groben Fehlern]. Online unter: http://www.lyricsreg.com/lyrics/psy/GANGNAM+STYLE+-+AUF+Deutsch [Stand: 15.11.2013]. Psy (2012): Rede an der Universität Oxford v. 8. November 2012. Online unter: http:// www.youtube.com/watch?feature=endscreen&v=2 f99cTgT5mg&NR=1 [Stand: 15.11.2013]. The Rolling Stones (2012): It’s only Rock ’n’ Roll. In: Dies.: Grrr! Greatest Hits, Disc 2, Track 15. 200 | KLAUS H. KIEFER

Walther von der Vogelweide (1971): Vrô Welt, ir sult dem wirte sagen … In: Ders.: Gedich- te. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Ausgew., übers. u. komm. v. Peter Wapnewski. 7., überarb. Aufl. Frankfurt a.M., S. 102. Widmer, Urs (2010): Top Dogs. 17. Aufl. Frankfurt a.M. Žižek, Slavoj (2012): Rede an der Universität Vermont v. 16. Oktober 2012. Online unter: http://plus.google.com/1044011216867781166984/posts/iqXYG9QR6G# 10440112168671166984/posts/iqXYG9QR6Gh [Stand: 15.11.2013].

2. Literatur

Anz, Thomas/Kaulen, Heinrich (Hg.; 2009): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Berlin/New York. Barthes, Roland (1964): L’activité structuraliste. In: Ders.: Essais critiques. Paris, S. 213–220. Dinzelbacher, Peter (Hg.; 1992): Sachwörterbuch der Mediävistik. Stuttgart. Haarmann, Harald (1990): Universalgeschichte der Schrift, Frankfurt a.M. Hess-Lüttich, Ernest W.B. (2009): Spatial turn: Zum Raumkonzept in Kulturgeographie und Literaturtheorie. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache/Intercultural German Studies 35, S. 114–128. Ders. u.a. (Hg.; 2011): Metropolen als Ort der Begegnung und Isolation. Interkulturelle Perspektiven auf den urbanen Raum als Sujet in Literatur und Film. Frankfurt a.M. Jakobson, Roman (1989): Linguistik und Poetik. In: Ders.: Ausgewählte Aufsätze 1921– 1971. Hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M., S. 83–121. Keller, Rudi (1995): Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens. Tübingen/ Basel. Kiefer, Klaus H. (1978): Wiedergeburt und Neues Leben. Aspekte des Strukturwandels in Goethes Italienischer Reise. Bonn. Ders. (1994): Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Ge- schichte der europäischen Avantgarde. Tübingen. Ders. (2011): Werbung und Bildung – Beispiel »Porsche Carrera«. In: Ders.: Die Lust der Interpretation – Praxisbeispiele von der Antike bis zur Gegenwart. Baltmannsweiler, S. 227–281. Ders. (2012): »Le Corancan« – Sprechende Beine. In: Image. Zeitschrift für interdiszi- plinäre Bildwissenschaft, Nr. 16 v. 24. Juli 2012, S. 92–113; online unter: http:// www.gib.uni-tuebingen.de/own/journal/pdf/buch_image16_themenheft.pdf [15.11.2013]. Kuhn, Hugo (1973): Tristan, Nibelungenlied, Artusstruktur. In: Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse: Sitzungsberichte, H. 5. Lévy-Bruhl, Lucien (1951): Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures. Paris. Locke, John (1974): An Essay Concerning Human Understanding. 2 Bde. Mit einer Einl. hg. v. John W. Yolton. London. Matthes, Joachim (2003): [Art.] Vergleichen. In: Handbuch interkulturelle Germanistik. Hg. v. Alois Wierlacher u. Andrea Bogner. Stuttgart/Weimar, S. 326–330. Nietzsche, Friedrich (1980a): Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München, Bd. 3, S. 343–651. GANGNAM STYLE ›ERKLÄRT‹ | 201

Ders. (1980b): Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. In: Ders.: Sämtli- che Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München, Bd. 4. N.N. (2013a): Mädchentheorie [zu Slavoj Žižek]. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 13 v. 16. Januar 2013, S. 11. N.N. (2013b): Dieter Zetsche… In: Süddeutschen Zeitung, Nr. 14 v. 17. Januar 2013, S. 10. Propp, Vladimir (1975): Morphologie des Märchens. Übers. v. Christel Wendt. Hg. v. Karl Eimermacher. Frankfurt a.M. Söring, Jürgen (1997): [Art.] Gesamtkunstwerk. In: Reallexikon der deutschen Litera- turwissenschaft. Gem. mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller u. Jan-Dirk Müller hg. v. Klaus Weimar. Berlin/New York, Bd. 1, S. 710–712.

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abb. 1: Gangnam Style, Screenshot, Time code: 00.09. Abb. 2: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Gangnam%2C_ Seoul %2C_Korea.jpg [Stand: 15.11.2013]. Abb. 3: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1d/Unclesamwantyou. jpg [Stand: 15.11.2013]. Abb. 4: Gangnam Style, Screenshot, Time code: 01.10. Abb. 5: Franz von Stuck: Nymphenraub, um 1920, Öl auf Leinwand, 140,5 x 89,5 cm, Privatsammlung. In: http://shop.billerantik.de/products/Stuck/Franz-von- Stuck-31-Nymphenraub-Buettenfaksimile-KENTAUR-EROS-ENTFUeHRUNG- BAROCK.html [Stand: 15.11.2013]. Abb. 6: Gangnam Style, Screenshot, Time code: 00.26. Abb. 7: Gangnam Style, Screenshot, Time code: 01.51. Abb. 8: Gangnam Style, Screenshot, Time code: 02.14. Abb. 9: Gangnam Style, Screenshot, Time code: 02.31. Abb. 10: Gangnam Style, Screenshot, Time code: 02.36. Abb. 11: Gangnam Style, Screenshot, Time code: 03.08. 202 | KLAUS H. KIEFER

PSY: GANGNAM STYLE

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[I] ⇢㜄⏈ ♤㇠⦐㟨 㢬ᴸ㤵㢬 㜠㣄 䀘䙰 䚐㣈㢌 㜠㡔⪰ 㙸⏈ 䖼ᷝ 㢼⏈ 㜠㣄 ⵘ㢨 㝘⮨ 㐠㣙㢨 ⡜ᶤ㠀㫴⏈ 㜠㣄 Ἤ⤤ ⵌ㤸 㢼⏈ 㜠㣄

[II] ⇌⏈ ㇠⇌㢨 ⇢㜄⏈ ∼⬀䆰 ♤㇠⦐㟨 Ἤ⤤ ㇠⇌㢨 䀘䙰 㐑ὤ⓸ 㤸㜄 㠄㈫ ⚀⫠⏈ ㇠⇌㢨 ⵘ㢨 㝘⮨ 㐠㣙㢨 䉤㥬ⶸ⫠⏈ ㇠⇌㢨 Ἤ⤤ ㇠⇌㢨

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[III] 㥉㍍䚨 ⸨㢨㫴⬀ ⊴ ⚄ ⊬⏈ 㜠㣄 㢨⚀␘ 㐪㡰⮨ ⱪ㛼⒌ ⭬⫠ 䖬⏈ 㜠㣄 ᴴ⥬㫴⬀ 㠠⬀䚐 ⊬㻐⸨␘ 㚰䚐 㜠㣄 Ἤ⤤ ᵄᴵ㤵㢬 㜠㣄

[IV] ⇌⏈ ㇠⇌㢨 㥄㣊㙸 ⸨㢨㫴⬀ ⊴ ⚄ ⊬⏈ ㇠⇌㢨 ⚀ᴴ ╌⮨ 㝸㤸 ⴬㸄ⶸ⫠⏈ ㇠⇌㢨 ἰ㡕⸨␘ ㇠ㇵ㢨 㟬䍵⺼䍵䚐 ㇠⇌㢨 Ἤ⤤ ㇠⇌㢨 GANGNAM STYLE ›ERKLÄRT‹ | 203

Oppan Gangnam-Style! Gangnam-Style!

[I] Eine Frau, die tagsüber menschliche Wärme zeigt, Eine Frau mit Klasse, die die Ruhe bei einer Tasse Kaffee zu schätzen weiß, Eine Frau, deren Herz heiß wird, wenn die Nacht kommt, Eine Frau, die sich zu verwandeln versteht.

[II] Ich bin ein Kerl, Ein Kerl, der tagsüber so warm ist wie du, Ein Kerl, der seinen Kaffee in einem Zug austrinkt, bevor er kalt wird, Ein Kerl, dessen Herz platzt, wenn die Nacht kommt, So ein Kerl bin ich.

So schön, so lieb! Ja du, hey, ja genau du, hey! So schön, so lieb! Ja du, hey, ja genau du, hey! Lass uns bis zum Ende gehen!

Oppan Gangnam-Style! Op op op op op Oppan Gangnam-Style! Gangnam-Style! Op op op op op Oppan Gangnam-Style! Eh – Sexy Lady! Oh oh oh oh oh Oppan Gangnam-Style! Eh – Sexy Lady! Oh oh oh oh!

[III] Eine Frau, die ruhig aussieht, aber wenn sie spielt, richtig spielt, Eine Frau, die ihre Haare löst, wenn der richtige Zeitpunkt kommt, Eine Frau, die, obwohl sie anständig angezogen ist, schärfer aussieht als halbnackt, So eine sensible Frau!

[IV] Ich bin ein Kerl, Ein Kerl, der ruhig scheint, aber richtig spielt, wenn er spielt, Ein Kerl, der völlig verrückt wird, wenn der richtige Zeitpunkt kommt, Ein Kerl, dessen Ideen markanter sind als seine Muskeln, So ein Kerl bin ich. 204 | KLAUS H. KIEFER

㙸⪸␘㠀G㇠⣅㏘⤠㠀G Ἤ⣌ ∼ hey Ἤ⣌ ⵈ⦐ ∼ hey 㙸⪸␘㠀 ㇠⣅㏘⤠㠀 Ἤ⣌ ∼ hey Ἤ⣌ ⵈ⦐ ∼ hey 㫴Ἴ⺴䉤 ᴼ ⒤ᾀ㫴 ᴴ⸰ᾀ

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[V] ⠤⏈ ⊼ Ἤ 㠸㜄 ⇌⏈ ⊼ Baby, baby! ⇌⏈ Ⲍ 㦴 㙸⏈ ⊼ ⠤⏈ ⊼ Ἤ 㠸㜄 ⇌⏈ ⊼ Baby, baby! ⇌⏈ Ⲍ 㦴 㙸⏈ ⊼ You know what I’am saying? 㝘⾔ ᵉ⇜㏘䇴㢰 Eh – Sexy Lady! 㝩㝩㝩㝩㝩 㝘⾘ᵉ⇜㏘䇴㢰 㝘⾔ ᵉ⇜㏘䇴㢰 Eh – Sexy Lady! 㝩㝩㝩㝩㝩 㝘⾘ᵉ⇜㏘䇴㢰 Eh – 㝘⾔ ᵉ⇜㏘䇴㢰 GANGNAM STYLE ›ERKLÄRT‹ | 205

So schön, so lieb! Ja du, hey, ja genau du, hey! So schön, so lieb! Ja du, hey, ja genau du, hey! Lass uns bis zum Ende gehen!

Oppan Gangnam-Style! Gangnam-Style! Op op op op op Oppan Gangnam-Style! Gangnam-Style! Op op op op op Oppan Gangnam-Style! Eh – Sexy Lady! Oh oh oh oh Oppan Gangnam-Style! Eh – Sexy Lady! Oh oh oh oh! Eh –

[V] »Über dem rennenden Mann ist der fliegende Mann.« Baby, baby! Ich bin ein Mann, der sich ein bisschen auskennt. »Über dem rennenden Mann ist der fliegende Mann.« Baby, baby! Ich bin ein Mann, der sich ein bisschen auskennt. You know what I’am saying? Oppan Gangnam-Style! Eh – Sexy Lady! Op op op op op Oppan Gangnam-Style! Oppan Gangnam-Style! Eh – Sexy Lady! Op op op op op Oppan Gangnam-Style! Eh – Oppan Gangnam-Style!

Rezensionen

Hans Richard Brittnacher: Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst Göttingen: Wallstein 2012 – ISBN 978–3–8353–1047–6 – 29,90 €

Zuweilen kommt es vor, dass ein ein- Bogdal chronologisch vor, so präsen- zelnes Buch ein Thema so vehement tiert Brittnacher sein Material in einer besetzt, dass andere Bücher zu glei- systematischen Ordnung: Gegliedert chen oder verwandten Themen es ist die Studie in die Kapitel Natur und schwer haben, überhaupt wahrgenom- Zivilisation, Liebe und Schönheit, Leben men zu werden. Die Schlaglichter, und Sterben, Magie und Wissen sowie die auf Klaus-Michael Bogdals 2011 Musik und Poesie. Daran lässt sich be- er schienene Monografie Europa erfin- reits eine, vielleicht die wesentlichste det die Zigeuner, die überwiegend po- Schwäche des Buches aufweisen: Seine sitiv bis begeistert aufgenommen (vgl. Systematik ist längst nicht so zwingend auch die positive Rezension von Stefan wie oberflächlich suggestiv. Genau be- Börnchen in ZiG 4.1/2013, S. 216–223) sehen machen nur die ersten drei der und 2013 mit dem Leipziger Buch- Kapiteltitel Gegensatzpaare aus (wobei preis zur Europäischen Verständigung der Antagonist zu »Natur« gewöhnlich ausgezeichnet worden ist, fallen, stel- mit »Kultur« benannt wird), in einem len das vorliegende Buch von Hans Falle (Magie und Wissen) kann man da- Richard Brittnacher deutlich in den rüber lange streiten, im letzten schließ- Schatten – der Sache nach unbegrün- lich liegt gar kein Gegensatz vor – im det, denn während Bogdals Studie eine Gegenteil. Zudem ist dieses fünfte Diskurs geschichte von Abstoßung und und letzte Kapitel das einzige, in das Faszination darstellt, liefert diejenige Beobachtungen nicht nur wegen der Brittnachers eine »Phänomenologie Inhalte des Beobachteten (also inhaltli- des Motivs« des Zigeuners in (zum cher Aspekten der behandelten Texte), großen Teil: deutschsprachiger) Litera- sondern auch aus formalen Gründen tur und Kunst (26). Wie Bogdal auch, aufgenommen sind – geht es hier doch verzichtet Brittnacher auf die vermeint- um Musik als Inhalt der Poesie wie lich politisch korrekte Distanzierung auch um Musik als Form: Einerseits vom Begriff durch Setzung von Anfüh- wird »Zigeunermusik« als Thema the- rungszeichen; geht es beiden Autoren matisiert, andererseits der Zigeuner als doch eben um das Bild, das Phantas- Figur in Oper und Operette. ma, des Zigeuners und kaum – Bogdal Deutlich schwerer als diese be- noch am ehesten – um die Realität der- griffslogischen Quisquilien wiegt wo- jenigen, die diffamierend ›Zigeuner‹ möglich der Einwand, dass den fünf genannt werden. Kapiteltiteln unmittelbar abzulesen ist, Den unterschiedlichen Erkenntnis- dass sie keine trennscharf abzugren- interessen entspricht dabei, nahe- zenden Aspekte aufrufen. Vielmehr liegender Weise, eine Differenz der steht doch zu erwarten, dass es eine Organisation des Dargestellten; geht Unzahl von Texten gibt, in denen von

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 210 | VOLKER C. DÖRR

Liebe und Schönheit und von Leben und zeigen dabei eine prototypische »Acht- Sterben die Rede ist (der größte Teil der losigkeit gegenüber dem Motiv« (18). Literatur aller Zeiten handelt schließ- Konzeptuell stützt sich die theo- lich von Eros und Thanatos). Das hat retisch informierte, aber nicht auf- zur Folge, dass eine nicht geringe Zahl dringlich theoretisierende Studie auf von literarischen Texten in der Studie Homi K. Bhabhas postkolonialistische an mehreren Orten behandelt wird, Begriffsbildungen – und vor allem auf und, etwas unangenehmer, es führt solche Konzeptionen von Fremdheit, zu Dopplungen und Redundanzen. die anders als Julia Kristeva im Frem- Einerseits erfährt dies zwar nur derje- den nicht (nur) das bekämpfte Eigene nige, der das Buch komplett liest (was sehen, sondern auch das »unverfüg- im Fall wissenschaftlicher Literatur bar Fremde« anerkennen (19). Und wohl eher selten vorkommt); anderer- tatsächlich ist nur so die merkwürdige seits ist gerade der Quereinstieg stark Dialektik von Denunziation und Ver- erschwert, weil behandelte Texte kaum führung, von Darstellungen abstoßen- gezielt aufgefunden werden können der Hässlichkeit und atemberaubender (es sei denn, ihnen sind kurze Teilka- Schönheit, zu erklären, die, meist strikt pitel explizit, am Inhaltsverzeichnis gegendert und/oder nach Alter diffe- ablesbar, gewidmet): Das Buch verfügt renziert, die Zigeuner kennzeichnet: leider über kein Sach- oder Personen- Es handelt sich eben meist nicht nur register und die Texte haben im Zwei- um einen »Ausdruck abgespaltener, als fel mehrere systematische Orte. (Der dämonisch diffamierter Anteile des ei- chronologische Ort eines Textes dage- genen Selbst«, sondern durchaus auch gen ist meist eindeutig; Bogdals Buch um »prachtvolle Inszenierungen der hingegen verfügt über ein Personen- Wunschwelt eines modernen Bewusst- und ein Werkregister.) seins, das gute Gründe hat, seine emo- Davon abgesehen präsentiert tionale Verödung zu befürchten« (24). Brittnachers Studie eine Fülle von Das erste Kapitel fragt »nach dem bemerkens- und bedenkenswerten Ort des Zigeuners in der Phantasie- Beobachtungen und Einsichten. Dies produktion der Alterität« (27), leistet gilt bereits in hohem Maße für die dabei aber auch längst notwendige Einleitung des Bandes, in der der Ver- Abgrenzungsarbeit, vor allem in der fasser konstatiert, dass die Zigeuner in Unterscheidung von Antiziganismus der kollektiven Wahrnehmung durch und Antisemitismus – aber auch, was »nachgerade epiphanisches Erschei- den Konnex beider Alteritäten betrifft: nen« charakterisiert sind: Sie erschei- etwa im Falle der Verschränkung von nen plötzlich, um ebenso plötzlich Antisemitismus und Ziganophilie in wieder spurlos zu verschwinden (16). Achim von Arnims Isabella von Ägypten In der Literatur fungieren sie fast stets (1812), wo das Moment des Messianis- als »seelenlose Objekte des poetischen mus auf die Zigeuner transferiert, an- Spiels«, die von ihren Autoren okkasi- tiziganistische Topoi jedoch »jüdisch onell zum Leben erweckt und oft skru- umcodiert« werden (86). Liebe und pellos wieder fallengelassen werden Schönheit verkörpert vordringlich der (17). Alles andere als unübliche Lücken »unverwüstliche Topos von der schö- in der Motivierung solcher Figuren, nen Zigeunerin« (27), für den sich eine HANS RICHARD BRITTNACHER: LEBEN AUF DER GRENZE | 211 unerschöpfliche Fülle von literarischen Es ist nur selten die Literatur des Belegen, aber auch Bildmaterial, wie Höhenkamms (Goethes Mignon-Figur, etwa Stiche Gustave Dorés, anführen Kleist, E.T.A. Hoffmann, Johannes lässt. Das topische Leben der literari- Bobrowski), die von Brittnacher in den schen wie der ›realen‹ Zigeuner hinge- Blick genommen wird; häufiger sind es gen ist durch ihre Rastlosigkeit ebenso Texte und Autoren aus der zweiten und charakterisiert wie, auf den zweiten dritten Reihe (Eugenie Marlitt, Otto Blick, durch die Schrift- und daher Ge- Alscher, Wolfdietrich Schnurre). Aber schichtslosigkeit; ihr Sterben vollzieht das erweist sich als dem Phänomen sich nur zu oft als Vernichtung. – Letz- durchaus angemessen; denn stets ist es teres seltener in der Literatur; aber die unter Trivialitätsverdacht stehende auch hier gibt es leicht zu übersehende Literatur, die an der Verfestigung über- Beispiele, wie etwa Alfred Ehrensteins kommener Topoi mitarbeitet, während expressionistische Prosaminiatur Zi- hier einmal mehr nur allzu deutlich geuner (1911). Unter Magie fallen die wird, dass auch höherklassige Literatur Teufelsbünde sowie der Topos der Ver- nicht immer alle geläufigen Ressenti- hexung, der in einer sehr einlässlichen ments subvertiert, sondern sich ihrer Lektüre von Thinner (1984; Der Fluch) zuweilen auch schlicht (und unreflek- aus Stephen Kings Fließbandproduk- tiert) bedient – womit sie dann aber tion mehr oder minder hochklassiger keinen Kontrast zu dem bildet, was tri- Thriller beschrieben wird. Abschlie- vial in Reinform vorgeführt wird. ßend werden Zigeunerromantik und Mit all dem wird der Leser von -musik (die überlieferte Musik der Brittnachers Studie für die zwar grund- ›Zigeuner‹ ebenso wie die topische, sätzlichen, aber letztlich nicht eigent- literarisch ausphantasierte ›Zigeuner- lich schwerwiegenden Schwächen der musik‹) in den Blick genommen. Eine Systematik entschädigt. Steht jene mit ebenso kurze wie schonungslose Lek- dieser gewissermaßen orthogonal zu türe des Librettos von Georges Bizets Bogdals Diskursgeschichte, so ist sie Carmen (1875) auf der Folie der gleich- in ihrer stärkeren Fokussierung auf namigen Novelle von Prosper Merimée (deutschsprachige) Literatur vor allem (1847) zeigt überzeugend, wie »die eine willkommene vertiefende Ergän- Zigeunerfolklore auf der Opernbüh- zung zu dessen auf ganz Europa ge- ne endgültig als Klimbim heimisch« richtetem Blick. wird (306) – ein ästhetisches Niveau, das nur noch von der Operette unter- Volker C. Dörr schritten wird, die abschließend in den Fokus rückt. 212 | LINDA KOIRAN

Kien Nghi Ha (Hg.): Asiatische Deutsche: Vietnamesische Diaspora and Beyond Berlin/Hamburg: Assoziation A 2012 – ISBN 978–3–86241–409–3 – 18,00 €

Der Sammelband des Berliner Kultur- Deutscher mit Fotos von Kunstinstal- und Politikwissenschaftlers Kien Nghi lationen. Gerade diese Hybridität und Ha ist die erste umfangreiche Veröf- Polyphonie des Buches eröffnet neue fentlichung zu asiatischen Deutschen. spannende Perspektiven für die inter- Er rückt eine zunehmend wichtig kulturelle Forschung. werdende Minderheit in den Mittel- Im ersten Teil werden mit Rück- punkt, deren Immigrationsgeschich- griff auf postkoloniale Ansätze aus te bislang eher un-sichtbar blieb, aber der transatlantischen Theoriediskussi- bereits bis in die 1950er Jahre zurück- on die Begriffe ›Migration‹, ›Kultur‹, geht: angefangen von den japanischen ›Identität‹ und ›Differenz‹ problema- Angestellten, den koreanischen Kran- tisiert. Trinh T. Minh-ha thematisiert kenschwestern und Bergarbeitern, Identitätsdefinitionen als Folge von den vietnamesischen Boatpeople und Grenzziehungen zwischen kanonisier- Vertragsarbeiternehmern, den thai- ter und marginalisierter Geschichte. ländischen Heiratskandidatinnen bis Um der heutigen Kultur- und Identi- zu den indischen IT-Ingenieuren und tätsvielfalt in den von Hybridität aus- chinesischen Altenpflegerinnen heute. gezeichneten Gesellschaften gerecht Auf der Grundlage von neueren zu werden, konstruiert Minh-ha ihren Ansätzen aus den Cultural und Postco- spezifischen, auf Dziga Vertovs Theo- lonial Studies versteht Ha, wie er es in rie des ›Intervalls‹ und auf dem mu- sikalischen Intervall beruhenden An- seiner Einleitung darlegt, Gesellschaft satz. Dieser Zwischenraum/moment als ein »diasporisches Kontinuum« ist als ein »Ort des Übergangs« (29) zu (16). Das ermöglicht ihm die Vernet- verstehen. Die Identitätssuche wird zu zung von »Asian Germany« über na- einer akustischen Reise: einem Austa- tionalstaatlichen Begrenzungen bis in rieren an Grenzorten zwischen dem, die USA und nach Asien aufzuzeigen. was stimmig ist und nicht. Ruth Mayer Seine interessante Vorgehensweise be- exemplifiziert den Begriff ›Diaspora‹ steht darin, »Asiatische Lebenswelten an der asiatisch-amerikanischen Mi- und avancierte Kulturtheorie zusam- gration. Dieser »Schlüsselmetapher« men zu denken.« (Utlu 2013) So ist (45) für eine weltbürgerliche Identität sein dreiteiliger Sammelband und Existenzform setzt sie die rhizom- weniger als wissenschaftliche Publika- artige Zerstreuung der transnationalen tion denn als kulturpolitischer Denkan- Gemeinschaft entgegen. Zur Erklä- stoß bzw. als politisches Lesebuch der rung ihrer Partikularitäten differen- diasporischen Selbstfindung (19) ziert sie die asiatisch-amerikanische angelegt. Zwischen den Beiträgen von Gemeinschaft von der afro-amerika- Literatur- und Kulturwissenschaft- nischen und greift auf Ien Angs Re- lern, Filmregisseuren, Stadtforschern, konzipierung des Chinesischen als Künstlern und Sozialarbeitern fin- »Rohmaterial für die Konstruktion den sich »Gedenkbilder« Asiatischer synkretistischer Identitäten« (51) zu- KIEN NGHI HA (HG.): ASIATISCHE DEUTSCHE | 213 rück. Ausgehend von der Frage nach einigung. Hannah Eitel thematisiert der Verortung der vietnamesischen den institutionellen Rassismus in der Diaspora in der deutschen Gesellschaft Polizei, der mit dem Rostocker Po- analysiert Mita Banerjee deren Reprä- grom Anfang der 1990er Jahre aus- sentationen in der Fernsehserie Soko bricht, und die Verbreitung des damit Leipzig. Die Figuren reflektieren eine verbundenen Racial profiling. In der »Fusion aus ost- und westdeutschen »Integrationsdebatte der anderen Art« Stereo typen« und eine »Nischenexis- geht es um die auf ›Zigarettenmafia‹ tenz« (60). Um die Diskrepanz zwi- und ›Musterschüler‹ reduzierten Vor- schen Lebensrealität und Vorurteilen stellungsbilder vieler Deutschen von angemessener zu erforschen, hebt Ba- Vietnamesen, die durch das Fehlen nerjee die Notwendigkeit hervor, in An- an vietnamesischen Repräsentanten lehnung an die Asian American Studies in den Medien und im Migrationsrat das Forschungsfeld der Asian German zusätzlich verhärtet werden. Yumin Li Studies zu begründen. Das Gespräch fragt danach, wie ein Zuhause definiert über »Selbstorganisation und (pan-) wird und welche Beheimatungsprozes- asiatische Identitäten« leitet Ha mit se für Migranten zwischen mehreren der Frage nach der Definition des Asi- Ländern erfolgen. Die Bestimmung atischen ein. Von der reduzierenden eines Zuhauses erfordert ein stetiges Assoziation des westlichen Konstrukts Neu-Verhandeln zwischen einer loka- Asiens mit Fernost über die Sichtbar- len Disposition und einem Bei-sich- machung der koreanische Gemein- Sein. Diese »Selbstverortung« (156) schaft durch ihre Selbst organisation impliziert ein diasporisches Modell bis zur Ersetzung der negativ konno- von Zuhause, das Mehrfachzugehörig- tierten Bezeichnung ›Asiat-in‹ durch keiten einschließt. Das Gespräch über ›People‹/›Person‹/›Women of Color‹ »Vietnamesisch-deutsche Communi- wird deutlich, dass Identitätsbestim- ties und zweite Generation« zeigt auf, mungen mittels ethno-national-kultu- wie die erste Generation noch von dem reller Kategorien einerseits mit Exklu- ideologischen Nord-Süd-Konflikt ge- sion einhergehen, andererseits einen prägt und auf sich selbst bezogen war, Raum der Zugehörigkeit und Gemein- während sich die zweite durch ihre Di- schaft hervorbringen. stanzierung von patriarchalischen Ver- Im zweiten Teil des Sammelban- haltens- und Denkweisen und ihren des folgen Beiträge über die vietna- offenen Umgang mit anderen Minder- mesische Diaspora mit deren lokalen heiten auszeichnet. Hanna Hoa Ahn und transnationalen Dimensionen in Mai erzählt von ihrer deutsch-vietna- West- und Ostdeutschland. Uta Beth mesischen Erziehung im Kontext des und Anja Tuckermann geben einen Generationendialogs ihrer deutschen historischen Rückblick über die Flucht und vietnamesischen Kriegskinder- und Integration südvietnamesischer Eltern. Sie wirft damit die Frage nach Boatpeople in die BRD, über die noch der Beziehung der Migranten zur wenig erforschte Rekrutierung nord- deutschen Geschichte und die ihres vietnamesischer Vertragsarbeitnehmer Herkunftslandes auf. Die chronolo- in der DDR und über ihr Abrutschen gisch angeordneten Erinnerungssplit- in die Illegalität nach der Wiederver- ter reflektieren eine deutsche Lebens- 214 | LINDA KOIRAN welt, in der sie ständig über Vietnam hungsgeschichte der Asian Women’s identifiziert wird, obwohl ihr das Land Festival in Berlin ein. International fremd ist. Antonie Schmiz fasst ihre vernetzt stellt es eine Plattform für die auf Interviews und einem »Mixed- kritische Auseinandersetzung mit Ge- Embeddedness-Ansatz« (199) beru- schlecht und Ethnizität dar. Theoreti- hende Untersuchung über die Inte- sche Grundlage dafür bildet Benedict gration vietnamesischer Migranten Andersons Begriff der »Imagine(d) auf dem Berliner Arbeitsmarkt durch Communities« (246), der nach Suda die Gründung von Nagelstudios zu- und Choi über Nationen hinaus auch sammen, deren Knowhow durch die im Körper und Bewusstsein einge- Verknüpfung mit dem asiatisch-ame- schrieben ist und eine positive Identi- rikanischen Netzwerk importiert wur- fikation ermöglicht. Noa Has Beitrag de. Huy Dao vergleicht die vietnamesi- veranschaulicht an der Verwandlungs- schen Gemeinschaften in Kalifornien geschichte des Berliner Preußenpark und Berlin vor dem Hintergrund der in den Thaipark im bürgerlichen transnationalen Politik von Geschich- Wilmersdorf wie sich zu Beginn der te, Erinnerung und Lokalität. Noch 1990er Jahre südwest-asiatische Hei- von den traumatischen Erinnerungen ratsmigrantinnen zu Picknicks ver- an den Vietnamkrieg geprägt, zeichnet sammelten und diese zunehmend sich die ältere Generation durch eine zum Freiraum für Austausch und anti-kommunistische Haltung aus, Heimatnostalgie wurden. Dass diese während die jüngere sich mit der frag- Praxis einer Minderheit inzwischen würdigen Geschichtsdarstellung ihrer ins Alltagsleben der Mehrheit einge- Eltern auseinandersetzt. Die deutsch- schrieben ist, zeigt die auf Deutsch, vietnamesische Gemeinschaft weist Englisch und Thailändisch erstellte dagegen eine Nord-Süd-Gespaltenheit Parkordnung. Kien Nghi Has histori- auf. Ihre Integration bildet ein Modell sche Retrospektive über die chinesi- für die kalifornischen Vietnamesen. sche Diaspora in Berlin und Hamburg Im dritten Teil werden Verbindun- ab dem 19. Jahrhundert bis 1945 weist gen mit weiteren asiatisch-deutschen auf ihre Präsenz in verschiedenen sozi- Gemeinschaften in ästhetischen, histo- alen Milieus vor dem Hintergrund des rischen und urbanen Kontexten herge- europäischen Kolonialkontextes. Sie stellt. Während sich Feng-Mei Heberer festigt eine asiatisch-deutsche Migrati- mit Gegenentwürfen von weiblichen onskontinuität und offentbart bislang Körperdarstellungen asiatisch-ameri- kaum erforschte Phänomene (Asiaten kanischer Filmemacherinnen ausein- unter der NS-Diktatur) und Persönlich- andersetzt, thematisiert Sun-ju Choi keiten (Tatjana Barbakoff). die stereotypischen Repräsentationen Has Sammelband zu den Asiati- von Asiatinnen in deutschen Filmen, schen Deutschen ist eine fassetten- um auf Probleme weiblicher Migrati- reiche Pioniertat. Dass oftmals der onswirklichkeit hinzuweisen, wie z.B. Focus auf die vietnamesisch-deutsche die Identitätsfrage einer Adoptierten, Gemeinschaft gerichtet ist, lässt sich die »interracial romance« (262) und angesichts des zwanzigjährigen Ge- die Hypersexualisierung. Kimiko Suda denkens an die Pogrome von Hoy- und Sun-ju Choi gehen auf die Entste- erswerda (1991) und Rostock-Lichten- BERNHARD ARNOLD KRUSE: WIDER DEN NATIONALISMUS | 215 hagen (1992) als Manifestation einer Deutschen hin, deren wissenschaftli- zeichensetzenden, notwendigen Ge- che Verankerung in der Gründung der genwehr verstehen. Die Vielfalt ande- Asian German Studies bestehen könnte. rer Blickrichtungen weist allerdings auf das Auftauchen eines neuen Com- Linda Koiran munity-Bewusstseins der asiatischen

Literatur

Utlu, Deniz (2013): »Früher war es mir auch wichtig, bloß kein Chinese zu sein«. Inter- view mit Kien Nghi Ha. In: freitext 11 (2013), Nr. 21 (April); online unter: http://www. migazin.de/2013/04/12/frueher-war-es-mir-auch-wichtig-bloss-kein-chinese-zu-sein [Stand: 15.11.2013].

Bernhard Arnold Kruse: Wider den Nationalismus – oder von den Schwierigkeiten eines interkulturellen Lebens. Zu den Südtirolromanen von Joseph Zoderer Bielefeld: Aisthesis 2012 – ISBN 978–3–89528–969–9 – 45,00 €

Die längst überfällige große Monogra- tionalistisches Symbol« bezeichnet fie über den bedeutenden Erzähler Jo- wird). Keine Frage, dass im Glück beim seph Zoderer ist dieses Buch nicht. Kru- Händewaschen der Schweizer ›Nationa- se hat einige seiner Aufsätze (vgl. 355) lismus‹, das Schweiz-Bewusstsein ein erweitert und gebündelt; sie stehen, wichtiges Motiv ist, von der Almhüt- unter dem Etikett »Südtirolromane«, tenszene im Schmerz der Gewöhnung als Kapitel über Das Glück beim Hände- gar nicht zu reden. Aber ob die dumpfe waschen von 1976 (35–185), Die Walsche Italienerfeindlichkeit der Figuren in von 1982 (186–249) und Der Schmerz der Walschen mit dieser Kategorie er- der Gewöhnung von 2002 (250–351) re- fasst werden kann, bezweifle ich. lativ unverbunden in einem Band ne- Zu allen drei Büchern bietet Kru- beneinander. Eine Synthese oder einen se viele interessante Beobachtungen, Ausblick auf die Südtirol-Thematik im etwa zum Glück beim Händewaschen, Gesamtwerk bietet der Verfasser nicht, wo er vielen (vielleicht sogar zu vielen) trotz dem gewichtigen verallgemei- Details bei der Darstellung des Inter- nernden letzten Absatz. nats Bedeutung zuschreibt. Besonders Die Einleitung beschäftigt sich mit anregend die Überlegung, dass die dem Begriff der Nation im Lichte der Bewohner von Olgas Heimatdorf (Die Thesen von Benedict Andersons Ima- Walsche) sozial überhaupt nur durch gined Communities (dt. Die Erfindung den Kitt der Abneigung gegen die Itali- der Nation). Im Weiteren wird aber ener zusammengehalten werden, dass zwischen ›Nation‹ und ›Nationalis- es ›das Dorf‹ als soziale Einheit nur mus‹ nicht scharf genug getrennt (vgl. deshalb noch gibt. z.B. 69, wo die Schweizer Briefmarke Eine Grundfrage bleibt in der Ein- nicht als nationales, sondern als »na- leitung wie im ganzen Buch unerör- 216 | SIGURD PAUL SCHEICHL tert. Kruse schreibt zwar richtig (und nationalistisch gefärbten) Statistik mehrfach: vgl. auch 28, 188, 253 u. über die Bevölkerung Südtirols aus 329), dass sich Zoderers Werke »am dem 19. Jahrhundert Nationalismus Hauptthema der Fremdheit« abarbei- erkennen, weil der Verfasser von Deut- ten (32); dieses Thema geht aber weit schen und Italienern schreibt statt sowohl über die Südtirol-Thematik als von Österreichern und Italienern (12, auch über das Thema des Nationalis- Anm. 3) – hat also keine Ahnung von mus hinaus. Selbstverständlich ist Süd- der Geschichte dieses Raums; denn tirol der Erfahrungshorizont, vor dem in der zisleithanischen Reichshälfte Zoderer über ›Fremdheit‹ schreibt, wurden selbstverständlich ›Deutsch- selbstverständlich verankert er dieses sprachige‹ als ›Deutsche‹ bezeichnet, Thema in einer ihm genau vertrauten ›Tschechischsprachige‹ als ›Böhmen‹ Realität. Doch Fremdheitserfahrung oder ›Tschechen‹ usw.; ›Österreicher‹ lässt sich nicht auf einen regionalen waren sie in den Augen des Staates alle, ethnisch-kulturellen Konflikt eingren- unabhängig von ihrer Muttersprache. zen; in den von Kruse beiseite gelas- In Zusammenhang mit der Walschen senen anderen Romanen Zoderers ist schreibt Kruse ähnlich ahnungslos: sie auf andere Weise sehr präsent. Aber eben nicht etwa [von] italienisch- und auch Olgas Vater, der ›Fremdheitsspe- deutschsprachigen Südtirolern italie- zialist‹, erfährt Fremdheit gerade nicht nischer Staatsbürgerschaft oder italie- im Gegensatz zu den Anderssprachi- nischen Staatsbürgern in Südtirol, die gen, sondern zur ›Dorfgemeinschaft‹, entweder einer deutschsprachigen oder die wie er selbst Deutsch spricht. Die italienischsprachigen ethnisch-kultu- immerhin erwähnte positive Faszinati- rellen Tradition verbunden sind, ist die Rede, sondern eben von Deutschen on Juls durch die ›fremde‹ mediterrane und Italienern. (186) Welt im Schmerz der Gewöhnung wäre für dieses zentrale Thema Zoderers Im Alltag Südtirols wird aber, ganz ebenfalls wichtig. sachlich, ohne nationale Emotionen, Insofern hat Kruse sogar prinzipiell zwischen ›Deutschen‹ und ›Italienern‹ Recht, wenn er auf Details der Realität unterschieden. Für das Südtiroler in Südtirol nicht näher eingeht – nur Verständnis der eigenen Geschichte dürfte er dann die Bücher eben nicht stehen Jul und Mara zu Maras Vater als ›Südtirolromane‹ behandeln. Des- nicht so sehr im Gegensatz, weil sie halb macht es sich störend bemerkbar, Antifaschisten sind und er »hoher fa- dass er über dieses Land recht wenig schistischer Spitzenfunktionär« war weiß, was insofern noch mehr stört, als (305), sondern Maras Vater steht im Zoderers Romane, was hier kaum je Roman in erster Linie für die italieni- erwähnt, geschweige denn in der Ana- sche Po litik der Entnationalisierung der lyse berücksichtigt wird, viele autobio- deutschsprachigen Südtiroler, also nur grafische Züge aufweisen (insbesonde- für einen, engagierte Antifaschisten re Das Glück beim Händewaschen, aber eher weniger interessierenden Aspekt auch Der Schmerz der Gewöhnung). Nur der faschistischen Politik (vgl. zum einige Beispiele für diese Ungenauig- Faschismus auch 318–321). Und schon keit: Kruse will in einer (aus anderen gar nicht dürfte man ein Grundbuch Gründen wahrscheinlich tatsächlich der traditionellen Südtiroler Kultur, BERNHARD ARNOLD KRUSE: WIDER DEN NATIONALISMUS | 217 den kirchlich geprägten Reimmichlka- gen gerade die Rezensionen, ob und wo lender, falsch schreiben: »Rimmichlka- Zoderers Bücher als ›Südtirol-Romane‹ lender« (163). verstanden worden sind. Besondere Ganz unverständlich ist, dass Kru- Aufmerksamkeit würden dabei italieni- se das offen autobiografische Wir gin- sche Stimmen zu den Büchern verdie- gen, Zoderers Optionserzählung, eine nen, selbstverständlich auch die Skan- wirkliche Südtirol-Geschichte, von Zo- dalisierung der Walschen in Südtirol. derer symbolisch auch in einer zwei- Liest man Kruses Studie (eigent- sprachigen Sonderausgabe in Bozen lich: Studien) als textimmanente Inter- veröffentlicht, mit vielen Berührungs- pretationen – was sie aber gerade nicht punkten insbesondere zum Glück beim sein wollen –, kann man ihnen viele Händewaschen, nur erwähnt und nicht Einsichten abgewinnen, oft zu The- wirklich behandelt. men, die mit ›Nationalismus‹ nichts Rein handwerklich ist gegen das oder nur indirekt zu tun haben (wie Buch Kruses neben den mangelnden z.B. über den durch urbane Modernität Kenntnissen von Geschichte, Politik gebrochenen Zugang zur ›Heimat‹ im und Alltag der behandelten Region Schmerz der Gewöhnung [299]). Dessen die Gewichtung der Analysen einzu- ungeachtet kann ich einige Einwände wenden: Fast die Hälfte der Unter- gegen Kruses methodischen Zugang suchung nimmt, ohne Begründung, nicht verschweigen: Gerade wegen des die Interpretation des Glücks beim teilweise autobiografischen Erzählens Hände waschen ein, was insofern noch bei Zoderer bin ich skeptisch gegen- mehr befremdet, als dieser Roman über der Neigung des Verfassers, jedes hier, dem Ansatz Kruses nicht ganz Detail symbolisch zu überfrachten, entsprechend, dann doch weitgehend etwa den Namen Jul auf das germani- als Internatsroman vorgestellt wird, sche Julfest zu beziehen (340); Zoderer freilich mit Ausblicken auf die Identi- erzählt auch um des Erzählens willen. tätsfindung der Hauptfigur durch die Zu oft lässt sich die Untersuchung auf Rückkehr nach Südtirol (29f.). psychologische Spekulationen über Die bisherige Forschung zu Zo- Gründe für das Verhalten der Figu- derer – mit Ausnahme des text+kritik- ren ein. Zu oft werden Passagen und Bands, an dem er mitgearbeitet hat – hat Motive der Romane auf Abstraktionen Kruse nicht zur Kenntnis genommen. festgelegt. Nicht ausreichend beachtet Von etwa 40 leicht ermittelbaren Arbei- wird manchmal Zoderers Kunst des ten über Zoderer werden im Literatur- Erzählens, obwohl Kruse explizit von verzeichnis gerade drei angeführt (nicht der »kompositorischen Struktur« (39) einmal der alte KLG-Artikel von Chris- des Glücks beim Händewaschen spricht toph König), aber selbst auf diese geht und sie an einigen Beispielen nach- der Text kaum ein. Von einem Buch weist, wie er auch die bedeutungstra- dieses Umfangs und dieses Anspruchs gende Verflechtung und Kontrastie- wäre zu erwarten, dass der Verfasser rung von Agrigento und dem Pustertal sogar ungedruckte akademische Ab- im Schmerz der Gewöhnung sehr über- schlussarbeiten einsieht. Die für Kruses zeugend herausarbeitet und originell Thema besonders relevante Rezeption als »Umerziehung der Sinne« (308) wird zur Gänze übergangen; dabei zei- deutet. 218 | BRIGITTE DALINGER

Und vor allem: Kruse entwickelt zweier Kulturräume geprägt. Aber in seine Überlegungen zu Zoderers seinen Romanen kann man eben viel Schreiben gegen den Nationalismus mehr finden als dieses Thema. Der nicht aus den Texten, sondern er geht ›Fremdheitsspezialist‹ Zoderer lässt von seiner Hypothese aus und sucht sich nicht auf Antinationalismus und in ihnen nach Beweisen für sie. Selbst- nicht auf Südtirol reduzieren. verständlich trifft die Grundthese zu: Die vielen Abschweifungen in sei- Zoderer schreibt gegen jedweden Na- nen Analysen zeigen, dass Kruse das tionalismus und ist fasziniert von der auch gespürt hat – und dass die unter- Begegnung der Kulturen (in Südtirol, suchten Bücher Zoderers weit mehr als aber auch in Mexiko!). Selbstverständ- ›Südtirolromane‹ sind. lich ist er von seinen Erfahrungen in der Kontaktzone zweier Sprachen und Sigurd Paul Scheichl

Sebastian Schirrmeister: Das Gastspiel. Friedrich Lobe und das hebräische Theater 1933–1950 Berlin: Neofelis Verlag 2012 – ISBN 978–3–943414–03–5 – 18,00 €

Der Name des Schauspielers, Re- terreich ist durchaus Teil des wissen- gisseurs und Autors Friedrich Lobe schaftlichen Diskurses, Friedrich Lobe (1889–1958) ist in theaterhistorischen hingegen wird kaum erwähnt. Die Ent- Werken kaum zu finden – zu viele Brü- wicklung des hebräischen Theaters in che und Diskontinuitäten kennzeich- Palästina in den 1930er und 40er Jah- nen seinen Lebensweg. Lobe hatte sich ren – jener Theaterlandschaft, die zum in den 1920er Jahren eine ansehnliche Betätigungsfeld Lobes wurde – ist wis- Karriere auf den Bühnen Österreichs senschaftlich zwar beleuchtet, der An- und Deutschlands aufgebaut, als Jude teil der deutschsprachigen ›Exilanten‹ musste er 1933 Deutschland verlas- jedoch nur in Ansätzen. sen. Er ging nach Palästina, wo er als Sebastian Schirrmeister nähert deutschsprachiger Theatermacher äu- sich dem Theaterschaffen Friedrich ßerst rührig war – aufgrund seiner Lobes in mehreren ›Aufzügen‹. Nach künstlerischen Ausrichtung jedoch mit einleitenden Abschnitten über die Mo- einer gewissen Skepsis betrachtet wur- tivation, über Lobe zu arbeiten, stellt er de. Nach 1945 entschied er, mit seiner Forschungsstand und Quellenlage dar. In Familie – der Name seiner Frau Mira der (kurzen) Auseinandersetzung mit Lobe ist als Kinderbuchautorin nach der deutschen Exilforschung zeigt sich wie vor präsent – nach Wien zu gehen, ein Diskurs, der die wissenschaftliche wo er eine Anstellung als Schauspie- Annäherung an Lobes Theaterschaffen ler im Neuen Theater in der Scala fand, kennzeichnet – das Problem des ›Exils‹ um nach dessen Schließung 1956 ans in Palästina. Unter Berufung auf Sabina Deutsche Theater in Berlin zurückzu- Becker wird auf die besondere Situation kehren. deutscher Jüdinnen und Juden in Paläs- Der Anteil jüdischer Theaterkünst- tina unter dem Stichwort »Akkulturati- ler bis 1933/38 in Deutschland und Ös- on« hingewiesen: »Zwar war man auf SEBASTIAN SCHIRRMEISTER: DAS GASTSPIEL | 219 der Flucht vor Hitler, man ging jedoch Weg aus einer armen jüdischen Fa- nicht in die Fremde bzw. Verbannung, milie in Frankfurt a.M. zum ersten sondern kehrte – so das Selbstverständ- Engagement am Theater 1906 nach- nis – in das Land der ›Vorfahren‹ zu- gezeichnet, soweit die Quellenlage es rück.« (Becker 2009: 264, zit. n. 20) zulässt, denn schon der erste Auftritts- Doch, wie Schirrmeister ausführt, ort ist nicht genau bestimmbar. Nach war dieses »Selbstverständnis bei Wei- Erfolgen in der Rolle des Shylock, als tem nicht für alle deutschen Flüchtlin- 18-Jähriger in Aschaffenburg, war Lobe ge in Palästina gleichermaßen selbst- Schauspieler und Regisseur in Wein- verständlich«, vielmehr »bewegt sich heim, ab 1911 gehörte er zum neu ge- der Fall von Friedrich Lobe doch genau gründeten Ensemble des Neuen Frank- in jenem Zwiespalt zwischen ›Exil‹ furter Theaters, das nach dem Vorbild und ›Rückkehr ins Land der Vorfah- der Freien Bühne in Berlin geführt wur- ren‹.« (21) de. Der Erste Weltkrieg unterbrach Lo- In der israelischen Theaterfor- bes Bühnentätigkeit nur kurz; 1920/21 schung ist die Situation der deutschen kam er nach Berlin, wo er als Schau- Juden im Theater ab den 1930er Jahren spieler, Regisseur und Theaterdirektor noch wenig erforscht, eine Ausnahme an mehreren Bühnen tätig war, bis bilden die Arbeiten Tom Lewys: er 1927 ans Schauspielhaus Düsseldorf wechselte, von dort ans Thalia Theater Die zentrale These von Lewys Studi- in Hamburg. Schon an den Orten und en beschreibt die Beziehung der aus Deutschland eingewanderten Thea- Theaterhäusern erkennt man die viel- terkünstler zum hebräischen Theater versprechende Karriere des Schauspie- in Palästina als eine Art Kulturkampf lers und Regisseurs Lobe – von Wein- zwischen der jüdischen Einwanderung heim ans Thalia Theater in Hamburg, aus Osteuropa und Westeuropa – mit dessen künstlerische Leitung er 1932 anderen Worten: als die aus Mitteleuro- kurzzeitig innehatte. Im Spätsommer pa bekannte, fortgesetzte Auseinander- 1933 traf er in Palästina ein. setzung zwischen Ost- und Westjuden Im Exkurs in die Kulisse: Das heb- unter neuen Vorzeichen. (23) räische Theater in Palästina werden die Nach Schirrmeister kann Friedrich Lo- kurze Entwicklung des hebräischen bes Wirken diese These »vielleicht ex- Theaters und die Theaterlandschaft, emplarisch erhellen« (23). wie Lobe sie vorfand, umrissen. Die Ein Problem ist die Quellenlage: Es drei großen hebräischen Bühnen wa- gibt keinen Nachlass Lobes, sein Schaf- ren in Tel Aviv beheimatet: die Habi- fen musste mithilfe von Zeitungsar- ma (= Podest in der Synagoge; stammt tikeln, Protokollen von kollektiven ursprünglich aus Moskau), das hebrä- Leitungssitzungen des Ohel Theaters ische Arbeitertheater Ohel (= Zelt; die (an dem Lobe wirkte) und anderem Mitglieder waren Laien) und das sati- Archivmaterial erforscht werden. Auch rische Theater Matate (= Besen). Die die Theatertexte Lobes sind nur teilwei- Ästhetik dieser Bühnen war von rus- se überliefert, in hebräischer Überset- sischen Einwanderern geprägt, inhalt- zung. lich spielte der Zionismus eine große In Prolog in Deutschland: 1889–1933 Rolle, organisiert waren die Bühnen wird Lobes (eigentlich Löbenstein) als Kollektive. Aus Mangel an hebräi- 220 | BRIGITTE DALINGER schen Theaterstücken waren sie von nauigkeit, Gründlichkeit und techni- Übersetzungen aus dem internationa- sche Perfektion gelobt. Darüber hinaus len Repertoire abhängig. Friedrich Lo- leitete er die Eröffnungsvorstellung bes Wirken als Schauspieler, Regisseur der hebräischen Nationaloper 1948, und Autor, geprägt von der deutschen fünf Inszenierungen für verschiedene Herkunft und der Ästhetik Max Rein- Gruppierungen sowie eine Musikthe- hardts, wurde in diesem Umfeld äu- ater-Aufführung. Und dennoch fasst ßerst ambivalent rezipiert. Schirrmeister Lobes Tätigkeit folgen- Schirrmeister widmet den einzel- dermaßen zusammen: ›Wirkung ohne nen Tätigkeitsfeldern Lobes je einen Nachhall‹. Als Gründe für die Ignoranz ›Aufzug‹ seiner Studie. Als Schauspie- bzw. die Marginalisierung von Lobes ler deutscher Sprache hielt Lobe nur Arbeit von Seiten der Theatergeschich- wenige Vorträge und Lesungen, die te und Theaterwissenschaft werden die hebräische Sprache erlernte er nicht, Schwierigkeiten mit der bruchlosen setzte sich aber intensiv mit dem Jiddi- Einordnung Lobes sowie seine Rück- schen auseinander. kehr nach Europa genannt. Bei seiner Tätigkeit als Regisseur Sehr interessant sind aufgrund ih- im Ohel scheint sich Lobe vor allem rer zeithistorischen Thematik die im einer Mischung aus Deutsch und Jid- Dritten Aufzug: Der Autor analysierten disch in der Kommunikation mit den Theatertexte Lobes, von denen sich DarstellerInnen bedient zu haben. Wie einige (Texte bzw. Textteile von sechs genau sein Kontakt dorthin zustande Dramen) in israelischen Archiven fin- kam, ist heute nicht nachvollziehbar; den. Unter dem Pseudonym Jan de Schirrmeister belegt aber, dass es die Vriess gab er zwei Theaterstücke – Der Mitglieder waren, die Lobe verpflichte- Schneider von Groningen und Seide und ten, nicht dessen Leiter Moshe Halevi, Brot – ans Ohel, die er selbst erfolgreich der die Tätigkeit seines Mitregisseurs inszenierte. 1949 jedoch wurde sein in seiner Autobiografie kaum erwähnt. Pseudonym gelüftet, was einen Skan- Lobe kam aus einer völlig anderen dal und einen Diskurs über hebräische Theaterpraxis als die »verdybbukte« und ›fremde‹, da deutsche Kultur ent- Inszenierungspraxis des damaligen fachte. palästinensischen Theaters, er streb- Die Jahre 1950–1958 stellt Schirr- te nach »Reduktion. Notwendigkeit. meister im Epilog dar. Lobe ging mit Sachlichkeit« (59), und konnte für die- seiner Familie nach Wien, sein Ziel sen künstlerischen Ansatz durchaus war es, wieder in deutscher Sprache Erfolge verbuchen, etwa 1934, als Büch- spielen und Regie führen zu können, ners Dantons Tod unter seiner Regie was nach der Shoah in Palästina nicht herauskam. Der größte Erfolg seiner möglich war. Das Neue Theater in der Karriere in Palästina war eine Insze- Scala in Wien war 1948 von engagier- nierung von Jaroslav Hašeks Der brave ten Exilanten gegründet worden und Soldat Schwejk (1935), die bis 1972 ge- hatte einen politisch und künstlerisch zeigt wurde. Insgesamt setzte Lobe in anspruchsvollen Spielplan, Lobe spiel- den Jahren seiner Tätigkeit in Palästina te hier in drei Produktion und führte 21 Theaterstücke am Ohel in Szene, in bei Molières Der eingebildete Kranke den Kritiken wurde er für deren Ge- (1951) Regie. Nach der Schließung des SEBASTIAN SCHIRRMEISTER: DAS GASTSPIEL | 221

Theaters 1956 ging Lobe nach Berlin – ästhetischer und dramaturgischer Hin- ans Deutsche Theater, wo er vor seiner sicht, andererseits aber – so arbeitet Exilzeit in Palästina aufgetreten war, Schirrmacher klar heraus – wurden hier wirkte er bis März 1958 in fünf der Karriere Lobes und der Anerken- Produktionen mit. Eine Regiearbeit in nung seines künstlerischen Schaffens Stella Kadmons Theater der Courage in durch die Beharrung auf dieser deut- Wien konnte er nicht mehr zu Ende schen künstlerischen Herkunft enge führen. Grenzen gesetzt. Im Nachspiel, theoretisch wird das In Das Gastspiel. Friedrich Lobe und Wirken Lobes in Hinblick auf trans- das hebräische Theater wird die Karrie- kulturelle Prozesse verortet, ferner re des Theatermanns Lobe erstmals werden weiterführende Fragestellun- vorgestellt, beleuchtet werden darüber gen formuliert, betreffend etwa den hinaus die komplexen Rahmenbedin- Einfluss der deutschsprachigen Emi- gungen der einzelnen Stationen dieser grantInnen am hebräischen Theater Karriere. Ausgehend vom Diskurs um sowie die Erfahrungen von Exil und den problematischen »Exil«-Begriff Rückkehr. Zu diesen Themen ist im deut scher Juden in Palästina wird Lo- vorliegenden Buch sehr viel geleistet bes Wirken und dessen Rezeption dar- worden: Das Wirken und die Karriere gestellt und innerhalb der transkultu- eines Theatermannes, der zeit seines rellen Prozesse der heterogenen und Lebens extremen Brüchen ausgesetzt im Werden begriffenen hebräischen war und dennoch seiner deutschen Theaterlandschaft der 1930er und 40er kulturellen Herkunft treu blieb, wird Jahr verortet. aufgearbeitet. Lobes Prägung vom deutschen Theater bestimmte seine Brigitte Dalinger Arbeit in Palästina und bereicherte einerseits das hebräische Theater in

Literatur

Becker, Sabine (2009): ›Weg ohne Rückkehr.‹ Zur Akkulturation deutschsprachiger Au- toren im Exil. In: Wilhelm Haefs/Rolf Grimminger (Hg.): Nationalsozialismus und Exil. 1933–1945. München, S. 245–265.

Gesellschaft für interkulturelle Germanistik

Rundbrief 7.2 (2013)

Ernest W.B. Hess-Lüttich

Berlin, den 9. November 2013

Sehr verehrte Kolleginnen, sehr geehrte Kollegen, liebe Freunde in der GiG, der heutige 9. November ist für historisch sensible Germanisten ein Tag des Erinnerns in vielerlei Hinsichten. Die einen verbinden den »Schicksalstag der Deutschen« mit dem Scheitern der Revolution von 1848 und dem Ende des Paulskirchenparlamentes, die anderen mit der ›Novemberrevolution‹ von 1918 und Philipp Scheidemanns Ausrufung der deutschen Republik, die Dritten mit der Niederschlagung des Hitler-Aufstandes von 1923, wieder andere gedenken der jüdischen Opfer der faschistischen Progrome, nach denen der Holocaust seinen grausigen Lauf nahm. Und am 9. November 1989 fiel ›die Mauer‹, die unser Land so lange teilte. Heute schreibe ich diesen Rundbrief freilich nicht, um die Mitglieder der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) noch einmal an dieses Datum zu erinnern. Dessen bedarf es nicht. Vielmehr kann ich damit anknüpfen an meinen letzten Rundbrief vom 17. Juni (erschienen in der ZiG 4.1: 246–250), in dem ich bereits die Brücke zum 9. November zu schlagen versuchte, um die historischen Prämissen unseres politischen Handlungsrahmens in Erinnerung zu rufen. Zumindest für mich gehören die mit solchen Daten verbundenen Ereignisse zu den zentralen Triebfedern meines Engagements für die interna- tionale und interkulturelle Verständigung als eines (auch) germanistischen Ge- genstands. Diesem gemeinsamen Gegenstand unseres wissenschaftlichen Interesses sind erneut auch die beiden jüngsten Bände unserer Buchreihe gewidmet, die die Mitglieder der GiG vor nicht langer Zeit (wie immer im Rahmen ihrer Mit- gliedschaft kostenfrei) erhalten haben. Ich freue mich, dass es gelungen ist, wichtige Beiträge, die aus den Vorträgen zu den beiden Konferenzen der GiG in Kairo 2010 und in Bangkok 2011 hervorgegangen sind, in zwei gut geratenen Büchern zu versammeln. Ihre Themen könnten aktueller nicht sein. In Kairo hatten wir uns am Vorabend des später so genannten Arabischen Frühlings eingefunden, um im wissenschaftlichen Diskurs, also möglichst frei von außerwissenschaftlichen Einschränkungen, über Rituale und Tabus zu sprechen. Die reichhaltigen Er- gebnisse der Konferenz habe ich versucht, im Klappentext so kondensiert wie

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 226 | ERNEST W.B. HESS-LÜTTICH möglich zusammenzufassen. Rituale und Tabus dienen in allen Gesellschaften zur Regulierung von sozialem Handeln, insofern sie Erwartungen über Ord- nungsmuster und Verhaltensschemata festigen sowie Sanktionsmechanismen für regelwidriges und regelkonformes Verhalten bereitstellen. Die Regeln für Rituale und Tabus indes sind nicht immer leicht und allgemein zu formulieren, denn sie können nicht nur in hohem Maße von Kultur zu Kultur variieren, sondern auch innerhalb einer Gesellschaft gibt es hochgradig gruppen- und situationsspezifische Unterschiede. Insoweit Rituale und Tabus sprachlich se- dimentiert und Gegenstand ästhetischer Modellierung sind, finden sie auch in den Textwissenschaften zunehmend Beachtung. Während Interaktionsritua- le heute etablierter Gegenstand der Linguistik sind, bleibt die Untersuchung gerade von verbal manifestierten Tabus weiterhin Desiderat der Sprach- und Kulturwissenschaften im Allgemeinen sowie der interkulturellen Germanistik im Besonderen. Rituale als zugleich traditionsbildende und ordnungsschaffen- de routinisierte Handlungen und Tabus als zugleich selektiv wirkende und mit Sanktionen belegte Handlungen sind symptomatisch für spezifische kulturelle Identitäten und führen im Falle von unterschiedlicher kultureller Prägung zu einem besonders starken Fremdheitserleben. Lerner einer fremden Sprache sollten daher nicht nur für die Tabus der Eigen- und Fremdkultur sensibilisiert werden, sondern auch ein Arsenal an Reparaturmechanismen und Kompensa- tionsstrategien an die Hand bekommen, um im Falle einer Tabuverletzung dem Abbruch der Kommunikation entgegensteuern zu können. Dies aber führt zu der Frage, welche sprachlichen Mittel eine Bewältigung bzw. im vorhinein eine Vermeidung von Tabus ermöglichen. Dazu kann auch die verständige Lektüre ihrer literarischen Problematisierung fruchtbar beitragen. In Bangkok ging es unter dem Eindruck der aktuell anhaltenden (nicht nur) kultur- und textwissenschaftlichen Debatte über den Spatial turn um die (inter-) kulturelle Bestimmung des Raumes in Sprache, Literatur und Film. Die De- batte, so schrieben die Kongresspräsidentin Pornsan Watanangura und ich zur Einführung, sei in den literarästhetisch motivierten Cultural Studies zunächst dem Versuch entsprungen, die ›Postmoderne‹ von der ›Moderne‹ abzuheben: Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass sie in Ordnungskategorien der Zeit denke, jene aber in solchen des Raumes. In den Literaturwissenschaften wer- de im Gefolge dieser Debatte die Wahrnehmung von Räumen (Orten, Land- schaften usw.) inzwischen auch als Metapher für Denkfiguren, Schreibweisen, Sprachkontakte oder mediale Räume diskutiert. Auch in den Sprachwissen- schaften sei die Untersuchung räumlicher Relationen und deren Niederschlag im sprachlichen Gebrauch (und in Zeigehandlungen) seit langem ein etablier- tes Forschungsfeld. Beide Forschungsstränge konnten nun in diesem Band un- ter dem titelgebenden Stichwort KulturRaum für die Untersuchung interkul- tureller Sprach- und Literaturdiskurse fruchtbar gemacht werden, indem die Autoren literarische Modellierungen des Raumes, aber auch sprachliche Mittel zum Ausdruck räumlicher Relationen und die Visualisierung des Raumes in Kunst, Film und Neuen Medien zum Gegenstand ihrer Erörterungen machten. RUNDBRIEF 7.2 | 227

Da nun in diesem Jahr gleich zwei Bände durch Druckkostenzuschüsse finanziert werden mussten, hat mich der Deutsche Akademische Austausch- dienst (DAAD) gebeten, das Erscheinen des nun eigentlich ebenfalls anstehen- den Buches, das aus der allen Teilnehmern in positiver Erinnerung gebliebe- nen Tagung in Kyoto hervorgehen wird, auf das Frühjahr des Folgejahres zu verschieben. Die redaktionellen Arbeiten an diesem Band zum Thema sind in Bern abgeschlossen, und wir hoffen, dass auch unter der neuen Leitung des Außenministeriums in Berlin die Unterstützung unserer Arbeit ungeschmälert bleibt, damit der Verlag die Drucklegung zügig vorantreiben kann. In einer zusätzlichen Sonderanstrengung streben wir an, auch den im letz- ten Rundbrief bereits annoncierten Band über die Gesellschaften in Bewegung, in den etliche Beiträge zur gleichnamigen Konferenz in Johannesburg zu Beginn dieses Jahres einfließen werden, noch im Folgejahr 2014 herauszubringen. Derweil laufen die Vorbereitungen für die nächste GiG-Tagung im iri- schen Limerick bereits auf vollen Touren. Die Resonanz auf unsere Einladung (ZiG 4.1: 251ff.), einen thematischen Vorschlag einzureichen, der dem Konfe- renzthema Begegnungen in Transiträumen / Transitorische Begegnungen zu subsu- mieren wäre, war so überwältigend, dass wir eine strikte Auswahl aus den Ab- stracts treffen mussten, um das Programm nicht ins Uferlose sich ausdehnen zu lassen. Das daraus entstandene Tagungsprogramm, das noch im laufenden Jahr versandt (sein) wird, wird in seiner Vielfalt wieder sehr attraktiv sein. Das gilt auch für das kulturelle Rahmenprogramm. In einem Zwischenbescheid zum Jahreswechsel werden wir (die beiden Organisatoren und ich) dazu aber sicher noch Genaueres mitteilen können. Die Tagungshomepage (s. ZiG 4.1: 248) orien tiert über den jeweils aktuellen Stand der Vorbereitungen. Unsere indischen Kolleginnen Meher Bhoot und Vibha Surana haben inzwi- schen mit der Vorbereitung einer GiG-Tagung begonnen, die in der 51. Woche des kommenden Jahres (15.-19. Dezember 2014) zum Thema Komparative Ästhe- tiken (Arbeitstitel) an der University of Mumbai stattfinden soll. Eine Einladung dazu wird ebenfalls in Kürze ergehen.

Soviel für heute. Herzliche Grüße aus Bern und Berlin im Wonnemonat November und alles Gute für einen besinnlichen Dezember.

Autorinnen und Autoren

Colin, Nicole, Prof. Dr., Duitsland Instituut Amsterdam, Prins Hendrikkade 189B; NL – 1011 TD Amsterdam; E-Mail: [email protected]

Dalinger, Brigitte, Dr., Universität Wien, Institut für Theater-, Film-und Me- dienwissenschaft, Hofburg, Batthyanystiege, A – 1010 Wien; E-Mail: brigitte. [email protected]

Defrance, Corine, Prof. Dr., Université de Paris 1 – Panthéon – Sorbonne, NRS, UMR 8138 IRICE, 1 rue Victor Cousin, F – 75005 Paris; E-Mail: corine. [email protected]

Dörr, Volker, Prof. Dr., Universität Düsseldorf, Institut für Germanistik, Abt. II, Universitätsstr. 1, D – 40225 Düsseldorf; E-Mail: [email protected]

Fischer, Gerrit, Dr., Westpreußenring 35, D – 66121 Saarbrücken; E-Mail: gerrit- fi[email protected]

Garvert-Huijnen, Katharina, Duitsland Instituut Amsterdam, Prins Hendrikka- de 189b, NL – 1011 TD Amsterdam; E-Mail: [email protected]

Heimböckel, Dieter, Prof. Dr., Universität Luxemburg, Fakultät für Sprach- wissenschaften und Literatur, Geisteswissenschaften, Kunst und Erziehungs- wissenschaften, Route de Diekirch, BP2, L – 7220 Walferdange; E-Mail: dieter. [email protected]

Hess-Lüttich, Ernest W.B., Prof. Dr. Dr. Dr. hc., Universität Bern, Institut für Germanistik, Länggassstr. 49, CH – 3000 Bern 9; E-Mail: ernest.hess-luettich@ germ.unibe.ch

Kiefer, Klaus H., Prof. (em.) Dr., Ludwig-Maximilians-Universität Mün- chen, Institut für Deutsche Philologie, Department I, Schellingstr. 3/RG3, D – 80799 München; E-Mail: [email protected]

Koiran, Linda, Dr., Mines ParisTech, Département des Langues, 60 Boulevard Saint-Michel, F – 75006 Paris; E-Mail: [email protected]

ZiG | Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4|2013|H2 | © transcript 2013 230 | AUTORINNEN UND AUTOREN

Langenohl, Andreas, Prof. Dr., Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für So- ziologie, Karl-Glöckner-Str. 21E, D – 35394 Gießen; E-Mail: andreas.langenohl@ sowi.uni-giessen.de

Mein, Georg, Prof. Dr., Universität Luxemburg, Fakultät für Sprachwissenschaf- ten und Literatur, Geisteswissenschaften, Kunst und Erziehungswissenschaf- ten, Route de Diekirch, BP2, L – 7220 Walferdange; E-Mail: [email protected]

Pfeil, Ulrich, Prof. Dr., Université de Lorraine – Metz, Ile du Saulcy, BP 80794, F – 57045 Metz cedex 1; E-Mail: [email protected]

Scheichl, Sigurd Paul, em. o. Univ.-Prof. Mag. Dr., Universität Innsbruck, Insti- tut für Germanistik, Innrain 52, A–6020 Innsbruck; E-Mail: sigurd.p.scheichl@ uibk.ac.at

Sieburg, Heinz, Prof. Dr., Universität Luxemburg, Fakultät für Sprachwissen- schaften und Literatur, Geisteswissenschaften, Kunst und Erziehungswis- sen schaften, Route de Diekirch, BP2, L – 7220 Walferdange; E-Mail: heinz. [email protected]

Tawada, Yoko, freie Schriftstellerin, Berlin

Umlauf, Joachim, Dr., Goethe-Institut Paris, 17 avenue d’Iéna, F – 75116 Paris; E-Mail: [email protected]

Hinweise für Autorinnen und Autoren

Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) ist ein Peer-reviewed-Journal. Das heißt, dass alle Beiträge in anonymisierter Form von mindestens zwei Gut- achtern gelesen und beurteilt werden. Hinweise zur Einrichtung der Beiträge sind online unter www.zig-online.de zu finden. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik

Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1. Jahrgang, 2010, Heft 2

2010, 156 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-1574-6

Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1. Jahrgang, 2010, Heft 1

2010, 172 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-1391-9

Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5. Jahrgang, 2014, Heft 1

April 2014, ca. 200 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2690-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de Zeitschrift für interkulturelle Germanistik

Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 1

August 2013, 264 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2360-4

Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3. Jahrgang, 2012, Heft 2

2012, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2087-0

Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3. Jahrgang, 2012, Heft 1

2012, 240 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2024-5

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