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FRIEDERIKE WIßMANN und Eurydike auf der Opernbühne1

Die Darstellung des Orpheus-Mythos im musiktheatralen Raum ist an die Erzählung vom Liebespaar Orpheus und Eurydike gebunden. Obwohl Eurydike als die Geliebte des Orpheus erst durch die römische Überlieferungstradition thematisiert ist, näm- lich in Vergils Georgica (ca. 30 v. Chr.)2, kommt Orpheus ohne Eurydike auf der Opernbühne überhaupt nicht vor. Die für die Oper entscheidende Facette des kom- plexen Orpheus-Mythos erweist sich also als „spätes, synkretistisches Konstrukt“3. 1600 entsteht Jacopo Peris Oper Euridice. Sie wird in der Operngeschichts- schreibung insofern als erste Oper apostrophiert4, als sie eine durchgängig gestal- tete Komposition darstellt, in welcher der Text, die Musik und das Schauspiel in einem wechselseitigen Verhältnis stehen. An die Erfi ndung der Oper ist nicht nur das Thema vom entzweiten Liebespaar Orpheus und Eurydike gebunden, sondern es verändert sich mit Einführung der Oper vor allem die Vorstellung von „dem schönsten Gesang“. Die Verschiebung in den musiktheatralen Raum bedeutet nämlich auch eine Relativierung des Absolutheitsanspruches der musikalischen Wirkungsmacht: Orpheus’ Gesang ist nun nicht mehr als rein musikalisches Er- eignis vermittelt, sondern er wird zum Bestandteil eines Plots, eingebunden in die Inszenierung einer Handlung. Somit beginnt die Operngeschichte zwar mit der Wiederbelebung des Orpheus, die Librettisierung des Orpheus-Stoffes aber impli- ziert in einer Art dialektischer Bewegung gleichzeitig die Relativierung des einzig- artigen Gesanges. Inwieweit kann die Opernbühne dem Orpheus-Mythos über- haupt gerecht werden? Zunächst erfuhr der Orpheus-Mythos mit seiner Musikalisierung die inhaltliche Zuspitzung auf die Liebesgeschichte. Die für die Oper spezifi sche Dramatisierung des Mythos geht so weit, dass Karl Kerényi von der Entmythologisierung des Stoffes durch seine Librettisierung spricht.5 Jene hier implizit formulierte Kritik an den Orpheus-Opern wird von Kerényi nicht vornehmlich auf die nun eintre- tende Hörbarkeit des Gesanges zurückgeführt – mit dem tatsächlichen Erklingen

1 Die Formatierung des Titels knüpft in variierter Form an den Band von Klaus Theweleit an: Buch der Könige, Bd. 1: Orpheus und Eurydike, Basel, 1989ff. Auch für diesen Text gilt, dass die zentrale These am Titel ablesbar ist. 2 Vgl. hierzu Claudia Klodt, „Der Orpheus-Mythos in der Antike“, in: Der Orpheus-Mythos von der Antike bis zu Gegenwart, hrsg. von Claudia Maurer Zenck, Frankfurt am Main u. a., 2004, S. 37–98. 3 Vgl. Heinz Hofmann, „Orpheus“, in: ders. (Hrsg.), Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen, 1999, S. 153–198, hier: S. 158. 4 Zu den ersten Opern zählt bekanntlich als Nachfolgeoper der Pastorale La Dafne (1597/98, Flo- renz) die von Jacopo Peri komponierte Oper Euridice (1600). Der Titel darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hauptfigur auch dieser Oper Orpheus ist. 5 Vgl. Karl Kerényi, „Vorwort“, in: Orpheus und Eurydike. Vollständige Dramentexte, hrsg. von Joachim Schondorff, München, 1963, S. 7–37. 84 FRIEDERIKE WIßMANN des Gesanges auf der Opernbühne wird seine Schönheit überprüfbar –, sondern beruht auf der Einführung des lieto fi ne. Handelt der Mythos in erster Linie vom Schmerz, der an den doppelten Verlust gebunden ist, so wird der mythologische Stoff durch die Einführung des glücklich vereinten Liebespaares banalisiert. Christian Baier macht in seinem Artikel „Poesie des Verlierens. Zum Orpheus- Komplex“6 auf die gravierende Divergenz der Begriffe Verlieren und Verlust auf- merksam. Gerade für den Orpheus-Stoff auf der Opernbühne und im Musikthea- ter kreist die Kernfrage um ebendiesen Unterschied und ist deshalb mit der Kerényi’schen Kritik vereinbar. Mit jener Fragestellung einher geht die Disposition der formalen Gestalt: Was wird von dem Mythos erzählt, und wie wird dieser trans- portiert? Mit dieser Frage korrespondiert untrennbar diejenige der Nachhaltigkeit des Orpheus-Mythos auf der Opernbühne. Ist die Reduktion auf die Liebesge- schichte mit einem Beinahe-Verlust auch für heutige Perspektiven maßgeblich? Bietet die Mehrsprachigkeit eine Vorlage für zeitgenössische Opernformate? Erfah- ren wir etwas über die Beschaffenheit des Gesanges?

* Orpheus ist Musiker von Anbeginn der Erzählung; die Konnotationen seines mu- sikalischen Tuns aber verändern sich in den verschiedensten Orpheus-Dichtungen. Orpheus ist zunächst derjenige, der die belebte und unbelebte Natur in den Bann zieht. Mit seiner Musik wirkt Orpheus außerdem vernünftig gegen Rohheit. Er stiftet Frieden, weshalb er auch als Zivilisationsstifter benannt wird. In dieser Funktion begleitet Orpheus auch in dem gleichnamigen Epos von Apollonius von Rhodos die Argonauten: „Also schalt er voll Zorn. Der Streit wär’ weiter gediehen, Hätten die Freunde nicht warnend die Zänker gehindert. Es hielt sie Selber der Aisonide zurück. Da hob mit der Linken Orpheus die Leier empor, um einen Gesang zu erproben: Sang wie einst die Erde, das Meer und droben der Himmel Sich zu Einer Gestalt mit einander vereinigt, und wieder Nach verderblichem Streit ein jedes sich friedlich gesondert; Und wie immer nun fest den Platz im Äther bewahrten Sterne droben und Mond und auch die Pfade der Sonne. Wie die Gebirge und wie die brausenden Ströme entstanden.“7 Wenn Orpheus’ Musik beschrieben wird, und dies lässt sich für die literarischen Quellen verallgemeinern, geschieht dies mit einer auf die Wirkungsmacht gerichte- ten Perspektive. Was die Musik mit seinen Hörern macht, wird bei oder auch

6 Christian Baier, „Poesie des Verlierens. Zum Orpheus-Komplex“, in: Neue Zeitschrift für Musik 5 (2003), S. 14–19. 7 Apollonius von Rhodos, Die Argonauten, erster Gesang, in: Dichtung der Antike von bis Nonnos, Wiesbaden, 2000, S. 912; siehe auch http://www.digitale-bibliothek.de/band30.htm.