Typen, Motive, Stilmittel (Beiträge Zur Altägyptischen Kunst, Bd. 1)
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50 Martin Fitzenreiter Vom Stil zum Motiv Das Bildelement der Dickleibigkeit in der Kunst des Alten Reiches 1. Phänomene, Probleme, Begrifflichkeiten Dick und dünn im Alten Reich Als 1860 die hölzerne Standfigur desK AAPER (Tab. 1.6)1 Es ist allerdings nicht so, dass diese formalisierende ausgegraben wurde, riefen die Arbeiter der Legende Interpretation in der ägyptologischen Kunstbetrach- nach aus, dass dieses Bildwerk ihren wohlbeleibten tung von Anbeginn üblich war. Auguste Mariette und Scheich el-Beled, ihren „Dorfschulzen“ darstelle (Abb. 1 Gaston Maspero teilten die spontane Begeisterung ih- a–b). Die frappierende Lebensechtheit der Statue be- rer Grabungsarbeiter und konnten im „Dorfschulzen“ eindruckt bis heute. Sie unterscheidet die Holzskulp- und ähnlichen Werken durchaus naturalistisch inten- tur auch deutlich vom Großteil des pharaonischen dierte Individualporträts erkennen.2 Auch Herrmann Kunstschaffens, dem dieser Naturalismus offenbar Junker maß der individuellen Komponente dieser abgeht. Hingegen verbindet sie den „Dorfschulzen“ Werke einige Bedeutung zu; immerhin hatte er 1912 mit einer nicht sehr umfangreichen Gruppe von Rund- die ebenso lebensechte wie dem formalen Bild von und Flachbildern, die alle den männlichen Körper in ägyptischer Kunst entgegenstehende Sitzfigur des auffallend korpulenter Weise gestalten. Die Personen HEMIUNU ausgegraben (Tab. 1.2; Abb. 2 a–b).3 Auch werden mit vorgewölbten Bäuchen gezeigt, mit Speck- sonst ist man in den vielen Besprechungen dieser und falten an den Hüften und mit ausgeprägt fetten, gele- ähnlicher Werke durchaus geneigt, naturalistische gentlich sogar herabhängenden Brüsten. Die Massig- Züge anzuerkennen. Was die ägyptologische Kunst- keit der Körperformen strahlt auf die Gestaltung der forschung jedoch verwirrt, ist der Umstand, dass ne- Arme und Beine bis zu den vollwangigen Gesichtern ben diesen Abbildern immer auch solche auftreten aus. Dem steht das kanonische ägyptische Körper- können, die den ideal-kanonischen Körperbau zei- ideal quasi diametral in idealer V-Form gegenüber: gen – und zwar tatsächlich direkt daneben, in ein und breite Schultern, schmale Hüften, schlanke Beine, ak- demselben Kontext, demselben Serdab, demselben zentuierte Brust- und Armmuskulatur. Dekorationsprogramm. Jean Capart hat sich intensiv Genau aus diesem Grund will sich die ägyptologische mit den Darstellungskonventionen des Alten Reiches Kunstforschung allerdings nicht recht mit dem Gedan- auseinandergesetzt und herausarbeitet, dass sich die ken anfreunden, dass der „Dorfschulze“ tatsächlich Künstler im Rundbild zweier Typen bei der Darstel- das naturalistisch gestaltete Abbild eines Individuums lung der männlichen Gestalt bedienten: einmal des ist, als das es die Grabungsarbeiter in ihrer spontanen traditionellen Typs mit Perücke und kurzem Schurz, Naivität empfanden. Weil ägyptische Kunst in aller- das andere Mal eines Typs, der den Dargestellten mit erster Linie idealtypische Stilisierung, reproduzier- natürlichem Kurzhaar und langem, oft gebauschtem bare Archetypisierung, formelhafte Verbegrifflichung Schurz (in jüngeren Beispielen mit „Vorbauschurz“) – kurz: „Zeichen“ – sei, kann naturalistische Individu- zeigt.4 Als Beispiel für letzteren besprach er ausführ- alisierung kaum ihr Zweck gewesen sein. Vielmehr lich den „Dorfschulzen“. Dass dieser nun das Element stelle auch ein – zugegebenermaßen – ungewöhnli- der Dickleibigkeit so charakteristisch zeigt, eine zweite ches Bildnis wie das des „Dorfschulzen“ nichts ande- Statue, die Capart als die ihn komplettierende Statue res als einen weiteren Archetyp dar, eine Abstraktion, vom traditionellen Typ zu identifizieren suchte (Kairo, in der idealische Vorstellungen ein dreidimensionales CG 32), aber die schlanke, athletische Körperform, „Sinnbild“ gefunden haben, genauso wie im athleti- hatte für die Interpretation der beiden Statuentypen schen Körpertyp auch. weitreichende Folgen. Publiziert in: Arnst / Schulz (Hrsg.), Typen, Motive, Stilmittel. BAK 1. Propylaeum, 2021. DOI: https://doi.org/10.11588/propylaeum.838.c10783 51 Martin Fitzenreiter Abb. 1 a–b: Standfigur desK AAPER. Kairo, CG 34 (Tab. 1.6) Abb. 2 a–b: Sitzfigur desH EMIUNU, Hildesheim, RPM 1962 (Tab. 1.2) 52 VOM STIL ZUM MOTIV Abb. 3 a–b: Der „Louvre-Schreiber“. Paris, E 3023 (Tab. 1.7) Abb. 4: Der „Kairo-Schreiber“. Kairo, JE 30272/ CG 36 (Tab. 2.4) 53 Martin Fitzenreiter Die beiden Abbildungskonventionen wurden nun Eine Indizierung mit „Jugend“ vs. „Alter“ und daraus fast generell so interpretiert, dass im traditionel- folgend den übrigen abgeleiteten Kategorien ist aber len Typ (Perücke, kurzer Schurz) der Dargestellte in auch hier nicht offensichtlich.9 „kanonisch-athletischer“ Weise gestaltet wird, im Typ Da die Zwei-Typen- bzw. (interpretativ gesehen) mit langem Schurz ihn hingegen in „quasi-naturalis- Zwei-Themen-These m. E. das Phänomen der Dick- tischer Dickleibigkeit“ (was Capart übrigens nie so leibigkeit also von hinten aufrollt und vor allem nicht behauptet hatte). Dabei wurde das Postulat der un- auf die frühen Belege übertragbar ist, soll hier bei terschiedlichen Konventionen der Körperdarstellung der Analyse der Dickleibigkeit der Weg aus der ande- gelegentlich noch mit der These verbunden, dass die ren Richtung genommen werden – wie ihn übrigens Statuen verschiedene Altersstufen darstellen.5 Von bereits Hermann Junker gegangen ist.10 Nicht die im diesen Prämissen ausgehend – zwei sich komplet- jüngeren Flachbild belegte ikonographische Indizie- tierende Abbilder, zwei Körperideale, eventuell zwei rung des Motivs der Dickleibigkeit soll der Ausgangs- Alterstufen – interpretierte man die entsprechenden punkt der Interpretation sein, sondern das ältere, Bilder schließlich als die Konzeptualisierung zweier primär stilistische Phänomen selbst. Dabei soll gezeigt Archetypen, die, als sich ergänzendes Paar konzipiert, werden, wie der bildkünstlerische Prozess einer Stil- den Dargestellten in zwei idealen Wesenheiten vor- entwicklung bei der Wiedergabe eines Bildelements stellen.6 in die Forma-lisierung eines Motivs und damit ver- Auch wenn die Interpretation der Dickleibigkeit als ein bunden in die Formulierung einer ikonographisch Motiv in einem formalen Darstellungstyp mit klar defi- indizierten Aussage mündet. nierter ikonographischer Bedeutung eine ansprechen- de Lösung des Phänomens anbietet, bleiben einige Begriffsbestimmung Probleme. Das erste Problem ist, dass im Korpus des Da neben der Befundanalyse die terminologisch ex- Rundbildes im Alten Reich die zur Begründung der akte Befundansprache ein Thema dieses Aufsatzes These herangezogenen Paare aus einer athletischen ist, ist es notwendig, Begriffe zu definieren, die als und einer exponiert dickleibigen Statue gar nicht exis- Kategorien der Beschreibung dienen. Die Wirksam- tieren.7 Das zweite Problem ist, dass die Dickleibigkeit keit der hier definierten Begrifflichkeit soll auf die nicht das einzige ungewöhnliche Phänomen ist, das Beschreibung von Artefakten beschränkt sein, die in der 4. Dynastie in der Residenzkunst auftritt. Die dem Bereich der bildenden Kunst zugeordnet wer- Dickleibigkeit ist nur ein Element unter mehreren, die den können: also auf Rundbild, Flachbild bzw. auf man alle einer ausgeprägt naturalistischen Tendenz mit rund- oder flachbildlichen Darstellungen verse- der Stilentwicklung zuschreiben kann.8 Dazu zählen hene Objekte ganz allgemein. Dabei zielt die Nut- z.B. auch Hagerkeit wie in den Gesichtszügen des zung dieser Termini darauf, die bildnerische Gestal- „Louvre-Schreibers“ (Tab. 1.7; Abb. 3 a–b), die realis- tung des Artefaktes, seine Qualität als Kunstwerk zu tische Präsenz des „Kairo-Schreibers“ (Tab. 2.4; Abb. beschreiben.11 Hierin liegt der Unterschied zu einer 4) oder die Darstellung des Kleinwuchses beim Zwerg z.B. archäologisch ausgerichteten Beschreibung, die SENEB (Tab. 2.7). Das dritte Problem ist, dass bei der vor allem den Artefakt selbst zu charakterisieren ge- Interpretation der zwei Darstellungskonventionen als denkt, also seine stoffliche Konsistenz, seine Funktion ikonographische Zeichen z.B. mit dem Index „Jugend- als Gegenstand, Bauelement, Gerät usw.12 Da es sich lichkeit“ vs. „Alter“ oder „ewige Kraft“ vs. „diesseitige bei Objekten der bildenden Kunst um sichtbare Ge- Autorität“ vor allem assoziativ vorgegangen wird. Die- genstände handelt, sollen die äußere Form und die Art se Deutung befriedigt auch deshalb nicht, da die ath- der Gestaltung die ersten beiden Kategorien der Be- letische Darstellung in keinem ihrer gestalterischen schreibung liefern, die Interpretation dieser Formen Elemente auf „Jugend“ anspielt (Seitenlocke, Nackt- und Gestaltungselemente dann eine dritte.13 Diese heit ohne Beschneidung usw.) und umgekehrt die Begriffsbestimmung erhebt nicht den Anspruch, ein dickleibig gestalteten Werke keine solchen Elemente allumfassendes Instrumentarium zur Kunstbeschrei- mit dem Index „Alter“ zeigen (z.B. gebeugte Haltung). bung zu liefern; es geht allein darum festzuhalten, Letztendlich entpuppt sich die geläufige Interpreta- dass im folgenden Text einige Begriffe mit möglichst tion der von Capart erkannten zwei Typen der Abbil- exakten Inhalten verbunden werden, während ande- dung der männlichen Gestalt vor allem als die Über- re Begriffe (wie z.B. Phänomen, Befund u.ä.) bewusst tragung von Beobachtungen, die an Flachbildern unspezifisch gemeint sind. Da die Begrifflichkeit in vor allem des späten Alten Reiches gemacht wurden. der Kunstwissenschaft schwankt, sind in Klammern In den Flachbildern lässt sich die Gegenüberstellung solche