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Lange wurde in der Rezeption des Orpheusmythos dem männlichen Subjekt VIKTORIA MACEK ein weibliches Objekt Eurydike zur Seite gestellt. Erst in Werken des 21. Jahrhunderts zeigt sich ein signifikanter Wandel: Eurydike ist nicht länger das besprochene Objekt, sondern Subjekt mit eigener weiblicher Sprache. Orpheus stand in den Bearbeitungen des antiken Mythos über Jahrhunderte als Sänger und Hadesfahrer im Mittelpunkt der Erzählung, während Eurydikes schwache Subjektposition in der Grenzsituation des Verschwindens dargestellt wurde. Ein hier so genanntes »Prinzip Eurydike« wird wirksam, wenn die Das Prinzip weibliche Titelfigur zum Objekt des Begehrens und des Diskurses gemacht wird. Erstmals wird in diesem Buch die Wandelbarkeit des Mythos von den ersten Veränderungen in der Antike bis zur völligen Verfremdung in den Werken der Gegenwart untersucht und nachgewiesen. Eurydike

REZEPTIONEN DES ORPHEUSMYTHOS IN LITERATUR UND KUNST Das Prinzip Eurydike 245 Trimmed: (245H × 375W)× (245H Trimmed: 405W)× (275H Untrimmed: mm VIKTORIA MACEK

978-3-412-51157-9_macek_END_02.indd Alle Seiten 03.05.19 13:08 Viktoria Macek: Das Prinzip Eurydike

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Literatur und Leben Band 91

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Viktoria Macek

Das Prinzip Eurydike Rezeptionen des Orpheusmythos in Literatur und Kunst

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

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Überarbeitete und erweiterte Dissertation: Prinzip Eurydike. Ambivalente Subjektpositionen in der Rezeption des Orpheusmythos. Innsbruck, Leopold Franzens Universität, 2008

Mein besonderer Dank gilt Frau Univ. Prof. Dr. Maria Deppermann für ihre vielen unverzichtba- ren Anregungen und Univ. Prof. Mag. Dr. Wolfgang Kofler für seine wertvollen Korrekturen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019, Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Anton Moosbrugger, „Eurydike, Orpheus“, 2017. Bleistiftzeichnung.

Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Satz: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-51481-5

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5 Inhalt

Einleitung...... 9

1. Der Orpheusmythos in der Antike...... 13 1.1 Orpheus-Darstellungen in der griechischen Antike...... 13 1.1.1 Früheste antike Quellen...... 13 Boiotisches Schälchen...... 13 Argonautenmetope...... 13 Textfragmente bei Ibykos und Simonides...... 13 1.1.2 Verschiedene Orpheus-Mythologeme aus der Literatur der klassischen Antike...... 14 Aischylos...... 14 ...... 15 ...... 15 Sequenzen des Orpheusmythos bei Platon...... 16 1.1.3 Der Orpheusmythos als Motiv der Bildhauerei und Vasenmalerei..... 17 Weiherelief „Orpheus – Eurydike – “...... 17 „Orpheus spielt auf der Leier“: Detail eines Volutenkraters...... 20 1.1.4 Orpheus-Darstellungen zur Zeit des Hellenismus...... 21 Knabenliebe...... 21 Orpheus als Argonaut...... 23 1.1.5 Orphik...... 27 Die orphische Lehre im Spiegel der antiken Literatur...... 31 Orphische Mysterien und Grabbeigaben...... 40 1.1.6 Zusammenfassung: Orpheus in der griechischen Antike...... 43 1.2 Orpheus-Darstellungen in der römischen Antike...... 44 1.2.1 Das Orpheus-Bild in Vergils „Georgica“...... 44 Die Welt der Bienen...... 44 , Schutzpatron der Imker...... 45 Das Leid des Orpheus...... 46 1.2.2 Das Orpheus-Bild in „Metamorphosen“...... 48 Hymenaeus...... 49 Orpheus im ...... 49 Gesang des Orpheus inmitten von Bäumen und Tieren...... 50 Tod des Orpheus...... 52 1.3 Der Orpheusmythos als intertextuelles Beziehungsgeflecht...... 54 1.3.1 Intertextuelle Beziehungen zwischen der Dichtung Vergils und den frühesten Orpheus-Zeugnissen...... 54 1.3.2 Intertextuelle Beziehungen zwischen und Vergil...... 55 1.4 Zur Problematik des Selbstbewusstseins in den Aussagen antiker Philosophen...... 57

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6 Inhalt

1.4.1 Subjektvorstellungen griechischer Dichter und Philosophen...... 57 1.4.2 Subjektvorstellungen in der römischen Antike...... 61 1.4.3 Der Subjektstatus der antiken Orpheus-Figur...... 62 1.5 Eurydike I...... 65 1.5.1 Frauen und Liebe in der griechischen und römischen Antike...... 65 1.5.2 Die ‚Erschaffung‘ Eurydikes...... 69 1.5.3 Eurydike-Darstellung bei Vergil...... 70 1.5.4 Eurydike-Darstellung bei Ovid...... 76 1.5.5 Zusammenfassung...... 79

2. Der Orpheusmythos als Stoff des Musikdramas (1480–1858)...... 81 2.1 Ursprünge der Oper...... 81 Pastoraldrama und Madrigalkomödie...... 81 Intermedien...... 81 Die Florentiner Camerata...... 82 Die erste Oper: Peri/Rinuccini: „La Dafne“ (1598)...... 83 2.2 Die musikdramatische Rezeption des Orpheusmythos in der Renaissance. 83 2.2.1 Der ‚neue‘ Orpheus...... 83 2.2.2 Germi/Poliziano: „Fabula di Orfeo“ (1480)...... 85 2.2.3 Peri/Rinuccini: „L’Euridice“ (1600)...... 87 2.2.4 Monteverdi/Striggio: „L’Orfeo“ (1607)...... 90 2.3 Orpheus und Eurydike auf dem Weg in die Moderne...... 94 2.3.1 Die Opernreform im 18. Jahrhundert...... 94 2.3.2 Gluck/Calzabigi: „Orfeo ed Euridice“ (1762)...... 96 2.3.3 Offenbach/Crémieux; Halévy: „Orphée aux enfers“ (1858)...... 99 2.4 Intermediale Beziehungen...... 103 2.5 Der Subjektstatus der Orpheus-Figur in der Oper...... 104 2.5.1 Subjektvorstellungen in der Renaissance und bei Descartes...... 104 2.5.2 Subjektbilder der Aufklärung...... 107 2.6 Eurydike II...... 110 2.6.1 Frauenbilder im späten Mittelalter und in der Renaissance...... 110 Querelle des Femmes...... 110 Eurydikes Gesang...... 114 Titelheldin Euridice...... 116 „Du warst schön und klug“...... 117 2.6.2 Ein Schritt zur Mündigkeit? Anfänge der Frauenemanzipation zur Zeit der Aufklärung und im 19. Jahrhundert...... 118 Frauenrechte...... 118 Die zweifelnde Geliebte...... 123 2.6.3 Die erste Frauenbewegung...... 126 Eurydike emanzipiert sich...... 131 2.6.4 Zusammenfassung...... 132

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Inhalt 7

3. Orpheus und Eurydike im 20. Jahrhundert...... 135 3.1 Kokoschka – Krenek...... 135 3.1.1 Oskar Kokoschka: „Orpheus und Eurydike“. Drama (1918/21)...... 135 Personenverzeichnis...... 136 Handlung...... 136 „Allos makar – Glück ist anders.“ Biographische Bezugspunkte...... 143 3.1.2 Der Orpheusmythos in bildnerischen Darstellungen Kokoschkas..... 146 „Orpheus und Eurydike“. Gemälde (1917)...... 146 „Orpheus trifft im Orkus auf Eurydike“. Radierung (1918)...... 148 3.1.3 Ernst Krenek: „Orpheus und Eurydike“, Oper nach Kokoschkas Drama (1926)...... 149 Entstehung...... 149 Die musikalische Bearbeitung...... 150 3.2 Cocteau – Glass – Chagall...... 153 3.2.1 Cocteau...... 153 3.2.2 Jean Cocteau: „Orphée“. Drama (1926)...... 155 Personenverzeichnis...... 155 Handlung...... 155 Interpretation...... 163 3.2.3 Jean Cocteau: „Orphée“. Film (1950)...... 173 Personenverzeichnis...... 175 Handlung...... 176 Interpretation...... 184 3.2.4 Orpheus in der graphischen Darstellung Cocteaus...... 186 „Orphée“...... 186 „Eurydike holt Orpheus zu sich in die Unterwelt“...... 187 3.2.5 Marc Chagall: „Der Mythos Orpheus“. Gemälde (1977)...... 187 3.2.6 Philip Glass: „Orphée“ (1993). Oper nach dem gleichnamigen Film Cocteaus...... 190 Entstehung...... 190 Aufbau, Figuren...... 190 Musik ...... 191 3.3 Intermediale Beziehungen...... 192 3.4 Der gefährdete Subjektstatus des modernen Orpheus...... 195 3.4.1 Überblick...... 195 3.4.2 Orpheus als Subjekt des 20. Jahrhunderts...... 197 3.5 Eurydike III...... 202 3.5.1 Feminismus und Antifeminismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts...... 202 Vordenkerinnen der Zweiten Frauenbewegung...... 206

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Inhalt 8

3.5.2 Eurydike im Geschlechterkampf...... 208 3.5.3 Eurydike im „Weiblichkeitswahn“...... 213 3.5.4 Zusammenfassung...... 216

4. Orpheus und Eurydike im 21. Jahrhundert...... 219

Eurydikes Weg in die Selbstbestimmung...... 219 4.1 Manfred Stahnke: „Orpheus Kristall“. Oper in zwei Medien (2002)...... 219 4.1.1 Allgemeines...... 219 Internet-Einspielungen...... 219 4.1.2 Libretto und Musik...... 220

4.2 Orpheus-Marathon in Bielefeld: „Orfeo-Projekt“ (2002). ter Schiphorst/ Spielhofer – Tsangaris – Nussbaumer...... 224 Das Projekt...... 224 4.2.1 ter Schiphorst/Spielhofer: Eurydike. Szenen aus der Unterwelt...... 225 4.2.2 Manos Tsangaris: Orpheus, Zwischenspiele...... 230 4.2.3 Georg Nussbaumer: orpheusarchipel. Eine Installationsoper...... 233 4.3 Braun/Zaboitzeff/Neuwirth: „Eurydike“. Tanzmusiktheater (2004)...... 238 4.4 Elfriede Jelinek: Schatten (Eurydike sagt) (2012/2013)...... 247 Interpretation...... 248 Die Aufführungen in Essen und Wien...... 255 4.5 Postmoderne Subjektformen...... 257 4.5.1 Überblick...... 257 4.5.2 Das Subjekt Orpheus nach der Jahrtausendwende...... 262 4.6 Eurydike IV...... 266 4.6.1 Zweite Frauenbewegung und „Third Wave“...... 266 4.6.2 Eurydike vervielfacht...... 271 4.6.3 Erzählen über Eurydike...... 271 4.6.4 Eurydike: irgendein Phantom?...... 272 4.6.5 Eurydike, eingeschlossen in Orpheus’ Kunst...... 272 4.6.6 Eurydike: Subjektivität statt Objektkonstitution...... 273 4.6.7 Eurydikes Rede...... 274 4.6.8 Zusammenfassung...... 275

Schlussbemerkungen...... 277

Abbildungsverzeichnis...... 279

Literaturverzeichnis...... 280

Register...... 299

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9 Einleitung

Es ist zweifellos die der Frau verweigerte Subjektivität, die eine eindeutige Objektkonstitu- tion garantiert: des Objekts der Repräsentation, des Diskurses, des Begehrens. 1 Luce Irigaray

Inhalt und Ausgestaltung des Mythos von Orpheus und Eurydike erfuhren durch die unterschiedlichen Deutungen in den verschiedenen Medien im Laufe der Geschichte vielfache Veränderungen. Was jedoch – bis auf einzelne Ausnahmen – lange Zeit unverändert blieb ist, dass Orpheus im Mittelpunkt der Erzählung steht: in den meis- ten Werken als Titelfigur, deren Handeln das Geschehen bestimmt. Dieses Handeln ist es auch, das Orpheus zu einer starken Subjektposition verhilft und ihn als Sän- ger, Hadesfahrer, Religionsstifter und Märtyrer ante festum ausweist, während für Eurydike kaum mehr als die Opferrolle und damit der Objektstatus vorgesehen ist. Aber gerade Eurydikes Verschwinden – im Tod, in der Unterwelt – löst bei Orpheus jene Aktivitäten aus, die ihn endgültig berühmt machen. Eurydike wird zum Projektions­phänomen seiner Dichterphantasie im Sinne E.A. Poes […] the death, then, of a beautiful woman is, unquestionably, the most poetical topic in the world – and equally is it beyond doubt that the lips best suited for such topic are those of a bereaved lover2, und darüber hinaus zum bestimmenden Prinzip seiner Handlungen. Diese Auslegung des Begriffs „Prinzip“ soll hier erweitert werden, indem der Frage nachgegangen wird, inwieweit in den künstlerischen Gestaltungen des Orpheus- mythos ein sogenanntes „Prinzip Eurydike“ als Kunstmittel eingesetzt wird, das die Verhinderung weiblicher Subjektwerdung (durch den distanzierenden und objektivie- renden Blick auf die Frau) als Voraussetzung für die Konstituierung des männlichen Subjekts gleichzeitig bewirkt und sichtbar macht. Somit wird das Erkenntnisinteresse auf die Subjektdarstellung in den künstlerischen Bearbeitungen des Orpheusmythos und damit auch auf die sich synchron zum Mythos verändernden philosophischen Subjekttheorien der betreffenden Zeitabschnitte gerichtet. Dabei schien der komparatistische Ausgriff über die Grenzen der Literatur hinaus besonders angebracht, denn von Anfang an waren es die Bildenden Künste und seit

1 Irigaray, Luce: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. Aus dem Französischen übersetzt von Xenia Rajewsky, Gabriele Ricke, Gerburg Treusch-Dieter und Regine Othmer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980 (Paris: Les Editions de Minuit 1974), S. 169. 2 Poe, Edgar Allan: The Raven And The Philosophy Of Composition (1907). San Francisco and New York: Paul Elder and Company, Ausgabe ohne Seitennummerierung. (Erstveröffentlichung des Essays in Graham’s Magazine, 1846).

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10 Einleitung

der Entstehung der Oper im Italien der Renaissance auch die Musik, die die Tradie- rung des Mythos mitbestimmen. Der aktuelle Forschungsstand zeigt, dass die Rezeptionsgeschichte des Orpheus- mythos seit den 1990er Jahren zum Gegenstand mehrerer literaturwissenschaftlicher Untersuchungen wurde: Von Wolfgang Storch liegt eine kommentierte Anthologie vor, in der unter dem Titel Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann (1997) Dichtungen und Essays vorgestellt werden, die sich mit dem Orpheusmythos auseinandersetzen. Manuela Speiser verfasste eine Dissertation mit dem Titel Orpheusdarstellungen im Kontext poetischer Programme (1992). Es ist dies eine stoffgeschichtliche Untersuchung ausge- wählter Dichtungen von der Antike bis zu den 1980er Jahren. Christine Mundt-Espìn ist die Herausgeberin einer Sammlung von Aufsätzen, die das Ergebnis einer univer- sitären Vortragsreihe sind, die sich mit verschiedenen Aspekten der Mythosrezeption auseinandersetzen: Blick auf Orpheus. 2500 Jahre europäischer Rezeptionsgeschichte eines antiken Mythos (2003). Ebenfalls eine Sammlung von universitären Vorträgen ent- hält Band 21 des Hamburger Jahrbuches für Musikwissenschaft: Der Orpheus-Mythos von der Antike bis zur Gegenwart. Die Vorträge der interdisziplinären Ringvorlesung an der Universität Hamburg. Sommersemester 2003 (Herausgegeben von Claudia Maurer Zenck, Drucklegung 2004). Während in diesen Untersuchungen durchaus Orpheus den Hauptgegenstand bildet und sein weiblicher Gegenpart weit weniger Aufmerk- samkeit erfährt, setzt sich Barbara Pixner in ihrer Diplomarbeit (2002)3 mit solchen Gedichten und kürzeren Prosatexten auseinander, die die Eurydike-Figur neu inter- pretieren und gestalten. Von diesen Werken unterscheidet sich die vorliegende Arbeit dadurch, dass hier anhand ausgewählter Subjekttheorien die Subjektentwicklung der beiden mythologischen Figuren Orpheus und Eurydike im Verlauf ihrer Rezeptionsgeschichte analysiert wird und darüber hinaus eine feministische Sicht auf die europäische Mentalitätsge- schichte jene Parallelen aufzeigt, die zwischen der zunehmenden Wirksamkeit des Feminismus und der Verschiebung der Position der Eurydike vom Objekt- zum Sub- jektstatus bestehen. So wird der Wandel sichtbar, dem die Geschichte von „Orpheus und Eurydike“ ebenso wie jeder andere Mythos im Laufe der Rezeptionsgeschichte unterworfen war. Hans Blumenberg spricht in seinem Werk „Arbeit am Mythos“4 davon, dass die Künstler in ihren Neugestaltungen mythologischer Stoffe dazu her- ausgefordert sind, den Kernbestand [des jeweiligen Mythos] unter dem Druck der ver- änderten Rezeptionslage auf seine Haltbarkeit zu erproben und das gehärtete Grundmuster

3 Pixner, Barbara: Antikenrezeption: Die mythologische Figur der Eurydike in ausgewählten Werken des 20. Jahrhunderts. Diplomarbeit aus Latein. Eingereicht bei Univ.-Prof. Mag. Dr. Karlheinz Töchterle. Innsbruck, 2002. 4 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979.

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Einleitung 11 freizulegen.5 Blumenberg scheint eine radikale, rücksichtslose Auseinandersetzung mit den mythologischen Grundmustern zu begrüßen, wenn er vom Grenzbegriffder Arbeit am Mythos schreibt, dieser wäre, den Mythos ans Ende zu bringen, die äußerste Verformung zu wagen, die die genuine Figur gerade noch oder fast nicht mehr erkennen läßt.6 Aber selbst diese Vorstöße an die Grenzen bedeuten nicht wirklich das Ende des Mythos:

Es gibt keine andere Modalität der Erinnerung an den Mythos als die Arbeit an ihm; aber auch keinen anderen Erfolg dieser Arbeit als die Vorweisung der letzten Möglichkeit, mit ihm umzugehen – auf die unausschließbare Gefahr hin, durch die erneut letzte Möglichkeit 7 widerlegt, der Konsequenz des noch nicht eingelösten Anspruches überführt zu werden.

Damit lässt sich erklären, weshalb die Attraktivität mythologischer Geschichten bis heute anhält und Künstler aller Genres dazu animiert, den zeitlosen Kern des Mythos mit gegenwärtigen Bedeutungen zu durchdringen und zu ergänzen.

5 Blumenberg, a.a.O., S 166. 6 Blumenberg, a.a.O., S. 295. 7 Blumenberg, a.a.O., S. 684f.

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13 1. Der Orpheusmythos in der Antike

1.1 Orpheus-Darstellungen in der griechischen Antike

1.1.1 Früheste antike Quellen

Boiotisches Schälchen Die älteste bekannte Darstellung Orpheus’ ist seine Abbildung als Musiker auf einem boiotischen Schälchen, das auf ca. 600 v. Chr. datiert wird. Orpheus spielt auf einer viersaitigen Kithara, seine Zuhörer sind fünf Vögel und ein Reh. Eine Besonderheit dieser Darstellung ist, dass ein bärtiger Mann gezeigt wird, während alle späteren (antiken) Bildnisse Orpheus als bartlosen Jüngling ausweisen. Laut Konrat Ziegler hat Otto Kern, in dessen Besitz sich das Schälchen befand, die- ses zwar beschrieben, jedoch keine Abbildung davon veröffentlicht.1

Argonautenmetope Vom Schatzhaus der Sikyonier in Delphi (ca. 550 v. Chr.) sind verschiedene Reliefs erhalten geblieben. Die so genannte Argonautenmetope zeigt auf einer Seite die Dioskuren, auf der anderen Orpheus, die Kithara im Arm, neben einem zweiten Musiker, der wahrscheinlich Philammon darstellt, der ebenfalls als Teilnehmer an der Argonautenfahrt genannt wird.

Textfragmente bei Ibykos und Simonides Wenn der Lyriker Ibykos um 530 v. Chr. Orpheus in einem Gedicht mit dem Attri- but „berühmtnamig“2 versieht, so lässt das darauf schließen, dass Orpheus zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt war und sich ‚einen Namen gemacht‘ hatte. Nach Ibykos berichtet als zweiter Lyriker Simonides von Keos (ca. 557–468 v. Chr.) über Orpheus. Er erwähnt in einem seiner Gedichte zum ersten Mal die ungewöhnli- che Wirkung des orphischen Gesanges auf die Tierwelt: (…) ihm flogen auch unzählige Vögel über dem Haupt; hinauf schnellten die Fische, senkrecht, aus dem tiefblauen Wasser, im Einklang mit dem schönen Gesang.3 Die bisher angeführten Orpheus-Darstellungen befassen sich mit einem berühmten Sänger, der die Kithara zu spielen versteht, dem die Tiere lauschen und der als Held an der Argonautenfahrt teilnimmt.

1 Vgl. Ziegler, Konrat: Orpheus. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft; hrsg. von G. Wissowa, W. Kroll u.a. Stuttgart: Druckenmüller 1939, Band XVIII,1. S. 1200–1316, hier S. 1215. 2 Vgl. Deufert, Marcus: Orpheus in der antiken Tradition. In: Storch, Wolfgang (Hg.): Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann. Leipzig: Reclam 2001, S. 266–273, hier S. 266. 3 Riedweg, Christoph: Orpheus oder die Magie der musiké. In: Fuhrer/Michel/Stotz (Hg.): Geschichten und ihre Geschichte. Basel/Muttenz: Schwabe AG 2004, S. 37–66, hier S. 42.

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14 Der Orpheusmythos in der Antike

1.1.2 Verschiedene Orpheus-Mythologeme aus der Literatur der klassischen Antike

Aischylos Mehrere neue Aspekte fügt der Tragödiendichter Aischylos dem Orpheusmythos hinzu. Er berichtet in seiner allerdings nur bruchstückhaft überlieferten Tragödie Bassarai, dem zweiten Teil der Lykurgie (ca. 460 v. Chr.), dass Orpheus den Altar des Dionysos vernachlässigte und stattdessen jeden Morgen das Pangaiongebirge bestieg, um dort den Sonnengott (Apollon) als größte Gottheit zu verehren. Des- halb gab Dionysos, der eifersüchtige Gott, den Bassariden den Auftrag, Orpheus zu töten. Diese in Tierfelle gehüllten, zu rhythmischer Musik in orgiastischen Tänzen die Wälder durchstreifenden Gefährtinnen des Gottes4 zerrissen Orpheus und ver- streuten seine Glieder. Die Musen sammelten die Teile des geschundenen Körpers ein und begruben sie in Leibethra am Fuße des Olymps.5 Zum ersten Mal ist hier beschrieben, wie Orpheus in einen Götter- bzw. Glaubens- konflikt gerät, ebenso neu ist, dass er für seinen Glauben – also als Märtyrer ante festum – stirbt. Der Bericht, dass ihn die Musen bestatteten, hat wohl auch zu der späteren Annahme geführt, eine von ihnen sei seine Mutter. Außerdem deuten die Ortsangaben „Pangaiongebirge“ und „Leibethra“ darauf hin, dass Aischylos Orpheus als Thraker sieht. Im Drama Agamemnon, dem ersten Teil der Orestie, verhöhnt Aigisthos den Chor- führer der vornehmen Greise mit den Worten:

Auch dieses Wort wird Weinens, Stöhnens Quell dir sein. / Des Orpheus Zunge hast du nicht; im Gegenteil: / Denn er führt alles durch des Sanges Lust zur Lust, / Du, der empört 6 durch kindisches Gebelfer, wirst / Geführt, wo du durch Zwang schon zahmer werden wirst!

Aischylos berichtet ebenso wie Ibykos und Simonides über die alles und alle bewe- gende Schönheit des orphischen Gesanges.

4 Vgl. Fauth, Wolfgang: Dionysios. In: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Hg. v. Konrat Zieg- ler und Walter Sontheimer. München: dtv 1979, Bd. 2, Sp. 62–84, hier Sp. 80. 5 Vgl. Ziegler, Konrat: Orpheus. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissen- schaft, a.a.O., S. 1283f. 6 Aischylos: Orestie (Agamemnon). In: Tragödien und Fragmente. Hg. und übersetzt von Oskar Werner. München: Heimeran 1959, S. 5–110, hier S. 107.

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Orpheus-Darstellungen in der griechischen Antike 15

Pindar Um 450 v. Chr. beschreibt Pindar in der vierten pythischen Ode Orpheus als „Vater der Gesänge, dem Apoll / das Leierspiel verlieh“ 7 und reiht ihn in eine Versammlung von Göttersöhnen ein, wohl um anzudeuten, dass auch Orpheus göttlicher Abstammung ist. Vermutlich spielt Pindar hier auf eine Stelle aus Hesiods (ca. 740–670 v. Chr.) Theogo- nie an, laut der die Musen und Apollon gemeinsam der Ursprung (oder die Eltern?) aller Sänger und Leierspieler sind:

Denn durch die Gabe der Musen und des Ferntreffers Apollon gibt es Sänger auf Erden und Meister der Leier; von aber stammen die Herrscher. Gesegnet ist, wen die Musen 8 lieben; süß strömt ihm die Rede vom Munde.

Konrat Ziegler nennt eine weitere Stelle bei Pindar (frg. 139, 9 Schr.), die Oiagros, den Flussgott und/oder thrakischen König, als Vater Orpheus’ bezeichnet.9 Später setzt sich zwar hauptsächlich diese Version durch, aber noch bei Ovid spricht Orpheus von Apollon als seinem Vater.

Euripides In dem 438 v. Chr. aufgeführten Drama Alkestis von Euripides gibt sich Admetos über- zeugt davon, dass auch er wie Orpheus seine Frau aus dem Hades zurückzuführen vermöchte, hätte er nur dieselbe musikalische Begabung wie dieser.

Hätt ich des Orpheus süßen Liedermund, / Daß ich Demeters Kind samt dem Gemahl / Ver- führte, dich zu senden an das Licht, / Ich stiege nieder, selbst wenn Plutons Hund, / Wann 10 Charons Kahn, der nur die Toten fährt, / Es wehrte, und ich brächte dich zurück.

Da Admetos nicht von Orpheus’ Misserfolg spricht, ist anzunehmen, dass für ihn (und wahrscheinlich auch für Euripides) die erfolgreiche Rückholung Eurydikes ein fester Bestandteil der Orpheus-Sage ist. Zu den späten Werken Euripides’ gehört Iphigenie in Aulis, eine wahrscheinlich 405 v. Chr. als erster Teil einer Tetralogie entstandene Tragödie. Als Iphigenie erfährt, dass ihr Vater sie der Göttin opfern will, damit diese die Abfahrt der Griechen

7 Pindar: Oden. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Eugen Dönt. Stuttgart: Reclam 1986, S. 125. 8 Hesiod: Theogonie. Griechisch/Deutsch. Übersetzt u. hg. v. Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 1999, S. 11. 9 Ziegler, Konrat: Orpheus. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, a.a.O., S. 1217. 10 Euripides: Alkestis. In: Alkestis. Medea. Hippolytos. Sämtliche Tragödien und Fragmente. Übersetzt von Ernst Buschor. Herausgegeben von Gustav Adolf Seeck. München: Heimeran 1972, S. 5–85, hier S. 31f. (§355f).

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16 Der Orpheusmythos in der Antike

nach Troja nicht länger verhindern sollte, fleht sie um Gnade und äußert dabei den Wunsch, mit der Stimme des Orpheus bitten zu können: Hätt ich, mein Vater, Orpheus’ Sangeskunst, / Daß Felsen willig folgten meinem Wort / Und ich verzaubern könnte, wen ich will, / Griff ich zu ihr.11 In Euripides’ letzter Tragödie Die Bakchen (405 v. Chr.) gibt eine Stelle Auskunft dar- über, dass der aus (dem thrakischen) Pierien stammende Held über die Macht verfügt, mit seiner Musik Bäume und wilde Tiere um sich zu scharen:

Wo verweilst du, Dionysos, / Mit der Thyrsosträger Scharen? / In dem Jagdgebiet von Nysa? / Auf den Gipfeln des Parnassos? / Oder weilst du am Olympos, / Wo in waldbewachs- nen Schluchten / Orpheus einst der Bäume Scharen / Mit den Weisen seiner Zither / Um 12 das Wild des Waldes lockte?

Euripides’ Dichtungen weisen gegenüber den bisher besprochenen Orpheus-Dar- stellungen einige neue Facetten des Mythos auf. Der Gang in die Unterwelt, den Orpheus antrat, um mit Hilfe seiner Sangeskunst seine Gattin zurückzuholen, ist ein ebenso neues Detail wie die Erwähnung der Fähigkeiten, Steine um sich zu scharen und Bäume zu versetzen.

Sequenzen des Orpheusmythos bei Platon Platon hat sich intensiv mit den religiösen und philosophischen Anschauungen seiner Zeit auseinandergesetzt und hatte allem Anschein nach auch Einblick in die orphi- schen Mysterien. An dieser Stelle sollen nur die Aussagen erwähnt werden, die bei Platon über die Person Orpheus zu finden sind, ausgespart bleiben die Bemerkungen über die orphische Lehre. In der Apologie setzt sich Sokrates mit seinem nahen Tod und seiner Vorstellung von der Unterwelt auseinander und betrachtet die Aussicht, dort auf Orpheus zu treffen, als Lichtblick:

Oder auch mit dem Orpheus umzugehn und Musaios und Hesiodos und Homeros, wie teuer möchtet ihr das wohl erkaufen? Ich wenigstens will gern oftmals sterben, wenn dies 13 wahr ist.

11 Euripides: Iphigenie in Aulis. In: Orest, Iphigenie in Aulis. Die Mänaden. Übersetzt von Ernst Buschor. Herausgegeben von Gustav Adolf Seeck. München: Heimeran 1972, S. 131–253, hier S. 223 (§1211f). 12 Euripides: Die Bakchen. In: Die Bakchen. Hippolytos. Zwei Tragödien. Hg. von Walther Killy. Frankfurt am Main: Fischer 1960, S. 5–66, hier S. 28 (§550f). 13 Platon: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Karlheinz Hülser. Frankfurt a. M. und Leipzig: Insel Verlag 1991. Band I, Apologie, 41a, b.

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Orpheus-Darstellungen in der griechischen Antike 17

Interessant ist, dass Platon die großen Sänger in der gleichen Reihenfolge anführt wie Aristophanes (in: Die Frösche). Möglicherweise bedeutet diese Reihung auch eine Wer- tung – und Orpheus galt zu jener Zeit wirklich als der Angesehenste der Dichterreihe. Dieser Annahme widerspricht jedoch die Beschreibung des Orpheus als Feigling, wie es in der Rede des Phaidros im Symposion geschieht:

Orpheus aber den Sohn des Öagros schickten sie unverrichteter Sache aus der Unterwelt zurück, indem sie nur die Erscheinung der Frau ihm zeigten um derentwillen er gekom- men war, nicht aber sie selbst ihm gaben, weil er ihnen weichlich zu sein schien wie ein Spielmann, und nicht das Herz zu haben der Liebe wegen zu sterben wie Alkestis, sondern sich lieber ausgedacht hatte lebend in die Unterwelt einzugehen. Deshalb auch haben sie 14 ihm Strafe aufgelegt und veranstaltet daß sein Tod durch Weiber erfolgte, […].

Ob Orpheus mit diesem ‚Phantom‘ ins Diesseits zurückkehrt, wird nicht deutlich. Dass Orpheus im Jenseits zum Frauenhasser wird, berichtet eine Stelle in Politeia X:

So habe er gesehen, daß die Seele, die einmal des Orpheus gewesen, ein Schwanenleben gewählt, indem sie aus Haß gegen das weibliche Geschlecht, wegen des von ihm erlittenen 15 Todes, nicht habe gewollt vom Weibe geboren werden […].

Berühmtheit als Sänger und Dichter, Katabasis und die Abstammung von Oiagros sind Merkmale der Orpheus-Figur, die Platon aus dem bereits bestehenden Bild des Helden übernehmen konnte. Hinzugefügt hat er jedoch die Vorstellung eines weichlichen, weibischen Mannes, der die Frauen zuletzt so sehr hasst, dass er sich wünscht, als Schwan wiedergeboren zu werden, um für immer der Begegnung mit Frauen ausweichen zu können.

1.1.3 Der Orpheusmythos als Motiv der Bildhauerei und Vasenmalerei

Weiherelief „Orpheus – Eurydike – Hermes“16 Aus der Werkstatt des Bildhauers Alkamenes (432–398 v. Chr.) oder möglicherweise vom Meister selbst stammt das allerdings nur in (römischen) Kopien erhaltene Wei- herelief Orpheus-Eurydike-Hermes, das eine Schlüsselstelle der Orpheus-Sage zeigt. Manfred Erren schreibt, dass das Kunstwerk im Zusammenhang mit einer zu dieser

14 Platon, a.a.O., Band IV, Symposion, 179d. 15 Platon, a.a.O., Band V, Politeia X, 620a. 16 Deutsches archäologisches Institut (Hg.): Archäologischer Anzeiger. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1990, S. 78 (Das Relief befindet sich im Nationalmuseum Neapel; weitere Kopien: Paris, Louvre; Rom, Villa Albani).

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18 Der Orpheusmythos in der Antike

Zeit bekannten, jedoch nicht überlieferten Dichtung gesehen werden kann: Es könnte ein Weihgeschenk des Autors sein, das dieser hat herstellen lassen, als sein Dichtwerk, eine Tragödie oder ein chorlyrisches Gedicht, bei einem Wettbewerb einen Preis erhalten hatte.17 Die Namen Orpheus, Eurydike, Hermes sind in den Stein gemeißelt und den einzelnen Figuren beigeordnet. Es stellt sich allerdings die Frage, ob bereits das griechische Original die Namenszüge der mythologischen Gestalten aufwies. Ziegler weist auf das „Karlsruher Fragment einer apulischen Unterweltvase“ aus dem 4. Jh. v. Chr. hin, das neben der Abbildung eines weiblichen Kopfes ebenfalls den Namen „Eurydike“ zeigt. Daraus schließt er, dass ab dem vierten Jahrhundert dieser Name für die Frau des Orpheus bekannt war. Die erste sichere literarische Erwähnung des Namens Eurydike gibt es bei Moschos, einem bukolischen Dichter aus dem 2. Jh. v. Chr.18 Die betreffende Stelle in dem Gedicht Klage um Bion berichtet übrigens von der „Heim- kehr“ Eurydikes, was wohl auf das Gelingen der Rückholung schließen lässt. (Vgl. Kap. 1.4 Eurydike I) Auf dem Bildwerk dargestellt sind Orpheus in thrakischer Kleidung, Hermes mit seinem (in den Nacken gerutschten) typischen Reisehut und im Zentrum Eurydike, verschleiert, aber mit freiem Blick auf Orpheus. Orpheus hält in seiner linken Hand die Leier, seine angewinkelte Rechte befindet sich in der Höhe von Eurydikes Schleier und lässt die Deutung zu, dass er ihr diesen soeben vom Gesicht gezogen hat. Eurydike sucht den Blickkontakt mit Orpheus und legt ihm auch mit einer liebevollen Geste ihre linke Hand auf die Schulter. Die Gesichter der Liebenden sind einander mit innigem Ausdruck zugewandt. Es ist wohl der Augenblick des endgültigen Abschieds festgehalten. Eurydike hat ihren rechten Fuß bereits in die Richtung gewendet, in der Hermes steht, wartend, dass er sie an seiner Hand zurück in den Hades führen kann. Dieser herkömmlichen Deutung stellt Lori-Ann Touchette in ihrem Aufsatz „A New Interpretation of the Orpheus-Relief“19 eine widersprechende Ansicht gegenüber: Nicht der Augenblick des endgültigen Verlusts Eurydikes, sondern die glückliche Wiedervereinigung der Liebenden sei zu sehen. Touchette vergleicht die Gesten der dargestellten Figuren mit denjenigen anderer antiker Abbildungen auf Vasen oder Reliefs und stellt fest, dass die hier als Zeichen der Trauer und des Abschieds gedeu- teten Bewegungen der Figuren in anderem Zusammenhang ganz anders ausgelegt wurden. So war zum Beispiel das Zurückziehen des Schleiers vom Gesicht einer Frau auf anderen Bildnissen als Hochzeitssymbol verstanden worden: The anakalypteria or

17 Erren, Manfred: P. Vergilius Maro. Georgica. Band 2 Kommentar. Heidelberg: Winter 2003, S. 960. 18 Vgl. Ziegler, a.a.O., S. 1276. 19 Touchette, Lori-Ann: A New Interpretation of the Orpheus-Relief. In: Deutsches Archäologisches Institut: Archäologischer Anzeiger 1990. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1990, S. 77–90.

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Orpheus-Darstellungen in der griechischen Antike 19 unveiling of the bride was an important part of the wedding ceremony in ancient Greece20, und auch Hermes’ Anwesenheit bei Hochzeiten ist mehrfach dargestellt worden. Der Götterbote galt als Begleiter der Braut beim Umzug von ihrem Elternhaus in das Haus der Bräutigams.21 Touchette vertritt die Meinung, dass die moderne Interpretation des Reliefs zu sehr von der vergilischen Darstellung des Orpheusmythos beeinflusst wurde, wobei ganz außer Acht gelassen wird, dass in früheren Erzählungen Orpheus’ Hadesfahrt durch- aus von Erfolg gekrönt war und die beiden Liebenden wieder vereint wurden.

The artistic and literary testimonia reveal that the successful version of Orpheus’ descent and retrieval of Eurydice was earlier and is indeed more resilient than the tragic tale of Vir- gil and others. The gestures of the figures, when placed within their art-historical context, 22 reinforce the interpretation of the orpheus relief as a scene of quiet reunion. The gestures of the figures themselves furthermore support the interpretation of the Orpheus relief as a depiction of the reunion and new marriage of Orpheus and Eurydice, overseen by Hermes in his role as mediator between the worlds above and below and between mai- 23 denhood and marriage.

Als Beispiele für eine geglückte Rückholung Eurydikes nennt sie entsprechende Erwähnungen bei Isocrates, Pseudo-Heraclitus, Hermesianax, Pseudo-Moschus, Diodorus Siculus, sowie in der Dichtung Orphische Argonautica. Hermesianax z.B., ein Dichter aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., berichtet in sei- nen Elegien über die Liebeserlebnisse berühmter Männer und schreibt über Orpheus: So führte der liebe Sohn des Oiagros die Agriope vom Hades herauf, indem er die thrakische Zither spielte.24 Dass Touchettes Bilddeutung die Zustimmung der Mythenforscher findet, darf aller- dings bezweifelt werden. Zu groß ist die Übereinstimmung der Betrachter – sowohl der Laien als auch der Wissenschaftler –, wenn aus den Körperhaltungen der Figuren gelesen wird, dass es Hermes schon im nächsten Augenblick gelingen wird, Eurydike sanft von Orpheus wegzuziehen, um sie zurück in die Unterwelt zu geleiten. Die Hinweise Touchettes sind jedenfalls insofern interessant, als davon ausgegangen werden kann, dass Vergil eine Nachbildung des Reliefs kannte und das Bildnis in

20 Touchette, a.a.O., S. 87. 21 Vgl. Redfield, James: Homo Domesticus. In: Vernant, Jean-Pierre (Hg.): Der Mensch in der griechischen Antike. Frankfurt am Main: Campus 1993, S. 180–218, hier S. 186. 22 Touchette, a.a.O., S. 81. 23 Touchette, a.a.O., S. 79. 24 Zitiert nach: Zeller, Dieter: Orpheus in der griechischen Antike: Gestalt und Gestaltungen, Garant von Geheimlehren. In: Mundt-Espín, Christine (Hg.): Blick auf Orpheus. 2500 Jahre europäischer Rezeptionsgeschichte eines antiken Mythos. Tübingen und Basel: Francke 2003 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Band 29), S. 35–51, hier S. 39.

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20 Der Orpheusmythos in der Antike

seiner Dichtung auf seine Art deutete. Seine Interpretation wurde dann wieder zum Bezugspunkt für nachfolgende Orpheus-Dichtungen. Erich Lessing.

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Abb.1 Orpheusrelief / Neapel.

AKG53442 ©akg-images AKG53442 Innenabbildung.

„Orpheus spielt auf der Leier“: Detail eines Volutenkraters Das große Wassergefäß (Höhe 113 cm) wird auf ca. 330–310 v. Chr. datiert und befin- det sich in der Münchener Antikensammlung. Als Fundort wird Canosa angegeben. Bei Lessing25 finden sich die Abbildungen mehrerer Details des rotfigurigen Kraters, unter anderem „Dionysos und Lykurgos“, „Tantalos“, „Sisyphos“ und „Hades und als Herrscher der Unterwelt“. Mit dem letztgenannten Ausschnitt in direkter Verbindung steht das Bildnis des Orpheus, der in der Unterwelt vor Hades und Persephone die Leier spielt. Das unterirdische Herrscherpaar befindet sich unter einer ionischen Volutenkapitele, einer Art Tempeldach aus weißem Marmor, das von ebenfalls weißen Marmorsäulen getragen wird. Zwei dieser Säulen sowie eine Hand Persephones sind auf dem dieser Arbeit beigefügten Ausschnitt zu sehen. Hades sitzt

25 Lessing, Erich (Hg.): Die griechischen Sagen in Bildern erzählt von Erich Lessing. Mit Bei- trägen von Ernest Bornemann, Wolfgang Oberleitner, Egidius Schmalzriedt. München: Orbis 1990, S. 157 (Weitere Detailansichten S. 115, S. 125, S. 159).

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Orpheus-Darstellungen in der griechischen Antike 21 auf seinem Thron, die stehende Persephone sieht ihn fragend an, wohl als Fürspre- cherin von Orpheus, der Leier und Blick zu ihr erhebt. Orpheus ist in tänzerischer Pose dargestellt, durch die hauchdünne Seide seiner Bekleidung, die ihn in bewegter Draperie umspielt, scheinen die Körperformen durch. Das Kleid scheint sehr auf- wändig verarbeitet zu sein, außerdem weist der Stoff verschiedenste Webmuster auf. Während Kleid und Körperbau sehr weiblich wirken, wird durch Halspartie und Mimik Stärke und Würde signalisiert. Als Zeichen seiner Herkunft trägt Orpheus die phrygische Mütze. Erich Lessing.

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Abb.2 Orpheus spielt Leier / apulische Vasenmalerei (Münchener Antikensammlung).

AKG47318 ©akg-images AKG47318 Innenabbildung.

1.1.4 Orpheus-Darstellungen zur Zeit des Hellenismus

Knabenliebe Zu Phanokles, dem griechischen Dichter, gibt es außer der Annahme, er habe im 3. Jahrhundert v. Chr. gelebt, keine weiteren biografischen Angaben. Es ist nur ein einziges poetisches Werk von ihm bekannt, nämlich die elegische Dichtung Liebes- geschichten oder Die schönen Knaben. Eines der Gedichte aus der Sammlung, Knaben- liebe, enthielt das einzige erhaltene zusammenhängende Stück Text des Dichters, das

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22 Der Orpheusmythos in der Antike

so genannte Orpheusfragment, das die Liebe des Orpheus zu einem schönen Jüngling zum Thema hat.

Oder wie einst, von Oeagros erzeugt, der Thrakier Orpheus, / Kalais aus dem Gemüth liebte, des Boreas Sohn. / Oftmals saß er nunmehr in den schattigen Hainen, besingend / Sein Verlangen, und nie war ihm der Busen in Ruh. / Sondern im Geiste geheim schlaflose Bekümmerniß immer / Härmt’ ihn, er schaute nur an Kalais blüh’nde Gestalt. / Aber die Bistoniden, umdrängend, tödteten jenen, / Grausame, welche für ihn schneidende Schwerter gewetzt, / Weil er im Thrakischen Volke zuerst die männliche Liebe, / Hatte gelehrt, und nicht weibliches Sehnen erfüllt. / Und sie hieben sein Haupt mit dem Erz ab, werfen alsbald es / In die Thrakische See hin mit der Laute zugleich, / Fest mit dem Nagel daran es hef- tend, daß in dem Meere / Beyde zusammen genetzt schwommen von blaulicher Flut. / An die heilige Lesbos nun spülte sie dunkel das Meer an. / Da sich der Leyer Getön über die Wellen erhob / An die Inseln und Küsten, die salzbeschäumten, begruben / Männer das vordem tönende Orphische Haupt; / Legten die Laut’ ins Grab, die klingende, welche die stummen / Felsen, des Phorkos sogar grause Gewässer besiegt. / Seitdem waltet Gesang und der Saiten gefällige Kunst dort, / Unter den Inseln ist keine so liederbegabt. / Als die streitbaren Thraker der Frau’n feindselige Thaten / Hörten, und alle darum schrecklicher Kummer befiel: / Zeichnete jeder die Gattin, damit sie, die schwärzlichen Punkte / Tra- gend am Leibe, hinfort dächten des grausenden Mords. / Also zahlen dem Orpheus bis 26 jetzt, dem erschlagnen, die Weiber / Bußen für jenen Gräu’l, welchen an ihm sie verübt.

Mit der Schilderung der homoerotischen Zuneigung von Orpheus zu Kalais wird hier ein bisher nirgends erwähnter Aspekt des Mythos angesprochen. Offensichtlich handelt es sich um jenen Kalais, Sohn des Boreas und der Oreithyia und Zwillings- bruder des Zetes, der an der Argonautenfahrt teilgenommen hat. Von Kalais und Zetes wird erzählt, dass sie sich nach der Jagd auf die Harpyien auf die Insel Telos zurückzogen, wo sie von Herakles aufgefunden und getötet werden. Sie hatten näm- lich die Argonauten zur Weiterfahrt gedrängt, als Herakles auf der Suche nach Hylas sich vom Schiff entfernt hatte. Dass in diesem Gedicht nicht die Bassariden, die Anhängerinnen des Dionysoskultes, sondern thrakische Frauen Orpheus töteten, erinnert an Platon, der schreibt, Orpheus’ Tod sei durch „Weiber“ erfolgt. Ein besonders interessantes Detail ist der Umstand, dass die Thrakerinnen zur Strafe für ihre Tat von ihren Männern tätowiert wurden. Phanokles fügte dem Orpheusmythos noch weitere Ergänzungen hinzu: das Bild vom an die Leier genagelten Kopf Orpheus’; das Weiterklingen der Leier, bis sie am Ufer von Lesbos von Männern geborgen und zusammen mit dem Haupt begraben wurde,

26 Phanokles: Oder wie einst… Ins Deutsche übertragen von August Wilhelm von Schlegel. In: Rüdiger, Horst: Griechische Gedichte. München: Heimeran 1972, S. 169f.

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Orpheus-Darstellungen in der griechischen Antike 23 und schließlich die Prädestination der Insel als Ort der Kunst und des Gesanges auf- grund dieser Verbundenheit mit dem großen Sänger.

Orpheus als Argonaut Apollonios von Rhodos verfasste um 220 v. Chr. das Versepos Argonautika. Hier wird Orpheus erstmals zur Figur einer epischen Dichtung und hat als solche mehrere wichtige Auftritte. Dass ihn Apollonios durchaus nicht als Nebenfigur anlegt, zeigt sich schon darin, dass Orpheus’ Name den Heldenkatalog anführt:

Zuerst wollen wir jetzt Orpheus ins Gedächtnis rufen, den ja einst Kalliope selbst, so lau- tet die Kunde, nachdem sie mit dem Thraker Oiagros das Lager geteilt hatte, [25] nahe der Pimpleïschen Bergwarte geboren hat. Dieser aber, so berichtet man, habe durch den Klang seiner Lieder die unzerreibbaren Felsen der Berge und strömenden Flüsse bezau- bert. Und wilde Eichen schreiten – gleichfalls noch als Zeichen jenes Gesangs – kräftig sprossend am thrakischen Gestade von Zone, [30] der Reihe nach dicht beieinander; die hatte er zuvor, bezaubert durch seine Phorminx, aus Pierien herabgeführt. Den Orpheus nun hatte als einen solchen Helfer bei seinen Mühsalen der Aisonide, Chairons Weisun- 27 gen folgend, aufgenommen, ihn, der im bistonischen Pierien herrschte.

Orpheus gilt also als angesehener Herrscher, würdig genug, sich mit den auserlesens- ten Helden auf Abenteuerfahrt zu begeben. Zum ersten Mal in der Literatur wird ausdrücklich eine – durch den Namen bestimmte – Muse als seine Mutter genannt. Dass sein Gesang so bewegend ist, dass seinetwegen sogar Bäume ihren Platz ver- lassen und ihm folgen, mag ein wichtiger Grund dafür gewesen sein, ihn als Sänger und Kitharode mit an Bord der Argo zu nehmen. In diesem Epos findet sich auch ein Hinweis auf Orpheus als Verkünder eines Ursprungsmythos. Um seine Gefährten von einem drohenden Streit abzuhalten, singt er ihnen vom Anfang des Göttergeschlechts. Orpheus’ Gesang bringt die gewünschte Wirkung: Er ist so beruhigend, dass danach der Friede unter den Gefährten wieder gesichert ist und dem Aufbruch zur Fahrt nichts mehr im Wege steht. Leier und Gesang des Orpheus geben den Takt für die Ruderer an: So schlugen sie unter der Kithara des Orpheus mit den Rudern das reißende Wasser des Meeres und ließen die Bran- dung aufwallen. (Arg. I, 541f)

Die Musik, die da erklingt, wirkt nicht nur auf die Menschen:

27 Apollonios von Rhodos: Die Fahrt der Argonauten. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Paul Dräger. Stuttgart: Reclam 2002. Erstes Buch, 23–35. Im Folgenden fortlaufend im Text zitiert als: Arg., Buch, Vers.

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24 Der Orpheusmythos in der Antike

Und der Sohn des Oiagros spielte für sie die Phorminx und feierte in wohlgesetztem Gesang die Schiffsretterin, die edelgeborene Artemis, die jene Klippen der Salzflut und das Iolki- sche Land umsorgte. Und die Fische, die von unten aus der tiefen Salzflut heraufkamen, unendlich große, vermischt mit kleinen, folgten, durcheinander springend, den feuchten Pfaden. [575] Und wie wenn den Spuren eines ländlichen Aufsehers zehntausend Schafe zum Gehöft folgen, die sich genugsam am Gras satt gefressen haben, der aber geht voran und spielt mit der helltönenden Syrinx schön eine Hirtenweise: So begleiteten nun die Fische sie. (Arg. I, 571–579)

Es ist das gleiche Bild wie bei Simonides von Keos: Angelockt von Orpheus’ Gesang verlassen die Fische ihr Element, um der schönen Stimme zu folgen. Auf der Weiterfahrt von Lemnos, wo die Argonauten einen längeren Aufenthalt ver- bracht hatten, führt Orpheus sie nach Samothrake:

Und am Abend landeten sie unter Orpheus’ Weisungen an der Insel der -Tochter Elektra, auf dass sie, durch ehrfurchtsvolle Weihen kundig der unaussprechbaren Sat- zungen, sicherer mit dem Schiff über die schaurige Salzflut führen. Davon aber werde ich nicht weiter sprechen, [920] sondern es seien zugleich sowohl die Insel selbst als auch die gegrüßt, die jene Mysterien erlangt haben: die einheimischen Gottheiten, die aber zu besingen uns nicht erlaubt ist! (Arg. I, 915–921)

Der von Apollonios angedeutete Kult weist auf die geheimen Mysterien der Kabiren hin. Diese waren göttliche Beschützer der Schifffahrt und Diener der Kybele, die auf Samothrake auch unter dem Namen Elektra verehrt wurde. Somit wird Orpheus von Apollonios als Kenner uralter pelasgischer Weisheiten dargestellt. Nachdem die Argonauten während eines Aufenthaltes auf der Halbinsel von Kyzikos deren Herrscher versehentlich getötet hatten, errichten sie auf dem Berg Dindymon einen Altar für die Dindymenische Mutter (Kybele), bringen ihr Opfer dar und füh- ren einen kultischen Tanz auf.

Auf Befehl des Orpheus aber drehten sich die jungen Männer gemeinsam [1135] springend im Waffentanz und schlugen mit ihren Schwertern an die Schilde, damit der Ruf böser Vorbedeutung durch die Luft vertrieben werde, den die Völker noch in Trauer um den König stöhnend erhoben. (Arg. I, 1134–1139)

Sprießende Früchte und Blumen, fließendes Wasser in vertrockneten Flussbetten und sprudelnde Quellen zeigen an, dass die Große Göttin gnädig gestimmt wurde. Aber es gibt noch ein besonderes Zeichen ihrer Huld, das als eine Folge von Orpheus’ musikalischem Wirken gedeutet werden kann: Und die Tiere verließen ihre Lager und Höhlen und kamen [1145] schwanzwedelnd heran. (Arg. I, 1144f)

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Orpheus-Darstellungen in der griechischen Antike 25

Die weitere Fahrt bringt die Helden unter anderem auch nach Bithynien, dessen Herrscher von Polydeikes im Zweikampf besiegt wird. Bei der Siegesfeier singen sie zur Orpheïschen Leier im Takt ein einstimmiges Loblied. (Arg. II, 160) Ein großes Verdienst um das Gelingen der Argonautenfahrt erwirbt sich Orpheus durch sein besonderes Wissen um die Möglichkeiten, Apollon gnädig zu stimmen. So veranlasst er, nachdem der Gott den Argonauten erschienen war, das Errichten eines Opferaltars auf der Thyneïschen Insel und begleitet die Opferfeier mit einem Lied zu Ehren Apollons.

Und nach einiger Zeit erst sprach Orpheus, an die Helden gewandt, folgendermaßen: „Auf denn! Lasst uns diese Insel nun heilig dem ‚Morgendlichen Apollon‘ rühmend benen- nen, da er allen bei seiner morgendlichen Wanderung erschienen ist. Und wir werden einen Altar an der Küste aufstellen und das opfern, was uns zur Verfügung steht. […].“ (Arg. II, 585–690) Und zusammen mit ihnen begann der tüchtige Sohn des Oiagros auf der bistonischen Leier ein helltönendes Lied, [705] wie er [Apollon] einst am Fuß des Felsrückens des Parnass den ungeheuren Delphynes mit dem Bogen getötet hatte, als er noch ein nackter Knabe war […]. (Arg. II, 704f)

Damit erweist sich Orpheus als wahrhaft apollinischer Sänger, der seine große Ver- ehrung für Apollon auch zeigt, als die Gefährten in der Nähe des Sthenelos-Gra- bes einen Apollon-Altar erbauen und er dort seine Lyra opfert. Diese war nicht das einzige Musikinstrument, das er mit sich führte, und somit gibt es noch weitere von Apollonios beschriebene Auftritte des Kitharoden. Nachdem Jason mit Hilfe Medeas das Goldene Vlies errungen hat, segelt die Argo zurück Richtung Jolkos. Die Vorbeifahrt an der Insel der Sirenen bedeutet für die Seefahrer ein beinahe unbewältigbares Abenteuer.

Und ständig spähten sie von einem gut anzulaufenden Platz mit weitem Ausblick und nah- men häufig in der Tat vielen die süße Heimkehr; denn sie richteten sie durch Auszehrung zugrunde. Und ohne Rücksicht ließen sie also auch diesen gegenüber aus ihren Mündern ihre lilienzarte Stimme erschallen. Und die wollten schon vom Schiff aus die Haltetaue an die Gestade werfen, [905] wenn nun nicht der thrakische Sohn des Oiagros, Orpheus, mit seinen Händen die Saiten seiner bistonischen Leier gespannt und die rasche Weise eines lebhaften Liedes hätte ertönen lassen, auf dass er Verwirrung stifte und ihre Ohren zugleich vom Schlagen des Plektrons erdröhnten. Und seine Leier übertraf die Stimme der Jungfrauen. (Arg. IV, 901–910)

Bei diesem Sängerwettstreit war nicht die Qualität des Gesanges, sondern die Laut- stärke des von Orpheus Dargebotenen ausschlaggebend.

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