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MARINA MÜNKLER

„durch unverdrossene tüchtige Arbeit“: Karl Lachmann (1793–1851) als Philologe*

I. Die deutsche Philologie und die Berliner Uni-

versität. Als Karl Lachmann am 27. Februar 1825 an die Berliner Universität berufen wur-

de, durfte er sich am Ziel seiner Wünsche fühlen. Fast ein Jahr lang hatte er sich be- müht, von der Universität Königsberg, wo er seit dem 18. Januar 1818 eine außerordent- liche Professur für die „Theorie, Kritik und Litteratur der schönen Künste und Wissen- schaften“ innehatte, nach versetzt zu

werden. Zunächst war sein Versetzungsgesuch abgelehnt worden, aber nach der Unterstüt- zung durch Berliner Freunde und einem er-

neuten Versetzungsgesuch erhielt er die be- gehrte Berufung an die Berliner Universi- tät; zunächst als außerordentlicher Professor und mit dem gleichen Gehalt wie in Königs- 1 berg. Seine Versetzungsgesuche hatten meh- Abb. 1 rere Gründe: Zum einen waren seine Vor- lesungen auf den Gebieten der klassischen und der deutschen Philologie in Königsberg nicht sonderlich erfolgreich, zum anderen schienen ihm die Studierenden weder zahl- reich noch gebildet genug, um seinen streng philologischen Ausführungen folgen zu können, und zum dritten boten ihm die Bibliotheksbestände in Königsberg keine hinrei- chende Grundlage, um sich mit dem beschäftigen zu können, was ihn besonders interessier- te: die deutsche Philologie.2 Zwar lehrte Lachmann auch in Berlin, wie zuvor in Königs- berg, sowohl das Fach der deutschen als auch der klassischen Philologie und auf dem

* Zitat aus: Karl Lachmann. Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts, Berlin 1820, S. XXI. 1 Vgl. : Karl Lachmann. Eine Biographie, Berlin 1851, S. 58–63. 2 Lachmanns Vorlesungen hatten bei den Studenten in Königsberg so geringen Erfolg, dass das Ministerium drohte, für die ihm übertragenen Lehrfächer einen anderen Professor anzustellen und ihn an ein Gymna- sium zu versetzen. Vgl. Uwe Meves: Die Anfänge des Faches deutsche Sprache und Literatur an der Uni- versität Königsberg. In: ZfdPh 114 (1995), S. 376–393, hier S. 380 f. Lachmann führte das Desinteresse der Studierenden nicht zuletzt darauf zurück, dass diese sich nur mit dem beschäftigen wollten, was für das Exa- men relevant sei, wozu die deutsche Philologie nicht gehörte. Gegenüber beschrieb er dieses Desinteresse mit den Worten: „Wenn ich mit Philologie-Studierenden spreche, werfe ich wohl ein Wo r t vom Deutschen hin; sie stellen sich dabei aber an wie das liebe Vieh, und begreifen nicht, wie das ein Stu- dium sein kann.“ Brief Lachmanns an Jacob Grimm v. 20.10.1823. In: A. Leitzmann (Hrsg.): Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann, 2 Bde., Jena 1927, Bd. 1, S. 425. „durch unverdrossene tüchtige Arbeit“: Karl Lachmann als Philologe 105

Gebiet der klassischen Philologie erwarb er sich mit seinen Editionen nicht weniger Me- riten als auf dem Gebiet der deutschen Philologie, aber Letzterer galt seit seinem Studium bei Georg Friedrich Benecke (1752–1844) in Göttingen sein besonderes Interesse.3 Das Fach deutsche Philologie war zu dieser Zeit noch keineswegs etabliert. Erst wenige Jahre zuvor waren in Göttingen (1805) und Berlin (1810) die ersten Professuren für deutsche Philologie eingerichtet und mit Benecke und Friedrich Heinrich von der Hagen (1780 bis 1856) besetzt worden. Beide Besetzungen gingen auf die eigene Initiative der späteren Professoren zurück, beide waren anfänglich lediglich unbesoldete Extraordinariate.4 Für die Etablierung und Institutionalisierung der deutschen Philologie an den Univer- sitäten war die lateinische Philologie in mehrfacher Hinsicht maßgeblich. Sie war der

Garant für den Anspruch des neuen Fachs auf Wissenschaftlichkeit und fungierte als

Vehikel, um die „Generalistenprofessuren“ zu verdrängen, welche die Anfänge des Fachs bestimmt hatten.5 Es ist daher nicht verwunderlich, dass Lachmanns maßgebliches Interes- se zwar der deutschen Philologie galt, sein methodisches Fundament aber in der klas- sischen Philologie lag, denn hier waren seit der Mitte des 18. Jahrhunderts jene funda- mentalen editorischen Prinzipien entwickelt worden, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere aber im 20. Jahrhundert als die „Lachmannsche Metho- de“ firmieren.

II. Lachmanns Tätigkeit an der Berliner Universität. Nach seiner Berufung an die Ber- liner Universität hielt Lachmann in jedem Semester zwei Privatvorlesungen, eine auf dem Gebiet der „deutschen Althertumskunde“, die andere über einen klassischen latei- nischen oder griechischen Autor;

die letzten zwanzig Jahre hindurch trug er in fast ununterbrochener Reihenfolge in regelmäs- sigen Cursen von drei Semestern deutsche Grammatik mit praktischer Unterweisung durch

3 Lachmann edierte zahlreiche lateinische und griechische Schriften: Dazu zählten u. a. seine Ausgaben der Werke von Properz (Leipzig 1816), Catull (Berlin 1829), Genesios (Bonn 1834), Terentius Maurus (Berlin 1836) und Lukrez (Berlin 1850). Außerdem gab er eine Neuedition des Neuen Testaments heraus, die zu einem der Marksteine der Bibelforschung des 19. Jahrhunderts zählt. Vgl. dazu auch Sebastiano Timpanaro (Die Entstehung der Lachmannschen Methode, 2. erw. u. überarb. Aufl., autoris. Übers. aus dem Italien. v. Dieter Irmer, Hamburg 1971), der sich vor allem auf die lateinischen Editionen und die Ausgabe des Neuen Testatements konzentriert hat. Auf diese Editionen kann in diesem Beitrag nicht eingegangen werden. 4 Benecke, der seit 1805 ein Extraordinariat innehatte, wurde 1814 in Göttingen zum Ordinarius ernannt, von der Hagen 1818 in Breslau. Zu Georg Friedrich Benecke vgl. Birgit Wägenbaur: Georg Friedrich Bene- cke (1762–1844). In: Ch. König, H.-H. Müller, W. Röcke (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin, New York 2000, S. 1–10. Zu Friedrich Heinrich von der Hagen vgl. den Beitrag von Werner Röcke in diesem Heft. Zu den ersten Professuren für deutsche Philologie und zur Institutionalisie- rung der deutschen Philologie als universitärem Fach im 19. Jahrhundert vgl. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, Paderborn 2003, S. 219–256 (bes. zu Benecke und von der Hagen S. 219 bis 227); Uwe Meves: Zur Einrichtung der ersten Professur für deutsche Sprache an der Berliner Universi- tät (1810). In: ZfdPh 104 (1985), S. 161–184. 5 Diese „Geneneralistenprofessuren“ verknüpften Rhetorik, Ästhetik und Literaturgeschichte sowie Sprachge- schichte; dazu wie zu ihrer Verdrängung vgl. Weimar (wie Anm. 4), S. 233–237. Auch Lachmanns außer- ordentliche Professur in Königsberg war mir der Denomination Professur für die Theorie, Kritik und Litteratur der schönen Künste und Wissenschaften eher eine Generalistenprofessur. Vgl. Meves (wie Anm. 2), S. 378–384; zu Lachmanns Königsberger Lehrprogramm vgl. S. 380. 106 Marina Münkler

Lektüre verbunden, Nibelungen und Geschichte der altdeutschen Poesie vor. Dieser fügte er

einzeln gleichfalls Lektüre des und des hinzu;

zweimal (im Winter 1841/42 und 1845) hat er auch besonders über Wolframs Parzival ge-

lesen. Daneben wurden Aeschylus Agamemnon und Choephoren, Properz oder Catull und Tibull, Horaz Briefe und ars poetica interpretirt.6

In den Seminarkursen präsentierte er sich weniger als Lehrender, der seine überlege- nen Kenntnisse präsentierte, als vielmehr im Gestus des Mitforschenden, der interes- siert den Interpretationen seiner Studierenden zuhörte und lediglich durch Nachfra- gen auf Grenzen des Wissens wie des Wissbaren hinwies. Diese Differenzierung war Lachmann außerordentlich wichtig, denn vieles, was seine Studierenden sicher zu wissen meinten, weil es mit einer höheren Autorität versehen war, galt Lachmann als durchaus ungewiss, sofern es nicht philologisch gründlich überprüft und auf eine sichere me- thodische Grundlage gestellt worden war.7 Neben den Seminarkursen hielt Lachmann in jedem Semester, bis er die Leitung 8 des Seminars übernahm, eine öffentliche Vorlesung. Daneben engagierte er sich auch in der Selbstverwaltung der Universität. Von 1829 an war er Direktor des altphilolo- gischen Seminars, von 1836–1837 und erneut von 1846–1847 Dekan der Philosophi- schen Fakultät und in den Jahren 1843/44 Rektor der Universität. Außerdem war er lange Jahre Senator der Universität.

Eifrig war er in dieser Stellung bestrebt, das corporative Element auf der Universität auszubil- den und zu pflegen; auf genaue Beobachtung der Gesetze hielt er mit so großer Gewissenhaf-

tigkeit, dass ihm seine strenge Wachsamkeit von einem befreundeten Collegen sogar den Na- men des Universitäts-Polizeicommisarius eintrug; trotz seiner genauen Kenntnis der Statuten sah er darauf, dass stets ein Exemplar derselben bei den Senats-Sitzungen vorhanden war.9

6 Hertz (wie Anm. 1), S. 90. 7 Vgl. ebenda, S. 90–93. Dieser Gestus ist insgesamt kennzeichnend für die Seminare für deutsche Philologie in der Phase der Institutionalisierung an den deutschen Universitäten. Vgl. Weimar (wie Anm. 4), S. 43–52. Zur Unterrichtsform der Seminare für deutsche Philologie, ihrer Orientierung an der klassischen Philolo- gie und ihrer Institutionalisierung vgl. S. 421–432; zur Institutionalisierung der Seminare vgl. auch Rainer Kolk: Wahrheit – Methode – Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert. In: IASL 14 (1989), S. 50–73, hier S. 55–59. 8 Vgl. ebenda, S. 91. Lachmanns Vorlesungsmanuskripte gelangten nach dem Tod seines Schülers (1808–1874), in dessen Besitz sie sich befanden (vgl. dazu auch den Beitrag von Alexander Nebrig in die- sem Heft), an die Königl. Bibliothek Berlin. Dazu gehörten seine Vorlesungen zur deutschen Philologie, über die deutsche Grammatik, die Nibelungen, Wolframs Parzival und Hartmanns Iwein. Aus Lachmanns eigenem Nachlass, der in seinem Todesjahr 1851 versteigert wurde, hatte die Königliche Bibliothek auch einige seiner eigenhändigen Abschriften aus mittelalterlichen Handschriften erworben, darunter seine Col- lationen verschiedener Parzival-Handschriften, seine Abschrift von Wolframs Willehalm aus der Heidelber- ger Handschrift und eine Abschrift von Albrechts von Scharfenberg Jüngerem Titurel. Alle diese Manuskrip- te gelten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als verschollen. Mit ihrer Hilfe ließe sich klären, ob Lachmann seinen Studierenden diese Texte des hohen Mittelalters auch interpretatorisch nahezubringen versucht hat. Vgl. Ursula Hennig: Karl Lachmann. In: M. Erbe (Hrsg.): Berlinische Lebensbilder, Bd. 4: Geisteswissenschaftler, Berlin 1989, S. 73–86, hier S. 86. Hennig, die sich mit Hilfe der Staatsbibliothek um die Wiederauffindung der Manuskripte bemüht hat, geht davon aus, dass die Sammlung im Dezember 1943 nach Schloss Alt- marin in Pommern ausgelagert wurde. Was dann mit ihr geschehen ist, konnte Hennig nicht klären. 9 Hertz (wie Anm. 1), S. 74. „durch unverdrossene tüchtige Arbeit“: Karl Lachmann als Philologe 107

1830 wurde Lachmann – nicht zuletzt wegen seiner Verknüpfung von klassischer und deutscher Philologie – an die Königliche Akademie der Wissenschaften berufen. 1849 schließlich nahm er als herausragender Vertreter der deutschen wie lateinischen Philologie als Deputierter der Universität bei der auf Veranlassung des preußischen Unterrichts- ministeriums vom 24. September bis zum 12. Oktober 1849 veranstalteten Conferenz zur Berathung von Reformen in der Verfassung und Verwaltung der Preussischen Universitäten teil. Hier verteidigte Lachmann unerbittlich den philologischen Anspruch auf gründ- liche und methodisch gesicherte Herangehensweise, die zur Voraussetzung hatte, dass die Studierenden die alten Sprachen beherrschten und in der Lage waren, selbstständig zu arbeiten. Auf die Forderung, die Zugangsvoraussetzungen zur Universität zu er- leichtern, die im Rahmen der Konferenz diskutiert wurde, reagierte er deshalb mit beißender Kritik:10

Es ist nicht die Aufgabe der Universität, ungebildete Routiniers zu schulen, und eben so wenig

kann ihr zugemuthet werden, in blasirten Knaben den Trieb zu wissenschaftlichen Studien erst zu wecken. Die undisciplinirte Genialität zu begünstigen kann Staatsanstalten nicht obliegen, 11 sondern sie hilft sich selbst wenn sie durch auffallende Vortrefflichkeit zu Ausnahmen zwingt.

Insbesondere für die Philosophische Fakultät hielt Lachmann es für äußerst gefährlich, das Zeugnis der Reife in einem einzelnen Fach als Zugangsvoraussetzung zur Univer- sität gelten zu lassen,

weil ein Zeugnis der Reife für ein einzelnes Fach wohl zur Einschreibung in eine Spezial- schule, nicht aber in die Philosophische Facultät der Universitäten genügen kann, welche dadurch mit Studirenden von einer außerordentlich beschränkten banausischen Bildung über- füllt werden würden.12

III. Textkritik. Dass Studierende mit einer „beschränkten banausischen Bildung“ nach

Lachmanns Auffassung ungeeignet für das Studium der alten wie neuen Philologien waren, gründete in erster Linie darin, dass sie nicht in der Lage waren, die wichtigsten wissenschaftlichen Grundsätze eines geordneten methodischen Verfahrens, das allein den wissenschaftlichen Anspruch des Faches begründen konnte, auch nur nachzuvoll- ziehen, geschweige denn selbst anzuwenden. Dieses Verfahren war die Textkritik, die Lachmann als Fundament der philologischen Fächer betrachtete. Mochte in der ‚Gene- ralistenphase‘ der deutschen Philologie das bloße Interesse an der „vaterländischen Volks- poesie“ noch hinreichend gewesen sein, so galt seit der Begründung des Fachs der deutschen Philologie, dieses als gleichrangig neben der lateinischen Philologie zu etablie- ren. Dazu musste die deutsche Philologie sich an den in der lateinischen Philologie formulierten Grundsätzen orientieren.13 Das betraf insbesondere die Editionsphilologie,

10 Die Forderung bestand darin, das Zeugnis der Reife für ein einzelnes Fach als Zugangsvoraussetzung zur Universität gelten zu lassen. 11 Zitiert nach Hertz (wie Anm. 1), S. 78. 12 Zitiert nach ebenda. 13 Vgl. Karl Stackmann: Die Klassische Philologie und die Anfänge der Germanistik. In: Ders.: Kleinere Schriften, Bd. 1: Mittelalterliche Texte als Aufgabe, hrsg. v. Jens Haustein, Göttingen 1997, S. 362–380. 108 Marina Münkler

denn der größte Teil der zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorliegenden Ausgaben mittel- alterlicher Texte stützte sich auf die frühen Druckausgaben des späten 15. und 16. Jahr- hunderts, die weitgehend unbearbeitet nachgedruckt oder in Übersetzungen präsen- tiert wurden, deren Zweck darin bestand, die mittelalterliche Literatur breiten Schichten zugänglich zu machen.

Die von Lachmann nach dem Vorbild der klassischen Philologie für die Germanis- tik begründete Textkritik dagegen setzte sich zum Ziel, aus den überlieferten Hand- schriften den Archetypus der Überlieferung zu rekonstruieren. Dieser Archetypus galt als der Ausgangspunkt der gesamten Überlieferung, was aber nicht hieß, dass er mit 14 dem Original identisch sein musste. Um methodischen Ansprüchen zu genügen, musste die Textkritik in mehreren Schritten vollzogen werden:

1. Sichtung der Überlieferung (recensio); 2. Überprüfung, was von der Überlieferung als original gelten durfte (examinatio);

3. Versuch, durch plausible Vermutungen den Archetypus herzustellen und dabei Fehler zu

verbessern (emendatio), wobei die Abweichungen der Überlieferung durch Varianten im Ap- parat dokumentiert werden.15

Erste Formulierungen von Lachmanns Methode der Textkritik finden sich bereits in der 1817 in der Jenaischen Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Doppelrezension von

Friedrich Heinrich von der Hagens zweiter Auflage seiner -Edition und von Beneckes Ausgabe von Boners Edelstein, die beide 1816 erschienen waren. Nach Lachmanns Darstellung stellten von der Hagen wie Benecke ein „Hauptgesetz für die Kritik altdeutscher Gedichte“ auf, an dem sie sich für ihre Editionen orientierten: „man solle den Text der ältesten und besten Handschrift zum Grunde legen, diesen aus den übrigen hin und wider verbessern, dabey aber Unterscheidungszeichen und eine gleich- 16 mäßige, doch althertümliche Schreibung einführen“. Bei aller Anerkennung, die Lach- mann seinem Lehrer Benecke für seine „bedeutende[n] Verdienste um die altdeutsche

Literatur“ zollte, wandte er gegen dieses Verfahren doch entschieden ein, „den Les- arten einer einzigen Handschrift folgen und nur ihre Schreibfehler aus andern bes- 17 sern, heißt doch gewiss noch nicht eine kritische Ausgabe liefern“. Dagegen for- mulierte Lachmann hier bereits das von ihm als „das einzig richtige Gesetz“ anerkannte Verfahren: „Wir sollen und wollen aus einer hinreichenden Menge von guten Hand- schriften einen allen diesen zum Grunde liegenden Text darstellen, der entweder der ursprüngliche selbst seyn oder ihm doch sehr nahe kommen muss.“18

14 Zu Lachmanns Methode liegen mehrere grundlegende Untersuchungen vor: Harald Weigel: „Nur was Du nie gesehen wird ewig dauern“: Carl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition, Frei- burg 1989; Magdalene Lutz-Hensel: Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dich- tung: Brüder Grimm, Benecke, Lachmann. Eine methodenkritische Analyse, Berlin 1975; Timpanaro (wie Anm. 3); Hendricus Sparnaay: Karl Lachmann als Germanist, Bern 1948. 2 15 Vgl. Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik, München 1992, S. 32 f. 16 In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1817, Julius Nr. 132–135, wiederabgedruckt in: Karl Lachmann: Kleinere Schriften zur deutschen Philologie, hrsg. v. Karl Müllenhoff, Berlin 1876 (Kleinere Schriften, Bd. 1), S. 81–114, hier S. 81 (fortan zitiert: KS I). 17 Ebenda, S. 82. 18 Ebenda. „durch unverdrossene tüchtige Arbeit“: Karl Lachmann als Philologe 109

Lachmann waren insbesondere Editionen mittelalterbegeisterter Dilettanten, die sei- nen wissenschaftlichen Kriterien nicht genügten, ein Dorn im Auge. In seinen Re- zensionen solcher Editionen urteilte er in der Regel sehr harsch und übte nicht nur wissenschaftliche, sondern häufig auch persönlich herabsetzende Kritik. So urteilte er etwa 1822 über Franz Joseph Mones Ausgabe des Ortnît:

Monens Werk ist nicht ein Beyspiel, dem ehrliebende Herausgeber des Heldenbuchs folgen

werden; es ist ein abschreckendes Beyspiel davon, was man im Jahre 1821 Ausgabe, Kritik und

gelehrte Deutung zu nennen gewagt habe. Wir sehen auf diesem Felde nicht eine grosse Zahl

ehrwürdiger Muster vor uns, deren blosse Betrachtung den Verirrten heimleiten könnte. Darum ist Pflicht der Redlichen, jedem Unfuge zu steuern, die Mitlebenden vor dem Fluche der Nach-

welt zu warnen, der wir, durch unnützes verkehrtes Treiben, die Arbeit, die uns befohlen war, aufladen. Und darum will Rec. ungereitzt, unaufgefordert, im Einzelnen durchgehen, wie Hr. M. keiner der Forderungen nur halb genügt, die nach heutigem geringen Stande deutscher Philologie 19 an Kritiker und Ausleger gethan werden. Glimpfliche Sanftmuth wäre hier pflichtwidrig [. . .].

Trotz dieser überaus harschen Worte, wollte Lachmann seine Kritik keineswegs als per- sönlich herabsetzend verstanden wissen:

Für unsere Leser bedarf es nicht der Versicherung aber Hrn. Monen bitten wir, wenn es ihm auch etwas sauer wird, zu glauben, daß keine Feindseligkeit gegen ihn unser noch immer scho-

nendes Urtheil geschärft hat: aber gegen die Art von Arbeit und Forschung, die er in diesem Buche angewandt, hegen wir die allerfeindseligste Gesinnung.20

Lachmann formulierte in seiner Rezension aber nicht nur ein überaus kritisches Ur- teil über Mone, sondern auch einige seiner grundlegenden Arbeitsprinzipien:

Erstes Geschäft des Herausgebers ist, ein Reimregister für sein Gedicht zu entwerfen, Merk- würdiges einzutragen in ein allgemeines Reimwörterbuch. So wird von des Dichters Sprache 21 herausgefunden, was der Willkühr der Abschreiber noch am ersten entgangen ist.

Sodann ging es darum, die vorliegenden und aufgefundenen Handschriften kritisch zu vergleichen, aber nicht um sich für eine zu entscheiden, sondern um aus den vorlie- genden jenen Archetypus zu kondensieren, der dem zumeist als verloren anzunehmen- den Original am nächsten kam. Deshalb wandte sich Lachmann in seiner Rezension auch gegen das Prinzip, einer Handschrift den Vorzug zu geben.

Monens ‚Grundsätze‘ waren (S. 21), die Handschrift A buchstäblich abdrucken zu lassen. Selbst

als Verfahren wäre das nur zu billigen, wenn die Hds. A etwa Urschrift der Übrigen wäre, oder die einzige, oder die bessere unter zweyen wenig verschiedenen. Sonst hat man nicht treu gehandelt an seinem Schriftsteller, wenn man ihn zum Knechte Einer Handschrift macht, die, mag sie die beste seyn, darum nicht nothwendig gut seyn wird, und niemals vollkommen.22

19 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Januar 1822, Nr. 13–16; wiederabgedruckt in: KS, S. 278–311, hier S. 279. 20 Ebenda. 21 Ebenda. 22 Ebenda. 110 Marina Münkler

Aber nicht nur diese editorischen Einwände bestimmten Lachmanns Kritik, sondern auch sein tiefer Widerwille gegen eine Deutung, welche vorwiegend an Herkunfts- mythen interessiert war.23 Solche philologisch nicht gesicherten Spekulationen waren Lachmann unerträglich. Diesen Zug hob sein Biograph Martin Hertz, dessen Biogra- phie noch in Lachmanns Todesjahr 1851 erschien, denn auch besonders hervor:

Denn Klarheit vor allem forderte Lachmann, sicheres Bewusstsein von den Gränzen des eige-

nen Wissens. Jedes Rathen, Tasten, Raisonnieren über halbgewusste Facta war ihm verhaßt.

[. . .] Faselei und vorlauten und naseweisen Dünkel wies er mit eben der Unbarmherzigkeit zurück, als umhertappendes Halbwissen: ‚Solche Bursche‘, meinte er, ‚muss man kappen‘.24

Klarheit aber konnte nach Lachmanns tiefster Überzeugung nur eine Methode sichern, die auf einem geregelten Verfahren der Textkritik basierte.

Allerdings vollzog sich die Ausbildung einer textkritischen Methodik in mehreren

Phasen, die sich teilweise überschnitten. Anfänglich war auch Lachmann noch der Mei- nung, die editionsphilologische Aufgabe bestehe darin, möglichst nach den ältesten greifbaren Handschriften streng diplomatische Ausgaben zu erstellen, „ohne die min- 25 deste Rücksicht auf den Sinn oder die Vorschriften der Grammatik“ . Von Konjek- turalkritik war hier noch keine Spur. Lachmann legte aber bereits zu diesem Zeit- punkt höchsten Wert auf die Trennung von interpolierten und nicht-interpolierten Codices. Interpolierte Codices, und das richtete sich in erster Linie gegen die Hand- schriften der Humanisten mit ihrer „trügerischen Eleganz“, sollten bei der Edition un- berücksichtigt bleiben.26 Als „seine textcritik“ hat erstmals Jacob Grimm in seiner Gedenkrede auf Lach- 27 mann dessen editorische Verfahrensweise bezeichnet. Für das Verfahren der Text- kritik sind mehrere methodische Aspekte besonders kennzeichnend, die häufig allesamt mit Lachmann verbunden werden, aber keineswegs alle auf ihn zurückgehen:

23 Ebenda, S. 297–304. 24 Hertz (wie Anm. 1), S. 83. 25 Karl Lachmann: Rezension über G. Hermanns Ausgabe von Sophokles Ajax (18181). In: J. Vahlen (Hrsg.): Kleinere Schriften, Bd. II: Kleinere Schriften zur Classischen Philologie, Berlin 1876, S. 2 (fortan zitiert: KS II). Vgl. auch Timpanaro (wie Anm. 3), S. 28 f. 26 Vgl. Lachmanns Praefatio zu seiner Properz-Ausgabe (Sex. Aurelii Propertii Carmina), Leipzig 1816, bes. S. XVII f. 27 Jacob Grimm hielt seine Gedenkrede auf Lachmann in der öffentlichen Sitzung der Königlichen Akademie der Wissenschaften am 3. Juli 1851, etwa vier Monate nach Lachmanns Tod. Wenige Monate danach er- schien die Rede auch im Druck in den Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Vgl. Jacob Grimm: Rede auf Lachmann [1851]. In: Jacob Grimm: Kleinere Schriften, Bd. 1, Berlin 1864, S. 145–162, hier S. 152. Weigel (wie Anm. 14, S. 22) hat Grimms Rede weniger als eine Würdigung Lachmanns, denn als eine „Selbstbehauptung gegenüber der sich bereits abzeichnenden Verklärung Lach- manns“ charakterisiert. Weil die Rede durchaus kritische Bemerkungen zu Lachmann – sowohl hinsicht- lich seiner Person als auch seiner philologischen Ausrichtung – enthielt (so charakterisierte sich Grimm selbst als einen Philologen, der die Worte um der Sachen willen treibe, während er Lachmann als Philolo- gen beschrieb, der die Sachen um der Worte betrieben habe). Insbesondere Lachmanns Schüler und Nach- folger Moriz Haupt war darüber überaus empört und schrieb an Grimm einen bitteren Brief über dessen Rede. Vgl. Weigel (wie Anm. 14), S. 25–27. „durch unverdrossene tüchtige Arbeit“: Karl Lachmann als Philologe 111

Stemma: Die genealogische Methode, die Abhängigkeitsverhältnisse von Handschrif- ten nachzuweisen und in einem Stemma zu zeichnen, ist eng mit Lachmanns Me-

thode verbunden, aber er selbst hat den Terminus nicht benutzt und auch nie ein Stemma gezeichnet. Erstmals verwendet wurde die genealogische Methode bereits

1725 von J. A. Bengel, der versuchte, die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Hand-

schriften des Neuen Testaments zu bestimmen und in einer tabula genealogica zu skiz- zieren, die man später stemma codicum nannte.28

Emendation: Die sichere Korrektur, die den richtigen Text wieder herstellt. Zur Emen-

dation gehören mehrere Verfahren:

Athetese: Verwerfung einer Textstelle als autorfremde Veränderung (kann auch die Echt- 29 heitsfalsifikation eines ganzen Textes bezeichnen).

Konjektur: Argumentativ begründbare Vermutung über den richtigen Text, der in den

wahrscheinlich ursprünglichen Zustand gebracht wird. Als Argument für die Kon- jektur wird auf die wahrscheinliche Lexik, Grammatik, Metrik oder Reimbildung

des Autors zurückgegriffen.

Crux: Verdorbene Textstelle, die ohne Rückgriff auf Spekulation nicht zu heilen ist

und im edierten Text durch den Einschluss des Textabschnitts in Kreuze (Cruces †) kenntlich gemacht wird.30 Für die textkritischen Entscheidungen spielten Metrik und Grammatik eine entschei- dende Rolle.31 Sprachforschung und Edition waren daher nicht zu trennen, vielmehr stützte die Sprachforschung die Edition, denn nur mit ihrer Hilfe konnten Regeln der mittelhochdeutschen Sprache gewonnen werden, die es erlaubten, Echtes von Falschem zu unterscheiden; zugleich bildete die Sichtung von Handschriften für die Edition die

Grundlage für die Erstellung solcher Regeln, die ja nur aus den überlieferten Texten abgeleitet werden konnten. Für seine grammatischen Überlegungen versicherte Lachmann sich immer wieder der Hilfe Jacob Grimms, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband.32 Freilich war diese Freundschaft über mehrere Jahre dadurch getrübt, dass Lachmann sich nach

28 Vgl. Kurt Gärtner: [Art.:] Stemma. In: J.-D. Müller u. a. (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissen- schaft, Bd. III, Berlin 2003, S. 506 f. (fortan zitiert: RLL); vgl. auch Timpanaro (wie Anm. 3), S. 69 f. 29 Zum Begriff und den philologischen Problemen von Athetesen sowie ihrer Beziehung zu bestimmten Au- torkonzeptionen vgl. Thomas Bein: Mit fremden Pegasusen pflügen. Untersuchungen zu Authentizitäts- problemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie, Berlin 1998, bes. S. 69 ff., 79–90. Zu Lach- manns Begründung von und zu seinem Umgang mit Athetesen vgl. S. 269–273. Zu Lachmanns Athetesen für die erste Auflage von Walthers Liedern vgl. Franz-Josef Holznagel: Überlieferung und ‚Werk‘. Zu den Athetesen in Lachmanns erster Auflage der ‚Gedichte Walthers von der Vogelweide‘ (1827). In: Th. Bein: Walther von der Vogelweide. Textkritik und Edition, Berlin u. a. 1999, S. 32–58. 30 Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Textkritik. In: RLL, Bd. III, Berlin 2003, S. 602–607. 31 Vgl. Lutz-Hensel (wie Anm. 14), S. 360–372. Vgl. auch Wolfgang Milde: Altdeutsche Literatur und Text- kritik. Vor 200 Jahren wurde der Braunschweiger Philologe Karl Lachmann geboren. In: Braunschweigi- sches Jahrbuch für Landesgeschichte 75 (1994), S. 171–190. 32 Diese Freundschaft war weniger eine persönliche, bei der vorwiegend private Angelegenheiten ausgetauscht wurden, als vielmehr eine wissenschaftliche Freundschaft, die in erster Linie auf dem vertraulichen Austausch von Arbeitsergebnissen beruhte und auf einer gemeinsamen Auffassung davon, was deutsche Philologie sei und zu sein beanspruchen müsse. Hierzu vgl. Steffen Martus: Die Gebrüder Grimm. Eine Biographie, Berlin 2009, S. 285–293. 112 Marina Münkler der Entlassung der Göttinger Sieben, zu denen auch die Brüder Grimm zählten, nicht energisch für deren Anstellung in Berlin einsetzte, sondern sich politisch vorsichtig zurückhielt.33 Den deswegen abgebrochenen Kontakt nahm Lachmann am 10. Mai 1840 mit einem Brief an Jacob Grimm wieder auf, in dem er sich „die Last und Qual, die mich so lange quälen, von der Seele“ schrieb.34 Grimm antwortete darauf nur drei Tage später mit wahrer Großmut, zwar hätten ihn „ein paar Dinge geschmerzt und verdrossen“, aber in seinem Herzen sei „die alte Liebe und Freundschaft“.35 Diese Freundschaft bestand in erster Linie in einer bemerkenswerten wissenschaft- lichen Zusammenarbeit. Lachmann und Grimm schickten sich wechselseitig ihre Ar- beiten zum Kommentieren und Korrigieren zu, um von den Spezialkenntnissen des 36 je anderen zu profitieren. Lachmann lernte auf diese Weise von Grimms eminenten Kenntnissen der mittelhochdeutschen Grammatik; Grimm profitierte von Lachmanns grundlegender Kenntnis der Metrik. Beide legten sich ohne Rückhalt ihre im Entste- hen begriffenen Arbeiten vor, um sich wechselseitig zu unterstützen und die für Lach- mann unerlässlichen editionsphilologischen Grundlagen zu schaffen. Im September 1821 schrieb Lachmann an Jacob Grimm:

Man nimmt einander nichts weg, denn es bleibt noch genug zu thun. Und die Nachwelt, wann ihr unsere Mühe Kinderspiel geworden ist, fragt nicht weiter ob Hans oder Kunz ihr geschafft 37 hat, [. . .] weil sie selbst weiter muß. Für die Metrik stützte sich Lachmann in erster Linie auf seine profunde Kenntnis alt- hochdeutscher und mittelhochdeutscher Handschriften. Lachmann hat allerdings kei- ne umfassende Studie des alt- und mittelhochdeutschen Versbaus vorgelegt, sondern lediglich in drei Akademievorträgen aus den Jahren 1831, 1832 und 1834 Über alt- 38 hochdeutsche Betonung und Verskunst seine Auffassungen dargelegt. Deren Kernsatz be- stand in der These, „der deutsche Versbau hat immer, so lange wir ihn kennen, auf 39 dem Accent beruht“. Damit markierte er einen deutlichen Unterschied des alt- und mittelhochdeutschen Versbaus gegenüber dem antiken Vers, der nach der Kürze oder

Länge der Silben, also nach der Quantität gemessen wurde. Andererseits hielt Lach- mann die Länge der Silben nicht für völlig unbedeutend:

Die Eigenthümlichkeit aber der alt- und mittelhochdeutschen Verse besteht nun in zweierlei.

1) Wo zwischen zwei Hebungen die Senkung fehlt, muss die Silbe lang sein durch Vocal oder

33 Vgl. ebenda. 34 Vgl. So Shitanda: Zur Vorgeschichte und Entstehung der deutschen Philologie im 19. Jahrhundert: Karl Lachmann und die Brüder Grimm. In: T. Teruaki (Hrsg.): Literarische Problematisierung der Moderne. Deut- sche Aufklärung und Romantik in der japanischen Germanistik, München 1992, S. 115–128. 35 Ebenda, Nr. 205, S. 709. 36 Leitzmann (wie Anm. 2), Bd. 2, Nr. 204, S. 707. 37 Ebenda, Bd. 1, S. 304. Zum Verhältnis der Grimms zu Lachmann vgl. auch den Beitrag von Steffen Martus in diesem Heft. Vgl. auch Martus (wie Anm. 32), S. 285–293, 413 f. 38 Von diesen Vorträgen sind nur die ersten beiden zu Lachmanns Lebzeiten veröffentlicht worden. Alle drei sind wiederabgedruckt in: KS, S. 358–406. Zu Lachmanns Verslehre und ihrem Einfluss auf die Germanistik des 19. Jahrhunderts vgl. Erwin Arndt: Von Karl Lachmann bis Andreas Heusler. Versforschung und Verslehre in Berlin. In: Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin (Gesellschaftswiss. R. 36 [1987]), S. 801–805. 39 KS, S. 358. „durch unverdrossene tüchtige Arbeit“: Karl Lachmann als Philologe 113

Consonanten. Und zu diesem durchbrechenden Prinzip der Quantität kommt 2) die rhythmi-

sche Beschränkung, dass nur der Auftact allenfalls mehrere Silben zulässt: die übrigen Senkun-

gen dürfen nur einsilbig sein. [. . .] Da also die Zählung der Silben für den hochdeutschen Ver s

auch wichtig ist, so haben die Dichter natürlich die Elision der Vokale und manche Verkürzun-

gen der Wörter, wie sie die gewöhnliche Sprache gab, in ihren Versen angewandt: und es ist zu

untersuchen wie viel dieser Art sie erlaubt oder dem Wohlklang zuträglich fanden. Ihrem Ur- theil aber ist allein die Kunst der Silbenverschleifung zuzuschreiben, mit deren Hilfe sie sehr häufig zwei durch einen einfachen Konsonanten getrennte Silben, deren erste kurz war, für eine brauchten, in der Hebung sowohl als in der Senkung, aber beiderseits nicht unbeschränkt.40

Auf der Grundlage seiner zu Regeln verallgemeinerten Beobachtungen traf Lachmann größtenteils seine textkritischen Entscheidungen.41 Das führte wiederholt dazu, dass er gegen das Zeugnis der Handschriften Änderungen vornahm.42 „Hatte er die gram- matischen und metrischen Regeln einmal erkannt, so fing die andere Hälfte seiner

Arbeit an: der Text wurde aufs genaueste nach den nunmehr feststehenden Regeln korrigiert, damit dem Dichter nicht mehr Freiheit bliebe als ihm gebühre.“43 Lachmann freilich nur als Philologen zu beschreiben, der die mittelalterliche Litera- tur ähnlich wie Jacob Grimm lediglich als Zeugnis eines Sprachstandes betrachtet habe, griffe zu kurz.44 Lachmann hatte durchaus ein Interesse an den Inhalten, wie etwa seine Bemerkungen über den Parzival in der Einleitung zur Auswahl aus den hochdeut- schen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts deutlich macht.

Wolframs Parzival aber, wie wohl ihm billig der größte Raum gestattet ist, wird aus diesem Buche

nicht nach Würden erkannt werden. Denn wer kann solchen Bruchstücken mehr als etwa das tiefe Eindringen und die Glut der gedrängten Darstellung, mehr als ein kühnes sprachgewaltiges

Ringen mit der reichsten Gedankenfülle, in der das Volksmäßige eigenthümlich wird, und was uns Gewöhnlichen als getrennt zu erscheinen pflegt, leicht und fest sich verbindet – wer kann

ihnen den Wert des Ganzen ansehn, in dem dieser unvergleichliche Dichter der fremden, ihm, so wie uns, nicht verständlichen Fabel einen ihm eigenen tiefgedachten Sinn untergelegt hat? Prüfe der Kenner, ob ich den unbillig verkannten, genügend rechtfertige. Diesen epischen Ge- danken hat er, in den gegebenen Stoff sich ganz versenkend, aus ihm selbst hineingetragen und an ihm dargestellt: wie Parzival die höchste überirdische Glückseligkeit auf Erden, das Königthum 45 im Gral, nur durch das errungene feste Vertrauen auf Gott erringen konnte.

Wenn es auch unstrittig ist, dass mit Benecke, den Brüdern Grimm und Lachmann die Philologisierung des Faches entscheidend und entschieden vorangetrieben worden ist, so war dies bei Lachmann keineswegs einem ausschließlichen Interesse an Grammatik,

40 Ebenda, S. 359. Auf die „Spuren“ des Quantitätsprinzips hat Jacob Grimm Lachmann hingewiesen, der daraufhin seine ältere Überzeugung, allein der Akzent spiele eine Rolle, korrigierte. Vgl. Leitzmann (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 144, 153, 193, 205, 282 ff., 417; Arndt (wie Anm. 38), S. 802. 41 Vgl. Lutz-Hensel (wie Anm. 14), bes. S. 428 ff. 42 Lutz-Hensel (wie Anm. 14, S. 431) hat dazu mit Recht bemerkt: „Im Laufe der Zeit lehrten die Regeln eine gewisse Mißachtung der Handschriften, auf denen sie doch fußten.“ 43 Sparnaay (wie Anm. 14), S. 142. 44 Diese Auffassung vertritt etwa Klaus Weimar in seiner Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft (wie Anm. 4), S. 241 ff. 45 Karl Lachmann: Widmungsvorrede „An Herrn Professor Benecke in Göttingen“. In: Karl Lachmann: Aus- wahl aus den hochdeutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts, Berlin 1820, S. VI f. 114 Marina Münkler

Metrik und Lexik geschuldet, sondern der Hochschätzung der hochmittelalterlichen Literatur, die er seinen Lesern durch sorgfältigste Editionen nahezubringen suchte.

V. Lachmanns Editionen auf dem Gebiet der deutschen Philologie. Für Lachmanns editori- sche Tätigkeit waren seine Königsberger Jahre keineswegs unfruchtbar. In diesen Jah- ren schuf er die Voraussetzungen für seine teilweise bis heute nicht überholten Editionen der mittelalterlichen Literatur. So umstritten die „Lachmannsche Methode“ auch heute sein mag, so hat Lachmann mit seinen Editionen die Wissenschaftsgeschichte der Ger- manistik, insonderheit insofern sie Editionsgeschichte ist, bis in die Gegenwart in heraus- 46 ragender Weise geprägt. Eine der wichtigsten Grundlagen für Lachmanns Editionen war seine 1824, am Ende seiner Königsberger Zeit, unternommene Reise in zahlreiche, insbesondere süddeutsche Bibliotheken, seine so genannte Wolfram-Reise. Diese Rei- se führte Lachmann über Wolfenbüttel nach Kassel zu den Gebrüdern Grimm und 47 von dort aus weiter u. a. nach Heidelberg, München und St. Gallen. In verschiede- nen Bibliotheken schrieb Lachmann zahlreiche Handschriften ab und kollationierte sie, womit er den Grundstock für einen großen Teil seiner Editionen legte. V.1. Die „Nibelungenlied“-Edition. Das Nibelungenlied gehörte zu den ersten altgermanis- tischen Gegenständen, mit denen Lachmann sich ausführlich beschäftigt hat. Nach sei- ner Habilitation für klassische Philologie in Göttingen 1815 legte er für seine Habilita- tion in Berlin 1816 nicht nur eine Ausgabe des römischen Dichters Properz vor, sondern auch eine Untersuchung Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. In dieser Untersuchung zeigte sich deutlich der Einfluss der jüngeren Erkenntnis- se der klassischen Philologie auf die deutschphilologische Arbeit. In Anlehnung an die

These des klassischen Philologen Friedrich August Wolf (Prolegomena ad Homerum, Hal- le 1795), Ilias und Odyssee stammten nicht von Homer, sondern seien im 6. Jahrhundert v. Chr. aus Einzelliedern, die Jahrhunderte lang von Rhapsoden gesungen worden seien, zu Epen zusammengesetzt worden, vertrat Lachmann die Auffassung, das Nibelungenlied sei ebenfalls aus Einzelliedern zusammengesetzt worden. Anders als Wolf im Falle von Homer meinte Lachmann sogar, aus der Überlieferung des Nibelungenlieds die ursprüng- lich mündlich tradierten Lieder herausschälen zu können.

Ich glaube nämlich und werde in dem Folgenden zu beweisen suchen, daß unser so genanntes Nibelungenlied, oder bestimmter, die Gestalt desselben, in der wir es, aus dem des dreizehnten Jahrhunderts uns überliefert, lesen, aus einer noch jetzt erkennbaren Zusammensetzung ein- zelner romanzenartiger Lieder entstanden sei.48 Seine erste Edition des Nibelungenlieds Der Nibelunge Not mit der Klage (Berlin 1826) trug dieser These allerdings noch nicht Rechnung. Hier ging es Lachmann allein

46 Vgl. Uwe Meves: Karl Lachmann (1793–1851). In: König, Müller, Röcke (wie Anm. 4), S. 20–32, hier S. 20. Vgl. zur „Lachmannschen Methode“ auch Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: W. Foerste, K. H. Borck (Hrsg.): FS für Jost Trier zum 70. Geburtstag, Köln 1964, S. 240–267. 47 Vgl. Friedrich Neumann: Karl Lachmanns Wolframreise. In: Jahrbuch der Albertus Magnus-Univ. zu Königs- berg/Pr. 2, Freiburg, Frankfurt a. M. 1952, S. 138–158, wiederabgedruckt in: Heinz Rupp (Hrsg.): Wolfram von Eschenbach, Darmstadt 1966, S. 6–37. 48 Karl Lachmann: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelunge Noth. In: KS, S. 3 f. „durch unverdrossene tüchtige Arbeit“: Karl Lachmann als Philologe 115

um den ältesten überlieferten Text, den er in der Handschrift A gefunden zu haben meinte.49

Leichter wäre meine arbeit gewesen, wenn ich den text der handschriften B(D)HJKcdefgh zum grunde gelegt hätte: so wäre die gemeine lesart des dreizehnten Jahrhunderts hergestellt und

ein meistens verständlicher Text geliefert. aber es schien mir nicht genug den gemeinen Text

wieder zu geben, da uns in A ein älterer überliefert ist; ich strebte nach dem ältesten der zu erreichen wäre. das bedenkliche war daß er aus Einer handschrift geschöpft werden müste, und zwar aus einer unsorgfältig geschriebenen und mit ziemlich wilder orthographie. zwar der grundsatz fand sich gar leicht: was schreibfehler, was wilkür des schreibers, was allzu bar- barisch in der schreibung oder zu gemeine form war, mußte hinweg geschafft werden, aber

ich will nur hoffen daß ich bei der Ausführung nicht zu häufig gefehlt habe. wäre nur noch

Eine der handschriften mit A näher verwandt als mit den übrigen, so war die lesart weit selt- ner zweifelhaft; und es durfte, ohne ein pedantisches Regeln unnützer Dinge, die schreibweise

doch gleichförmiger gemacht werden. fehler welche die andern handschriften mit A gemein haben, oder die sie in ihren quellen erweislich auch vorfanden, sind in der regel von mir nicht verbessert, aber häufig mit kreuz oder klammer bezeichnet worden; übel wäre es, wenn man mir nachwiese, ich hätte gute lesarten verworfen weil ich sie nicht verstand: ich habe es wenigstens nicht an mühe und fleiß fehlen lassen, um das zu vermeiden.50

Erst in seiner Ausgabe von 1841 kündigte Lachmann mit dem Untertitel Nach der

ältesten Überlieferung. Mit Bezeichnung alles Unechten und mit den Abweichungen der Ge- meinen Lesart sein Programm an, wobei er jedoch auch hier auf eine Zergliederung in einzelne Lieder verzichtete und nur über die „Bezeichnung des Unechten“ kenntlich machte, wie er sich die ursprünglichen, also die „echten“ 20 Lieder vorstellte.51 Lediglich in einer Prachtausgabe zum 400-jährigen Bestehen der Buchdruckerkunst, Zwanzig alte Lieder von den Nibelungen, die nur in 100 Exemplaren erschien und keinen genuin wissenschaftlichen Anspruch hatte, nahm Lachmann jene Unterteilung vor, die er mit 52 seiner These vom Ursprung des Nibelungenlieds vertreten hatte. Lachmanns Nibelungen-

49 Mit der Sigle A bezeichnete Lachmann die Hohenems-Münchener Handschrift (Cgm 34 der Bayerischen Staatsbibliothek) aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts. 50 Karl Lachmann: Vorrede zu: Der Nibelunge Not mit der Klage. In der Ältesten Gestalt mit den Abwei- chungen der gemeinen Lesart, hrsg. v. Karl Lachmann, Berlin 1826, S. VII. 51 Der Nibelunge Noth und die Klage. Nach der ältesten Überlieferung. Mit Bezeichnung alles Unechten und mit den Abweichungen der Gemeinen Lesart, hrsg. v. Karl Lachmann, Berlin 1841. Lachmann widme- te diese Ausgabe „Den Brüdern Wilhelm und Jacob Grimm zum freundlichen Willkommen“. 52 Im gleichen Jahr folgte Karl Simrock mit seiner dritten Übersetzung des Nibelungenlieds (Berlin 1840) Lach- manns These und präsentierte das Heldenepos von den Nibelungen nicht mehr als einheitlichen Text, son- dern in der Form von Einzelliedern u.d. T.: Zwanzig Lieder von den Nibelungen. Nach Lachmanns Andeu- tungen wiederhergestellt von Dr. Karl Simrock. Mit einer Vorrede, Bonn 1840. Simrock ging in der Vorrede zu seiner Ausgabe explizit auf Lachmanns Untersuchung ein: „Dem Scharfsinne Lachmanns gebührt das Verdienst die naheliegende, gleichwohl zuerst von ihm ausgesprochene Vermuthung, daß unser Heldenlied nicht unverfälscht auf uns gekommen sei, zur Gewissheit erhoben zu haben. [. . .] Aber Lachmanns Ver- dienst ist noch größer: er hat uns auch gelehrt, die ächten von den unächten Strophen zu unterscheiden und die alten Volkslieder von müßigen Zusätzen und Ausschmückungen gereinigt, wiederherzustellen.“ (S. V) Simrock schloss diese Lobeshymne auf Lachmann, die sich in erster Linie aus seiner besonderen Vor- liebe für „Volkspoesie“ speiste, mit den die Neuentdeckung seinem Leser pathetisch anpreisenden Worten: „Hier hört er den Homer nicht schnarchen, hier borgt der Sänger des Volks nicht Floskeln und Formen bei dem kunstgebildeten Dichter, hier sind dem raschen Gange des Vortrags die Hemmschuhe romantisie- 116 Marina Münkler

lied-Ausgabe wie auch seine 1836 erschienene Untersuchung Anmerkungen Zu den

Nibelungen und zur Klage blieben seine umstrittensten Arbeiten. An ihnen sowie der 1816 erschienenen Habilitationsschrift Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth entzündete sich der so genannte Nibelungenstreit, in dem Lachmanns These, das Nibelungenlied sei nicht von einem Dichter verfasst, sondern aus verschiedenen Einzelliedern zusammengesetzt worden, insbesondere von der Leipziger Schule heftig attackiert wurde.53 V.2. Die „Iwein“-Edition. 1827 gaben Benecke und Lachmann gemeinsam Hartmanns 54 von Aue Iwein heraus. Benecke hatte die Ausgabe schon lange geplant und dafür auch zahlreiche Handschriften abgeschrieben, mit der Edition jedoch lange gezögert und sie erst mit Hilfe Lachmanns realisiert. Dieser hatte schon 1820 der Hoffnung

Ausdruck verliehen, dass Beneckes „Ausgabe des Iwein die erste kritische eines Alt- deutschen Gedichts werden möchte“55. Benecke sah sich allein jedoch nicht in der Lage, das Editionsprojekt mustergültig zu bewältigen und so entstand das Projekt ei- ner gemeinsamen Ausgabe. Lachmann war für die Textherstellung verantwortlich, wozu er alle damals bekannten Handschriften heranzog, teilweise in Beneckes Abschrift, wäh- rend Benecke den 120 Seiten umfassenden Stellenkommentar verfasste. Lachmann setzte 56 hier erstmals seine „Grundsätze der Kritik“ um und legte in der Vorrede seine edi- torischen Prinzipien relativ ausführlich dar.57 Gegen die beiden ältesten Handschrif- ten A und B änderte Lachmann vor allem dann, wenn diese nach seiner Auffassung die metrischen oder grammatischen Regeln verletzen. Freilich war er sich durchaus darüber im Klaren, dass für die mittelhochdeutsche Sprache solche Regeln keineswegs verbindlich waren. So merkte er hinsichtlich der Behandlung der Adjektive an:

Gleichförmiger als in den zwei ältesten handschriften ist bei mir wohl nur die behandlung der adjectiva auf ic. sie haben in a ih, ige, langsilbige häufiger ege, in B ec, ige. ich habe den kurz- oder dreisilbigen oft ec, ege geben müssen des verses wegen: dass ich es aber immer gethan ist vielleicht unrecht.58

Lachmann war bei seinen kritischen Konjekturen im Falle des Iwein aber durchaus skrupulös; er betrachtete seine Arbeit lediglich als einen „ersten versuch einen altdeut-

render Ausschmückung nicht angelegt, hier waltet deutsche Kraft, hier weht uns gesunder Waldgeruch an.“ (S. VI). Zu Simrock vgl. Hugo Moser: Karl Simrock. Universitätslehrer und Poet, Germanist und Erneuerer der „Volkspoesie“ und älterer „Nationalliteratur“. Ein Stück Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn, Berlin 1976. Zu Simrocks Übersetzungen vgl. Elke Brüggen: Karl Simrock als Übersetzer mittelalter- licher Literatur. Festvortrag zum 200. Geburtstag von Karl Simrock am 28. August 2002, Bonn 2002. 53 Vgl. Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im ,Nibe- lungenstreit‘, Tübingen 1990. 54 Iwein. Der Riter mit dem Lewen. Getihtet von dem Herrn Hartmann Dienstman ze Ouwe, hrsg. v. Georg Friedrich Benecke u. Karl Lachmann, Berlin 1827. 55 Karl Lachmann an Friedrich Benecke. In: Briefe aus der Frühzeit der deutschen Philologie an Friedrich Benecke, hrsg. v. Rudolf Baier, Leipzig 1901, S. 36. 56 Vgl. Wägenbaur (wie Anm. 4), S. 9 f. 57 Vgl. Hertz (wie Anm. 1), S. 24. 58 Iwein (wie Anm. 54), S. 5 f. „durch unverdrossene tüchtige Arbeit“: Karl Lachmann als Philologe 117

schen Text kritisch zu behandeln“ und vermerkte bescheiden zurückhaltend, „ich habe 59 nur angefangen, und mit bescheidenheit“. Am Ende der Vorrede merkte Lachmann abschließend an, es solle „dem leser recht fühlbar gemacht werden, daß jede kritik sich bestreben muß, in worten und wortformen das ursprüngliche herzustellen, ohne hoff- nung vollkommenes gelingens“.60

V.3. Die Edition der Gedichte Walthers von der Vogelweide. Noch im selben Jahr wie der

Iwein erschien Lachmanns Edition der Lieder Walthers von der Vogelweide, in der er sämtliche damals bekannten Handschriften berücksichtigte. Von seiner Ausgabe er- hoffte sich Lachmann, dass sie „für die echte kritische gelten könne, die docen schon 61 1809 [. . .] von der folgezeit hoffte“. Als Textzeugen führte Lachmann 13 Hand- schriften sowie die Tradierung von Walther-Strophen im Kontext der Möringer-Bal- 62 lade an. Allerdings konnte er für die Textherstellung nur 11 davon heranziehen, von denen er lediglich „vier in händen gehabt und verglichen“ hatte.63 Für den größten

Teil der Handschriften stützte er sich auf frühere Editionen und Abschriften von Freun- den oder Gewährsleuten.64 Das Ziel seiner Edition, so Lachmann, sei es, „den reichs- ten und vielseitigsten unter den liederdichtern des dreizehnten jahrhunderts in würdi- 65 ger gestalt wieder erscheinen zu lassen“ . Der Anspruch, Walther in „würdiger gestalt“ zu präsentieren, führte dazu, dass Lachmanns in seiner Walther-Ausgabe besonders inten- siv mit Athetesen arbeitete. Lachmann kannte zu diesem Zeitpunkt 523 teils unikal, teils mehrfach überlieferte, Walther zugeschriebene Strophen, von denen er 92 Stro- phen als ‚unecht‘ verwarf. Teilweise sonderte er ganze Töne aus, teilweise einzelne Strophen. Kritisch betrachtete Lachmann insbesondere solche Strophen, die in den Handschriften unterschiedlichen Sängern zugeschrieben wurden, nur in den Hand- schriften EF unikal überliefert waren oder seinen Qualitätskriterien zur sprachlichen, insbesondere der grammatischen oder metrischen Gestaltung, zuwider liefen.66 Grund- legend für seine Auswahl war Lachmanns Verständnis von , Autor‘ und ,Werk‘: „Lach-

59 Ebenda S. 8, 5. 60 Ebenda, Vorrede v. Karl Lachmann, S. 8. Schon Franz Pfeiffer (Bruchstücke aus Iwein und dem Armen Heinrich. In: Germania 3 [1858], S. 338–350 hier S. 338) kritisierte an Lachmanns Edition jedoch, er habe „in keiner seiner Ausgaben der Willkühr und Gewaltthätigkeit so sehr [. . .] die Zügel schießen lassen, als gerade im Iwein“. 61 Karl Lachmann (Hrsg.): Die Gedichte Walthers von der Vogelweide, Berlin 1827, Vorrede, S. XI f. 62 Zu Lachmanns Walther-Edition vgl. Holznagel (wie Anm. 29); Thomas Bein: „Damit sie nicht umkom- men. . .“. Texte in Lachmanns Vorrede zu seiner Ausgabe der Lieder Walthers von der Vogelweide (1827). In: Editionsberichte zur mittelalterlichen deutschen Literatur, Göppingen 1994, S. 115–121; Thomas Bein: Über die sogenannten ‚unechten‘ Strophen und Lieder in der 13. Auflage von Karl Lachmanns Walther- Edition. In: W. Spiewok, D. Buschinger (Hrsg.): Mittelalterforschung und Edition: actes du colloque Ober- hinrichshagen bei Greifswald 29 et 30 Octobre 1990, Amiens 1991, S. 5–26. Vgl. zu den Problemen, die sich für eine Neuedition von Walthers Liedern ergaben Christoph Cormeau: Überlegungen zur Revision von Lachmanns Walther Ausgabe. In: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte, Berlin, New York 1993, S. 32–39. 63 Lachmann (wie Anm. 50), Vo r rede, S. VI, Anm. 64 Vgl. Holznagel (wie Anm. 29), S. 36 f. 65 Lachmann (wie Anm. 61), Vorrede, S. III. 66 Vgl. Bein (wie Anm. 29), bes. S. 317–352. 118 Marina Münkler

manns Walther-Edition beruht [. . .] auf dem Versuch, die emphatische Autor-Werk- Relation auf die Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik anzuwenden.“67

V.4. Die Ausgabe der Werke Wolframs von Eschenbach. Die Krönung seiner Editionen mittelhochdeutscher Literatur war für Lachmann selbst seine Edition der Werke Wolf- rams von Eschenbach, den er als die „edelste und reichste Blüte einer bewusten und zum klassischen ausgebildeten poesie“ begriff, „die ebenso wenig für ein schwaches Vorspiel der heutigen gelten kann, als etwa das deutsche reich für einen geringen anfang zum deutschen bunde“.68 Genau diese Hochschätzung begründete die philologische Sorgfalt:

mir hat wenigstens immer dieses ziel meiner aufgabe vorgeschwebt, daß einer der größten dichter in seiner ganzen herrlichkeit meinen zeitgenossen möglichst bestimmt und anschau- lich dargestellt werden sollte, so daß sich zugleich erkennen ließe wie der höchste dichter sei- ner zeit in derselben und in ihrer poesie gestanden, und wie er ihr habe gefallen müssen, oder, kann man auch sagen, daß uns möglich gemacht werden sollte, Eschenbachs gedichte so zu lesen wie sie ein vorleser in der gebildetsten gesellschaft des dreizehnten jahrhunderts aus der besten handschrift vorgetragen hätte.69

Allerdings war sich Lachmann nicht sicher, dieses Ziel auch erreicht zu haben, er be- trachtete seine Wolfram-Edition eher als eine Art Grundlegung, auf der andere auf- 70 bauen konnten. Lachmanns Wolfram-Edition ist jedoch bis heute noch nicht über- 71 holt. Insbesondere Wolframs Parzival wird nach wie vor nach Lachmanns Ausgabe zitiert.

V.5. Hartmanns von Aue ,Gregorius‘. Mit dem Gregorius legte Lachmann eine weitere 72 Ausgabe des von ihm als mustergültig geschätzten Hartmann von Aue vor. Die Aus- gabe des Gregorius unterschied sich jedoch deutlich von Lachmanns anderen Ausga- ben: Entgegen seinem hochgehaltenen philologischen Anspruch, die Lesarten der Hand- schriften zu dokumentieren und damit den Prozess der Emendation transparent zu machen, veröffentlichte Lachmann den Gregorius ohne Einleitung, ohne Lesarten und ohne Anmerkungen des Herausgebers. „Die anderen Leser“, also jene, die kein wissen- schaftliches, sondern ein literarisches Interesse an der mittelalterlichen Literatur hat- ten, sollten „ohne mit Quisquilien belästigt zu werden“ „an dem Gregorius nur Ver- gnügen haben“.73 Lachmann verfolgte hier also ein völlig anderes Interesse als in seinen anderen Editionen der mittelhochdeutschen Literatur. Ging es ihm sonst darum,

67 Holznagel (wie Anm. 29), S. 44. 68 Karl Lachmann: Vorrede. In: Wolfram von Eschenbach, hrsg. v. Karl Lachmann, Berlin 1833, S. VI. Auch Jacob Grimm hielt Lachmanns Wolfram-Ausgabe, nicht die des Nibelungenlieds, für seine bedeutendste philo- logische Leistung. Vgl. Grimm: Rede auf Lachmann (wie Anm. 27), S. 88 f. 69 Ebenda. Im Anschluss an diese Ausführungen legt Lachmann seinen Umgang mit den Handschriften dar. 70 Ebenda, S. V. 71 Vgl. Peter F. Ganz: Lachmann as an Editor of Texts. In: Th. Bein (Hrsg.): Altgerma- nistische Editionswissenschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 106–125, hier S. 125 f.; vgl. auch Gesa Bonath: Unter- suchungen zur Überlieferung des Parzival Wolframs von Eschenbach, 2 Bde., Lübeck, Hamburg 1970–1971, bes. S. 24–26. 72 Karl Lachmann (Hrsg.): Gregorius. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, Berlin 1838. 73 Brief v. Karl Lachmann an Moriz Haupt v. 3.3.1838. In: J. Vahlen (Hrsg.): Karl Lachmanns Brief an Moriz Haupt, Berlin 1892, S. 38. „durch unverdrossene tüchtige Arbeit“: Karl Lachmann als Philologe 119

einerseits den Archetypus herzustellen und andererseits den Prozess der Emendationen nachvollziehbar zu machen, so wollte er hier lediglich den Text zugänglich machen und einer breiteren Leserschaft vermitteln – ein Verfahren, dass er sonst vehement ab- gelehnt hatte. Dieses Verfahren wurde denn auch von anderen Philologen und Lieb- habern der mittelalterlichen Literatur mit Irritation aufgenommen. So schrieb der

Handschriftensammler und Herausgeber mittelalterlicher Texte – einer von jenen Hob- by-Germanisten, denen im Allgemeinen Lachmanns tiefe Abneigung galt – Joseph von Laßberg an die Gebrüder Grimm, er finde es nicht recht, „daß Lachmann seinen text so nude et crude, one alle bevorwortung, herausgiebt, daß er gar keine Rechenschaft ablegt über die von im vorgenommenen verbesserungen, und nicht einmal anzeiget, wo er die von der Christinal abweichende lesarten hergenommen. Die welt ist heut zu tage so diplomatisch geworden, daß sie überal durch urkunden beruhiget werden will!“74 Erst sieben Jahre später half Lachmann diesem Mangel ab und veröffentlichte 75 in der Zeitschrift für deutsches Altertum ein Verzeichnis der Lesarten zum Gregorius. V.6. Ulrichs von Liechtenstein ,Frauendienst‘. Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst, den

Lachmann 1841 gemeinsam mit Theodor von Karajan herausgab, bereitete ihm weni- ger editionsphilologische als vielmehr inhaltliche und insbesondere sozio-moralische Probleme.76 Da Ulrichs Frauendienst bis auf zwei Lücken lediglich in der Handschrift Cgm 44 der Münchner Staatsbibliothek vollständig und daneben nur in zwei weite- ren kleinen Bruchstücken vorlag, bedurfte es keiner umfänglichen recensio und examinatio.

Lachmann und von Karajan konnten den Text weitgehend nach der Münchner Hand- schrift edieren und die dort fehlenden drei Lieder aus der Überlieferung der Großen

Heidelberger Liederhandschrift ergänzen. Aber Lachmann widerstrebten „die fast durch- aus läppischen Gedanken, in denen man auch einem begabten Dichter, in ernster und bewegter Zeit sein ganzes Leben umher zu treiben nicht gern gestattet“.77 Lachmann führte dies u. a. auf eine Art ‚südliche Leichtigkeit‘ zurück und vermerkte, „uns Nord- deutschen ist selbst des Erzählers Charakter wenig verständlich, der mit einer uns un- begreiflichen Zähigkeit und Geduld, bis zum äussersten Punkte die ärgsten Verhöh- nungen erträgt, ob er gleich über ihre Meinung sich nicht im Geringsten teuscht“.78 Lachmann schwankte zwischen der Beurteilung Ulrichs als „begabte[m] Dichter“, der seinen Vorstellungen von herausragender Autorschaft genügte, und der Ablehnung seiner

„läppischen Gedanken“, die sowohl seiner Vorstellung von geistiger Größe als auch von virilem Selbstbewusstsein widersprachen.

V.7. Lachmanns Lessing-Ausgabe. Am 6. Juli 1837 teilte Lachmann Georg Friedrich Bene- cke mit, dass er sich habe „bewegen lassen zu einer neuen Ausgabe der Lessingschen 79 Werke die Anordnung zu machen“ . Schon diese Nachricht war im Prinzip eine Sen-

74 Volker Schupp: Fünf Briefe des Freiherrn Joseph von Laßberg an Jacob und Wilhelm Grimm. Friedrich Maurer zum 80. Geburtstag. In: Euphorion 72 (1978), S. 277–301, hier S. 296. 75 Karl Lachmann: Lesarten zu Hartmanns Gregorius. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 5 (1845), S. 32–69. 76 Karl Lachmann (Hrsg.): Ulrich von Lichtenstein. Mit Anm. v. Theodor von Karajan, Berlin 1841. 77 Zitiert nach Hertz (wie Anm. 1), S. 114. 78 Ebenda. 79 Carl Lachmann: Briefe I. An Georg Friedrich Benecke, hrsg. von Albert Leitzmann, Berlin 1943, S. 28. 120 Marina Münkler sation.80 Zum ersten Mal machte sich ein ausgewiesener Philologe der klassischen an- tiken und der mittelalterlichen deutschen Literatur daran, einen jüngeren Autor zu edieren und sein Werk dabei derselben philologischen Behandlung zu unterziehen wie die alten Texte. Auch hier ging es Lachmann darum, das Werk des hochgeschätzten Autors von Zusätzen, in diesem Falle seiner früheren Herausgeber, zu reinigen.81 Sei- ne Orientierung an einer Vorstellung von Autorschaft, welche den Weg des Autors von seinen möglicherweise noch ungeschickten Anfängen zu wahrer Größe nachvoll- ziehbar machte, verbot es auch, sich an anderen Kriterien als denen der biographi- schen Diachronie zu orientieren, weswegen Lachmann seine Werkausgabe nicht nach 82 Gattungen, sondern streng chronologisch ordnete. Außerdem verzichtete er auf eine

Kommentierung von Lessings Werken und einen beigefügten Lebenslauf, weil diese die Monumentalität des Werkes eher gestört als hervorgehoben hätten. Lachmann be- gründete seine editorischen Prinzipien gegenüber dem Hamburger Archivar Johann Martin Lappenberg folgendermaßen:

Sie haben übrigens eine zu gütige Meinung von mir, wenn Sie glauben, ich könnte den lessing-

schen Werken Erläuterungen beifügen. Ich gehe nur auf Vollständigkeit, möglichst chronolo-

gische Anordnung und Genauigkeit des Textes aus; auch auf mögliches Ausscheiden der Zu-

sätze von Nicolai, Eschenburg p., wo sie nicht streng litterarisch sind. Anmerkungen und ein

Leben Lessings gehören meines Erachtens noch nicht in die Sammlung der Werke eines so neuen Schriftstellers, da sie doch alle fünfzig Jahre anders werden müssen.83

Freilich trug Lachmann sein philologisch strenges Verfahren, Lessings handschriftliche

Texte und die Drucke miteinander zu vergleichen und die Abweichungen mitzutei- len, wie auch seine Entscheidung, Lessings Schriften streng chronologisch zu ordnen, teilweise scharfe Kritik ein. Was eine wissenschaftliche Glanzleistung war, galt vielen

Zeitgenossen als übertriebene Pedanterie und als Abkehr von nachvollziehbaren Zu- 84 ordnungen. Was Lachmann auf dem Gebiet der mittelalterlichen Philologie erreicht hatte, blieb ihm für seine Lessing-Ausgabe verwehrt: die bleibende Anerkennung sei- ner editorischen Leistung bei seinen Zeitgenossen. Um diese Anerkennung aber ging es Lachmann, der sein Wirken als Herausgeber als minder bedeutend einschätzte, als die Werke der von ihm edierten Autoren selbst.

VII. Lachmanns Nachruhm. Die Anerkennung, die Lachmann auf dem Gebiet der neue- ren Philologie erst lange nach seinem Tod zuteil wurde, genoss er auf dem Gebiet der

älteren deutschen Philologie schon zu seinen Lebzeiten. Die Wertschätzung seiner philo-

80 Gotthold Ephraim Lessing. Sämtliche Schriften, hrsg. v. Karl Lachmann, Bd. I–V (Berlin 1838), Bd. VI–XI (1839), Bd. XII–XIII (1840). Aufs Neue durchges. u. verm. v. Wendelin von Maltzahn, 12 Bde., Leipzig 1853–1857; dritte, aufs neue durchges. u. verm. Aufl., besorgt durch Franz Muncker, 23 Bde., Stuttgart 1886 bis 1924 (Nachdr. Berlin 1968). 81 Für eine genaue Beschreibung der Lessing-Edition vgl. Weigel (wie Anm. 14), S. 36–64. 82 Vgl. ebenda, S. 41 f. 83 Brief v. Karl Lachmann an Johann Martin Lappenberg v. 13.9.1837. In: SUB Hamburg, Lit.-Arch., zit. nach Weigel (wie Anm. 14), S. 41. 84 Vgl. Weigel (wie Anm. 14), S. 51–57. „durch unverdrossene tüchtige Arbeit“: Karl Lachmann als Philologe 121 logischen Kompetenz, die er verschiedentlich nicht ohne Eitelkeit zur Schau stellte, trug erheblich zu seinem Nachruhm bei. Das hatte nicht nur mit seiner Kompetenz, sondern auch mit der Institutionalisierung der Germanistik als universitärem Fach zu tun.

Zur Institutionalisierung der Germanistik im Wissenschaftsbetrieb gehörte neben der Kanonisierung der „Lachmannschen Methode“ auch die Kanonisierung ihrer Be- gründer.85 In seiner akademischen Gedächtnisrede auf Lachmann äußerte Jacob Grimm: „Er war zum Herausgeber geboren, seines gleichen hat Deutschland in diesem Jahr- hundert noch nicht gesehen.“ Und als Wilhelm Scherer in seinem Nekrolog wiederum

Jacob Grimm ehrte, würdigte er ihn in einem Atemzug mit Karl Lachmann. „Er war ein Genie der Kritik, wie Jacob Grimm ein Genie der Kombination. Erst Jacob Grimm und Lachmann in ihrem Zusammenwirken haben es möglich gemacht, daß sich eine 86 Schule der altdeutschen Philologie, eine Tradition ihres Verfahrens bilden konnte.“

In der Allgemeinen Deutschen Biographie von 1883 schließlich beschrieb Wilhelm Scherer

Lachmanns philologische Sorgfalt mit den Worten: „er suchte nicht einen möglichst 87 glatten, sondern einen möglichst echten Text zu liefern“.

Lachmann hatte solche Anerkennung durchaus angestrebt. In der Widmung für sei- nen Lehrer Benecke, die er seiner Auswahl aus den hochdeutschen Dichtern des dreizehn- ten Jahrhunderts voranstellte, hob er nicht ganz ohne Eitelkeit seine philologische Kom- petenz hervor:

Wir haben Ursach genug, endlich durch unverdrossene tüchtige Arbeit die so lange und nicht 88 mit Unrecht verweigerte Achtung der Zeitgenossen uns zu verdienen.

Die Hoffnung, sich „durch unverdrossene tüchtige Arbeit“ die Achtung seiner Zeit- genossen zu verdienen, war ein entscheidender Aspekt von Lachmanns philologischem

Credo, dass nur ein gründlicher und kritischer Vergleich der überlieferten Handschriften es ermöglichen werde, Editionen der mittelalterlichen Literatur herauszubringen, die den Leser in den Stand versetzten, sich ein wahres Bild von der mittelalterlichen Litera- tur und ihren bedeutendsten Werken und Autoren zu machen. Für die unermüdliche und unerbittliche Verfolgung dieses Credos hoffte sich Lachmann jene Anerkennung zu verdienen, welche den früheren, editionsphilologischen Grundlagen nicht genügen-

85 Lachmanns Methode war aber keineswegs unumstritten, wie etwa der ‚Nibelungenstreit‘ zeigt. Allerdings ging es in dem kurz nach Lachmanns Tod beginnenden ,Nibelungenstreit‘ nicht nur um Lachmanns Me- thode und seine Thesen zum Nibelungenlied, sondern vielmehr um die Ausrichtung des Faches, bei der sich unversöhnlich die ‚Popularisierer‘ der mittelalterlichen Literatur und die ‚Spezialisten‘ gegenüberstanden. Vgl. Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im ,Nibe- lungenstreit‘, Tübingen 1990; ders.: (wie Anm. 7) S. 62–73; Otfrid Ehrismann: Das Nibelungenlied in Deutsch- land. Studien zur Rezeption des Nibelungenlieds von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum ersten Welt- krieg, München 1975; ders.: Nibelungenlied 1755–1920. Regesten und Kommentare zur Forschung und Rezeption, Gießen 1986. 86 Wilhelm Scherer: Jacob Grimm. Neudruck der zweiten Auflage mit Beilagen aus der ersten Auflage und Scherers Rede auf Grimm, besorgt v. Sigrid v. d. Schulenburg, Berlin 1921, S. 78. 87 Wilhelm Scherer: Karl Lachmann. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 17 (1883), S. 471–481, hier S. 473. 88 Lachmann (wie *), S. XXI. 122 Marina Münkler

den Ausgaben der mittelhochdeutschen Dichtung, mit Grund, wie Lachmann meinte, verweigert worden war. Wie sehr ihm dieser Nachruhm tatsächlich zuteil wurde, zei- gen nicht zuletzt die schon in seinem Todesjahr erschienene Biographie von Martin

Hertz und die zahlreichen Gedenkreden zu seinen Geburts- und Todestagen. Allerdings war Lachmanns Ruhm durchaus nicht unumstritten. Im so genannten

Nibelungenstreit, der kurz nach seinem Tod entflammte, wurde vordergründig um

Lachmanns These zur Genese des Nibelungenlieds gerungen, im Hintergrund ging es jedoch um das wissenschaftliche Selbstverständnis der sich an den Universitäten neu 89 etablierenden deutschen Philologie. Während die Anhänger Lachmanns dessen edi- tionsphilologisches Credo vehement vertraten, lehnte insbesondere die Leipziger Schule den Vorrang einer ausschließlich an editionsphilologischen Kriterien orientierten Ger- manistik nicht minder nachdrücklich ab und forderte die populäre Behandlung der altdeutschen Überlieferung. In jüngerer Zeit hat auch die New Philology noch einmal scharfe Kritik an der „Lach- mannschen Methode“ geübt und viele der von ihm gemachten Voraussetzungen als Ignoranz gegenüber der spezifischen medialen Situation der mittelalterlichen Literatur kritisiert.90 Freilich belegt noch diese Kritik, wie bedeutend Lachmanns editionsphilo- logische Leistung und ihre schulbildende Wirkung tatsächlich war. Mit keinem ande- ren Philologen des 19. Jahrhunderts musste man sich in vergleichbar kritischer Weise auseinandersetzen, weil kein anderer die editionsphilologischen Maßstäbe des Faches bis in die Gegenwart hinein zu prägen vermochte.

Abbildungsnachweis

Abb. 1: Karl Konrad Friedrich Wilhelm Lachmann [Porträt]; Hannover, 1968; 8°/ 14,5 × 9; Foto (schwarz/weiß). UB der Humboldt-Universität zu Berlin; Porträtsammlung.

Anschrift der Verfasserin: Prof. Dr. Marina Münkler, Universität Zürich, Philosophische Fakultät, Deutsches Seminar, Schönberggasse 9, CH–8001 Zürich

89 Zum ‚Nibelungenstreit‘ vgl. Kolk (wie Anm. 53). 90 Vgl. Bernard Cerquilini: Éloge de la Variante, 1989.