Ludwig Anzengruber – ein verkannter Naturalist?

Naturalistische und antinaturalistische Tendenzen in Ludwig Anzengrubers Stahl und Stein

Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von Matthias Rainer LUXENBERGER am Institut für Germanistik Begutachter: Assoz. Prof. Mag. Dr. Christian Neuhuber

Graz, 2019

Eidesstattliche Erklärung

Hiermit erkläre ich ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Gedanken als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegt. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.

Graz, Oktober 2019 ______Matthias Luxenberger

Gender-Erklärung

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Diplomarbeit die Sprachform des generischen Maskulinums angewendet. Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich allen danken, die mich unterstützt haben.

Besonderer Dank gilt meinem Betreuer Assoz. Prof. Mag. Dr. Christian Neuhuber, der mir immer mit gutem Rat und wertschätzender Unterstützung zur Seite stand. Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ...... 7

2 Die Epoche des deutschen Naturalismus ...... 9 2.1 Versuch einer Begriffsbestimmung ...... 11 2.2 Abgrenzung zum Realismus ...... 12 2.3 Gesellschaftliche, historische und kulturelle Gegebenheiten ...... 13 2.4 Zentren, Gruppen, Autoren ...... 16 2.5 Kunst und Wissenschaft ...... 18 2.6 Interkulturelle Bezüge ...... 21 2.7 Zur Stellung der literarischen Formen im Naturalismus ...... 24 2.8 Literarische Praxis: das naturalistische Drama ...... 25 2.9 Meilensteine des naturalistischen Theaters ...... 30

3 Österreich vor und zur Zeit des deutschen Naturalismus ...... 33 3.1 Historische und gesellschaftliche Bedingungen in Österreich ...... 34 3.2 Literarische Rahmenbedingungen und Entwicklungen ...... 38 3.3 Die Frage nach einem österreichischen Naturalismus ...... 40

4 Ludwig Anzengruber ...... 47 4.1 Leben und Werk ...... 47 4.2 Seine Dramatik ...... 51 4.3 Erneuerung des Volksstücks durch Anzengruber ...... 54 4.4 Rolle der Zensur ...... 56 4.5 Ein zu Lebzeiten verkannter Naturalist? ...... 58

5 Das Volksstück Stahl und Stein ...... 65 5.1 Handlung und Aufbau ...... 66 5.2 Vergleich mit der Erzählung Der Einsam ...... 69 5.3 Figurenkonzeption und -konstellation ...... 72 5.4 Raum und Zeit ...... 82 5.5 Sprachliche Gestaltung ...... 87 5.6 Naturalistische und antinaturalistische Tendenzen im Stück ...... 90 5.7 Rezension ...... 96

6 Fazit ...... 99

7 Literaturverzeichnis ...... 101 7.1 Primärliteratur ...... 101 7.2 Sekundärliteratur ...... 101 7.3 Internetquellen ...... 108 7.4 Zeitungsartikel ...... 109 1 Einleitung

Die vorliegende Diplomarbeit widmet sich dem österreichischen Schriftsteller Ludwig Anzengruber, dem erst posthum im deutschen Naturalismus die für sein dichterisches Schaffen angemessene Anerkennung zuteilwurde. Dieser schrieb neben Dramen auch Romane, Novellen, Gedichte und war für unterschiedliche Zeitschriften tätig. Seinen ersten großen Erfolg hatte er 1870 mit seinem Stück Der Pfarrer von Kirchfeld (UA 1870). Zu seinen heute bekanntesten Werken zählt Das Vierte Gebot (UA 1877), das vor allem im deutschen Naturalismus wiederentdeckt wurde und seinen Durchbruch feierte, den der Künstler aber selbst nicht mehr erleben durfte. Das Drama erhielt in Deutschland um 1890 gerade deshalb solch große Anerkennung, weil es diverse Elemente aufweist, die in der damals vorherrschenden literarischen Richtung, dem Naturalismus, zu finden waren. Dennoch bereitet die epochenspezifische Zuordnung des Autors einige Probleme, denn in seinen Werken sind nicht nur naturalistische Elemente zu finden, sondern auch etliche Merkmale des Realismus, der oft nicht eindeutig vom Naturalismus getrennt werden kann, und der Heimatdichtung. Deshalb bezeichnen viele Literaturwissenschaftler Anzengruber als Realisten, einige als naturalistischen Vorläufer, manche als Naturalisten und wieder andere sprechen von einem Heimatdichter. Folglich herrscht kein Konsens darüber, welcher literarischen Richtung der Künstler tatsächlich zugerechnet werden kann. In dieser Arbeit soll überprüft werden, ob es nicht möglich ist, Anzengruber zur Epoche des Naturalismus zuzuordnen, indem gezeigt wird, was den Autor in die Nähe des Naturalismus bringt und was ihn von diesem trennt. Um einer Beantwortung der Frage, ob Anzengruber als Naturalist gelten kann, näher zu kommen, soll sein vorletztes Stück Stahl und Stein (UA 1887) genauer analysiert werden. Würde sich die Annahme, dass Anzengruber die naturalistischen Bestrebungen, die im Vierten Gebot zu finden sind, später konsequent weiterverfolgte, bestätigen, so würde es nahe liegen, ihn der Epoche des Naturalismus zuzuordnen. Zu Lebzeiten Anzengrubers konnte das Vierte Gebot in Wien keinen großartigen Erfolg verzeichnen, vor allem weil wesentliche Auszüge des Werks der vorherrschenden Zensur zum Opfer fielen und das Publikum in Wien nicht bereit für die Darstellung von etwas derart Erschütterndem war. Deshalb wäre es wenig verwunderlich, wenn sich der Künstler, der vom Erfolg seiner Stücke finanziell abhängig war, wieder vom Naturalismus entfernt hätte. In diesem Sinn soll untersucht werden, ob Stahl und Stein dem Naturalismus ähnlich nahe steht wie das Vierte Gebot. Dieses Stück wurde deshalb ausgewählt, weil es erst zehn Jahre nach der Uraufführung des Vierten Gebots auf die Bühne

7 gebracht wurde und es deshalb Aussagen darüber zulässt, ob sich Ludwig Anzengruber der naturalistischen Poetik weiter nähert oder ob er sich doch wieder von dieser entfernt. Außerdem wurde diesem Stück unter dem Gesichtspunkt des Naturalismus noch äußerst wenig Aufmerksamkeit gewidmet, weshalb eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung als besonders sinnvoll erscheint. Es sollen unterschiedliche Aspekte untersucht und herausgearbeitet werden, um zu zeigen, in welchen Bereichen der Künstler den naturalistischen Weg weiterging und wo er sich vielleicht von diesem abwandte bzw. wo er an andere Traditionen anknüpfte. Wer sich mit dem Schriftsteller Ludwig Anzengruber beschäftigt, wird nicht umhin kommen, danach zu fragen, ob es so etwas wie einen österreichischen Naturalismus überhaupt gibt. Der Naturalismus ging von Frankreich aus, verbreitete sich in Europa und erreichte schließlich auch Deutschland. Dort kennzeichnet die Epoche einen Bruch in der Literatur, denn viele junge Autoren wandten sich von den literarischen Konventionen ihrer Vorgänger ab. Sie waren zwar wie die Realisten darum bemüht, die Wirklichkeit möglichst genau abzubilden, stellten dabei aber einen weitaus kritischeren Bezug zur eigenen Zeit her und zeigten Probleme auf, wodurch sie in den Fokus der gründerzeitlichen Kritik gerieten und sich u.a. den Unwillen Kaiser Wilhelms II. zuzogen. Obwohl sich die österreichischen Autoren teilweise an den deutschen orientierten, trat der Naturalismus nicht in derselben Ausprägung wie in Deutschland in Erscheinung. Dies hat damit zu tun, dass in Österreich andere gesellschaftliche und literarische Bedingungen herrschten. Es lassen sich zwar gewisse Parallelen zur deutschen Literatur finden, trotzdem wird nur selten von einem österreichischen Naturalismus gesprochen. Diesbezüglich soll gezeigt werden, inwiefern der Naturalismus auch in Österreich eine Rolle spielte. Die vorliegende Arbeit gliedert sich im Wesentlichen in zwei Abschnitte: Der erste beschäftigt sich mit der literarischen Strömung des Naturalismus. Hier soll vor allem auf den Naturalismus in Deutschland Bezug genommen werden, da die deutsche Literatur einen wichtigen Einfluss auf die österreichische ausübte und noch immer ausübt, um anschließend herauszuarbeiten, inwiefern diese literarische Richtung im österreichischen Teil der Habsburgermonarchie eine Rolle spielte. Der zweite Abschnitt beinhaltet einen theoretischen Teil, der sich speziell mit dem österreichischen Autor Ludwig Anzengruber und dessen literarischer Position auseinandersetzt, und einen praktischen Teil, in dem sein vorletztes und wenig bekanntes Stück Stahl und Stein analysiert wird, das möglicherweise etwas mehr Licht in den dunklen Raum der literarischen Positionierung des Künstlers bringt.

8 2 Die Epoche des deutschen Naturalismus

Der Naturalismus ging von Frankreich aus, wo Émile Zola als wichtigster naturalistischer Schriftsteller tätig war, breitete sich allmählich in Skandinavien und Russland aus und gelangte auch nach Deutschland. Die naturalistischen Autoren versuchten, unter engem Wirklichkeitsbezug die Folgen der industriellen Revolution zu beschreiben, wofür sie die neuesten Einsichten der Naturwissenschaften heranzogen.1 Die genaue zeitliche Kategorisierung der Epoche in Deutschland ist aber aus folgenden Gründen nicht ganz einfach: Der Naturalismus weist vor- und rückläufige Verbindungen zu anderen Epochen auf: Es besteht ein genetischer Zusammenhang mit dem bürgerlichen Realismus, denn die Autoren des Naturalismus können sich von dessen Programmatik und Schreibweisen nur schwer lösen. Zugleich gilt er als erste Moderne innerhalb eines Prozesses der Modernisierung und wirkt in anderen Bewegungen fort.2 Ingo Stöckmann bezeichnet den Naturalismus als „mehrschichtigen Transformationsprozess“, da er „an eine eingespielte Diskurskonstellation (>Realismus<) anschließt und zugleich horizontbildend für ein Modernisierungsgeschehen wirkt, das er selbst nicht mehr vollständig konditioniert“3. Überdies gibt es in der Zeit des Naturalismus ein synchrones Nebeneinander von mehreren Richtungen und literarischen Produktionen, manchmal sogar bei einzelnen Autoren, wie die Dramen Die Weber, Hannele und Der Biberpelz von Gerhart Hauptmann zeigen. So war in den frühen 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts der Realismus noch nicht verschwunden, beispielsweise erschien erst 1892 Theodor Fontanes Roman Frau Jenny Treibel. In dieser Zeit schrieb Detlev von Liliencron Gedichte, die dem literarischen Impressionismus zugeordnet werden können, und es begann sich die Heimatkunst zu entwickeln. Zudem wurde mit Dehmels Erlösungen eine Lyriksammlung veröffentlicht, die man aus heutiger Sicht dem Jugendstil zurechnen kann.4

1 Vgl. Volker Meid: Das Buch der Literatur. Deutsche Literatur vom frühen Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. 4., aktual. und erg. Auflage. Stuttgart: Reclam 2017, S. 372. Im Folgenden zitiert als: Meid, Literatur. 2 Vgl. Ingo Stöckmann: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart, Weimar: Metzler 2011, S. 3. Im Folgenden zitiert als: Stöckmann, Naturalismus. 3 Ebda. 4 Vgl. Günther Mahal: Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Literaturwissenschaftliche Arbeitsbücher. Naturalismus. 2. Auflage. München: Fink 1990. (= UTB. 363.) S. 22f. Im Folgenden zitiert als: Mahal, Naturalismus. 9 Den exakten Beginn der Epoche festzulegen ist schwer, da weder eine gemeinsame Formkonzeption noch ein großes Meisterwerk den Anfang kennzeichnen.5 Es lassen sich aber wichtige Eckdaten finden, die den Beginn naturalistischer Tendenzen in Deutschland markieren: So wurde 1882 erstmals die naturalistische Zeitschrift Kritische Waffengänge in München herausgegeben, drei Jahre später folgte in Berlin die Zeitschrift Die Gesellschaft und 1886 wurde der Verein Durch! gegründet, in dem sich naturalistische Schriftsteller zusammenschlossen.6 1885 formierte sich eine Bewegung und es erschien die Lyrikanthologie Moderne Dichter-Charaktere, in der zu Neuerung aufgerufen wurde.7 1889 wurde der Verein Freie Bühne gegründet, mit dem die dramatischen Arbeiten in den Vordergrund rückten, die bis heute noch weitgehend bekannt sind und mit denen der Naturalismus assoziiert wird.8 So wie der Beginn ist auch das Ende der Epoche nicht unumstritten.9 Hermann Bahr sprach schon 1891 von einer Überwindung des Naturalismus, zumindest was den Roman und die Novelle betrifft.10 Überwunden war der Naturalismus zu diesem Zeitpunkt aber noch keineswegs. Zwanzig Jahre später, 1911, sollte erst Gerhart Hauptmanns Stück Die Ratten uraufgeführt werden, das noch als naturalistisches Werk einzuordnen ist.11 Es wäre aber falsch, ein einzelnes dem Naturalismus zuzurechnendes Werk als Ende der Epoche anzusehen, denn dann würde die Epoche erst 1932 mit Hauptmanns Vor Sonnenuntergang enden, daher muss man das Ende eher am Auseinanderfallen von Vereinen und Inhalten festmachen.12 Die vorliegende Arbeit schließt sich bei der zeitlichen Einteilung Günther Mahal an und teilt die Epoche in eine frühnaturalistische und hochnaturalistische Phase ein. Der Frühnaturalismus beginnt im Jahr 1885, da hier erstmals eine durch einen gemeinsamen Willen verbundene Gruppierung auftrat, wie die Veröffentlichung der Anthologie Moderne Dichter-Charaktere zeigt. Das Jahr 1889 markiert den Anfang des Hochnaturalismus, denn in diesem Jahr wurde der Verein Freie Bühne in Berlin gegründet und mit den dortigen

5 Vgl. Walter Schmähling (Hrsg.): Naturalismus. Stuttgart: Reclam 1977. (= Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung. Hrsg. von Otto F. Best und Hans-Jürgen Schmitt. 12.) (= Reclams Universal-Bibliothek. 9645.) S. 19. Im Folgenden zitiert als: Schmähling, Naturalismus. 6 Vgl. Meid, Literatur, S. 373. 7 Vgl. Schmähling, Naturalismus, S. 19. 8 Vgl. Mahal, Naturalismus, S. 29. 9 Vgl. ebda, S. 26. 10 Vgl. Hermann Bahr: Naturalismus und Naturalismus. In: ders.: Die Überwindung des Naturalismus. Leipzig, Dresden: Pierson 1891. (= Zur Kritik der Moderne. 2.) S. 50. 11 Vgl. Dieter Borchmeyer: Der Naturalismus und seine Ausläufer. In: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. II/1. Hrsg. von Victor Žmegač. Königstein/Ts.: Athenäum 1980. (= Athenäum-Taschenbücher. 2156.) S. 216. Im Folgenden zitiert als: Borchmeyer, Naturalismus. 12 Vgl. Mahal, Naturalismus, S. 26. 10 Aufführungen der eigene Stil sowie das eigene Thema eindeutig gefunden. Das Ende dieser Phase war fließend und ist in den Jahren 1893 bis 1895 anzusiedeln, da sich in dieser Zeit bereits einige Autoren wieder vom Naturalismus abwandten.13

2.1 Versuch einer Begriffsbestimmung

Nachdem die Epoche zeitlich umrissen wurde, soll nun der Versuch unternommen werden, den Begriff Naturalismus, der zur Epochenbezeichnung wurde, zu definieren. Dieses Unterfangen ist nicht ganz einfach, weil die Bezeichnung universell gebraucht wird, zum Beispiel in der Literatur, den Bildenden Künsten und in der Philosophie.14 Zusätzlich erschwert wird das Definitionsvorhaben dadurch, dass sehr heterogene Konzepte und Tendenzen unter die Bezeichnung Naturalismus fallen.15 In Metzlers Literaturlexikon findet man unter Naturalismus eine allgemeine Definition für den Bereich Kunst und Literatur, die den Naturalismus als „Stiltendenz“ beschreibt, die die Wirklichkeit „ohne subjektive Beimischung oder Stilisierung“16 abzubilden versucht. Diese Tendenz gibt es aber nicht erst seit dem 19. Jahrhundert, sondern schon in der griechischen Antike, etwa bei der Odyssee des Homer.17 Neben dieser allgemeinen Definition gibt es eine spezifischere und für diese Arbeit bedeutendere, die sich nur auf den Naturalismus um 1900 bezieht. Laut dieser wird der Naturalismus als eine europäische literarische Richtung bezeichnet, die von 1870 bis 1900 andauerte und bei der „die genaue Beschreibung der ‚Natur’, d.h. der sinnl. erfahrbaren Erscheinungen, zum ästhet. Prinzip erhoben“18 wurde. Es wird von einer „Radikalisierung des Realismus“19 gesprochen. Neben der peniblen Beschreibung der Wirklichkeit fanden im Naturalismus neue Stoffe und Konzepte Eingang in die Literatur. Zugleich wurden die Autoren der Gründerzeit kritisiert und alles Metaphysische und Idealistische abgelehnt. Doch wie bereits gezeigt werden konnte, sollte die Periode nicht von langer Dauer sein. Der Begriff Naturalismus weist auf der einen Seite also einen stofflich provozierenden und Neues hervorbringenden Charakter auf, auf der anderen Seite hat er einen aus Kritik an alten Autoren bestehenden, transitorischen Charakter. Letztendlich bot die Epoche mit den neuen Konzepten aber einen

13 Vgl. ebda, S. 23-26. 14 Vgl. ebda, S. 16. 15 Vgl. ebda, S. 10. 16 Günther Schweikle/Irmgard Schweikle (Hrsg.): Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2., überarb. Auflage. Stuttgart: Metzler 1990, S. 320. 17 Vgl. ebda. 18 Ebda. 19 Ebda. 11 fruchtbaren Anstoß für eine weitere Literaturentwicklung, ausgehend von einer Opposition zur Unterhaltungsliteratur und zur Literatur der Gründerzeit.20 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unter dem Epochenbegriff Naturalismus die genaue Darstellung der Realität ohne Idealisierung verstanden wird, die mit der Entwicklung von neuen dichterischen Mitteln einhergeht, um eine noch nie dagewesene Abbildung der Wirklichkeit überhaupt möglich zu machen. Doch worin unterscheidet sich der Naturalismus vom Realismus, bei dem auch eine Darstellung der Wirklichkeit angestrebt wird?

2.2 Abgrenzung zum Realismus

Die Abgrenzung zwischen Realismus und Naturalismus ist nicht einfach, da die beiden Epochen ineinanderwirkten und der Naturalismus aus dem Realismus hervorging.21 Im Folgenden sollen wichtige Unterschiede aufgezeigt werden. „Ausgangspunkt für die Programmatik des Realismus ist die Ablehnung der Literatur des Jungen Deutschland und des Vormärz und ihrer so genannten subjektiven Reflexionspoesie ohne Basis in der Wirklichkeit.“22 Die Naturalisten hingegen bezogen sich neben dem Sturm und Drang, mit dem sie bezüglich der oppositionellen Einstellung übereinstimmten, auf die Positionen des Jungen Deutschland, vor allem aufgrund des gesellschaftsbezogenen Literaturbegriffs, sodass sich die naturalistischen Autoren selbst oft als Jungdeutsche und jüngstes Deutschland bezeichneten.23 Mit diesen Bezeichnungen wollten sie zeigen, dass „das bürgerlich-oppositionelle Junge Deutschland von 1848“24 ihr Vorbild ist Es gab natürlich auch Unterschiede in den Darstellungen: Im Realismus wurde zwar die objektive Darstellung der Wirklichkeit gefordert, aber die hässlichen gesellschaftlichen Widersprüche der Realität wurden mit der Kategorie des Schönen verbunden, weshalb auch vom poetischen Realismus gesprochen wird.25 Die Naturalisten brachen mit dem bürgerlichen Weltverständnis, indem sie die stofflichen, thematischen und formalen Ausklammerungen des

20 Vgl. Mahal, Naturalismus, S. 19f. 21 Vgl. Franz Norbert Mennemeier: Literatur der Jahrhundertwende. Europäisch-deutsche Literaturtendenzen 1870-1910. Bern, Frankfurt am Main, New York: Lang 1985. (= Germanistische Lehrbuchsammlung. 39.) S. 11. Im Folgenden zitiert als: Mennemeier, Literatur. 22 Meid, Literatur, S. 356. 23 Vgl. Stöckmann, Naturalismus, S. 6. 24 Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 17. Im Folgenden zitiert als: Fähnders, Avantgarde. 25 Vgl. ebda, 18f. 12 Realismus aufhoben.26 Sie dehnten den Bereich der Wirklichkeit, der in der Kunst erfasst werden sollte, aus und gingen über die bürgerlichen Vorstellungen hinaus.27 So schrieb man über das Milieu der Bordelle, Kneipen und Vorstadtstraßen und wich bei der Beschreibung der niederen Stände nicht ins Idyllische oder Sentimentale aus.28 Man stellte das Hässliche in den Vordergrund, weshalb vonseiten der Realisten der Vorwurf gemacht wurde, dass man nur an der hässlichen Oberfläche interessiert sei, aber nicht an der Echtheit des Abgebildeten.29 Auch bezüglich der Detailgenauigkeit zeigen sich Differenzen zwischen den beiden literarischen Richtungen: Im Realismus wurde wegen der Liebe zum Detail in den Darstellungen auch das Unscheinbare und Nebensächliche als wertvoll erachtet. Im Naturalismus hingegen ging es um eine emotionsfreie und auf Wissenschaft basierende Analytik und um eine vollständige, präzise und objektive Darstellung der Beobachtungen eines Autors, der zugleich Forscher ist.30 Wie gezeigt werden konnte, geht die Literatur des Naturalismus über jene des Realismus hinaus. Mennemeier bezeichnet den Naturalismus auch als „Radikalisierung des Realismus“31. Wie die vielen Selbstbezeichnungen naturalistischer Autoren als Realisten belegen, hat man sich terminologisch aber nicht klar von der realistischen Literatur eines Theodor Fontane oder Gottfried Keller abgegrenzt, da der Begriff Realismus zur damaligen Zeit literaturgeschichtlich noch nicht besetzt war.32

2.3 Gesellschaftliche, historische und kulturelle Gegebenheiten

Um zu verstehen, wie und warum der Naturalismus und mit ihm eine Weiterentwicklung der deutschen Literatur entstand, muss man die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts in Deutschland genauer untersuchen. Durch das 1871 gegründete Deutsche Reich veränderten sich die kulturellen Bedingungen. Deutschland bildete endlich eine Einheit, was zu großer Resonanz in Literatur und Kunst führte. Vor allem die Vergangenheit heroisierende Stoffe erlebten in der Anfangszeit des Reichs einen großen Aufschwung. Doch die Gründerzeit wurde gebeutelt von

26 Vgl. Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. Stuttgart: Metzler 1964, S. 1f. Im Folgenden zitiert als: Martini, Realismus. 27 Vgl. Schmähling, Naturalismus, S. 17. 28 Vgl. Richard Hamann/Jost Hermand: Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart. Naturalismus. Frankfurt am Main: Fischer 1977. (= Fischer-Taschenbücher. 6352.) S. 21. Im Folgenden zitiert als: Hamann/Hermand, Epochen. 29 Vgl. Claudia Stockinger: Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus. Berlin: Akademie 2010. (= Akademie Studienbücher Literaturwissenschaft.) S. 215. 30 Vgl. Mahal, Naturalismus, S. 91. 31 Mennemeier, Literatur, S. 11. 32 Vgl. Fähnders, Avantgarde, S. 18f. 13 Krisen, wie dem Kulturkampf der Kirche, wirtschaftlichen Konflikten und dem Kampf gegen den Sozialismus.33 Die Gründung des Deutschen Reichs war nicht nur ein preußisches, sondern auch ein protestantisches Vorhaben, wodurch es zum Konflikt mit der katholischen Kirche kam. Durch die Vorherrschaft Preußens entstand ein Gefälle der Macht von Nord nach Süd, sodass der katholische Süden einen geringen Einfluss auf die Politik hatte. Der Konflikt, der Bismarck die alleinige politische Macht zusichern sollte, fand 1876 einen Höhepunkt, als katholische Bischöfe ausgewiesen und inhaftiert wurden. Letztendlich wurde durch diesen Konflikt der außenpolitische Kampf gegen das katholische Frankreich und den Kirchenstaat innenpolitisch weitergeführt.34 Wirtschaftlich gesehen gab es einen Wandel, der aber schon vor der Gründung des Reichs begonnen hatte: Die Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Weltkriegsära gilt als Phase der Hochindustrialisierung. Es fand ein Übergang von der Agrar- zur Industriewirtschaft statt. Im ersten Jahrzehnt nach 1900 überstieg die Zahl der Erwerbstätigen in der gewerblichen Güterproduktion und -verarbeitung erstmals die Zahl der Erwerbspersonen im landwirtschaftlichen Bereich. Es kam zu einem schnellen aber nicht immer ganz gleichmäßigen Wirtschaftswachstum, in dem es zwischendurch aber auch Einbrüche gab.35 Ein Einbruch der Wirtschaft erfolgte bereits 1873 mit dem Börsenkrach. Die Mentalität des Aufschwungs wurde gebremst und es breitete sich ein resignatives Klima aus, das die Wirtschafts- und Bildungseliten stark beeinflusste.36 Der generelle wirtschaftliche Aufschwung, der durch die französischen Reparationszahlungen begünstigt wurde, führte dazu, dass sich der Unterschied zwischen Unternehmerschaft und der lohnabhängigen Arbeiterschaft verschärfte. Der Konflikt entstand zwar schon vor Gründung des Reichs, doch durch Monopolwirtschaft, stagnierende Reallöhne und risikoreiche Arbeitsbedingungen kam es zu einem Verelendungsprozess der Arbeiterklasse, der das Klima im Reich belastete. Trotzdem wehrte sich Bismarck bis 1890 gegen einen staatlichen Schutz der Arbeiter mit Mindestlöhnen und regulierten Arbeitszeiten.37

33 Vgl. Meid, Literatur, S. 364. 34 Vgl. Stöckmann, Naturalismus, S. 13f. 35 Vgl. Manfred Rauh: Epoche – sozialgeschichtlicher Abriß. In: Vom Naturalismus zum Expressionismus. Hrsg. von Frank Trommler. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982. (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Jahrhundertwende. Hrsg. von Horst A. Glaser. 8.) (= rororo. 6257.) S. 14ff. Im Folgenden zitiert als: Rauh, Epoche. 36 Vgl. Stöckmann, Naturalismus, S. 12. 37 Vgl. ebda, S. 12f. 14 Durch den wirtschaftlichen Aufschwung zogen auch viele Menschen mit der Aussicht auf einen höheren Lohn und ein einfacheres Leben in die Stadt. Dies trug zur Bildung des modernen Industrieproletariats bei. Auf diese freiwillige Urbanisierung folgte eine unfreiwillige. Diese wurde hervorgerufen durch den Kapitalismus, der sich auch auf dem Land ausbreitete und dort die vorherrschenden Strukturen veränderte. Nicht wenige Bauernhöfe fielen Spekulanten zum Opfer.38 Die Urbanisierung wurde durch eine Bevölkerungsexplosion begünstigt. So lebten 1850 rund 35 Millionen Menschen im Reich, 1913 waren es schon 67 Millionen. Einen Zuwachs verzeichneten vor allem die untersten Schichten, weil vielen durch die Industrie ein Auskommen und die Familiengründung ermöglicht wurde. Mitbeteiligt am Bevölkerungszuwachs war auch eine niedrigere Säuglings- und Kindersterblichkeit, die mit einer verbesserten Ernährung, einer Ausweitung der medizinischen Versorgung und einer Erhöhung der Hygienestandards im Zusammenhang stand.39 Vor allem die Hauptstadt des neu gegründeten Reichs gewann an Bedeutung und übte eine Faszination auf die jungen Naturalisten aus, sodass viele von ihnen nicht direkt nach Berlin, aber zumindest in die Nähe der Stadt zogen. Die Haltung der Stadt gegenüber war aber ambivalent: Auf der einen Seite bot sie den Menschen viele Möglichkeiten der Begegnung, auf der anderen Seite hatte sie etwas moralisch Verkommenes im Hinblick auf die Geldaristokratie. Der Aufstieg zur Industrie- und Weltstadt brachte auch Schwierigkeiten mit sich, die aber teilweise ignoriert wurden. Die jungen Autoren dokumentierten die Schwierigkeiten und zeigten erstmals das städtische Proletariat. Sie machten diese Klasse literaturfähig, wofür sie aber viel Kritik einstecken mussten.40 Gegen die Partei, die sich für das Proletariat einsetzte, wurde vonseiten der Staatsmacht vorgegangen: Unter Bismarck wurde das sogenannte Sozialistengesetz erlassen, das sozialdemokratische Druckschriften, Versammlungen und öffentliche Veranstaltungen mit sozialdemokratischen Tendenzen verbot. Trotzdem wurde die sozialdemokratische Partei immer stärker und erhielt großen Zuspruch. Es kam zu einer weit ins bürgerliche Lager reichenden Solidaritätsbewegung, die sich für die Rechte des Proletariats einsetzte. Auch

38 Vgl. Roy C. Cowen: Naturalismus. In: Geschichte der deutschen Literatur. Kontinuität und Veränderung. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Vom Realismus bis zur Gegenwartsliteratur. Bd. 3. Hrsg. von Ehrhard Bahr. Tübingen: Francke 1988. (= Uni-Taschenbücher. 1465.) S. 94f. Im Folgenden zitiert als: Cowen, Naturalismus. 39 Vgl. Rauh, Epoche, S. 20f. 40 Vgl. Schmähling, Naturalismus, S. 16f. 15 einige naturalistische Schriftsteller, wie zum Beispiel Gerhart Hauptmann, wandten sich der Sozialdemokratie zu, die sich jedoch bald von den Naturalisten distanzierte.41 Eine wesentliche Rolle spielte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Zensur, die es im deutschen Kaiserreich aber offiziell nicht gab. Nur durch das ‚Reichspreßgesetz’ von 1874, das aber keine Vorprüfung von Druckerzeugnissen vorsah, waren den Autoren Grenzen gesetzt. Gegen Abgedrucktes konnte erst nach der Veröffentlichung gerichtlich vorgegangen werden, beispielsweise wegen Unzucht, Gotteslästerung oder Majestätsbeleidigung. So stand etwa Conrad Alberti wegen seines Romans Die Alten und die Jungen vor Gericht. Die Polizeiverordnung von 1851 sah für öffentliche Theateraufführungen jedoch eine polizeiliche Genehmigung vor. Diese wurde aber nicht immer erteilt.42 Obwohl es per Gesetz keine Zensur gab, ermöglichte die Polizeiverordnung Eingriffe in Spielpläne und zog eine faktische Theaterzensur nach sich. So gab es vor der Uraufführung der Weber einen polizeilich-juristischen Streit. Um der massiven Vorzensur auszuweichen, entstand der von Otto Brahm gegründete Theaterverein Freie Bühne, da die geschlossenen Aufführungen im Verein nicht genehmigt werden mussten. Diese Gesetzeslücke machte Aufführungen der Stücke von Ibsen, Hauptmann, Holz und Schlaf überhaupt erst möglich.43 Eine totalitäre Kulturpolitik gab es im Reich aber nicht, denn Entscheidungen über ein Verbot hingen oft von einzelnen Richtern ab, die unterschiedliche Toleranzgrenzen hatten. Teilweise intervenierte aber auch der Kaiser selbst, um sein eigenes Verständnis von Kunst und Literatur zu verwirklichen.44

2.4 Zentren, Gruppen, Autoren

München und Berlin avancierten zu den Zentren des Naturalismus. Es bildeten sich Gruppierungen und Gruppen von Autoren, die sich vor allem im Umkreis von Zeitschriften fanden. In München trieb Michael Georg Conrad, der die Zeitschrift Die Gesellschaft herausbrachte, die naturalistische Literatur voran. Um ihn sammelten sich die Autoren Conrad Alberti, Hermann Conradi und zeitweise auch Karl Bleibtreu. In Berlin waren die Hauptakteure die Brüder Heinrich und Julius Hart, die von 1882 bis 1884 die Zeitschrift

41 Vgl. Dietger Pforte: Die deutsche Sozialdemokratie und die Naturalisten. Aufriß eines fruchtbaren Missverständnisses. In: Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement. Hrsg. von Helmut Scheuer. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer 1974. (= Sprache und Literatur. 91.) S. 177. 42 Vgl. Gerhard Schulz: Naturalismus und Zensur. In: Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement. Hrsg. von Helmut Scheuer. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer 1974. (= Sprache und Literatur. 91.) S. 94ff. Im Folgenden zitiert als: Schulz, Zensur. 43 Vgl. Fähnders, Avantgarde, S. 69. 44 Vgl. Schulz, Zensur, S. 94. 16 Kritische Waffengänge verfassten und später die Berliner Monatshefte und das Kritische Jahrbuch herausgaben. Um die beiden Brüder scharten sich prominente Autoren wie Arno Holz, Johannes Schlaf, Wilhelm Bölsche und Bruno Wille. Ebenfalls in Berlin wurde der Verein Durch! gegründet, der zur Konstituierung eines naturalistischen Selbstverständnisses beitrug. In diesem Verein versammelten sich Leo Berg, Wilhelm Bölsche, die Gebrüder Hart, Gerhart Hauptmann, Arno Holz, Johannes Schlaf, Bruno Wille u.a. Mit der Gründung des Vereins und der Zeitschrift Freie Bühne in Berlin gewann der Naturalismus an Breitenwirkung und wurde bedeutender als in München.45 Zum Verhältnis der literarischen Bewegungen in Berlin und München lässt sich festhalten, dass beide Zentren von Beginn an miteinander rivalisierten. Das gleichzeitige Hervorbringen eines literarischen Programms in zwei miteinander konkurrierenden Personenkreisen zweier Zentren war neu. Zu diesem Novum trugen vor allem die veränderten Bedingungen der literarischen Kommunikation bei: Berlin wurde zur Hauptstadt und erhob auch im Bereich der Literatur einen Führungsanspruch.46 Die Autoren des Naturalismus hatten aber einiges gemeinsam: Die meisten waren Altersgenossen und in den frühen sechziger Jahren geboren. Sie kamen größtenteils aus der Provinz und stammten aus mittelständischen Familien. Sie mussten in ihrer Jugend erleben, wie die Staatsmacht die Reichen und Besitzenden unterstützte und die sich für die Ärmeren einsetzende Partei in ihren Handlungen einschränkte. Es gab eine Stagnation im kulturellen Bereich bei gleichzeitigem Fortschritt in der Wirtschaft.47 Es lassen sich aber auch bezüglich ihrer Behausung Übereinstimmungen finden: Als die noch jungen Autoren in die Großstädte München und Berlin zogen, wohnten viele von ihnen im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu. Sie konnten sich ein Bild vor Ort machen und solidarisierten sich wegen ihrer Erfolglosigkeit und Geldnot mit den gesellschaftlich Benachteiligten.48 Dort fanden sie auch ihre Stoffe, in den „Mietkasernen und Krämerläden, den Hinterhöfen und Kneipen, den Absteigen und Bordellen“49.

45 Vgl. Fähnders, Avantgarde, S. 13f. 46 Vgl. Wolfgang Bunzel: Einführung in die Literatur des Naturalismus. 2., aktual. Auflage. Darmstadt: WBG 2011. (= Einführungen Germanistik.) S. 48. Im Folgenden zitiert als: Bunzel, Naturalismus. 47 Vgl. Mahal, Naturalismus, S. 29f. 48 Vgl. Ebda, S. 31. 49 Ebda, S. 31. 17 2.5 Kunst und Wissenschaft

Einen großen Einfluss auf den Naturalismus hatten die Sozial- und Naturwissenschaften: vor allem der Positivismus mit seinen Vertretern Auguste Comte, John Stuart Mill und Hippolyte Taine, der Entwicklungsgedanke von Herbert Spencer und die Evolutionstheorie von Charles Darwin wirkten auf die Autoren des Naturalismus. Die drei letzten Bände von August Comtes Course de philosophie positive hatten einen großen Einfluss auf die Soziologie. Darin verwirft er die spekulative Methode des Erkenntnisgewinns und lehnt metaphysische Erklärungen ab.50 Nur die „minutiöse Beobachtung und das kontrollierte Experiment“51 dürfen zur Erlangung von Erkenntnis herangezogen werden. Die Wissenschaft habe vom ‚positiv’ auszugehen, d.h. von tatsächlichen und wahrnehmbaren Befunden. Alle Vorgänge seien unveränderlichen Gesetzen unterworfen und diese gilt es mit Hilfe der Wissenschaften ausfindig zu machen.52 Comte entwarf eine „soziale Physik“53, bei der soziale Phänomene aber nicht unumstößlich, sondern vom Menschen veränderbar seien. Infolgedessen können auch soziale Missstände beseitigt werden, wenn die ihnen zugrundeliegenden Gesetze des Sozialen erfasst werden.54 Comtes Annahme, dass die Erfahrung die einzige sichere Quelle für Erkenntnis sei, wurde von Mill bekräftig. Er meinte, dass nur die Methode der Induktion, bei der man ausgehend von empirisch überprüfbaren Einzelbeobachtungen allgemeine Gesetzmäßigkeiten erschließt, zu Erkenntnis führen könne. Claude Bernard übertrug die Ideen Comtes und Mills in den medizinischen Bereich.55 Hyppolyte Taine wandte die Theorie des Positivismus schließlich auf die Ästhetik an: Die „auf Spekulation beruhende Kunsttheorie“ solle durch eine „positivistische“56 ersetzt werden. Bei Taine sind die Individuen durch drei bedeutende Faktoren bestimmt: race, milieu und moment.57 „[E]s geht also um die ethnologisch- biologische Kategorie Herkunft und Rasse [...]; um den soziologischen Aspekt von Milieu; um die historische Kategorie der Zeitumstände (des >Momentes<).“58 Taine fungierte damit als Wegbereiter: Seine Milieutheorie wurde zum Ausgangspunkt der naturalistischen Ästhetik

50 Vgl. Bunzel, Naturalismus, S 21. 51 Ebda. 52 Vgl. ebda. 53 Ebda. 54 Vgl. ebda. 55 Vgl. ebda, S. 22. 56 Ebda. 57 Vgl. ebda, S 22f. 58 Fähnders, Avantgarde, S. 26. 18 und fand auch in der literarischen Praxis Anwendung, zum Beispiel bei der genauen Schilderung des Elends oder bei der Darstellung des Determinismus der Figuren.59 Neben dem Positivismus spielte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch der Entwicklungsgedanke von Herbert Spencer eine bedeutende Rolle. Spencer meinte, dass nicht nur die Natur, sondern auch die menschliche Gesellschaft einem Entwicklungsprozess unterworfen sei. Er formulierte in seiner Schrift The Development Hypothesis schon den später für Darwin so wichtigen Gedanken der Anpassung. Für den Naturalismus war Spencer auch deshalb so wichtig, weil er annahm, dass die Entwicklungsgesetze in allen Bereichen der Wissenschaft gelten. Spencers Theorie erhielt durch Charles Darwins On the Origin of Species eine Fundierung auf dem Gebiet der Biologie: Im Bereich des organischen Lebens sei der Entwicklungsprozess durch Selektion und Mutation bestimmt. Darwin griff auf Spencers Hypothese zurück, dass der Tüchtigste bzw. Anpassungsfähigste überlebt, und führte weiter aus, dass alle Lebewesen ums Überleben kämpfen.60 Die erwähnten Theorien wurden aber nicht immer von den Originalautoren übernommen, sondern oft von deutschen Autoren, die eine der genannten Theorie übersetzten und propagierten. Zu nennen ist etwa Wilhelm Scherer, der sich vor allem mit dem Positivismus auseinandersetzte, oder Ernst Haeckel, der sich mit der Forschung von Charles Darwin beschäftigte.61 In den achtziger Jahren entfernten sich manche Ansätze aber so weit vom Urheber, dass sie nur noch „Schlagworte mit meist unscharfem Bedeutungsgehalt“62 waren, die den Verwendenden als modern auszeichneten. Der große Einfluss der Naturwissenschaften geht teilweise auch schon aus den Titeln der unterschiedlichen poetologischen Schriften, die dem Naturalismus entstammen, hervor.63 Wilhelm Bölsches Schrift erschien unter dem Titel Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie, in der er festlegte, dass sich die Poesie an die Resultate der Naturwissenschaften anpassen müsse und veraltete Grundanschauungen durch die Naturwissenschaften ersetzt werden sollen.64 Auch in Albert Conradis Aufsatzsammlung Natur und Kunst zeichnet sich die große Relevanz der Naturwissenschaften für die Kunst schon im Titel ab.

59 Vgl. ebda, S. 26. 60 Vgl. Bunzel, Naturalismus, S. 24. 61 Vgl. ebda, S. 24f. 62 Ebda, S 25. 63 Vgl. ebda. 64 Vgl. Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik. 1. Auflage. Hrsg. von Johannes J. Braakenburg. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag; Tübingen: Niemeyer 1976. (Deutsche Texte. 40.) S. 5. Im Folgenden zitiert als: Bölsche, Grundlagen. 19 Es kann festgehalten werden, dass es im Naturalismus zu einer „Verwissenschaftlichung von Kunst und Ästhetik“65 kam. Man führte die Ästhetik in Analogie zur Naturwissenschaft auf objektive Gesetze zurück, was eine Veränderung der bisherigen Ästhetik bedeutete. Durch diese Verwissenschaftlichung bedurften die Kunstschaffenden aber auch keines speziellen künstlerischen Werkzeugs mehr, sondern mussten Erfindergeist und Einbildungskraft durch naturwissenschaftliche Methoden ersetzen. Die Kunst verlor demnach ihr Exklusivrecht.66 Als einer der wichtigsten und berühmtesten Theoretiker des deutschen Naturalismus, der die Verwissenschaftlichung der Kunst vorantrieb, gilt Arno Holz. Seine Schrift Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze ist stark von den damals modernen Sozial- und Naturwissenschaften geprägt. Auch Holz beschäftigte sich mit Mill, Comte, Spencer und anderen bedeutenden Forschern, unter deren Einfluss er seine berühmt gewordene mathematische Formel verfasste: Kunst = Natur – x.67 Gemeint ist damit: „Die Kunst hat die Tendenz, die Natur zu sein; sie wird sie nach Maßgabe ihrer Mittel und deren Handhabung.“68 Die Kunst soll demnach die Natur abbilden. Die Abweichungen der Abbildung vom Original werden durch das x gekennzeichnet. Es steht für „die Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung“69, d. h., durch diese Variable wird auch das Zutun der Autorin bzw. des Autors ausgedrückt. Holz merkt an, dass das x niemals auf null reduziert werden könne70, wodurch klar wird, dass das Kunstwerk bzw. die Abbildung niemals mit der Natur bzw. dem Abzubildenden vollkommen übereinstimmen wird. Der Naturbegriff bei Holz ist weiter gefasst: Er schließt die gesellschaftliche Natur mit ein und ist demnach gleichzusetzen mit dem Realitätsbegriff. Durch das von Holz entwickelte Kunstgesetz wurde das naturalistische Mimesis-Prinzip postuliert, bei dem die realitätsgetreue Abbildung der Wirklichkeit im Mittelpunkt steht und als Leitfaden für den Künstler fungiert. Nach diesem Prinzip sollen die subjektiven Faktoren bei der Darstellung bzw. Abbildung der Realität ausgeschaltet werden, d. h. x soll möglichst klein gehalten werden.71 In den Fokus gelangten nun die Gestaltungstechniken, die künstlerischen Mittel, denn sie sind entscheidend, wenn man die Kunst der Realität annähert. Es ging also nicht mehr um das Dargestellte, um die Stoffe, sondern vielmehr um die dabei verwendeten

65 Fähnders, Avantgarde, S. 29. 66 Vgl. ebda, S. 28f. 67 Arno Holz: Das Werk. Die neue Wortkunst. Eine Zusammenfassung ihrer ersten grundlegenden Dokumente. Bd. 10. Berlin: Dietz 1925, S. 80. Im Folgenden zitiert als: Holz, Werk. 68 Ebda, S. 187. 69 Ebda, S. 82f. 70 Vgl. ebda, S. 130f. 71 Vgl. Fähnders, Avantgarde, S. 31. 20 Mittel.72 Wie sehr die Kunstmittel in den Mittelpunkt rückten, wird durch folgende Aussage von Arno Holz erkenntlich: „Man revolutioniert eine Kunst also nur, indem man ihre Mittel revolutioniert.“73 Da das Dargestellte in den Hintergrund trat, stellte Holz fest, „daß der Naturalismus eine Methode ist, eine Darstellungsart und nicht etwa ‚Stoffwahl’[...]“74. Die Theorie von Arno Holz wird als konsequenter Naturalismus bezeichnet, da er, anders als Émile Zola, bei dem die individuelle Herangehensweise der Kunstschaffenden eine Rolle spielte, die subjektiven Faktoren des Künstlers konsequent ausschalten wollte.75 Um die angestrebte Wirklichkeitsnähe herzustellen, wurden die erzählenden Textteile zugunsten von Dialogen reduziert. Dabei gerieten alle Eigenheiten der Artikulation der Sprechenden in den Mittelpunkt und wurden genau erfasst. Man spricht auch von der sogenannten Phonographischen Methode. Die Figuren wurden nicht mehr durch eine erzählende Instanz charakterisiert, sondern durch das phonographische Festhalten ihrer Äußerungen, ihrer mundartlichen Färbung, ihrer Artikulationsweise und sonstiger sprachlicher Besonderheiten.76 Es konnte festgestellt werden, dass die Naturalisten Wahrheitssuchende waren. Sie bemühten sich darum, die Realität in den Kunstwerken möglich genau abzubilden, wodurch es oft zur Darstellung schockierender Einzelheiten kam. Sie entwickelten neue Stilmittel, durch die vorherrschende Konventionen durchbrochen wurden und die den Fokus der Lesenden bzw. der Zusehenden auf die empirische Realität lenkten. Dabei spielten die Naturwissenschaften und die Soziologie eine bedeutende Rolle, da man sich die Erkenntnisse dieser Wissenschaften zunutze machte.77

2.6 Interkulturelle Bezüge

Der Naturalismus ist das erste Phänomen der literarischen Moderne, das als gesamteuropäisches auftritt. Vor allem Autoren aus Frankreich, Skandinavien und Russland hatten eine Wirkung auf den deutschen Naturalismus. Es sind zwar auch schon die Romantik und der Realismus nicht als rein nationale Phänomene einzuordnen, jedoch weicht die Ausprägung dieser Epochen in den einzelnen Ländern so stark voneinander ab, dass man nicht von einer einheitlichen Bewegung sprechen kann.78

72 Vgl. Ebda. 73 Holz, Werk, S. 490. 74 Ebda, S. 271. 75 Vgl. Fähnders, Avantgarde, S. 31. 76 Vgl. Bunzel, Naturalismus, S.63f. 77 Vgl. Cowen, Naturalismus, S. 97. 78 Vgl. Stöckmann, Naturalismus, S. 17. 21 Laut Dieter Borchmeyer hatte der Franzose Émile Zola zweifelsfrei den größten Einfluss auf den deutschen Naturalismus. Ohne ihn hätte es die Epochenbezeichnung Naturalismus wahrscheinlich gar nicht gegeben. Sein Werk sei das einzige, das den Begriff Naturalismus uneingeschränkt verdiene, denn die auf naturwissenschaftlichen und empiristischen Erkenntnissen beruhende Wirklichkeitserfassung wirke sich in keinem anderen Werk so umfassend aus. Sein Sammelband Le roman expérimental wurde für die deutschen Naturalisten zum Vorbild einer naturwissenschaftlich fundierten Ästhetik und Poetik. Darin wurde in Anlehnung an Claude Bernards Introduction à l’étude de la médecine expérimentale, in der der Autor für die Einführung der induktiv-experimentellen Methode in der Medizin plädiert, eine Ästhetik ausformuliert, die Kunst und Wissenschaft gleichsetzt und unter gleiche Gesetze stellt. Zola setzte in diesem Sinn den Romanautor mit der experimentierenden Person gleich.79 Stöckmann weist aber darauf hin, dass Zola nur mit gewissen Einschränkungen zum Wegbereiter des Naturalismus in Deutschland erklärt werden könne. Bezüglich der Rezeption des Autors ergaben sich bereits im Frühnaturalismus Kontroversen: In München fand er große Beachtung und man stand ihm sehr positiv gegenüber, in Berlin verhielt man sich ihm gegenüber eher zurückhaltend, zumindest wenn man den Gebrüdern Hart folgt. Außer Frage steht aber, dass durch Zola dem deutschen Naturalismus neue thematische Ressourcen erschlossen wurden wie Alkoholismus, Prostitution, Elend und Verbrechen. Die größte Rolle spielte er aber bei der Bildung einer Programmatik und Theorie. Durch ihn wurden Klärungsprozesse in Diskursfragen angestoßen: Zolas Theorie des Experimentalromans und sein Verhältnis von Literatur und Wissenschaft stießen in Deutschland zwar auf Widerspruch, boten aber einen Anstoß für die Entwicklung eines eigenen Programms.80 Auch der norwegische Autor Henrik Ibsen spielte eine große Rolle im deutschen Naturalismus. Die Aufführung seiner Stücke in Deutschland begann in der zweiten Hälfte der 1870er-Jahre. Wie wichtig Ibsen für den deutschen Naturalismus war, wird darin erkennbar, dass die Freie Bühne ihren Spielbetrieb mit Ibsens Stück Gespenster eröffnete. Ibsen erschloss wie Zola neue Themen wie Alkoholismus, Inzest, erblich bedingte Krankheiten und Selbstmord für die deutschen Autoren. Noch viel wichtiger war aber seine Prägung des naturalistischen Theaters, denn er verfasste analytische Dramen. Diese Form übernahmen viele deutsche Autoren. Bei einem Drama dieser Art geht der Bühnenhandlung ein Ereignis (manchmal sind es auch mehrere Ereignisse) voraus, das das Bühnengeschehen beeinflusst

79 Vgl. Borchmeyer, Naturalismus, S.169. 80 Vgl. Stöckmann, Naturalismus, S. 20f. 22 und allmählich geschildert wird. Dieser analytische Prozess wird erst durch eine Figur in Gang gesetzt, die als außenstehende Person auf das Bühnengeschehen trifft und in dieses verwickelt ist. Das Drama kannte die Rolle dieser Botenfigur, wie sie oft bezeichnet wird, zwar schon vor Ibsen, jedoch typisiert Ibsen diese. Zusammen mit einem analytischen Handlungsverlauf wird die Botenfigur zum Kennzeichen naturalistischer Dramaturgie. Ohne diese Figur würden die Vorgeschichte und damit auch das Drama für die Zuseherin und den Zuseher undurchsichtig bleiben, die Figur wird somit zum dramatischen Äquivalent des Erzählers. Als vielleicht berühmtestes Beispiel für ein analytisches Drama des Naturalismus eines deutschen Autors ist Vor Sonnenaufgang von Gerhart Hauptmann zu nennen, bei dem die Ereignisse erst durch das Auftreten von Loth ausgelöst werden.81 Neben Ibsen hatte auch der schwedische Autor August Strindberg einen wesentlichen Einfluss auf den deutschen Naturalismus. Strindberg und Ibsen strebten nach totaler Illusion, bei der eine zweite Realität auf der Bühne erzeugt wird. Die Zuseher sollten das Theater nicht mehr als Theater konsumieren, sondern sie wurden mit der Welt, in der sie leben, und mit den darin existierenden Problemen konfrontiert.82 Es gab im deutschen Naturalismus auch Verknüpfungen und Beziehungen zu russischen Autoren. Zu nennen sind hier etwa die Autoren Lew Tolstoi und Fjodor Dostojewskij. Tolstois Werk Die Macht der Finsternis hatte dabei den größten Einfluss auf die deutschen Naturalisten.83 Dostojewskijs Einfluss ist nur schwer greifbar, da seine Wirkung eine eher allgemeine ist und seine Spuren nur vereinzelt im deutschen Naturalismus zu finden sind.84 Die deutschen Autoren, hier ist vor allem Gerhart Hauptmann zu nennen, wirkten umgekehrt aber auch auf die russische Literatur und ihre Autoren.85 Doch die genannten ausländischen Autoren fanden natürlich nicht bei jedem Anklang. So hatten viele aus dem Bürgertum wenig Freude an den Werken der genannten Autoren, die sie als provokant und pervers empfanden, denn sie lehnten Themen ab, die sich mit der aktuellen Zeitproblematik beschäftigten. Sie wollten eine Literatur der Entspannung, die den Lesenden nicht die (grausame) Realität vor Augen hält.86

81 Vgl. ebda, S. 18f. 82 Vgl. Mahal, Naturalismus, S. 79. 83 Vgl. Siegfried Hoefert: Gerhart Hauptmann und andere. In: Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement. Hrsg. von Helmut Scheuer. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer 1974. (= Sprache und Literatur. 91.) S. 235f. 84 Vgl. ebda, S. 239. 85 Vgl. ebda, S. 244. 86 Vgl. Mahal, Naturalismus, S. 59. 23 2.7 Zur Stellung der literarischen Formen im Naturalismus

Die Stellung der literarischen Gattungen änderte sich im Verlauf der Epoche. Heute sind hauptsächlich die Dramen des Naturalismus bekannt, wobei die Theaterwerke als letzte einen Aufschwung erlebten.87 In der Frühphase der Epoche, Mitte der 1880er-Jahre, lag das Hauptaugenmerk noch auf der Lyrik.88 Die Frühnaturalisten wandten sich gegen Autoren wie Albert Träger oder Emanuel Geibel, die nur gut verkäufliche, nach Schablonen entwickelte Lyrik produzierten.89 Die Naturalisten schlugen inhaltlich eine andere Richtung ein: Sie stellten die soziale Ungerechtigkeit in den Mittelpunkt, präsentierten jedoch kaum Lösungen und kamen somit nicht über das Aufzeigen der schlechten Realität und einen negativen Stimmungsgehalt hinaus.90 Bei der Darstellung wurde die Verwendung von freien Formen und Rhythmen vorgeschlagen, die Individualität und in weiterer Folge Modernität generieren sollte.91 Es ist jedoch festzustellen, dass in der Lyrik keine Einheitlichkeit herrschte, was die Themenwahl oder die gewählten Formen betrifft.92 In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wandten sich die Autoren der Erzählprosa zu: Es wurde vor allem das französische Vorbild Émile Zola rezipiert und der soziale Roman, etwa Max Kretzers Meister Timpe, gewann an Bedeutung.93 Jedoch bemerkt Dieter Borchmeyer für die Gattung Lyrik und den naturalistischen Roman Folgendes:

Der deutsche Naturalismus konnte weder in der Gattung der Lyrik – nicht zuletzt aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit seiner radikal mimetischen Tendenz – noch generell auf dem Gebiet des Romans, wo er aus dem Schatten Zolas nicht herauszutreten vermochte, sein spezifisches Profil gewinnen.94

Der Durchbruch im Bereich der Epik erfolgte auf dem Gebiet der Kurzprosa, in der Kleinformen wie die Studie oder die Skizze einem wissenschaftlichen Anspruch nachkamen.95 Zu nennen sind hier etwa die 1888 veröffentlichte Studie Bahnwärter Thiel von Gerhart Hauptmann, bei der vor allem inhaltlich neue Wege eingeschlagen wurden, oder die

87 Vgl. Borchmeyer, Naturalismus, S. 183. 88 Vgl. Fähnders, Avantgarde, S. 34. 89 Vgl. Borchmeyer, Naturalismus, S. 178. 90 Vgl. Mahal, Naturalismus, S. 92. 91 Vgl. Günther Mahal: Wirklich eine Revolution der Lyrik? Überlegungen zur literaturgeschichtlichen Einordnung der Anthologie „Moderne Dichter-Charaktere“. In: Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement. Hrsg. von Helmut Scheuer. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer 1974. (= Sprache und Literatur. 91.) S. 19. 92 Vgl. ebda, S. 24. 93 Vgl. Bunzel, Naturalismus, S. 90. 94 Borchmeyer, Naturalismus, S. 190. 95 Vgl. Fähnders, Avantgarde, S. 43. 24 ohne Gattungsbezeichnung von Arno Holz und Johannes Schlaf unter dem Pseudonym Bjarne P. Holmsen veröffentlichte Erzählung Papa Hamlet, die durch neue Darstellungsmittel weit in die Zukunft wies.96 In den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts stand das Drama im Fokus des Naturalismus. Man setzte bei den Darstellungsprinzipien der Kurzprosa an, neue Gestaltungsmittel wurden eingesetzt und man befasste sich unter Berufung auf die Wissenschaft mit der sozialen Frage.97

2.8 Literarische Praxis: das naturalistische Drama

Die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, die aufstrebende Bedeutung der Naturwissenschaften und der Soziologie, aber auch der Einfluss ausländischer Autoren wirkten sich auf die Darstellungen in der deutschsprachigen Literatur aus. Welche Neuerungen und Besonderheiten die naturalistische Literatur auszeichnen, soll in diesem Kapitel gezeigt werden. Ein besonderer Fokus wird auf die Darstellungen in der Dramatik gelegt, da das Drama für diese Arbeit am relevantesten ist. Das naturalistische Drama hat sehr heterogene Ausformungen und es wäre schlichtweg falsch, die gesamte naturalistische Dramatik als innovativ anzusehen. Es finden sich traditionelle Genres, Übergangsformen zwischen den unterschiedlichen Genres, aber auch Neuheiten.98 In der vorliegenden Arbeit wird die naturalistische Dramatik besonders in Anbetracht der erfolgreichen und in den Kanon eingegangenen Dramen dargestellt, also anhand der Texte von Gerhart Hauptmann, Arno Holz, Johannes Schlaf und Hermann Sudermann, aber natürlich auch unter Beachtung des ausländischen Einflusses. Das naturalistische Theater ist eng mit der naturalistischen Prosa verknüpft: Die Darstellungsprinzipien „Unmittelbarkeit“, „Authentizität“ und „Vergegenwärtigung von Realität“99 wurden von den konsequenten Naturalisten Holz und Schlaf in Papa Hamlet angewendet und gelangten auch auf die Bühne. Strukturell gibt es ebenfalls Verbindungen zur Prosa, die durch die ausgeweiteten Regieanweisungen und Personenbeschreibungen sichtbar werden.100 Im naturalistischen Theater bewahrten die Autoren die drei Einheiten Ort, Zeit und Handlung. Dadurch entstand eine Verbindung zum klassizistischen Drama, das aber mit

96 Vgl. Borchmeyer, Naturalismus, S.190. 97 Vgl. Fähnders, Avantgarde, S. 46. 98 Vgl. Stöckmann, Naturalismus, S. 95. 99 Fähnder, Avantgarde, S. 46. 100 Vgl. ebda, S. 46f. 25 seiner steigenden und fallenden Handlung, der gehobenen Rede und der Bewahrung der Sittlichkeit als ästhetisches Gegenstück zum naturalistischen Drama gesehen werden kann. Durch die Verwendung der drei Einheiten wollten die Autoren Realität generieren, denn es wird dadurch die Illusion von Wirklichkeit erzeugt. Außerdem sollte mit der Einheit des Ortes die Milieubefangenheit der dargestellten Personen ersichtlich werden.101 Die angestrebte Realitätstreue und Detailgenauigkeit wirkte sich auf die Regie, die Zusehenden und Schauspielenden aus. So wurde von den Autoren eine Bühnentopographie entwickelt, welche die kleinsten Kleinigkeiten beschrieb, denn auch in den Details stecke Aussagekraft. Die genauen Anweisungen der Autoren traten somit an die Stelle der Phantasie der Regie. Durch das detailliert vorgeschriebene Bühnenbild bekam das Publikum zugleich genaueste Informationen über das Leben der gezeigten Personen. Die Zusehenden erhielten die Rolle von Beobachtenden, denen sehr intime Einblicke in das Leben anderer (meist sind es Familiensituationen) geboten wurden. Sie sahen wie durch eine transparente Wand auf die jeweiligen Schauplätze.102 Außerdem verabschiedeten sich die Autoren aufgrund der angestrebten Realitätstreue von illusionsdurchbrechenden Elementen. Es sollte kein Kontakt mit dem Publikum hergestellt werden, daher wurden das Beiseitesprechen und der Monolog, die oft der Einweihung des Publikums dienten, sowie das Verbot, dass Schauspielende nicht mit dem Rücken zum Publikum handeln dürfen, aus der Theaterpraxis entfernt. Die dramatis personae pflegten nur den Kontakt untereinander und handelten innerhalb eines geschlossenen Systems.103 Mahal stellt fest, dass durch die erzeugte Bühnenillusion das Nachempfinden vonseiten des Publikums erschwert wurde: „[D]ie oben auf den Brettern, welche mit betonter Ausschließlichkeit nur ihre Welt bedeuten, nicht die Welt schlechthin, agieren gleichzeitig für sich und für die unten im Parkett – aber für diese nur par distance, eine Distanz, die ununterbrochen bleibt, eine Distanz, die separiert.“104 Bezüglich des Plots lässt sich festhalten, dass das Drama des Naturalismus nicht besonders handlungsreich ist. Große Taten und Kämpfe sucht man vergebens, es finden sich aber ins Psychische und Emotionale verlagerte Kämpfe, die sich in Sprache, Gestik und Mimik äußern.105 Mahal spricht in diesem Sinn von „unsichtbaren Kämpfen“106. Man darf aber nicht vergessen, dass die Autoren nicht nach einer aktionenreichen Handlung strebten, sondern es ihr Anliegen war, die bis ins kleinste Detail beobachtete Realität auf die Bühne zu

101 Vgl. Borchmeyer, Naturalismus, S. 202. 102 Vgl. Mahal, Naturalismus, S. 108f. 103 Vgl. ebda, S. 109f. 104 Ebda, S. 110. 105 Vgl. ebda, S. 107. 106 Ebda. 26 bringen. Es ging ihnen um die Analyse des Zustands.107 Für die Schauspielenden gab es daher kein Rollenglänzen und keine schnellen Auf- und Abtritte mehr, denn es wurde ein „forschend-ruhiges Zusehen und Zuhören“108 forciert. An die Stelle der Handlung trat nun die Darstellung der handelnden Personen. Diese werden von Taines Trias determiniert, wodurch das Drama einen wissenschaftlichen Anspruch erhält. Vererbung und Milieu wurden zu zentralen Motiven: In der Familie Selicke etwa sind die Figuren durch ihr Milieu bestimmt, aus dem sie nicht ausbrechen können. In Hauptmanns Vor Sonnenaufgang wird die Familie durch den vererbten Alkoholismus determiniert und die dargestellten Personen handeln nur nach den Verhaltensweisen, die ihnen das Milieu vorgibt.109 Wegen dieser Reduktion der Handlung und des damit einhergehenden Verlusts des Dramatischen wird von der sogenannten „Episierung des Theaters“110 gesprochen. Es kann aber noch nicht von einem epischen Theater gesprochen werden, das Bertolt Brecht noch prägen wird, da man nicht auf Verfremdung oder Desillusionierung abzielte.111 Um den Stücken trotz Handlungsarmut eine besondere Spannung zu verleihen, wurden außerordentliche Zeitabschnitte verwendet. In der Familie Selicke ist es Weihnachten, genauso wie bei Hauptmanns Friedensfest. In Strindbergs Fräulein Julie ist es die Mittsommernacht und bei Ibsens Gespenster ist es jener Tag, an dem das Asyl, das dem verstorbenen Vater gewidmet wurde, eingeweiht werden sollte.112 Nach dem Beginn zu einem besonderen Zeitpunkt wird „das Bühnengeschehen nach der einmal getroffenen Anordnung ‚sich selbst’ überlassen; anders, die vorgeführten Personen zum fixierten Zeitpunkt an dem gleichfalls fixierten Ort mit ‚ihrer’ Vergangenheit allein“113 gelassen. Der Versuch der möglichst genauen Abbildung der Realität im Naturalismus schlug sich auch in der verwendeten Sprache nieder. Im Drama des konsequenten Naturalismus wurde erstmals versucht, die Alltagssprache mimetisch und minutiös abzubilden. Dies stellte einen Bruch mit den bisherigen Sprachkonventionen dar, denn es wurde eine Redeweise verwendet, die weder poetisch noch fiktional war: Neben dem Gebrauch des Dialekts und Soziolekts kam es zur Verwendung von Jargons und Slangs bis hin zur Fäkalsprache.114

107 Vgl. ebda, S. 108. 108 Ebda. 109 Vgl. Fähnders, Avantgarde, S. 47 110 Ebda. 111 Vgl. ebda. 112 Vgl. Mahal, Naturalismus, S. 108. 113 Vgl. ebda. 114 Vgl. ebda, S. 96f. 27 Auch thematisch gab es im Naturalismus Novitäten, denn man erschloss Themen, die zuvor aus der Literatur ausgeklammert wurden, wie Sexualität, soziales Elend und Alkoholismus. Alle Phänomene wurden nun gleichwertig behandelt, d.h. es gab keine Rangordnung mehr bezüglich der Stoffe und Themen.115 Es wurden aber keineswegs alle Bereiche der Realität behandelt, sondern man bevorzugte die dunklen Stellen: „Not, Elend, Haß, Verkümmerung, Zerwürfnis, Verrohung, Vegetieren.“116 Die neuen Stoffe sollten das Bürgertum ganz bewusst reizen. An die Stelle der Schönheit trat die Wahrheit, was zur Folge hatte, dass das Hässliche, das zuvor in der Literatur oft ausgeschlossen wurde, nun in den Mittelpunkt gelangte.117 „Bordelle und Kneipen“, „die Nachtseiten des expansiven Industrialismus und erbarmungslosen Kapitalismus des Bismarckreichs“ und die „Nachtseiten vor allem des hektisch aufwallenden Stadtbereichs Groß-Berlin“118 zeigten die Kehrseite der schönen und riesigen Staatsgebäude. Man ließ sich vom schönen Schein nicht beirren und stellte die abgründigen Bereiche dar, vor denen viele die Augen verschlossen. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass die Literatur der Naturalisten von vielen abgelehnt wurde.119 Dabei wurden niedere Schichten dargestellt: Arbeiter, Proletarier, Deklassierte, Arme, Säufer und Verbrecher, die bisher nur als Nebenfiguren im Theater auftraten, gelangten in den Mittelpunkt. Ihr alltägliches Leben wurde in aller Deutlichkeit auf die Bühne gebracht.120 Oft stellten die naturalistischen Autoren das sogenannte „Lumpenproletariat“121 dar, was zugleich als Angriff gegen das gründerzeitliche Empfinden gesehen werden kann. Der Held des bürgerlichen Realismus war Fürst, wohlhabender Bürger oder etwa geachteter Geschäftsmann, im Naturalismus gelangte der „in seiner Menschenwürde völlig entehrte Prolet“ in den Mittelpunkt, womit auch „die Theorie von der Fallhöhe des dramatischen Helden“122 verworfen wurde. Die Figuren wurden zu Sinnbildern des menschlichen Daseins und ihr Leben wurde in all seiner Derbheit und Obszönität auf der Bühne gezeigt, sodass das Dargestellte einen deftigen und anrüchigen Beigeschmack erhielt. In Hauptmanns Vor Sonnenaufgang ist es beispielsweise die Trinkerfamilie Krause, die in all ihrer Derbheit auf der Bühne dargestellt wird.123

115 Vgl. Stöckmann, Naturalismus, S. 23. 116 Mahal, Naturalismus, S. 121. 117 Vgl. ebda, S. 116f. 118 Ebda, S. 117. 119 Vgl. ebda, S. 117. 120 Vgl. Hamann/Hermand, Epochen, S. 29. 121 Ebda. 122 Ebda. 123 Vgl. ebda, S. 29f. 28 Die Arbeitenden waren in den Darstellungen nicht bzw. nur sehr selten „Repräsentanten ‚der’ Arbeiterschaft“, vielmehr erhielten sie „individuelle bzw. heroische (Kretzer) oder gar humoristische (Holz/Schlaf) Züge“124, sodass sie keine sozialanalytische Qualität besaßen. Außerdem wurden sie oft in der Masse gezeigt, wodurch die Autoren „die Angst besetzten Affektmuster des Massendiskurses“ auf sie übertrugen, denn die Masse galt als „Kollektivwesen“, in dem die „bewusste Willenspersönlichkeit“ des Einzelnen getilgt und er zum „Triebwesen“125 reduziert wird. Zu erwähnen ist an dieser Stelle aber noch, dass die Naturalisten ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Arbeiterschaft hatten, denn man stellte sich zwar auf die Seite des arbeitenden Volkes, setzte sich aber nur inkonsequent für dieses ein.126 In der naturalistischen Literatur wurden auch die Frauen nicht mehr idealisiert: Die weiblichen Gestalten Hauptmanns haben keine angeborene Grazie, sondern etwas Schwerfälliges. So wird eine Rose Bernd als Person mit bäuerlichen Körperformen dargestellt. Außerdem wird die Frau nicht ideologisch überhöht, sondern die einfache Frau erfährt ein durchschnittliches Schicksal. Sie ist nicht mehr der Lohn für den Helden nach vollbrachter Tat, sondern eine vom Leben Benachteiligte.127 Auch die Darstellung von Kindern änderte sich. Während sie auf den Bildern der gründerzeitlichen Künstler noch engelsgleich dargestellt wurden, betonten die Naturalisten das Abstoßende. In den Texten werden kränkliche Kinder dargestellt, die nicht mehr lange zu leben haben, aber auch Kinder, die in ihren jungen Jahren schon ihre Unschuld eingebüßt haben und so verdorben sind, dass sie zu Kriminellen werden oder sich prostituieren.128 Aber häufig findet sich bei den Themen anstatt einer feinen Nuancierung einfache Schwarz-Weiß-Malerei: Der Reiche besitzt einen schlechten Charakter, wohingegen der Arme idealisiert wird. Ein derartiges vorurteilshaftes Schubladendenken, das sich angesichts der Realität im Deutschen Reich leider immer wieder bewahrheitete, hatte Folgen: Das hart arbeitende Volk betrinkt sich nicht aus Lust, sondern nur um die anstrengende und zermürbende Tätigkeit, die es verrichten muss, zu vergessen und die armen Mädchen prostituieren sich nur, weil ein Reicher ihre Unschuld raubt und sie keine andere Wahl mehr haben. Die Schuld wurde nicht mehr dem Individuum zugeschrieben, sondern der Gesellschaft und den Besitzenden.129

124 Stöckmann, Naturalismus, S. 29. 125 Ebda, S. 30. 126 Vgl. ebda, S. 28. 127 Vgl. Hamann/Hermand, Epochen, S. 34f. 128 Vgl. ebda, S. 35f. 129 Vgl. Mahal, Naturalismus, S. 124f. 29 Doch worum ging es den Naturalisten in ihren realistischen Darstellungen? Tröstende idealistische Ausführungen gaben sie nicht; sie jedoch nur als „Kopisten der Wirklichkeit“130 zu klassifizieren ist auch falsch. Sie stellten zwar fest, was ist, doch dahinter versteckt sich auch ein gewisser Appell: Das Gezeigte soll und darf so nicht sein. Die Naturalisten waren demnach nicht nur daran interessiert, die Wirklichkeit in allen Details nachzuzeichnen, sondern sie wollten auch eine ethische Aufgabe erfüllen. Sie verbanden die Abbildung der Wirklichkeit und Ethik miteinander.131 Die Naturalisten nahmen auf die eigene Zeit Bezug. Es wurde nicht mehr Ungewohntes und Fremdartiges, sondern das Leben in Deutschland im ausgehenden 19. Jahrhundert dargestellt. Man wollte zum Denken anregen und Diskussionen entfachen, die Literatur wirkte demnach auch politisch. Die Absicht war, die Menschen zu neuen Erkenntnissen zu bringen und ihnen die Augen zu öffnen, sie mit Problemen zu konfrontieren, bei denen so oft weggeschaut wurde. Man forcierte eine Auseinandersetzung mit der sozialen Frage, mit kapitalistischen Fehlentwicklungen und familiären Missständen.132 Damit der Appell seine Wirkung entfalten konnte, mussten Fragen, die gestellt wurden und eine Antwort verlangten, unbeantwortet bleiben. Deshalb ist das Ende in vielen naturalistischen Dramen offen: Es kommt zu keinem harmonischen Ausgang oder zum Sieg des Guten über das Böse, sondern die Stücke schließen abrupt. Die Situation wird nicht aufgelöst und das Publikum, das angesichts des ungelösten Problems verwirrt zurückbleibt, ist dazu angehalten, sich selbst ein Ende des Stücks bzw. eine Lösung des Problems zu überlegen.133

2.9 Meilensteine des naturalistischen Theaters

Eine große Bedeutung für das Drama des Naturalismus hat Gerhart Hauptmanns erstes Stück Vor Sonnenaufgang, das von der Freien Bühne uraufgeführt wurde. Den Anreiz zu diesem Werk fand er in der Prosasammlung Papa Hamlet, die ihn vor allem bezüglich der sprachlichen Gestaltung sehr beeindruckte, denn darin werden die Sprecher realitätsgetreu abgebildet.134 Bezüglich des Aufbaus orientierte sich Hauptmann am klassischen Dramenmodell: Die Einheit der Zeit wird strikt eingehalten und auch bezüglich der Einheit

130 Ebda, 111. 131 Vgl. ebda, S. 111f. 132 Vgl. ebda, S. 119. 133 Vgl. ebda, S. 114. 134 Vgl. Bunzel, Naturalismus, S. 107. 30 des Ortes und der Handlung gibt es nur kleinere Abweichungen vom klassischen Vorbild.135 Das Drama, in dem die Folgen des plötzlichen Reichtums dargelegt werden, ist eine Milieustudie: Es wird eine vom Alkohol gezeichnete Familie dargestellt. Jedoch zeigt sich im Drama auch, dass Hauptmann kein uneingeschränkt deterministisches Weltbild hatte, denn es wird im Stück in Aussicht gestellt, dass niemand automatisch zum Trinker wird. Hauptmann stellt Gegensätzliches gegenüber, wie beispielsweise die Ambivalenz in Loths Handlungen und Haltungen, löst es aber nicht auf.136 Mahal bezeichnet Hauptmanns Vor Sonnenaufgang als Stück, „das die Geister scheiden und jedermann bewußt machen sollte, daß da eine moderne Bewegung nicht mehr im Stadium der nur deklamatorischen Revolutionspathetik befangen war, sondern ihren Stil gefunden hatte [...]“137. Eine bedeutende Rolle kommt auch dem in Zusammenarbeit zwischen Arno Holz und Johannes Schlaf entstandenen Stück Die Familie Selicke zu, das vom Theaterverein Freie Bühne uraufgeführt wurde. Das Drama entstand zeitlich sehr nahe an Vor Sonnenaufgang, was gewisse Parallelen in der Sprache, bei dem Motiv und bei den Figuren erklärt. Auch Holz und Schlaf bildeten die Sprache genau ab und verzichteten auf dramaturgische Kunstgriffe wie Monologe oder Beiseitesprechen. Sie hielten sich wie auch Hauptmann in seinem Erstling an die drei aristotelischen Einheiten und gaben lange Bühnenanweisungen. Es zeigen sich aber auch Unterschiede: So ist der im Mittelpunkt stehende Trinker in der Familie Selicke verarmt, die soziale Verrohung wird nicht durch Vererbung, sondern durch die Umstände ausgelöst und die Schilderung des Zustandes weicht der analytischen Enthüllung.138 Mit dem Beginn der Tragik am Weihnachtsabend werden außerdem „religiöse Tröstungsangebote“139 entlarvt, die durch die Figur des werdenden Pastors Wendt noch deutlicher werden, weil die Erfahrungen der Großstadt ihn derart erschüttern, dass er seinen Glauben an eine transzendentale Ordnung verliert. Holz und Schlaf wollten mit dem Stück nicht rühren, wie dies von Kritikern oft eingewandt wurde, sondern die Rührseligkeit demaskieren.140 In Hauptmanns Die Weber treten das Proletariat und dessen Existenzbedingungen in den Mittelpunkt. Das Drama handelt vom schlesischen Weberaufstand von 1844 und basiert somit auf einer historischen Begebenheit.141 Dabei wird der Dialekt stärker als in allen

135 Vgl. ebda, S. 112. 136 Vgl. ebda, S. 112ff. 137 Mahal, Naturalismus, S. 24. 138 Vgl. Bunzel, Naturalismus, S. 103f. 139 Vgl. ebda, S. 105. 140 Vgl. ebda. 141 Vgl. ebda, S. 115f. 31 anderen Stücken Hauptmanns gezeigt: Es gibt eine Fassung im schlesischen Dialekt und eine zur besseren Verständlichkeit angepasste Version in einer dialektnahen Kunstsprache.142 Das Alkoholthema spielt auch in diesem Drama eine Rolle, jedoch geht es anders als in Vor Sonnenaufgang nicht um die Vererbung der Alkoholkrankheit. Das Ende des Stücks ist abrupt und das gezeigte Problem wird letztendlich nicht aufgelöst.143 Die drei genannten Stücke bieten nur eine kleine Auswahl an Stücken des naturalistischen Theaters. Es gibt natürlich noch weitere wichtige Dramen im Naturalismus, wie etwa die von Hauptmann stammenden Stücke Die Ratten, Der Biberpelz, Rose Bernd, Johannes Schlafs Meister Oelze oder Hermann Sudermanns Die Ehre und Sodoms Ende, um nur einige von ihnen zu nennen. Die genannten Stücke sollten nur als Anschauungsbeispiele für die Umsetzung ästhetischer Prämissen und als Referenzpunkte dienen. Sie können zu den im 21. Jahrhundert berühmtesten Stücken des deutschen Naturalismus gezählt werden.

142 Vgl. ebda, S. 117f. 143 Vgl. ebda, S. 119f. 32 3 Österreich vor und zur Zeit des deutschen Naturalismus

Da die Epoche des deutschen Naturalismus mit ihren wichtigsten Eckdaten bereits kurz dargestellt wurde, sollen im folgenden Kapitel die gesellschaftlichen und literarischen Entwicklungen in Österreich zur Zeitraum des deutschen Naturalismus dargelegt werden, um im weiteren Verlauf schlüssige Aussagen über die Epochenzuordnung des österreichischen Autors Ludwig Anzengruber tätigen zu können. Ein erstes Problem, das sich bei der Beschreibung der historischen Verhältnisse Österreichs und vor allem bei Reflexionen zur österreichischen Literaturgeschichte ergibt, ist, dass sich die räumlichen Ausbreitungen und die staatlichen Formen seit dem Mittelalter stark verändert haben. Es gibt unterschiedliche Betrachtungsweisen dessen, was bei den Untersuchungen unter den Begriff Österreich fällt: Man kann das Gebiet der zweiten österreichischen Republik heranziehen und auf diesem Untersuchungen anstellen oder man betrachtet das Territorium der Habsburger Monarchie und führt Erhebungen auf diesem Gebiet durch; dies hätte aber zur Folge, dass auch anderssprachige Gebiete in den Bereich der österreichischen Literatur fallen würden.144 Die folgenden Kapitel konzentrieren sich bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Habsburgermonarchie; bei den Ausführungen zum Bereich der Literatur stehen allerdings lediglich die deutschsprachigen Gebiete in der Monarchie im Fokus, da eine Untersuchung von Autoren und Werken unterschiedlicher Sprachen zu umfangreich werden würde. Oft wurde und wird die österreichische Literaturgeschichte nicht als eigene ausgewiesen, sondern der deutschen zugeordnet, womit auch eine Differenzierung der ästhetischen, thematischen und sozialen Konstituenten hinfällig werden würde. So findet man zum Beispiel im Reclam Buch der Literatur, das den Untertitel Deutsche Literatur vom frühen Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert trägt, oder in Metzlers Deutscher Literaturgeschichte eine Vielzahl von österreichischen Autoren. Die vorliegende Arbeit gliedert die österreichische Literatur nicht der deutschen Literaturgeschichte ein, sondern schließt sich Zeyringer und Gollner an, die Folgendes konstatieren: „Die Methode, jedwedes Werk in deutscher Sprache als ‚deutsche Literatur’ zu bezeichnen, ist kultur- und literarhistorisch keineswegs haltbar.“145 Die österreichische Literatur unterscheidet sich recht deutlich von der deutschen, doch sollen diese Unterschiede nicht als Abweichungen von der deutschen Literatur gesehen werden, die

144 Vgl. Klaus Zeyringer/Helmut Gollner: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650. Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag 2012, S. 15f. Im Folgenden zitiert als: Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte. 145 Ebda, S. 18. 33 einen deutschen Zentrumsanspruch bestärken würden, sondern sie zeichnen die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur aus.146 Vor diesem Hintergrund sind auch die nachfolgenden Kapitel zu lesen.

3.1 Historische und gesellschaftliche Bedingungen in Österreich

1804 gründete Franz II., Neffe des Aufklärers Joseph II., das erbliche Kaisertum Österreich und ernannte sich als Franz I. zum Kaiser von Österreich.147 In den darauffolgenden Jahren kam es, wie schon in den Jahren zuvor, zu Kriegen mit Napoleon, der letztendlich aber besiegt werden konnte. Mit dem Wiener Kongress 1815 sollte Europa nach der französischen Revolution wieder geordnet werden.148 Bereits 1809 war Clemens Wenzel Lothar Fürst Metternich zum Außenminister des Kaisertums berufen worden, der ab dem Wiener Kongress bis 1848 der einflussreichste Politiker Zentraleuropas war. Er prägte das Leben in der Habsburgermonarchie, denn durch ihn gab es eine sehr strenge Zensur, einen kontrollierten literarischen Markt, eine antiliberale und antinationale Politik und eine Wiederbelebung des Katholizismus. Metternich prägte auch den Deutschen Bund, in dem die Monarchie Mitglied war.149 Doch laut Kleinberg war unter Metternich das Staatswesen „in sich selbst zum Eigenzweck erstarrt“150. Man baute auf Repression und wollte jedwede revolutionäre Stimme und jede Freiheitsforderung im Keim ersticken, wozu der Geheimdienst eingesetzt wurde.151 Doch es begann in der Monarchie zu brodeln: Die Lage der Handwerker war schlecht, denn sie standen durch die Industrialisierung immer größer werdenden Fabriken gegenüber und die Arbeiterschaft und das Bauerntum waren geplagt von Rechtlosigkeit.152 Außerdem kamen in der Monarchie verschiedene Völker unter eine Führung, die immer lauter nach „politischer Freiheit, wirtschaftlicher Neugestaltung und [...] nach völkischer Selbstständigkeit“153 riefen. So nahm die Unzufriedenheit in der Habsburgermonarchie immer mehr zu. Aufgrund der sich zuspitzenden Lage ist es wenig verwunderlich, dass die Februarrevolution in Frankreich von 1848 auch in der Monarchie ihre Wirkung zeigte: Im März desselben Jahres hielt Lajos Kossuth in Ungarn eine fesselnde Rede, in der er sich für

146 Vgl. ebda. 147 Vgl. ebda, S. 86. 148 Vgl. ebda, S. 91f. 149 Vgl. Wynfrid Kriegleder: Eine kurze Geschichte der Literatur in Österreich. Menschen – Bücher – Institutionen. Wien: Praesens 2011, S. 186f. Im Folgenden zitiert als: Kriegleder, Literatur. 150 Alfred Kleinberg: Ludwig Anzengruber. Ein Lebensbild. Stuttgart, Berlin: Cotta 1921, S. 2. Im Folgenden zitiert als: Kleinberg, Anzengruber. 151 Vgl. Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte, S. 129. 152 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 3. 153 Ebda. 34 Veränderungen in der Monarchie einsetzte, und nur wenig später kam es in Wien zu einer ersten Demonstration, in der die kaiserlichen Truppen auf die Demonstrierenden schossen.154 Das Volk begann sich zu formieren und zurückzuschlagen: „Die Bürgerschaft stellte ihre Nationalgarde zusammen, in ihr bildeten Studenten die Akademische Legion; in den Vororten griffen Arbeiter einige Fabriken und Ämter an.“155 Kurz darauf musste Metternich zurücktreten und der Aufstand griff auch auf Graz und Prag über. Zwei Mal floh der Hof im Jahr der Revolution aufgrund der revoltierenden Bürger aus Wien. Die Stadtherrschaft der Bürger konnte beim zweiten Aufstand aber mit Gewalt beendet werden.156 Mit Zugeständnissen verebbte allerdings der Revolutionsgedanke in einigen Gesellschaftsschichten und das Bürgertum kehrte der Revolution den Rücken zu, als es politische Freiheit erhielt.157 Die Bürgerlichen setzten sich auch nicht für die Forderungen der Arbeiterschaft ein, wie zum Beispiel für ein Wahlrecht oder das Einkammernsystem, sondern überließen wieder „den rückschreitenden Mächten Raum zur Ausbreitung“158. Auch die Bauern wandten sich von ihren Revolutionsbemühungen ab, als das Untertänigkeitsverhältnis aufgelöst wurde.159 Letztendlich gab es in Österreich nach der Revolution einige Verwaltungsreformen, wodurch das Bürgertum höhere politische Ämter bekleiden konnte. Zuletzt wurden 1849 die sich unter Kossuth auflehnenden Ungarn mit Hilfe der Russen besiegt, wodurch der Weg zum Neoabsolutismus geebnet war.160 Die Wünsche der unterschiedlichen Völker und Klassen blieben aber weitgehend unerfüllt.161 Im Jahr der Revolution bestieg Kaiser Franz Joseph in der Nachfolge des führungsschwachen Ferdinands den Thron und regierte ab 1851 absolutistisch.162 Dies hatte weitreichende Folgen für Innen- und Außenpolitik. Vielen bürgerlichen Forderungen aus dem Jahr der Revolution wurde in einer „Revolution von oben“163 Folge geleistet. Jedoch wurde während der achtundsechzigjährigen Regierungszeit des Kaisers versucht, mit zwei nicht zu vereinigenden Prinzipien zu regieren, dem Absolutismus und dem Liberalismus.164 Zudem

154 Vgl. Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte, S. 261. 155 Ebda. 156 Vgl. ebda, S. 261f. 157 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 4. 158 Ebda. 159 Vgl. ebda, S. 5. 160 Vgl. Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte, S. 262f. 161 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 5. 162 Vgl. Kriegleder, Literatur, S. 332. 163 Ebda, S. 233. 164 Vgl. Hanns Sassmann: Das Reich der Träumer. Eine Kulturgeschichte Österreichs vom Urzustand bis zur Republik. Berlin: Verlag für Kulturpolitik 1932, S. 384. 35 gab es einen ständigen Wechsel der Regierungen.165 So begann die Monarchie allmählich zu zerfallen: Zuerst verlor man aufgrund nationaler Bestrebungen mit der Lombardei, der Toskana und schließlich mit Venetien Gebiete im heutigen Italien.166 Mit den Niederlagen bei Magenta und Solferino 1859 konnte sich der Absolutismus nicht mehr halten und der Aufstieg des Liberalismus begann.167 1866 kam es zwischen dem Kaisertum und Preußen zu einem Krieg, da Österreich seine Vorherrschaft im Deutschen Bund sichern wollte. Doch die Preußen siegten in der Schlacht bei Königgrätz über die österreichische Armee und der Deutsche Bund wurde aufgelöst. Trotz der Geschehnisse von 1866 tendierten die deutschsprachigen Bürger in der Habsburgermonarchie weiterhin zur Gründung eines deutschen Reichs.168 Die Ungarn hingegen wollten ihre Souveränität zurück und so akzeptierte der Kaiser 1867 den Ausgleich mit Ungarn. Es entstand die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, in der zwei Völker herrschten und die Hoffnungen der slawischen Völker unerfüllt blieben.169 Mit der Dezemberverfassung von 1867 konnte im österreichischen Teil der Monarchie, der inoffiziell auch Cisleithanien genannt wurde, das liberale Bürgertum einen politischen Sieg erringen, jedoch sollte die Vorherrschaft des Liberalismus mit einer Wahlniederlage bereits im Jahr 1879 wieder beendet werden. Letztendlich scheiterte der Liberalismus an sozialen und nationalen Fragen, denn man unterdrückte die Arbeiterbewegung, war gegen ein allgemeines Wahlrecht und die Abgeordneten waren eher Vertreter ihrer eigenen Nation als Liberale.170 In dieser Zeit, in der das Abgeordnetenhaus nach Ministerpräsident Anton von Schmerling als „Schmerling-Theater“ bezeichnet wurde, konnte von einer „politischen oder sozialen Gerechtigkeit“171 jedoch keine Rede sein. Nach den Liberalen kam eine konservative Regierung unter Eduard Taaffe zustande. Bis 1893 konnte sich Taaffe durch Zugeständnisse, die er an unterschiedliche Gruppen machte, als Ministerpräsident halten. Nach seinem Rücktritt 1893 nahmen die innenpolitischen Unruhen immer mehr zu, bis die Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg endgültig auseinanderbrach.172 In der Habsburgermonarchie spielte die katholische Kirche eine wichtige Rolle, denn sie übte einen großen Einfluss auf die Politik aus. So wurde 1855 ein Vertrag zwischen Staat und Kirche unterzeichnet, der eine Übereinstimmung des öffentlichen Unterrichts mit der

165 Vgl. Kriegleder, Literatur, S. 233. 166 Vgl. ebda. 167 Vgl. Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte, S. 263. 168 Vgl. Kriegleder, Literatur, S. 233. 169 Vgl. ebda, S. 234. 170 Vgl. ebda. 171 Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte, S. 264. 172 Vgl. Kriegleder, Literatur, S. 266ff. 36 katholischen Lehre festlegte. Erst 1868 bis 1870 traten unter der Vorherrschaft des liberalen Bürgertums Gesetze in Kraft, die für eine Einschränkung der kirchlichen Kompetenzen vor allem im Bildungsbereich sorgten. 1870 wurde im Vatikanischen Konzil das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes bestätigt, woraufhin das Konkordat aufgelöst wurde. Dieser umstrittene Vertrag und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Diskurse werden auch in der Literatur thematisch aufgegriffen, unter anderem in Ludwig Anzengrubers Pfarrer von Kirchfeld.173 Im Bereich der Wirtschaft gab es in der Monarchie längerfristig gesehen zwar einen Aufschwung, doch verzeichnete man Rückstände gegenüber Deutschland. Österreich als Teil der Doppelmonarchie hatte um 1900 ein geringeres Entwicklungsniveau als Deutschland, denn 1910 waren noch über 50 Prozent der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, wohingegen nur knapp über 20 Prozent im sekundären Sektor arbeiteten, d. h. ein Großteil der Bevölkerung arbeitete noch im Bereich der Agrarwirtschaft.174 Einen großen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung hatte die voranschreitende Industrialisierung, die aber auch der Grund für das Elend vieler Menschen war, die unter schrecklichen Bedingungen leben und arbeiten mussten.175 Die Industrialisierung wurde durch ein starkes Wachstum der Bevölkerung begünstigt, das aber „mit den sozialen und ökonomischen Verhältnissen eine verbreitete Armut, vor allem in den städtischen Randbezirken und auf dem Lande“176 brachte. Zwar wurde die feudale Grundherrschaft 1848 abgeschafft, doch das Bauerntum hatte ein schweres Los, denn um vom Grundherrn unabhängig zu sein, mussten die Bauern ein Drittel des Wertes ihres Hofes an diesen zahlen. Vielen war es nicht möglich, diese Summe aufzubringen, weshalb sie in die Stadt zogen. Auch an der Unterdrückung der Mägde, Knechte und Dienstboten änderte sich bis in die 1960er-Jahre wenig.177 So drängten immer mehr Menschen in die Stadt: 1874 lebten in Wien über 800.000 Menschen und 1889 bereits über eine Million. Doch nicht nur die Hauptstadt, sondern auch die Provinzhauptstädte verzeichneten ein Wachstum. Der rasche Zuwachs förderte aber eine aufkommende Wohnungsnot, sodass 20 Prozent der Arbeitenden und Bediensteten Bettgeher waren, die nur für ein paar Stunden ein Bett zahlten. Zudem hatten die ärmeren Schichten keine gute Ernährungsmöglichkeit und nur unzureichende hygienische Verhältnisse, was zu gesundheitlichen Schäden führte.178

173 Vgl. Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte, S. 263. 174 Vgl. Rauh, Epoche, S. 15. 175 Vgl. Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte, S. 265. 176 Ebda, S. 131. 177 Vgl. ebda, S. 266. 178 Vgl. ebda, S. 265. 37 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die historisch-gesellschaftlichen und damit auch die geistig-kulturellen Entwicklungen in Österreich anders verliefen als in Deutschland.179 Österreich war im 19. Jahrhundert ein plurilinguales und multiethnisches Kaisertum und bildete ab 1867 mit Ungarn eine plurizentrische Doppelmonarchie, in der es vermehrt nationale Separationsbestrebungen gab. Die Monarchie wurde anders als das deutsche Reich, in dem in weiten Teilen der protestantische Glaube vorherrschte, stark von der katholischen Kirche beeinflusst. Im Bereich der Wirtschaft gab es in Österreich aber große Parallelen zu Deutschland, jedoch war man bei der Entwicklung auf diesen Gebieten nicht so fortschrittlich wie der nördliche Nachbar.

3.2 Literarische Rahmenbedingungen und Entwicklungen

Auch im Bereich der Literatur gab es Veränderungen in der Habsburgermonarchie: Nach der Revolution erfolgte eine Abschaffung der Zensur, die aber nur kurz andauerte. Bald wurde die Kontrolle unter dem neuen Kaiser Franz Joseph wieder strenger und 1852 verbot die ‚Preß- Ordnung’ Werke, die die Monarchie und Religion angriffen oder die öffentliche Sittlichkeit verletzten. Durch das ‚Preßgesetz’ von 1862 wurde die Vorzensur von Büchern abgeschafft, jedoch legte man den Autoren und Verlegern die Bürde strengerer Selbstkontrolle auf. Bei Nichteinhaltung der Verordnung wurde eine Beschlagnahmung der bereits gedruckten Bücher durchgeführt.180 Langsam begann die Ausweitung des Buchmarktes, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts intensiver wurde. Zwischen 1865 und 1880 verdoppelte sich in den deutschsprachigen Ländern die Anzahl der Verlage beinahe, doch die Honorare für Autoren wurden aufgrund des steigenden Angebots geringer, wovon auch Ludwig Anzengruber betroffen war.181 Es gab einen Aufschwung der Zeitungen, die auch Besprechungen und Werbung für Literatur und Kultur beinhalteten. Dass es auch zu Fehlentwicklungen kam, da Rezensionen und Kritiken oft abgesprochen waren, führte zu einer kritischeren Auseinandersetzung mit dem Journalismus. Durch den Aufschwung der Zeitungslandschaft wurde es möglich, hauptberuflich als Journalist zu arbeiten, da die Entlohnung nun recht gut ausfiel. In Deutschland war Die Gartenlaube auf ihrem Höhepunkt mit 382.000 gedruckten Exemplaren die erfolgreichste Kulturzeitschrift, die auch den Bekanntheitsgrad von so

179 Vgl. ebda, S. 13. 180 Vgl. ebda, S. 268. 181 Vgl. ebda, S. 267f. 38 manchem Künstler steigerte. Eine ähnliche große Auflage eines Kulturblatts wurde in der Habsburgermonarchie nicht erreicht.182 Doch welche literarischen Wege schlug man im 19. Jahrhundert – der Zeit der Revolution und der Industrialisierung – in der Habsburgermonarchie ein? Wegen der zunehmenden Unzufriedenheit und der steigenden Unterdrückung nahm die politische Literatur bis Mitte der 1840er-Jahre zu. Aus jener Zeit stammen beispielsweise die Spaziergänge eines Wiener Poeten von Anastasius Grün. Oft wurde die politische Literatur, die in der Monarchie verboten war, in Deutschland veröffentlicht, meist aber erst, als schon ein Teil davon illegal ins Kaisertum gelangt war.183 Die „politisch engagierte, sich in die Tagesereignisse einmischende“184 Dichtung wird als Vormärzliteratur bezeichnet. Viele aus dem Bürgertum zogen sich aber aufgrund der restriktiven Bedingungen jener Jahrzehnte ins Private, ins Innere, zurück und entwickelten eine Vorliebe für das Kleine, das Unbeachtete, aber auch für die eigene nationale Vergangenheit, so schwelgten beispielsweise die Deutschen der Monarchie im Reich Barbarossas oder die Ungarn im Reich der Árpáden.185 Die Epoche von 1815 bis 1848 wird rückwirkend auch als Biedermeier bezeichnet, jedoch überdeckt dieser Begriff die politischen Bestrebungen mancher Künstler.186 Ob die Revolution auch einen Bruch in der Literatur der Monarchie kennzeichnet, ist fraglich, denn Johann Nestroy, Franz Grillparzer und Adalbert Stifter schrieben dort weiter, wo sie vor der Revolution angefangen hatten. Eine besondere Veränderung im literarischen Bereich gab es nach 1848 aber, denn die politische Literatur ging in der Habsburgermonarchie ebenso zurück wie im Deutschen Bund.187 Ein Einschnitt aus literaturhistorischer Sicht zeigt sich erst in den Todesjahren von Adalbert Stifter 1868 und Franz Grillparzer 1872, als die Kunstperiode, die „die Welt noch als Ganzes im künstlerischen Zugriff erfasste“188, endete. Zwischen 1870 und 1930 war das Lebensgefühl in den habsburgischen Ländern vielschichtig, denn es herrschte ein Sammelsurium unterschiedlicher weltanschaulicher Haltungen, politischer Überzeugungen und widersprüchliche Vorstellungen vom gesellschaftlichen Zusammenleben in diesem riesigen Reich. Dies zeichnete sich auch in der Literatur ab, sodass sich viele künstlerische Auf- und Umbrüche hintereinander und teilweise

182 Vgl. ebda, S. 270f. 183 Vgl. ebda, S. 129f. 184 Kriegleder, Literatur, S. 232. 185 Vgl. Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte, S. 130. 186 Vgl. ebda, S. 133. 187 Kriegleder, Literatur, S. 232. 188 Herbert Zeman: Die österreichische Literatur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In: Literaturgeschichte Österreichs. Von den Anfängen im Mittelalter bis zur Gegenwart. 2., überarb. und aktual. Auflage. Hrsg. von Herbert Zeman. Freiburg i. Br., Berlin, Wien: Rombach 2014, S. 494. 39 auch parallel vollzogen.189 Fast allen literarischen Strömungen und Epochen dieser Zeit lassen sich österreichische Autoren zuordnen: Um 1860 war der Realismus mit Dichtenden wie Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand von Saar und etwas später auch mit vertreten. Dieser ausgeprägte soziale Realismus erhielt durch Ludwig Anzengruber und später durch Franz Kranewitter sowie Karl Schönherr gar naturalistische Züge. Es gab literarische Stimmen aus dem ländlichen Bereich, zum Beispiel den Dichterkreis Jung-Tirol. Mit den Autoren um Jung-Wien entstand eine Verbindung zum deutschen und französischen Symbolismus und Impressionismus und zur Zeit des ersten Weltkrieges entwickelte sich der Expressionismus.190 Obwohl Österreich 1866 aus dem Deutschen Bund ausgetreten war, orientierten sich noch viele deutschsprachige Autoren in der Monarchie an der deutschen Literatur. Man beharrte auf der Vorstellung einer gemeinsamen deutschen Literatur und es wurde auf die gemeinsame Identität der deutschsprachigen Literatur der Monarchie und der Literatur des deutschen Reichs verwiesen.191 Für die Literatur lässt sich festhalten, dass es im deutschsprachigen Teil der Monarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Stilrichtungen gab. Die Ausprägungen der unterschiedlichen Richtungen in der Monarchie waren jedoch nicht gleich wie in Deutschland, auch wenn es zum Teil eine Orientierung an deutschen Autoren gab. Das nächste Kapitel beschäftigt sich genauer mit der Ausformung des Naturalismus im deutschsprachigen Teil der Monarchie, der in Frankreich, Skandinavien und Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Blüte gelangte. Diesbezüglich soll untersucht werden, ob sich auch in Österreich ein Naturalismus entwickelte und welche Ausprägungen dieser annahm.

3.3 Die Frage nach einem österreichischen Naturalismus

Es wurde bereits erläutert, dass die Autoren des Naturalismus versuchten, die Wirklichkeit exakt abzubilden. Dabei gingen sie weiter als die Realisten, denn sie idealisierten das Dargestellte nicht, sondern zeigten auch das Hässliche, stellten es sogar in den Vordergrund. Sie machten sich die neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaften und der Soziologie zunutze und führten neue Stoffe und Konzepte in die Literatur ein. Zudem lehnten die Naturalisten in Deutschland eine Gründerzeitliteratur ab und strebten eine Veränderung der Literatur an. Zugleich war die Epoche in Deutschland ein Durchgangsstadium und besaß einen transitorischen Charakter, d.h. sie löste sich bald wieder auf und einzelne Elemente

189 Vgl. ebda, S. 493f. 190 Vgl. ebda, S. 495. 191 Vgl. Kriegleder, Literatur, S. 239f. 40 wurden ersetzt und in andere Zusammenhänge gesetzt.192 Im Folgenden soll untersucht werden, ob es in Österreich eine ähnliche Bewegung bzw. Richtung gab. In Österreich wurde auch die Frauenbewegung vom Naturalismus beeinflusst. Autorinnen wie Bertha von Suttner, Marie Eugenie delle Grazie, Franziska von Kapff- Essenther und Irma von Troll-Borostyáni publizierten in naturalistischen Medien. Die Provinzkunst stand ebenfalls in einem engen Verhältnis zum Naturalismus: Autoren dieser Richtung, wie etwa Franz Kranewitter oder Karl Schönherr, die zugleich für Die Gesellschaft schrieben, waren mit ihrem literarischen Programm Vertreter einer – mit Werner Michler zu sprechen – ‚Paramoderne’ und gehörten genauso zur Aufbruchsbewegung. Der Naturalismus wirkte auch auf die Autoren von Jung-Wien, in deren Werken nicht selten naturalistische Elemente zu finden sind.193 In Bertha von Suttners Roman Die Waffen nieder!, bei dem sie ähnliche Rechercheverfahren wie Zola und journalistische Kriegsberichterstatter verwendete – sie reiste zu den im Roman vorkommenden Schlachtfeldern –, kommen Darstellungstechniken zur Anwendung, die von Zola und Tolstoi ausgebildet wurden.194 Beatrix Müller-Kampel bezeichnet den überaus erfolgreichen Roman als Hybrid: Er erhalte mit der Gestaltung der Figuren und den Beziehungen zwischen diesen eine triviale Narrativik, mit der Schilderung des Krieges eine naturalistische Drastik und mit der Zurückdrängung der Handlung zugunsten von Dialogen, die Überzeugungsarbeit leisten, ein pazifistisches Programm.195 Schonungslos schildert Suttner das Kriegsgeschehen und bricht mit den ästhetischen Tabus des Realidealismus in Form einer auf den Höhepunkt getriebenen Mimesis der Wirklichkeit, die zugleich wie eine Schocktherapie wirkt, wobei sie über die naturalistische Darstellungsweise hinausgeht, indem sie die auktoriale Erzählerin das Geschehen im Sinne einer moralischen Belehrung kommentieren lässt. Freilich kann nicht der Anspruch erhoben werden, den Roman als rein naturalistisch zu klassifizieren, jedoch sind einzelne Sequenzen sehr wohl naturalistisch, wie etwa die detailreich abgebildeten Schauplätze. Zudem befasste sich Bertha von Suttner mit den naturalistischen Autoren Ibsen und Zola und stand auch in ihrer

192 Vgl. Werner Michler: Zur Frage eines österreichischen Naturalismus. In: Sonderweg in Schwarzgelb? Auf der Suche nach einem österreichischen Naturalismus in der Literatur. Hrsg. von Roland Innerhofer und Daniela Strigl. Innsbruck: Studienverlag 2016, S. 25. Im Folgenden zitiert als: Michler Naturalismus. 193 Vgl. ebda, S. 27ff. 194 Vgl. ebda, S. 28. 195 Vgl. Beatrix Müller-Kampel: Naturalistische Pazifismus oder pazifistischer Kitsch? Zu Bertha von Suttners Erzählprosa. In: Sonderweg in Schwarzgelb? Auf der Suche nach einem österreichischen Naturalismus in der Literatur. Hrsg. von Roland Innerhofer und Daniela Strigl. Innsbruck: Studienverlag 2016, S. 140. 41 Kunstauffassung den Naturalisten sehr nahe. Es ist also wenig verwunderlich, dass es in ihrem Roman eine naturalistische Mimesis gibt, in der auch das Hässliche Platz findet.196 Eine weitere Autorin, die in einem engen Zusammenhang mit dem Naturalismus steht, ist Marie Eugenie delle Grazie. Sie kann unter Heranziehung der Rezeption durchaus als naturalistische Autorin gesehen werden. Ihr Versepos Robespierre steht unter dem Einfluss der Naturwissenschaften und des Positivismus. Zwar widerspricht die gebundene Sprache einer Zuordnung zum Naturalismus, jedoch deutet die schonungslose und detailreiche Darstellung des Hässlichen auf diesen hin. Aber vor allem ihr Stück Schlagende Wetter gilt als naturalistischer Prototyp, auch wenn die Autorin in den Darstellungen in einigen Punkten über den Naturalismus hinausgeht. Im aus der Montanistik stammenden Titel Schlagende Wetter, der Bezeichnung für eine Explosion aufgrund von bestimmten Gaszusammensetzungen in Kohlegruben, zeichnet sich der naturwissenschaftliche Einfluss bereits ab. Zugleich ist dieser Titel eine Metapher für die hohe Sprengkraft unterschiedlicher sozialer Interessen. Im Stück kommt die Autorin der Forderung nach Nähe zwischen Natur und Kunst nach. Auch in inhaltlicher sowie sprachlicher Hinsicht zeichnen sich naturalistische Elemente ab: Im Mittelpunkt steht der (Über-)Lebenskampf von Bergarbeitern, die aufgrund eines drohenden Unglücks streiken. Durch die dialektale Färbung der Sprache und durch den ausgiebigen Nebentext wird eine genaue Schilderung des Milieus gegeben.197 Im Bereich der Provinzliteratur zeigen sich in Franz Kranewitters Dialektdramen mit ihrer sprachmimetischen Gestaltung, der deterministischen Handlungsführung und dem Alkoholmotiv durchaus Elemente des Naturalismus.198 Peter Rosegger hat ebenfalls eine Verbindung zum Naturalismus, es liegen Parallelen zu Strindberg und Zola vor: Strindberg schrieb in Unter französischen Bauern wissenschaftlich über Bauern, indem er sich zuerst Wissen über diese aneignete und dieses dann an der Realität prüfte. Rosegger wählte diese Methode freilich nicht, da er selbst aus der Provinz stammte und somit Einblick in das Leben der Bauern hatte, schrieb er aber ein Buch wie Sonderlinge aus dem Volke der Alpen, dann nahm er literarische Abstraktionen vor, die an Strindbergs wissenschaftliche Methode

196 Vgl. ebda, S. 146ff. 197 Vgl. Alexandra Millner: Schmerz, Erbarmen und Lebensnerv. Marie Eugenie delle Grazies „Schlagende Wetter“ (1898) – über den Naturalismus hinaus gelesen. In: Sonderweg in Schwarzgelb? Auf der Suche nach einem österreichischen Naturalismus in der Literatur. Hrsg. von Roland Innerhofer und Daniela Strigl. Innsbruck: Studienverlag 2016, S. 171-175. 198 Vgl. Michler, Naturalismus, S. 27. 42 erinnern.199 Bei Rosegger und Zola sind zwar Unterschiede in der Rolle der Bauern zu erkennen – in Roseggers Jakob der Letzte werden sie als Beispiele für Erkrankungen der Zeit gezeigt, wohingegen sie in Zolas Die Erde Opfer der Natur sind – jedoch ist die Ursache für die bäuerliche Krise dieselbe: Zola und Rosegger führen sie auf die aus dem Ausland stammende, vornehmlich amerikanische Konkurrenz zurück. Diese Erklärung wird auch in Strindbergs Unter französischen Bauern herangezogen.200 Ferdinand von Saar kommt in manchen Erzählungen der naturalistischen Erzählmethode sehr nahe.201 Er beschreibt die Realität der Monarchie und zeigt neben den Arbeitern, dem Kleinbürgertum und dem Judentum auch die Aristokraten, er verwendet also ein breites Spektrum an Protagonisten.202 Vor allem seine späte Prosa ist leicht mit dem Naturalismus in Verbindung zu bringen, jedoch kann sie diesem nur mit bestimmten Einschränkungen zugerechnet werden: Beispielsweise kommt es in der Geschichte Die Heirat des Herrn Stäudl zur Darstellung einer Mordtat, die als Folge einer sich entwickelnden Krankheit beschrieben wird, d.h. es wird ein deterministisches Erklärungsmodell herangezogen.203 Jedoch wendet sich Saar gegen den psychopathologischen Diskurs seiner Zeitgenossen und lässt seinen Täter mitdenken.204 Er weicht also teilweise vom naturalistischen Konzept ab. In seiner bekanntesten Novelle Die Steinklopfer aus dem Jahr 1874 zeigt Saar das Milieu der Arbeiter, die beim Bau der Semmeringbahn beteiligt sind. Die Novelle zählt damit zu den frühesten Werken, die sich mit der Arbeiterklasse beschäftigen. Saar behandelt darin aber nicht die soziale Frage im eigentlichen Sinn, denn es werden keine sozialen Forderungen gestellt, eine soziale Anklage kann nur zwischen den Zeilen herausgelesen werden. Im Mittelpunkt der Novelle steht ein Arbeiter, der in eine ausweglose Situation gebracht wird und daraufhin seinen Vorgesetzten tötet. Am Ende muss der Protagonist seine Schuld zwar abbüßen, jedoch trifft er auf milde Richter und der Ausblick auf eine glückliche Zukunft wird

199 Vgl. Karl Wagner: Das bäuerliche Paradigma. Strindbergs „Unter französischen Bauern“, Zolas „Die Erde“, Hardys „Die Woodlanders“ und Roseggers „Jakob der Letzte“. In: Sonderweg in Schwarzgelb? Auf der Suche nach einem österreichischen Naturalismus in der Literatur. Hrsg. von Roland Innerhofer und Daniela Strigl. Innsbruck: Studienverlag 2016, S. 72ff. 200 Vgl. ebda, S. 77. 201 Vgl. Martini, Realismus, S. 489. 202 Vgl. Kriegleder, Literatur, S. 255. 203 Vgl. Werner Garstenauer: Symbolhaftes Erzählen und Naturalismus bei Saar und Hauptmann. In: Sonderweg in Schwarzgelb? Auf der Suche nach einem österreichischen Naturalismus in der Literatur. Hrsg. von Roland Innerhofer und Daniela Strigl. Innsbruck: Studienverlag 2016, S. 84ff. 204 Vgl. ebda, S. 94. 43 gegeben.205 Vor allem eine thematische Nähe der Novelle zum Naturalismus lässt sich nicht bestreiten, sie jedoch als rein naturalistisch zu klassifizieren, wäre aufgrund deutlicher Abweichungen von der naturalistischen Praxis schlichtweg falsch. Auch in seiner Lyrik richtet der Autor seinen Blick teilweise auf Soziales und den 4. Stand, so etwa in Arbeitergruß und Ziegelschlag. Es wäre aber unmöglich Ferdinand von Saar dem Naturalismus zuzuordnen, da er selbst den Naturalismus wie auch den Impressionismus ablehnte. So wurde er oft als zwischen den Zeiten stehender Autor behandelt.206 Nichtsdestotrotz sind seine späten Werke „[...] thematisch und formal in der gestrafften Sachlichkeit der Katastrophenführung, ihrem Tatsachenstil, in ihrer demaskierenden, das Sentimentale aussparenden Psychologie, ihrer Bevorzugung des Pathologischen, Erotischen, Kriminellen dem Naturalismus sehr nahe gekommen.“207 Die Autoren von Jung-Wien weisen ebenfalls deutliche Verbindungen zum Naturalismus auf: Dies zeigt sich beispielsweise im Vorkommen des Vererbungsmotivs bei Hugo von Hofmannsthal, Leopold von Andrian und Richard Beer-Hofmann. Zudem finden sich bei Beer-Hofmann Elemente des Naturalismus, wie etwa die Evolutionstheorie, in Verbindung mit Charakteristiken aus anderen literarischen Bereichen.208 Schnitzlers Prosatext Der Sohn. Aus den Papieren eines Arztes, der in der Zeitschrift Freie Bühne erschien, weist ebenfalls naturalistische Merkmale auf: Der Erzähler ist von den Naturwissenschaften beeinflusst, es wird das Vorstadtmilieu gezeigt und der Schluss, bei dem eine soziale Determiniertheit in Aussicht gestellt wird, kommt unerwartet.209 In seinen Erzählungen Das Himmelbett und Spaziergang schildert er im naturalistischen Stil den durchaus naturalistischen Schauplatz, geht aber über den Naturalismus hinaus, indem er das Geschilderte durch die personale Erzählsituation mit subjektiven Wahrnehmungen und Stimmungen relativiert.210 Schnitzlers innerer Monolog Leutnant Gustl, bei dem die Hauptperson für das Wesen eines gesellschaftlichen Standes steht und Individuelles nur

205 Vgl. Heinz Rieder: Nachwort. In: Ferdinand von Saar: Die Steinklopfer. Tambi. Zwei Novellen aus Österreich. Nachwort von Heinz Rieder. Stuttgart: Reclam 2001. (= Recalms Universal-Bibliothek. 8663.) S. 92f. 206 Vgl. Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte, S. 294f. 207 Martini, Realismus, S. 493. 208 Vgl. Michler, Naturalismus, S. 30. 209 Vgl. Deborah Holmes: Schnitzler am Stadtrand. Die Überwindung des Naturalismus in zwei frühen Skizzen. In: Sonderweg in Schwarzgelb? Auf der Suche nach einem österreichischen Naturalismus in der Literatur. Hrsg. von Roland Innerhofer und Daniela Strigl. Innsbruck: Studienverlag 2016, S. 215. 210 Vgl. ebda, S. 216. 44 „Symptom“ ist, „versteht sich immer noch als Erzählung von Welt und damit im weitesten Sinne als realistisches oder naturalistisches Verfahren“211. Wenn die Wiener Moderne aber ganz strikt von jeglichem Naturalismus getrennt wurde, so ist das zum Teil Hermann Bahr geschuldet: Er tritt als führender Theoretiker, Sprecher, Kritiker und Förderer von Jung-Wien hervor, der sich sehr aktiv an den literarischen, kulturellen und politischen Bewegungen beteiligte.212 In seinen Darstellungen grenzte Bahr das Junge Wien deutlich vom Naturalismus ab, sodass es antinaturalistische Züge erhielt, und betonte stattdessen die Nähe zu Ferdinand von Saar und Marie von Ebner- Eschenbach. In Wien sei der Naturalismus laut Bahr schon überwunden worden. Mit dieser Behauptung trug er deutlich dazu bei, dass der Naturalismus den Deutschen überlassen wurde.213 Zuerst widmete sich Bahr aber selbst dem Naturalismus und sein Drama Die neuen Menschen fand bei den Berliner Naturalisten Anklang – doch nach einem Parisaufenthalt 1888 schwor er dem Naturalismus und seinem Ziel der Objektivierung ab; sein Hauptgedanke wurde, dass man in der Kunst das bereits Etablierte hinter sich lassen und einem Wechsel offen gegenüberstehen müsse.214 Bahr distanzierte sich von seinen naturalistischen Anfängen und trat nun für die impressionistische ‚Nervenkunst’ ein.215 Er erkannte die Leistungen des Naturalismus zwar an, wollte diesen aber überwinden und sich spannenderen Themen wie der Psychologie zuwenden:

Das moderne Bedürfnis verlangt Psychologie, gegen die Einseitigkeit des bisherigen Naturalismus; aber es verlangt eine Psychologie, welche der langen Gewohnheit des Naturalismus Rechnung trägt. Es verlangt eine Psychologie, welche durch den Naturalismus hindurch und über ihn hinaus gegangen ist.216

Diesem Ruf nach Psychologie kommt Arthur Schnitzler in seiner Erzählung Therese. Chronik eines Frauenlebens am besten nach, in der die Beschreibung der Gefühlswelt der handelnden

211 Moritz Baßler: Routines, Fallstudien, Rauschen: Verfahren des Naturalismus. In: Sonderweg in Schwarzgelb? Auf der Suche nach einem österreichischen Naturalismus in der Literatur. Hrsg. von Roland Innerhofer und Daniela Strigl. Innsbruck: Studienverlag 2016, S. 61. 212 Vgl. Donald G. Daviau: Hermann Bahr – Bahnbrecher der Moderne. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880-1980). Hrsg. von Herbert Zeman. Graz: Akademische Druck und Verlagsanstalt 1889. (= Die Österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung. Hrsg. von Herbert Zeman 17.1) S. 685. 213 Vgl. Jacques Le Rider: Naturalismus in bleu-blanc-rouge, Schwarz-Weiß-Rot und Schwarzgelb. In: Sonderweg in Schwarzgelb? Auf der Suche nach einem österreichischen Naturalismus in der Literatur. Hrsg. von Roland Innerhofer und Daniela Strigl. Innsbruck: Studienverlag 2016, S. 47. Im Folgenden zitiert als: Le Rider, Naturalismus. 214 Vgl. Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte. S. 385. 215 Vgl. Meid, Literatur, S. 387. 216 Hermann Bahr: Die Krisis des Naturalismus. In: ders.: Die Überwindung des Naturalismus. Leipzig, Dresden: Pierson 1891. (= Zur Kritik der Moderne. 2.) S. 62. 45 Figuren und die subjektive Wirklichkeitserfassung in den naturalistischen Glauben der Wirklichkeitsabbildung rückt.217 Die genannten Autoren bilden nur eine kleine Auswahl an Literatur, die in Österreich mit dem Naturalismus in Verbindung steht. Durch die Beispiele konnte aber gezeigt werden, dass auch in Österreich zum Teil sehr unterschiedliche Literaturen im Kontext des Naturalismus stehen, von diesem stark beeinflusst oder in diesem beheimatet sind. Dennoch wird selten von einem österreichischen Naturalismus gesprochen. Michler meint, dass dafür eine bestimmte literaturgeschichtliche Konstruktion verantwortlich ist: In Österreich setzt die Moderne nicht mit dem Naturalismus ein, sondern mit Jung-Wien. Diese Sicht wird durch die Autoren selbst, durch den Gegensatz von Berlin und Wien und durch Hermann Bahrs Konstruktionen von Österreich gefördert.218 Ein weiterer Grund, warum in Österreich nicht bzw. nur sehr selten von einem Naturalismus gesprochen wird, könnte darin liegen, dass die Debatte um den Naturalismus viel ruhiger verlaufen ist als in Deutschland. Es hat in Österreich keinen Parteienkampf wie in München oder Berlin gegeben, was die frühen Aufführungen von Ibsen im belegen. Außerdem findet man in der österreichischen Gründerzeitliteratur schon einiges, was später in das Programm des Naturalismus aufgenommen wurde, wie zum Beispiel die ungeschönte Darstellung der Wahrheit und der gesellschaftlichen Verhältnisse.219 Für die österreichische Literatur kann festgehalten werden, dass, auch wenn selten von einem Naturalismus in Österreich gesprochen wird, dieser dennoch der „entscheidende Katalysator für die Konstituierung“220 unterschiedlicher literarischer Bereiche war. Der Naturalismus spielte also auch in Österreich eine sehr bedeutende Rolle, wenn er auch nicht in derselben Form wie in Deutschland auftrat.

217 Vgl. Le Rider, Naturalismus, S. 48. 218 Vgl. Michler, Naturalismus, S. 30. 219 Vgl. Johann Sonnleitner: Ludwig Anzengruber – Naturalist post mortem?. In: Sonderweg in Schwarzgelb? Auf der Suche nach einem österreichischen Naturalismus in der Literatur. Hrsg. von Roland Innerhofer und Daniela Strigl. Innsbruck: Studienverlag 2016, S. 126f. Im Folgenden zitiert als: Sonnleitner, Naturalist. 220 Michler, Naturalismus, S. 30. 46 4 Ludwig Anzengruber

Im Kapitel Die Frage nach einem österreichischen Naturalismus wurde der österreichische Autor Ludwig Anzengruber trotz seinen eindeutigen Verbindungen zum Naturalismus bewusst aus den Darlegungen ausgeklammert, da in den folgenden Kapiteln eine gesonderte intensive Auseinandersetzung mit dem Autor erfolgen soll. Es wird das Leben und Wirken des Autors dargestellt, um zuletzt der Beantwortung der Frage, ob er als Vertreter des Naturalismus gesehen werden kann, näherzukommen.

4.1 Leben und Werk

Am 13. Februar 1838 heiratete der niedrige Beamte Johann Anzengruber, ein oberösterreichischer Bauernsohn, die aus einer Wiener Bürgerfamilie stammende Maria Herbich. Am 29. November 1839 wurde ihr Sohn Ludwig Anzengruber geboren. Als Ludwig fünf Jahre alt war, starb sein Vater, der selbst schriftstellerische Versuche machte, mit nur 34 Jahren. Er vererbte dem Sohn eine Bücherkiste und einige Manuskripte. Nach dem Tod des Vaters war die finanzielle Lage der Mutter schlecht.221 Dennoch besuchte Ludwig Anzengruber von 1847 bis 1855 regelmäßig die Schule und begann ab 1856 als Praktikant in der Buchhandlung Gallmeyer zu arbeiten, wo er bis 1858 blieb.222 Nach Verlassen der Buchhandlung versuchte sich Ludwig Anzengruber als Schriftsteller und verfasste Gedichte wie Träume, Wider das Fleisch und Schatten von Solferino. Der noch junge Mann beobachtete schon sehr genau und erfasste das Elend und die Machtkriege in der Monarchie.223 Ab 1859 widmete er sich dem Theater und der Schauspielerei. Zuerst erhielt er von Karl Treumann Schauspielunterricht, anschließend kam er zu Louis Groll, dem Direktor des Meidlinger Theaters.224 Nach Auftritten im Meidlinger Theater begannen für Ludwig Anzengruber die wenig Erfolg bringenden Wanderjahre als Schauspieler, in denen er, stets von seiner Mutter begleitet, an verschiedenen Bühnen tätig war: Er spielte in Wiener Neustadt, Krems, Vöslau, Vinkovci, Palanka u.v.m.225 Den Wanderjahren entstammen auch Romanentwürfe und Stücke wie Der Onkel ist angekommen, Glacéhandschuh und Schurzfell,

221 Vgl. Otto Rommel: Ludwig Anzengrubers Leben und Werke. In: Schriften zum Theater. Hrsg. von Otto Rommel. Wien und Leibzig: Schroll 1922. (= Ludwig Anzengrubers Sämtliche Werke. Hrsg. von Rudolf Latzke und Otto Rommel. 15.3.) S. 276f. Im Folgenden zitiert als: Rommel, Leben. 222 Vgl. ebda, S. 278. 223 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 48ff. 224 Vgl. ebda, S. 51f. 225 Vgl. ebda, S. 96ff. 47 Wiener Straßenkehrer u.a., die aber allesamt von den Wiener Theatern abgelehnt wurden.226 1865 fasste Anzengruber den Entschluss, sich in Wien niederzulassen, wo er als Schriftsteller leben und nebenbei als Schauspieler tätig sein wollte. Er erhielt ein paar Rollen an unterschiedlichen Theatern, die ihm aber nur ein geringes Einkommen brachten. Zudem verfasste er Stücke wie Der Telegraphist bei Nacht, Der Reformtürk, Die Libelle und einige mehr.227 Mit dem Reformtürk schaffte es Ludwig Anzengruber unter seinem damaligen Pseudonym Ludwig Gruber erstmals auf einen Wiener Theaterzettel. Anderthalb Wochen sollte das Stück auf dem Spielplan bleiben.228 Dennoch war die finanzielle Misere trotz zusätzlicher Produktionen in Form von Witzen und Novellen für Zeitschriften sehr groß. Eine Rettung aus der Not erfolgte erst 1869, als ihm ein Verwandter ein Amt bei der Wiener Polizeidirektion verschaffte.229 In sein neues Leben als Beamter nahm Anzengruber an eigener Literatur nur mit, was er für wichtig hielt, wie das halbfertige Manuskript des Stücks Der Pfarrer von Kirchfeld, seine restlichen literarischen Produktionen verbrannte er. Als Polizeischreiber hatte er keinen finanziellen Druck mehr und so konnte mit dem Pfarrer von Kirchfeld ein gelungenes Stück entstehen. Am 5. November 1870 wurde der von der Zensur nicht streng behandelte Pfarrer von Kirchfeld im uraufgeführt und brachte Anzengruber den ersten großen Erfolg. Wochenlang war das Stück ausverkauft und auch in den Zeitungen wurde es mit Wohlwollen behandelt.230 Der Erfolg ist auch darauf zurückzuführen, dass Anzengruber das Thema des Konkordats in einer für „die Thematik günstigen Stimmung des Kirchenkampfs“231 aufgriff. Sein Aufstieg sollte nun folgen, denn seine Schaffenskraft war vollends erweckt, sodass er innerhalb weniger Jahre einige seiner berühmtesten Stücke schrieb: Am 9. Dezember 1871 wurde Der Meineidbauer uraufgeführt, am 12. Oktober 1872 Die Kreuzelschreiber, am 19. September 1874 Der Gwissenswurm, am 31. Dezember 1874 Hand und Herz und am 1. Februar 1876 Doppelselbstmord. In dieser Zeit schrieb er aber auch Stücke, die keinen Erfolg hatten, wie Elfriede und Die Tochter des Wucherers, jedoch ließ er sich vom Misserfolg nicht beirren. Es sollte trotz einiger Enttäuschungen seine erfolgreichste

226 Vgl. Anton Bettelheim: Anzengruber. Der Mann – sein Werk – seine Weltanschauung. 2., verm. Auflage. Berlin: Hofmann 1898. (= Geisteshelden. 4.) S. 63f. Im Folgenden zitiert als: Bettelheim, Anzengruber. 227 Vgl. Rommel, Leben, S. 338ff. 228 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 76f. 229 Vgl. Rommel, Leben, S. 340. 230 Vgl. ebda, S. 341ff. 231 Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte, S. 313. 48 Zeit als Autor, besonders als Dramatiker, werden.232 Aufgrund des aufkommenden Erfolges gab er auch seine Stelle als Polizeischreiber bereits 1871 wieder auf.233 Im Jahr 1875 starb Anzengrubers Mutter und es setzten erste Unsicherheiten bei ihm ein, denn er verbrannte bereits Fertiggestelltes. Bald wurden seine Stücke im Theater an der Wien nur noch zu besonderen Anlässen gespielt, wie etwa Die Trutzige als Gastspiel für Josefine Gallmeyer. Andere Theater versuchten es mit seinen Stücken Jungferngift oder Alte Wiener, jedoch brachten sie nicht den erhofften Erfolg. Auch das durch die Zensur stark eingeschränkte Stück Das Vierte Gebot, dessen Idee schon in Anzengrubers Jahren als Wanderschauspieler geboren wurde, hatte mit 17 Aufführungen im Josefstädter Theater nur einen sehr geringen Erfolg.234 Dieses Stück bezeichnet Adalbert Schmidt als „Schwellenwerk zwischen Realismus und Naturalismus“235. Elemente wie die „soziale Thematik, proletarische Umwelt, Fragen erblicher Belastung, Annäherung an die gesprochene Sprache der unteren Schichten“236 werden im Naturalismus in Deutschland das Interesse am Stück wecken. Über seinen Misserfolg auf der Bühne mussten Anzengruber literarische Ehrungen und Anerkennungen aus dem Ausland trösten: In Deutschland wurde man auf ihn aufmerksam und Zeitungen wie Die Gegenwart und Nord und Süd wollten Beiträge von ihm. 1876, 1877 und 1878 bekam er vom Unterrichtsministerium Ehrengaben, 1878 folgte zudem der Schillerpreis und 1880 bekam er vom Wiener Zweigverein der Schillerstiftung ebenfalls Geld.237 Von 1880 bis 1884 schrieb Anzengruber nicht mehr für die Bühne, sondern verfasste Skizzen, Dorfgänge, Humoresken und Kalendergeschichten und Romane.238 Von April 1882 bis Sommer 1885 war er Leiter der Zeitschrift Heimat und schrieb zusätzlich für unterschiedliche Kalender und Zeitungen.239 Ab 1884 redigierte er die humoristische Wochenzeitschrift Figaro.240 Mit den Jahren 1883-1884 trat für Anzengruber eine langsame Wendung zum Besseren ein: In dieser Zeit wurden seine Stücke wieder mit zunehmendem Erfolg im Wiener Stadttheater aufgeführt und Anzengruber schien in Wien wieder eine Bühne zu bekommen. Jedoch sollte 1884 das Stadttheater abbrennen, was auch das Ende der

232 Vgl. Rommel, Leben, S. 360f. 233 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 158-163. 234 Vgl. Sonnleitner, Naturalist, S. 135. 235 Adalbert Schmidt: Ludwig Anzengruber: „Das vierte Gebot“. In: Das österreichische Volksstück. Hrsg. vom Institut für Österreichkunde. Wien: Hirt 1971. (= Schriften des Instituts für Österreichkunde. 5014.) S. 61. Im Folgenden zitiert als: Schmidt, Anzengruber. 236 Ebda, S. 70. 237 Vgl. Rommel, Leben, S. 372. 238 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 130f. 239 Vgl. ebda, S. 136f. 240 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 257. 49 Aufführungen seiner Stücke bedeutete.241 1884 schloss er einen Jahresvertrag mit dem Theaterdirektor des Theaters an der Wien ab, der den Dichter dazu verpflichtete, ein Stück pro Jahr zur Verfügung zu stellen, und so schrieb er 1885 sein Stück Heimg’funden.242 Die Weihnachtskomödie wurde im Theater an der Wien aber nicht aufgeführt, da man sonst Johann Strauß’ Erfolgsstück Zigeunerbaron hätte unterbrechen müssen. Für das Stück erhielt Anzengruber 1887 ganz unverhofft den Grillparzerpreis, der ihm nur durch eine Aufführung in Graz und einen Aufsatz Roseggers über diese ermöglicht wurde. Auf Heimg’funden folgte 1886 das Stück Stahl und Stein, das im Theater an der Wien ebenfalls nicht aufgeführt wurde, da es die Direktion ablehnte. Das abgelehntes Stück fand 1887 doch noch Verwendung und wurde von Burgtheater-Schauspielern für ihren Verein Schröder gespielt.243 1888 bekam Anzengruber eine Anstellung als Theaterdichter für das Deutsche Volkstheater und bezog ein festes Gehalt.244 1889 schrieb er Der Fleck auf der Ehr’, das bei der Eröffnung des Deutschen Volkstheaters vom Publikum überaus positiv aufgenommen wurde. Der Erfolg ermutigte ihn noch zu letzten dramatischen Entwürfen, sogar eine Gesamtausgabe seiner Werke war angedacht.245 Jedoch sollte es anders kommen, denn am 10. Dezember 1889 starb Ludwig Anzengruber, nachdem eine Zellgewebsentzündung an der Hüfte bereits zwei Mal operiert worden war, mit nur 50 Jahren an den Folgen einer Blutvergiftung.246 Die Nachricht seines Todes kam in Wien und über die Grenzen der Monarchie hinaus völlig unerwartet.247 Nur kurze Zeit nach seinem Tod sollten seine Werke im naturalistischen Deutschland nochmals große Anerkennung finden, dem Künstler blieb es aber verwehrt, diesen Erfolg selbst erleben zu dürfen. Deshalb hat Kleinberg völlig Recht, wenn er schreibt, dass Anzengruber nie ein „Liebling der Götter“248 war.

241 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 138f. 242 Vgl. ebda, S. 140f. 243 Vgl. ebda, S. 149-153. 244 Vgl. ebda, S. 155. 245 Vgl. ebda, S. 159ff. 246 Vgl. Rommel, Leben, S. 412. 247 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 164. 248 Kleinberg, Anzengruber, S. 358. 50 4.2 Seine Dramatik

Ludwig Anzengruber wollte „institutionelle und tradierte Rahmenbedingungen“249 des Volkstheaters beibehalten, zugleich aber seinen Texten eine große Bedeutung beimessen. So schrieb er aus dem Leben gegriffene Stücke und Geschichten und bei den meisten und auch besten davon war er darum bemüht, eine Veränderung herbeizuführen, weg von falschen Anschauungen und kranken Verhältnissen.250 Er verband Tragisches mit Rührendem und Komik mit Satire.251 Freundlich stand er jenen gegenüber, die bewusst oder unbewusst am selben Werk mitarbeiteten. Feindlich gesinnt war er dem, der „liebreiche Lehren lieblos auslegt, verständige Rechtsordnungen unverständig anwendet, und Macht und Reichtum wider die Ohnmächtigen und Armen mißbraucht“252. So führte er das Wesen der Menschen und Dinge in seinen Stücken beispielhaft vor.253 In einem Brief an Julius Duboc kommen seine Absichten klar und deutlich zum Ausdruck. Auf dem Gebiet des Volksstücks wollte er „belehren, aufklären und anregen“254. Er beklagte sich auch darüber, dass man „von dem ethischen Inhalt, von der offen oder versteckter liegenden Tendenz wenig Notiz nimmt“255. Im Volksstück werde nach Anzengruber „die Absicht des Belehrens mit der zu unterhalten verbunden“256. Er hatte also ein klares Ziel vor Augen und wollte dieses umgesetzt wissen. Otto Rommel fasste die Rolle Ludwig Anzengrubers als Dramatiker sehr passend zusammen:

Er fühlt sich als Kämpfer für die Menschheit, bereit, für sie alle Opfer zu bringen. Die Befreiung der Menschen aus den Fesseln eines beschränkten Buchstabenglaubens war ihm eine heilige Angelegenheit, und sozusagen mit Fingern auf die hinzudeuten, welche ein Interesse daran hätten, die Entwicklung des Volkes zu freier Menschlichkeit hintanzuhalten, eine wichtige Pflicht.257

Dabei hatte der Dichter ein großes und vielschichtiges Repertoire. So folgte einem Werk von höchster Tragik eine Arbeit mit derbem Spaß. Er lehnte es nicht ab, die Zuseher gelegentlich nach einfacher Art zu unterhalten, jedoch sprach er dabei nicht nur aus, was das Publikum hören wollte, sondern stellte die Wahrheit ohne Verklärung mit seinen Mitteln dar. Er charakterisierte den Menschen wie er ist, stellte Triebe und Leidenschaften dar, legte die mit

249 Hugo Aust/Peter Haida/Jürgen Hein: Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart. München: Beck 1989. (= Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte.) S. 205. Im folgenden zitiert als: Aust/Haida/Hein, Volksstück. 250 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 176. 251 Vgl. Aust/Haida/Hein, Volksstück, S. 213f. 252 Bettelheim, Anzengruber, S. 176. 253 Vgl. ebda. 254 Ludwig Anzengruber: Briefe. Mit neuen Beiträgen zu seiner Biographie. Bd. 1. Hrsg. von Anton Bettelheim. Stuttgart, Berlin: Cotta 1902, S. 299. Im Folgenden zitiert als: Anzengruber, Briefe 1. 255 Ebda. 256 Ebda. 257 Rommel, Leben, S. 343. 51 Füßen getretenen Werte der Religion, der Liebe und der Sitte bloß. Dies gestaltete er im Kleinen, in der Familie, denn dort müsse begonnen werden, wenn man etwas verändern wollte.258 Er brachte vor allem die einfachen Menschen auf die Bühne: Die Not der ländlichen Bevölkerung und die Verstandestätigkeit der Handwerkenden oder des Kleinbürgertums waren seine Motive und Menschen. Höhere Personen wie etwa Graf Finsterberg im Pfarrer von Kirchfeld lagen ihm schon ferner, obwohl er sich auch in Tragödien hohen Stils versuchte. Am besten aufgehoben war er aber bei den Bauersleuten und in der Wiener Vorstadt.259 Seine Figuren zeigen die „modernen religiösen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegensätze“260, wodurch es oft zu dramatischen Entwicklungen kommt. Es stehen Arme und Reiche, Altgläubige und Freigeister oder aber Weltliche und Geistliche gegenüber.261 Doch die Bedeutung der dörflichen Welt in Anzengrubers Werken wurde oft überbewertet: „Nicht um die Abbildung des bäuerlichen Lebens geht es, sondern um die ‚Bekleidung der Ideen’ mit dem Stoff der dörflichen Welt [...]“262. Der Bauer erhält eine „exemplarische Rolle“, die ihn als „Relieffigur der Menschheit“263 ausweist, dennoch behält er seine Individualität. Anzengruber nahm die soziale Ungerechtigkeit der kleinen Leute wahr: „Da die [Kultur] den oberen Zehntausend das Leben schön macht, aber die andern nichts davon haben, läge nichts an der Zerstörung der jetzigen Kultur.“264 Letztendlich könnte die soziale Ungerechtigkeit nur gelöst werden, wenn sich die Menschen innerlich reformieren und die Besitzenden Opfer bringen würden.265 Seine Stärke lag vor allem darin, die bestehenden „gesellschaftlichen Zustände und Charaktere in ihrem Entwicklungszusammenhang zu begreifen“266, weshalb er nicht zu Unrecht mit Henrik Ibsen verglichen wurde. Soziale Fragen verband er oft mit religiösen Fragen und führte somit zwei Bereiche zusammen, die von der

258 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 359f. 259 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 167f. 260 Ebda, S. 175. 261 Vgl. ebda. 262 Aust/Haida/Hein, Volksstück, S. 211. 263 Ebda. 264 Ludwig Anzengruber: Gott und Welt. Aphorismen aus dem Nachlasse. Hrsg. von Otto Rommel. Wien, Leipzig: Schroll 1922. (Ludwig Anzengrubers Sämtliche Werke. Hrsg. von Rudolf Latzke und Otto Rommel. 8.) S. 226. Im Folgenden zitiert als: Anzengruber, Gott. 265 Vgl. Fritz Weber: Anzengrubers Naturalismus. Berlin: Ebering 1929, S. 31f. Im Folgenden zitiert als: Weber, Naturalismus. 266 Wendelin Schmidt-Dengler: Ludwig Anzengruber. In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Realismus, Naturalismus und Jugendstil. Bd. 6. Hrsg. Gunter E. Grimm und Frank Reiner Max. Stuttgart: Reclam 1989. (= Reclams Universal-Bibliothek. 8616.) S. 233. Im Folgenden zitiert als: Schmidt-Dengler, Anzengruber. 52 Zensur oft abgelehnt wurden. Dies mag auch ein Grund dafür sein, warum große Dramen von sozialem Elend und von sozialer Befreiung nicht über den bloßen Entwurf hinauskamen.267 In seinen dramatischen Darstellungen achtete er auf die kleinsten Details. So erkundigte er sich beispielsweise bei Peter Rosegger über die passende Bekleidung für die Leute vom Land und über bestimmte landwirtschaftliche Begriffe. Auch bei der Wirkung des Bühnenbildes war er sehr genau und gab detaillierte Anweisungen über die Kleidung und Haltung der Figuren und über die Gruppierung und Dekoration der Szenen. So wird die Erscheinung des Steinklopferhanns oder des Einsam klar vorgegeben, genauso wie die Gesellschaft und die Umgebung der Schenke im Vierten Gebot genau beschrieben wird.268 Bezüglich der Sprache lässt sich festhalten, dass Anzengruber in vielen seiner Stücke eine an die Mundart angelehnte Redeweise gebrauchte. Bei den Bauern achtete er darauf, dass die Sprache für die Mehrheit der Zuseher verständlich bleibt.269 Anselm Salzer stellte fest, dass die Bauern „nicht einen wirklich bestehenden, sondern einen Dialekt sprechen, der sich als ein Gemisch aus Hochdeutsch, Wienerisch und der Mundart einzelner Gegenden Niederösterreichs darstellt“270. Anzengruber schuf also eine eigene Kunstsprache, wofür ihm Rosegger höchste Verehrung zeigte.271 In diesem Bereich weist er eine Verbindung zu Nestroy und anderen Vorgängern auf, die eine Volkssprache erschufen, die besonders realitätsnah wirkte.272 So kam es auch, dass manche Bühnen die Sprache an das jeweilige Publikum und an die Fähigkeiten der darstellenden Schauspieler anpassten. In den Stücken, die in der Wiener Vorstadt spielen, nähert Anzengruber die Sprache an das Wienerische an. So gibt er beispielsweise der Sprache im Vierten Gebot eine wienerische Färbung.273 Zu Recht aber stellt Adalbert Schmidt fest, dass der Dichter „in seiner mundartlichen Diktion reichlich inkonsequent ist“274, denn manchmal gebraucht ein und dieselbe Person unterschiedliche dialektale Formen eines Wortes. Dies kann bei anderen Stücken Anzengrubers ebenfalls festgestellt werden. Anzengruber schrieb aber auch hochsprachliche Stücke wie etwa Elfriede, jedoch hatten diese keinen durchschlagenden Erfolg.

267 Vgl. Weber, Naturalismus, S. 35f 268 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 172. 269 Vgl. ebda, S. 173. 270 Anselm Salzer: Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Von den Freiheitskriegen bis zum neuen Sturm und Drang. 2. Auflage. Bd. 3. Regensburg: Habbel 1927, S. 1427. 271 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 173. 272 Vgl. Thomas Schmitz: Das Volksstück. Stuttgart: Metzler 1990. (= Sammlung Metzler. 257.) S. 33. Im Folgenden zitiert als: Schmitz, Volksstück. 273 Vgl. Schmidt, Anzengruber, S. 66f. 274 Ebda, S. 67. 53 Nach Anzengrubers Tod knüpften einige Dichter an sein Werk an. Die Realitätstreue der Details, die deutliche Schilderung der Verderbtheit und die Darstellung einfacher Menschen als Weltkonfliktträger übernahm zum Beispiel Gerhart Hauptmann teilweise von Anzengruber. Die Bauernbilder von Josef Rüderer und Ludwig Thoma wären ohne Anzengruber nicht denkbar und auch Jakob Julius Davids Geschichten wurden von Anzengruber beeinflusst. Er wirkte auf weitere Autoren wie etwa Karl Schönherr, Rudolf Hawel, Franz Kranewitter etc. Sein Einfluss war vielschichtiger Natur und er kann durchaus als Wegbereiter für zukünftige Entwicklungen gesehen werden.275

4.3 Erneuerung des Volksstücks durch Anzengruber

Anzengrubers dramatisches Werk fußt im Wiener Volksstück. Dieses wurde von Joseph Anton Stranitzky in seiner Urform geschaffen, von der eine vielseitige Entwicklung ausging. Zuerst wurden auf der Volksbühne an den Publikumsgeschmack angepasste Gebrauchsstücke gespielt, dann verhalfen Ferdinand Raimund und Johann Nestroy dem Wiener Volksstück zu so hohem Rang, dass es dem Literaturdrama Konkurrenz machte. Mit Ludwig Anzengruber trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein weiterer Dichter in den Vordergrund, der mit seinen Stücken dem Wiener Volkstheater zu einer neuen Blüte verhalf.276 Das Volksstück entwickelte sich aus der Posse des Wiener Volkstheaters. In den Vorstädten tritt es in Opposition zum Hoftheater als Sitten- und Lokalstück in Erscheinung. Es enthält aufgrund der Bindung des Stoffes und der Akteure an einen Spielraum einen engen Bezug zum Publikum. Im Vordergrund steht die Unterhaltung und hinter dieser verbirgt sich eine Gesellschaftskritik. Dabei soll das Publikum aufgeklärt werden und Kenntnis von der Notwendigkeit der Verbesserung gesellschaftlicher Zustände nehmen. Die Realität soll anhand einer fiktiven Handlung exemplarisch gezeigt werden. Der von der Posse herrührende Aspekt der Unterhaltung wird bis zu einem bestimmten Grad durch die Bewusstmachung bestimmter Probleme ersetzt. Das Volkstheater will demnach nicht ausschließlich unterhalten, sondern auch insofern etwas nützen, als es zu einem kritischen Bewusstsein erzieht.277 Worin besteht nun aber Anzengrubers Veränderung? Er gibt dem Volksstück einen neuen Stil symbolstarker Realistik, bei der die eigene Zeit gedeutet und alte Mittel verwendet

275 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 361f. 276 Vgl. Wilhelm Zentner: Einleitung. In: Ludwig Anzengruber: Der Meineidbauer. Volksstück mit Gesang in drei Akten. Hrsg. und eingel. von Wilhelm Zentner. Stuttgart: Reclam 1959. (= Reclams Universalbibliothek. 133.) S. 3. 277 Vgl. Mechthild Keller: Nachwort. In: Ludwig Anzengruber: Das Vierte Gebot. Volksstück in vier Akten. Nachwort von Mechthild Keller. Stuttgart: Reclam 1979. (= Reclams Universalbibliothek. 418.) S. 88. Im Folgenden zitiert als: Keller, Nachwort. 54 werden. Die Umrissmanier seiner Vorgänger ersetzt er durch kurze Charakterzeichnungen, an die Stelle von Typen tritt eine individualisierte Psychologie, das Spiel mit Zeitereignissen weicht einer scharfen Gesellschaftskritik und die Leerstellen von fehlenden Verortungen werden durch Milieuschilderungen gefüllt.278 Dies soll kurz näher erläutert werden: Anzengruber versucht in seinen Werken, die Realität abzubilden. Seine Figuren erhalten eine Innenperspektive und mit dieser auch eine Personalität. Durch Verwendung aktueller Themen kommt die Komponente der sozialen Problematik ins Spiel, die vor Anzengruber eher wenig verwendet wurde. Durch die große Realitätsnähe wird dem Publikum die Identifikation mit den im Stück auftretenden Figuren erleichtert. Einerseits wird die Einfühlung des Publikums ermöglicht, anderseits wird aber auch die distanzierte Bewusstheit forciert. Anzengruber behandelt nicht mehr nur regionale, sondern auch überregionale Fragen, wobei er die Atmosphäre des Volksstücks beibehält. Unter Verwendung von Milieu und Dialekt verschmelzen Sprache und Welt, Herkunft und Eigenart der handelnden Personen. Zusätzlich erfolgt dadurch eine Charakterisierung der Figuren. Durch diese Änderungen wird das Volksstück erneuert und erweitert, ohne die Tradition zu leugnen.279 So hebt sich beispielsweise Der Pfarrer von Kirchfeld von den bisherigen Volksstücken ab: „Mit diesem Werk war dem Volksstück eine weitaus ernstere Note gegeben, als sie der Gattung grundsätzlich eignete.“280 Anzengruber, ein Vertreter der Idee des Liberalismus, wendet sich im Stück gegen die Hegemonie des Bündnisses von Großgrundbesitzern und Klerus.281 Er greift ein aktuelles Problem seiner Zeit auf und kritisiert die Verhältnisse. Die Kritik liegt aber nicht versteckt, sondern wird deutlich, indem die Handlung nicht in einer anderen Welt spielt, sondern die Realität abbildet. Im Fokus steht die Aufklärung des Volkes, wodurch das Stück auch einen politischen Charakter erhält. Was Nestroy begann, wurde von Anzengruber fortgeführt: Die Autoren wandten ästhetische Normen auf das Volksstück an, wodurch dessen Literarisierung begünstigt wurde. Im Volkstheater wurde Elitäres verworfen, denn es sollte das einfache Volk gewonnen werden. Zugleich war es im 19. Jahrhundert eine der wenigen nicht kirchlichen Institutionen für die Bildung von Erwachsenen. Den Weg Nestroys und Anzengrubers gingen Autoren

278 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 360. 279 Vgl. Keller, Nachwort, S. 89f. 280 Schmidt-Dengler, Anzengruber, S. 232. 281 Vgl. Zeyringer/Gollner, Literaturgeschichte, S. 314. 55 unterschiedlicher Richtungen weiter, wie etwa Ödön von Horváth, Bertolt Brecht, Karl 282 Zuckmayer u.v.m. Abschließend soll noch die Frage erläutert werden, warum Anzengruber als Erneuerer des Volksstücks vor allem nach 1875 nur noch wenig Erfolg hatte. Eine Rolle dabei spielte die Wirtschaftskrise von 1873, denn die Wiener Theater fielen Aktiengesellschaften zu, die ausschließlich Interesse am Profit hatten. Die Eintrittspreise wurden aufgrund der Inflation angehoben und die weniger begüterten Gesellschaftsschichten konnten sich einen Theaterbesuch fast nicht mehr leisten, wodurch das sozialkritische Volksstück sein intendiertes Publikum verlor. Das finanziell besserstehende Großbürgertum und der Adel wollten eher Operetten und Boulevardstücke ohne politischen Inhalt sehen. Der ausbleibende Erfolg des Künstlers ist also zum Teil auch auf äußere Faktoren zurückzuführen.283

4.4 Rolle der Zensur

Ein weiterer Faktor für den ab 1875 ausbleibenden Erfolg Ludwig Anzengrubers ist die Zensur. Beim Pfarrer von Kirchfeld war die Zensur noch zurückhaltender, jedoch wurde sie danach immer schärfer, was auch dazu beitrug, dass sich Anzengruber um 1880 der weniger zensuranfälligen Prosa zuwendete.284 Der Einfluss der Zensur auf das Wirken Anzengrubers wird anhand der folgenden Geschichte deutlich: Anton Bettelheim machte sich nach Anzengrubers Tod die Mühe, seine verschollenen Werke zu suchen. Er fand in der Zensurabteilung der Wiener Polizei eine Handschrift Anzengrubers, nämlich die Posse Der Reformtürk oder ein Ausflug in die Türkei. Das Interessante am Stück waren die Zensurstriche. Politische Schläge und Anspielungen auf parlamentarische Ereignisse der 1860er-Jahre wurden sorgfältig mit rotem Stift markiert, sodass besondere Eigenheiten des Stücks vollkommen verschwanden.285 Wie kleinlich die Zensur zur damaligen Zeit war, geht aus einem Brief von 1878 an Wilhelm Bolin hervor. Anzengruber schrieb darin, dass das Stück Jungferngift zwar durch die Zensur gekommen sei, jedoch führte er Änderungen an, die er dafür vornehmen musste. Beispielsweise war der Fluch ‚Heiligenkreizdonnerwetter’ durch ein einfaches ‚Donnerwetter’ zu ersetzen und eine Aussage eines Bauernburschen wurde komplett

282 Vgl. Keller, Nachwort, S. 90. 283 Vgl. Dietmar Goltschnigg: Vorindustrieller Realismus und Literatur der Gründerzeit. In: Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. II/1. Hrsg. von Victor Žmegač. Königstein/Ts.: Athenäum 1980. (= Athenäum-Taschenbücher. 2156.) S. 40f. 284 Vgl. Karlheinz Rossbacher: Nachwort. In: Ludwig Anzengruber: Die Märchen des Steinerklopferhanns. Nachwort von Karlheinz Rossbacher. Stuttgart: Reclam 1980. (= Reclams Universal-Bibliothek. 504.) S. 65. 285 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 75f. 56 gestrichen.286 Laut Anzengruber wurde so vorgegangen, „weil ein total veralteter Zensurschimmel existiert, den der Subalternbeamte bei seinem Eide zu reiten verpflichtet ist.“287 Noch im selben Jahr gelangte Anzengruber zu folgender pessimistischer Einsicht: „Heutzutage wage es der Teufel auf Risiko hin, irgend etwas aus dem staatlichen Leben aufzugreifen und auf die Bühne bringen zu wollen. Ich will damit nur sagen: kein armer Teufel darf das wagen [...].“288 Die maßgebende Rolle der Zensur wird aber noch klarer ersichtlich, wenn die Rezeptionsbedingungen des Stücks Das Vierte Gebot genauer untersucht werden. Bei diesem Volksstück wurde nicht einmal der Titel zugelassen, sodass es nur Ein Volksstück in vier Akten von L. A. hieß. Anzengruber beklagte, dass die Zensur im Sinne der Kirche bei der Bewertung des Stücks handelte, so wurde zum Beispiel jedem Ausruf von ‚Jesus, Maria und Joseph’ nachgegangen, die Verzweiflung Hedwigs wurde herausgenommen und es wurden auch alle Anspielungen auf das vierte Gebot und damit die Tendenz des Stücks gestrichen.289 Die Zensur sah das Stück, das eigentlich eine Ergänzung zum vierten Gebot darstellen sollte, als Kampf gegen die Kirche. Deshalb wurde die Aufführung am 18. Dezember 1877 verboten. Erst am 29. Dezember konnte es dann unter der erwähnten Titeländerung und unter den genannten Streichungen aufgeführt werden. Das Publikum und die Kritik fanden daher nur noch ein allgemeines Sittenbild. Erst mit der nicht mehr von der Zensur betroffenen Aufführung am 2. März 1890 in der Berliner Freien Bühne wurden der scharfsinnige Blick für soziale Fragen, der die Moral betreffende Pathos und die dichterische Kraft erkannt.290 Anzengruber hatte es mit seinen Stücken nicht besonders leicht: Nicht nur, dass er in Wien allmählich das Theater und das Publikum verlor, zu allem Überfluss war sein Schaffen von einer strenger werdenden Zensur betroffen. Sie kann zumindest bei dem Stück Das Vierte Gebot als bedeutende Teilursache für den ausbleibenden größeren Erfolg gesehen werden. Wer weiß, welche Stücke Anzengruber geschrieben hätte, wäre er durch die Zensur nicht immer wieder eingeschränkt worden.

286 Vgl. Ludwig Anzengruber: Briefe. Mit neuen Beiträgen zu seiner Biographie. Bd. 2. Hrsg. von Anton Bettelheim. Stuttgart, Berlin: Cotta 1902, S. 9. Im Folgenden zitiert als: Anzengruber, Briefe 2. 287 Ebda. 288 Ebda, S. 15. 289 Vgl. ebda, S. 228f. 290 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 306f. 57 4.5 Ein zu Lebzeiten verkannter Naturalist?

Ludwig Anzengruber wird in der Literaturgeschichte häufig als Vorläufer des deutschen Naturalismus behandelt.291 Doch worin besteht seine Vorläuferfunktion und ist es möglich, den Künstler aus seiner Vorläuferrolle herauszuholen und der Epoche des Naturalismus zuzuordnen? Um diese Fragen zu beantworten, muss untersucht werden, welche Verbindungen Anzengruber zum Naturalismus aufweist und was ihn von diesem trennt. Anzengruber erklärt die von ihm verfolgte Richtung folgendermaßen: „Der Realismus, wie ich ihn meine, hat entgegen der Schönfärberei des Lebens die dunklen Punkte, wo sie ihm aufstoßen, nicht zu umgehen.“292 Die Aufgabe der Kunst und Literatur sei es, dem „Bilde der Wirklichkeit“293 zu folgen, denn aus diesem könne der Mensch etwas lernen. Anzengruber will demnach die Wirklichkeit darstellen wie sie ist, was eine Darstellung der hässlichen Stellen einschließt, womit er über den poetischen Realismus hinausgeht. Im Folgenden werden noch weitere Aspekte, die einen Bruch mit dem Realismus belegen, erkennbar. Ein Berührungspunkt zum Naturalismus besteht darin, dass sich Anzengruber intensiv mit Émile Zola befasste, dem er sich in der Radikalität der Mimesis und im naturwissenschaftlichen Anspruch aber nicht anschloss.294 Der Verbindung von Kunst und Wissenschaft ging Anzengruber nicht nach, weil er aus seiner eigenen Erfahrung wusste, dass der Künstler in seinem Schaffen – im Gegensatz zum Forscher – Anteil am Gefühl und eine wesentliche Gestaltungskraft benötigt.295 Die von Zola empfohlene wissenschaftliche Methode wendete er auch nicht an, denn ihm reichten die Anregungen, die er durch Zufall erfuhr; er sammelte keine Dokumente für das Entstehen seiner Charaktere und trieb keine Milieustudien.296 Aus einem Brief an Julius Duboc geht seine eigene Methode hervor, die sich von der Zolas unterscheidet:

Ich habe mir zuerst den idealen Bauern konstruiert aus Hunderten von Begegnungen und Beobachtungen heraus und dann realistisch variiert nach all den gleichen Erfahrungen; ein eigentliches Studium hatte ich ihm nie gewidmet, ich faßte ihn mit einem Griffe. Ich behandle alle Charaktere so, ich nehme erst den Menschen, hänge ihm das Standeskleid um und dann gebe ich ihm so viel von der gewöhnlichen Umgebung, als sich mit den künstlerischen Intentionen verträgt.297

291 Vgl. Keller, Nachwort, S. 101. 292 Anzengruber, Gott, S. 239. 293 Anzengruber, Gott, S. 245. 294 Vgl. Sonnleitner, Naturalist, S. 134. 295 Vgl. Weber, Naturalismus, S. 9. 296 Vgl. ebda, S. 61. 297 Anzengruber, Briefe 1, S. 291. 58 Auch die Ansicht über das Verhältnis von Natur und Kunst teilte Anzengruber nicht mit den Naturalisten, wie aus demselben Brief an Duboc hervorgeht. In diesem stellt Anzengruber fest, dass „eine ganz eigentliche Zeichnung nach der Natur alles künstlerische Maßhalten, jede Komposition unmöglich machen würde – das Prinzip des grassen [sic!] Realismus einmal aufgestellt und alles Schaffen hat ein Ende.“298 Folgt man dieser Aussage, so müsste Anzengruber das erst nach seinem Tod aufgestellte Kunstgesetz Kunst = Natur – x299 von Arno Holz ablehnen. Ein konsequenter Naturalist kann er deshalb niemals sein. Im Prinzip der Stoffwahl hebt sich Anzengruber ebenfalls von den Naturalisten ab. Naturalistische Autoren bevorzugten vor allem vom Klassizismus, von der Romantik und von den Epigonen weniger beachtete Gebiete, woraus eine Häufung von Hässlichem und Gemeinem resultierte, der Anzengruber nicht positiv gegenüberstand.300 Er kritisierte die Naturalisten dafür: „Nun kam der Rückschlag. Die Neuerer trugen Niedertracht, Gemeinheit und Schmutz ihrerseits wieder auf einen Haufen zusammen und sagten: Da habt ihr die Wahrheit!“301 Anzengruber war dagegen, das Hässliche so in den Vordergrund zu stellen, und wendete ein, es sei auch „die Schönheit nicht zu vergessen in der Kunst“302. Seiner Ansicht nach ist es auch nicht gleichgültig, welchen Ausschnitt der Realität der Künstler in seinen Werken präsentiert, denn die Kunst hätte einen sozial-ethischen Auftrag zu erfüllen und so sind Stoffe auszuwählen, die diesem Zweck gerecht werden.303 Anzengruber war aber wie die Naturalisten ein Anhänger neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, sei es Charles Darwins Evolutionstheorie mit den Komponenten Vererbung, Variabilität und natürlicher Selektion oder die Mendel’sche Vererbungslehre.304 Ein Beleg dafür ist in der Erzählung Die Kameradin zu finden, wenn Tante Helene, die eine Vorliebe für Darwin hat, über Brigitte Folgendes sagt: „Sie hat hübsche Zähne und ist stark gebaut [...]. Sie ist gesund und kräftig, so werden die Kinder auch darnach sein.“305 Es wird klar, dass bestimmte Eigenschaften, in diesem Fall sind es positive, von der Mutter an das Kind weitergegeben werden. Im Vierten Gebot kommen dagegen die negativen Auswirkungen der Vererbung bzw. der natürlichen Auslese zum Vorschein: Hedwigs Kind ist kränklich und schwach, denn „sein Vater habe zu viel gelebt, als daß für das

298 Ebda. 299 Holz, Werk, S. 80. 300 Vgl. Weber, Naturalismus, S. 13. 301 Anzengruber, Gott, S. 236. 302 Ebda, S. 237. 303 Vgl. Weber, Naturalismus, S. 15. 304 Vgl. ebda, S. 43. 305 Ludwig Anzengruber: Die Kameradin. Eine Erzählung. Dresden, Leipzig: Minden 1883, S. 164. 59 Kind etwas überbliebe“306. Das ausschweifende Leben des Vaters hat fatale Folgen für die Tochter. In dieser Erklärung lässt sich eine eindeutige Parallele zu Ibsens Stück Gespenster erkennen, in dem das Ausbrechen einer Paralyse bei Osvald auf die Syphiliserkrankung des Vaters zurückgeführt wird. Mit der Hervorhebung der Vererbung zeigt Anzengruber die Verkettung aller Ereignisse, wobei der kausale Zusammenhang nicht mit der Geburt oder dem Tod eines Individuums beginnt; da der Dichter nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Strom des Geschehens darstellen kann, werden vererbte Charaktereigenschaften gezeigt.307 Auch der Einfluss des Milieus, das im Naturalismus eng mit der Vererbung verbunden ist, tritt in unterschiedlichen Werken Anzengrubers in den Vordergrund. Milieu im engeren Sinn meint den wenig kontrollierbaren Einfluss der Umwelt bei der Entwicklung eines Menschen und wird hier von der bewussten Beeinflussung durch Erziehung und vom Einwirken der Ideen der Zeit unterschieden. In seinen Werken brachte Anzengruber die unterschiedlichen Entwicklungseinflüsse zur Darstellung. Im Vierten Gebot zeigt er anhand von drei Familien, wie Erziehung miss- oder gelingen kann: Die Eltern von Eduard Schön erziehen ihren Jungen in der Absicht, dass er es besser haben soll als sie selbst und letztendlich schlägt der werdende Priester aus Sicht der Eltern einen guten Weg ein. Für die Hutterers steht bei der Erziehung die wirtschaftliche Sicherung ihrer Tochter Hedwig im Fokus, weshalb sie die Tochter mit einem bessergestellten Mann verheiraten, den die Tochter aber nicht will. Am Ende führt dies zu Traurigkeit und Krankheit bei Hedwig. Anhand der Familie Schalanter wird der verderbliche Einfluss der Eltern deutlich sichtbar, denn aufgrund der schlechten Erziehung wird der Sohn zum Mörder und Trinker und die Tochter verdient ihr Geld auf sehr zweifelhafte Weise. Der Einfluss der Umwelt wird besonders im Roman Der Sternsteinhof hervorgehoben, denn die Figur Helene Zinshofer, die bei wenig Erziehung in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, zieht mit der Aussicht auf mehr Besitz auf den Sternsteinhof. Sie wird vom ärmlichen Milieu geprägt und will aus diesem ausbrechen. Im Pfarrer von Kirchfeld wird der Einfluss fortschrittlicher Ideen der Zeit aufgezeigt: Der Pfarrer Hell wird in seinem Handeln von modernen Ideen beeinflusst und folgt diesen, wenn er Brautleute unterschiedlicher Konfessionen verheiratet oder eine Selbstmörderin am Friedhof begräbt, selbst wenn er dadurch mit negativen Konsequenzen rechnen muss.308 In seinen Milieuschilderungen ging Anzengruber aber nicht so weit wie die Anhänger Zolas, die den Menschen viel genauer beobachteten und realitätsgetreuer in seiner

306 Ludwig Anzengruber: Das Vierte Gebot. Volksstück in vier Akten. Nachwort von Mechthild Keller. Stuttgart: Reclam 1979. (= Reclams Universalbibliothek. 418.) S. 43. Im Folgenden zitiert als: VG Aktzahl, Scene. 307 Vgl. Weber, Naturalismus, S. 44. 308 Vgl. ebda, S. 45-48. 60 Umwelt darstellten. Anzengruber gab in seinen Darstellungen nur zwei Bereiche der Wirklichkeit wieder, das Leben der Bauern und das der Kleinbürger. Da er mit dem ländlichen Milieu nur gelegentlich in Berührung kam und keine Milieustudien betrieb, konnte er die im Naturalismus geforderte Naturnähe nicht ganz erreichen. Deshalb zeigt sich in diesem Bereich auch die Überlegenheit der wissenschaftlichen Methode gegenüber Anzengrubers Verfahren.309 Da die naturalistischen Autoren davon ausgingen, dass die Menschen durch ihre Lebensverhältnisse bestimmt sind, wurde die Schuld für Missetaten nicht mehr bei den Einzelnen gesucht, sondern in der Gesellschaft oder dem Staat. Die persönliche Verantwortung der Individuen trat immer mehr zurück, wodurch auch die sittliche Wertung einer Handlung gegenstandslos wurde. Anzengruber folgte dieser Ansicht jedoch nicht, denn seiner Meinung nach sei es richtig, wenn der Staat Verbrecher zur Verantwortung zieht.310 So bekennt Martin im Vierten Gebot angesichts seiner Verurteilung: „Es g’schiecht mer ja recht – und es is jedenfalls g’scheiter, wie noch länger als Auswürfling untern Menschen herumlaufen.“ (VG IV, 4) Anzengruber gab auch die moralische Wertung der Handlung und die Verantwortlichkeit des Menschen nicht auf. Er schätzt den Wert der eigenen Erfahrung sehr hoch ein, daher berufen sich seine Figuren bei der Erörterung moralischer Fragen immer wieder auf diese. Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen meinte Anzengruber, dass es ein sittliches Gefühl gäbe, von dem die ethischen Normen hergeleitet werden können, die dann keiner weiteren Begründung bedürften. In diesem Bereich war Anzengruber viel mehr ein sich auf das Gefühl verlassender Ethiker als ein naturwissenschaftlicher Denker, denn er stellte das moralische Gefühl vor das logische Denken.311 Obwohl sich Anzengruber im Prinzip der Stoffwahl von den Naturalisten unterscheidet, gibt es große thematischen Übereinstimmungen zwischen ihm und den naturalistischen Autoren. Vor allem in seinem Volksstück Das vierte Gebot sind viele thematische Verbindungen zum Naturalismus zu finden: So spielt der Alkoholismus bei den Schalanters eine große Rolle, denn der Vater verbringt viel Zeit mit dem Trinken und auch der Sohn wird als Trinker charakterisiert. Ihr Arbeiter Johann verfällt ebenfalls dem Alkohol. Es werden die negativen Auswirkungen einer unglücklichen Ehe aufgezeigt, da aus der Verbindung zwischen Stolzenthaler und Hedwig ein kränkliches Kind hervorgeht und auch Hedwigs eigene Gesundheit unter den Umständen leidet. Die Schattenseite von Sexualität kommt im Stück zum Ausdruck, denn es wird angedeutet, dass sich Josepha prostituiert.

309 Vgl. ebda, S. 82. 310 Vgl. ebda, S. 51f. 311 Vgl. ebda, S. 52f. 61 Außerdem lässt das Drama bei Stolzenthaler und Josepha eine sexuelle Krankheit vermuten. Weitere soziale Fragen werden gestreift: Das Sujet der Scheidung wird angesprochen, das Thema der Emanzipation der Frau wird behandelt, die Notlage der Handwerker in Zeiten der industriellen Revolution wird mit Schalanters schwindenden Arbeitsaufträgen dargelegt und die Weltfremdheit der Priester wird anhand der Figur von Eduard sichtbar, dessen Rat zum Desaster führt.312 Auch das Thema der Ehe, das Ibsen in einigen seiner Dramen behandelt, wird von Anzengruber bearbeitet. So weisen Ibsens Nora. Ein Puppenheim und Anzengrubers Elfriede eine gewisse Ähnlichkeit auf: Beide Autoren sind für die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Bei Ibsen liegt die Lösung des Problems aber im Verlassen des Gatten, wohingegen bei Anzengruber die Aussprache zum Erfolg, also zur Achtung der Frau führt. In der idealen Ehe soll die Frau nicht ihre eigene Persönlichkeit aufgeben, um in der des Mannes aufzugehen, sondern die beiden Ehepartner sollen sich entfalten und ergänzen. Das Problem, dass sich beide Partner nicht ergänzen, sondern eher hemmen und negativ beeinflussen, zeigt sich in Anzengrubers Werk Hand und Herz und zieht sich durch viele Dramen Ibsens, zu nennen sind hier Hedda Gabler, Die Frau vom Meer oder Klein Eyolf.313 Anzengruber forderte eine neue Sexualethik, denn er sah, dass vor allem die Frauen unter den Folgen einer kurzen Liebelei zu leiden hatten. Sie wurden von der Gesellschaft an den Rand gedrängt, von der Familie verstoßen, blieben unverheiratet und mussten alleine für ihr Kind sorgen. Der Autor wollte, dass die Gesellschaft ihre Ansichten über sexuelle Verfehlungen ändert, da es sich dabei um natürliche Vorgänge handelt, die nicht mit ethischen Normen verbunden werden sollten. Außerdem verlangte er, dass die Ehe nicht unlösbar sein darf, da sich oft erst nach der Heirat zeigt, wie gut die beiden Ehegatten zueinanderpassen. So ist vor allem das Stück Hand und Herz als Anklageschrift gegen Gesellschaft und Kirche zu lesen. Später sollte die Gesetzgebung Anzengruber Recht geben und seinen Forderungen nachkommen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Anzengruber auf dem Gebiet der Sexualethik einen Naturalismus verfolgte, auch wenn seine Darstellungen unter Rücksichtnahme des Publikums gemildert wurden und ein moralischer Aspekt zum Ausdruck kam.314 Das Volkstück Das vierte Gebot steht nicht nur hinsichtlich der Thematik, sondern auch bezüglich des Plots im Kontext des Naturalismus: Es fehlt das ausgeprägte Steigen und

312 Vgl. John C. Blankenagel: Naturalistic Tendencies in Anzengruber’s Das Vierte Gebot. In: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 10 (1935), S. 30ff. Im Folgenden zitiert als: Blankenagel, Tendencies. 313 Vgl. Weber, Naturalismus, S. 22ff. 314 Vgl. ebda, S. 25ff. 62 Fallen der Handlung sowie ein zentraler Höhepunkt. Stattdessen präsentiert Anzengruber eine Abfolge von Szenen, in denen unterschiedliche Familiengruppen im Mittelpunkt stehen. Es gibt keine zentrale Haupt- oder Heldenfigur in der Geschichte, die das ganze Geschehen dominierend beeinflusst. Durch die Eigenheiten des Plots unterscheidet sich das Stück von konventionellen Dramen, weist aber eine große Ähnlichkeit zu dem 1892 erschienenem Drama Die Weber auf, das ebenfalls keine sich stetig entwickelnde Handlung und keine zentrale Hauptfigur hat.315 Was Anzengrubers Werke außerdem mit anderen naturalistischen Werken verbindet, ist die Sprache. Wie bereits erwähnt wurde, verwendete Anzengruber den Dialekt, was dazu diente, eine möglichst große Annäherung an die Wirklichkeit zu erreichen. So fügte sich die verwendete Sprache dem Wirklichkeitsbild der Bauern ein, wobei – wie erwähnt – der Künstler die Sprache gar nicht der Wirklichkeit entnahm, sondern eine bäuerliche Gemeinsprache erschuf.316 Die Sprache wird überdies als wirkungsvolles Mittel der Individualisierung gebraucht, jedoch ist anzumerken, dass Anzengruber nicht jeder Person eine eigene, für sie kennzeichnende Ausdrucksweise gab.317 Zuletzt soll noch geklärt werden, welche Stellung die naturalistischen Autoren gegenüber einer Tendenz, die viele Werke Anzengrubers aufweisen, einnehmen. Bölsche schreibt in seiner poetologischen Schrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie Folgendes: „Ich fordere neben scharfer Beobachtung eine bestimmte Tendenz. Man rede mir nicht davon, die realistische Dichtung müsse sich ganz freimachen von jeder Tendenz.“318 Zola ist der Ansicht, dass Kunst eine soziale Tendenz haben müsse, jedoch ist er, der im Kunstwerk die Abbildung der Natur fordert, gegen das Sichtbarwerden des Autors.319 Auch Arno Holz würde in seinem konsequenten Naturalismus das Hervortreten des Autors eindeutig verneinen; keinesfalls hätte er seine moralischen Ansichten in Form von Belehrungen eine Figur deutlich aussprechen lassen.320 Bei Anzengruber dagegen zeigen sich moralische Lehren ganz deutlich, zum Beispiel im Vierten Gebot, wenn Martin zu Eduard Folgendes sagt: „Wenn du in der Schul’ den Kindern lernst: ‚Ehret Vater und Mutter!’ so sag’s auch von der Kanzel den Eltern, daß’s darnach sein sollen.“ (VG IV, 5) In vielen Dramen Anzengrubers wird der Autor sichtbar und lässt eine Tendenz erkennen. Nur im

315 Vgl. Blankenagel, Tendencies, S. 32. 316 Vgl. Weber, Naturalismus, S. 88f. 317 Vgl. ebda, S. 97. 318 Bölsche, Grundlagen, S. 66. 319 Vgl. Weber, Naturalismus, S. 54. 320 Vgl. Blankenagel, Tendencies, S. 33. 63 Roman Der Sternsteinhof tritt er hinter sein Werk zurück.321 Es kann also festgehalten werden, dass Anzengruber zwar Zola folgt, indem er eine soziale Tendenz zeigt, jedoch geht er über die Vorstellung des deutschen Naturalismus hinaus, da er nicht nur sein Werk sprechen lässt. Es konnte gezeigt werden, dass Anzengruber in vielen Bereichen mit dem Naturalismus übereinstimmte, wie in der Verwendung der Vererbungslehre oder der Darstellung des Milieus, und dass er dem deutschen Naturalismus einiges vorwegnahm, zum Beispiel mit der Einführung bestimmter Themen. In den Milieuschilderungen beschritt Anzengruber den Weg des Naturalismus, jedoch ging er diesen nicht zielstrebig zu Ende. Doch egal wie viele naturalistische Merkmale man bei Anzengruber ausfindig macht, letztendlich treten auch moralisch belehrende Elemente in den Vordergrund, die ein streng naturalistisches Werk nicht hervorbringen würde.322 Zudem erhebt Anzengruber nicht den wissenschaftlichen Anspruch eines Émile Zola oder Arno Holz, stellt das Hässliche nicht so sehr in den Vordergrund wie die naturalistischen Autoren und hält an der Zuschreibung der Handlung fest. Am Ende bedeutet dies, dass Anzengruber, obwohl in seinen Werken eine Reihe naturalistischer Elemente auftritt, der Epoche nur mit gewissen Einschränkungen zugeordnet werden kann. Aus diesem Kapitel geht auch hervor, dass vor allem Ludwig Anzengrubers Viertes Gebot viele naturalistische Bestandteile enthält, auch wenn es der Epoche nicht vollständig zugerechnet werden kann. Die folgenden Kapitel sollen Aufschluss darüber geben, ob Anzengruber die naturalistischen Bestrebungen, die im Vierten Gebot zu finden sind, weiterverfolgt. Dazu wird das in den letzten Lebensjahren des Autors entstandene Volksstück Stahl und Stein genauer untersucht. Aufgrund des großen Abstands des Stücks zum Vierten Gebot und anderen erfolgreichen Arbeiten lassen sich möglicherweise schlüssige Aussagen über Veränderungen in den Darstellungsweisen und Ansichten des Autors treffen.

321 Vgl. Weber, Naturalismus, S. 58. 322 Vgl. Pamela S. Saur: Naturalism versus „Heimatliteratur“ in the Dramas of Karl Schönherr and Ludwig Anzengruber. In: Modern Austrian Literature 29 (1996), H. 3, S. 113. Im Folgenden zitiert als: Saur, Naturalism. 64 5 Das Volksstück Stahl und Stein

Laut Otto Rommel fand die Erstaufführung des Volksstücks Stahl und Stein323 am 6. November 1887 im Hofoperntheater (heute: Wiener Staatoper) statt.324 Doch diese Annahme erwies sich bei genauerer Recherche als falsch, denn wie mehrere Zeitschriftenberichte belegen, war das Stück schon im September desselben Jahres im Bell-Alliance-Theater in Berlin aufgeführt worden.325 Die erste Aufführung erfolgte demnach nicht in Österreich, sondern in Deutschland, was ein Beleg dafür ist, dass Anzengruber in Wien ein Theater, das sich seiner Stücke annahm, fehlte. Der im Stück verwendete Stoff war für Anzengruber kein neuer, denn bereits in den 1870er-Jahren zerstörte der Dramatiker das unvollendete Volksstück Da Onkl, in dem der Einsam-Stoff erstmals vorkam.326 1881 griff Anzengruber das Motiv des katholischen Pfarrers, der einen am Rande der Gesellschaft lebenden Sohn hat, wieder auf und machte daraus, um der strengen Theaterzensur zu entgehen, die Erzählung Der Einsam.327 Der erste Teil des Einsam ist höchstwahrscheinlich sehr nahe am zerstörten Stück Da Onkl, denn es entsteht das Gefühl, „daß nur die Bühnenanordnungen ausweitend in Erzählung umgeschrieben sind“328. Erst Jahre nach Veröffentlichung der Novelle wird sich Anzengruber an eine Umarbeitung wagen. Im Jahr 1886 hatte Anzengruber aufgrund des ab 1884 gültigen Vertrags mit dem Theaterdirektor Franz Jauner wieder ein Stück abzuliefern und so entschied er, eine Umgestaltung des Einsam in Angriff zu nehmen. Wilhelm Bolin hatte mit Anzengrubers Unterstützung zuvor schon eine Dramatisierung der Erzählung geschaffen, doch wurde diese von der Zensur verboten und konnte daher nicht zur Aufführung gelangen. Anzengruber sah ein, dass das Hauptmotiv des Pfarrers mit einem Kind in dieser Form nicht auf österreichische Bühnen gebracht werden konnte und beschloss inhaltliche Änderungen vorzunehmen, die eine Ablehnung durch die Zensur verhindern sollten. Er schaffte es, das Volksstück so abzuändern,

323 Die Textgrundlage für die Analyse bildet folgende Ausgabe: Ludwig Anzengruber: Stahl und Stein. Volksstück mit Gesang in 3 Akten. In: Ludwig Anzengrubers Gesammelte Werke in zehn Bänden. 3., durchges. Auflage. Bd. 8. Hrsg. von Anton Bettelheim. Stuttgart: Cotta 1902. Im Folgenden zitiert als: SuS Aktzahl, Szene. 324 Vgl. Otto Rommel: Ludwig Anzengruber als Dramatiker. In: Ländliche Schauspiele. Hrsg. von Otto Rommel. Wien: Schroll 1922. (= Ludwig Anzengrubers Sämtliche Werke. Hrsg. von Rudolf Latzke und Otto Rommel. 2.) S. 603. Im Folgenden zitiert als: Rommel, Anzengruber. 325 Vgl. u.a. [Anon]: Tagesbericht. In: Wiener Allgemeine Zeitung vom 19.09.1887, S. 3. und Gerhard Ramberg: Zwei dramatisirte Novellen. Anzengruber’s „Stahl und Stein“, Ohnet’s „Gräfin Sarah“. In: Allgemeine Kunst-Chronik. Illustrierte Zeitschrift für Kunst, Kunstgewerbe, Musik, Theater und Literatur 11 (1887), S. 1169. 326 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 114. 327 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 188. 328 Bernhard Seuffert: Volksstück – Dorfgeschichte. Anzengrubers Einsam-Dichtungen. In: Euphorion 30 (1929), S. 210. Im Folgenden zitiert als: Seuffert, Dorfgeschichte. 65 dass kein Verbot durch die Zensur erfolgte. Aber wie schon viele andere seiner Dramen wurde auch dieses vom Theater an der Wien abgelehnt.329 Das Stück fand aber ein Jahr später Verwendung und wurde am Sonntag, den 6. November 1887 im Hofoperntheater „zu Gunsten des Schauspieler-Pensionsvereins Schröder“330 auf die Bühne gebracht. Regie führte der Präsident des Vereins Ludwig Gabillon und die Besetzungen für die Rollen organisierten Burgtheater-Schauspieler, die schon in den 1870er-Jahren die Stücke Elfriede und Der Pfarrer von Kirchfeld im Verein Schröder aufgeführt hatten. Pauli wurde von der Kaiser-Freundin Katharina Schratt gespielt, Cenzi von Walbeck, der Volkstypen-Spezialist Rudolf Tyrolt spielte den Bürgermeister, Joseph Lewinsky den Einsam, Hübner stellte Tomerl dar und Ferrari den Gemeindeschreiber.331

5.1 Handlung und Aufbau

Anzengruber weist das Drama als Volksstück aus, eine Bezeichnung, die nur dann zutrifft, wenn man anerkennt, dass Anzengruber diesem Genre eine weitaus ernstere Note gab als seine Vorgänger. Das Stück hat kein Happy End, sondern gipfelt in einer Tragödie, jedoch enthält es komödiantische Elemente, denn es gibt „lustige Gesangseinlagen“, „Spottlieder der Wirthausstimmung“ und „komische Figuren, die nur als Spaßmacher dienen“332. Bereits aus dem Titel geht das entzündliche Moment des Inhalts hervor, denn werden Stahl und Stein aneinander gerieben, entstehen Funken, die ein Feuer entfachen (können). Ein Feuer entflammt zwischen den beiden Hauptcharakteren, die bei ihrem ersten Aufeinandertreffen in einen Streit geraten, woraufhin die tragische Handlung ihren Lauf nimmt. Das Stück handelt von einem jungen Mann namens Einsam, der nach einem Mord und fünfjährigem Zuchthausaufenthalt ein Leben am Rande der Gesellschaft führt. Als die Gemeinde, in deren Nähe er in einer Höhle haust, einen neuen Bürgermeister bekommt, ändern sich seine Lebensbedingungen schlagartig. Der neue Bürgermeister Eisner will das Leben in der Gemeinde verändern und dafür sorgen, dass die Menschen wieder zum Glauben zurückfinden, damit sie sich wieder in die gesellschaftliche Ordnung einfinden und zufriedener werden. Außerdem will er sich dafür einsetzen, dass die Gemeinde das Zusammenleben von Ledigen und auch das Heiraten von sehr armen Menschen verbieten darf, um ein Wachstum der ärmeren Bevölkerung zu beenden. Der fromme Mann hat in jüngeren Jahren aber selbst ein sündhaftes Leben geführt, das allmählich aufgedeckt wird und

329 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 149f. 330 Rommel, Anzengruber, S. 573. 331 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 152f. 332 Seuffert, Dorfgeschichte, S. 223f. 66 sein scheinheiliges Verhalten entlarvt: Er hat als lediger junger Mann Liebschaften gehabt und selbst in der Ehe seine mittlerweile verstorbene Frau betrogen. Aus der Affäre ist ein Sohn hervorgegangen, um den sich Eisner nach anfänglicher Unterstützung nicht mehr gekümmert hat. Da er nun anständiger geworden ist, möchte er seinen Sohn bei sich aufnehmen und als Erben einsetzen, weshalb er den Pfarrer damit beauftragt, diesen zu suchen. Eisner sind bei seinen politischen Reformen gewisse Bewohner der Gemeinde ein Dorn im Auge, da ihre Lebensweise die anderen Bewohner auf negative Weise beeinflussen könnte. Beispiele dafür sind Tomerl, der zwei ledige Kinder hat, und der ungläubige, in der Wildnis hausende Einsam. Diesen fordert der Bürgermeister bei einem zufälligen Zusammentreffen dazu auf, am nächsten Tag bei ihm zur Identitätsfeststellung zu erscheinen, was der junge Mann aber ablehnt, da er sich vom gesellschaftlichen Leben ausschließt. Stattdessen provoziert er den Bürgermeister noch, weshalb dieser am nächsten Tag Gendarmen beauftragt, den Einsam zu ihm zu bringen. Als die Gendarmen zur Höhle des Einsam kommen, werden sie von ihm angegriffen und es fallen mehrere Schüsse, bei dem ein Gendarm leicht und der Einsam schwer verletzt wird. Nach dem Schusswechsel wird der Schwerverletzte von helfenden Dorfbewohnern in Richtung des Dorfes getragen. Der unversehrte Gendarm eilt voraus, um Eisner zu berichten, dass es einen Schusswechsel gegeben hat und der Verletzte der Sohn einer gewissen Juliana Auhofer ist. Der Bürgermeister wird von dieser Nachricht schwer getroffen, denn er begreift, dass der Angeschossene sein lediger Sohn ist. Als dieser auf einer von Dorfbewohnern getragenen Bahre ankommt, gesteht ihm der Bürgermeister, dass er sein Vater ist. Die beiden schließen Frieden und der Einsam äußert seinen letzten Wunsch, wonach sein Freund Tomerl den Hof seiner kürzlich verstorbenen Großmutter bekommt. Sein Vater verspricht ihm diesen zu erfüllen, dann stirbt der Einsam. Eisner, der die Falschheit seiner Handlung einsieht, legt aufgrund des Geschehenen sein Amt als Bürgermeister nieder und bleibt kinderlos zurück. Bezüglich der Segmentierung des Stücks lässt sich festhalten, dass es in drei Akte unterteilt ist, wobei es in jedem Akt eine Verwandlung gibt. Am Ende von erstem und zweiten Akt wird Spannung aufgebaut: Der erste endet mit dem Streit zwischen Eisner und seinem Sohn und am Schluss des zweiten will Eisner nach einer hitzigen Unterredung mit der Wirtsmutter die Gendarmen aufhalten, sieht im letzten Moment aber doch davon ab. Erst der dritte Akt bringt die vollständige Aufklärung der Verhältnisse. Die drei Akte sind wiederum in Szenen gegliedert: Der erste Akt besteht aus sieben Szenen, der zweite aus 17 und der dritte aus elf. Die Szenenwechsel markieren das Auf- und Abtreten unterschiedlicher Figuren, ein

67 Ortswechsel wird durch die Verwandlung, die zugleich einen Szenenwechsel bedeutet, gekennzeichnet. Vor dem ersten Akt werden die „Expositionsfakten“333 präsentiert, d.h. der Künstler nennt die Personen, den Ort der Handlung und die Zeit, in der die Handlung stattfindet. Einen Epilog, der „die Theatralität der dramatischen Geschehnisse unterstreicht“334, gibt es nicht, weil er einer Annäherung des Dramas an die Realität widersprechen würde. Bei Stahl und Stein handelt es sich um ein analytisches Stück bzw. um ein Enthüllungsdrama: Der Dramenhandlung gehen unterschiedliche Ereignisse voraus, über die das Publikum zu Beginn des Stücks noch nichts weiß, da es keinen epischen Prolog gibt. So wird erst im Handlungsverlauf Eisners Werdegang verraten und es zeigt sich, dass der fromme Bürgermeister früher selbst freizügig lebte. Über den Einsam hat das Publikum vor seinem ersten Auftritt keinerlei Informationen und erst allmählich wird seine Biographie bekannt. Die Darlegung der Vorgeschichte der Hauptfiguren zieht sich durch alle Akte: Die Rezipienten haben zwar schon im zweiten Akt einen weitgehenden Überblick über Eisners Vergangenheit, jedoch wird erst im dritten Akt die Laufbahn des Einsam vollständig erzählt. Die Lebensläufe der beiden Hauptcharaktere werden in Form von sogenannten Botenberichten dargelegt. „Der Botenbericht vergegenwärtigt frühere Ereignisse in einem erzählenden Gestus, also in epischer Form.“335 Die ausführlichsten Botenberichte sind in der sechsten Szene des ersten Aktes zu finden, wenn Pauli den Einsam über Eisners Vergangenheit aufklärt, und in der zweiten Szene des dritten Aktes, wenn der Einsam seine Lebensgeschichte erzählt. Die Informationen über die beiden Hauptfiguren verdichten sich im Verlauf der Handlung zunehmend, sodass das Publikum das Verwandtschaftsverhältnis bereits erahnt, jedoch bekommt man erst im letzten Akt die Gewissheit, dass sie Vater und Sohn sind. Durch das Verwandtschaftsverhältnis von Eisner und Einsam wird die Tragik des Stücks erst richtig erschütternd, da der Vater für den Tod des eigenen Sohnes mitverantwortlich ist. Laut Schößler sind analytische Dramen „zweisträngig und reflexiv“336. In Stahl und Stein ist ein Handlungsstrang der sich zuspitzende Konflikt zwischen dem Bürgermeister und dem Einsam, der zweite Handlungsstrang ist die Vorgeschichte der beiden Hauptfiguren. Außerdem wird in einigen Szenen die Auseinandersetzung reflektiert und nicht dargestellte Vorkommnisse werden beschrieben, zum Beispiel beim Zusammentreffen der Bauern und

333 Franziska Schößler: Einführung in die Dramenanalyse. 2., akt. und überarb. Auflage. Stuttgart: Metzler 2017, S. 55. Im Folgenden zitiert als: Schößler, Dramenanalyse. 334 Ebda, S. 55. 335 Ebda, S. 62. 336 Ebda, S. 65. 68 Burschen im Wirtshaus, wo der Streit und Eisners darauffolgende Handlungen besprochen werden (vgl. SuS II, 1). Die Handlungsstränge sind eng miteinander verbunden, da es hauptsächlich um den Konflikt und um die Vorgeschichte der Streitenden geht.

5.2 Vergleich mit der Erzählung Der Einsam

Die Erzählung Der Einsam entstammt dem Jahre 1881, also jener Zeit, in der Anzengruber aufgrund von Misserfolg und Geringschätzung keine Dramen mehr verfasste, obwohl sich das Motiv der Erzählung für ein Theaterstück geeignet hätte.337 Da zur damaligen Zeit eine strenge Zensur herrschte, musste Anzengruber, um eine Aufführung der Dramatisierung erreichen zu können, einige Änderungen vornehmen, die im Folgenden eine kurze Reflexion erfahren sollen. Es soll aber auch auf die Gemeinsamkeiten eingegangen werden, die trotz des Gattungswechsels noch zahlreich vorhanden sind. Der Pfarrer mit ledigem Kind der Erzählung wurde im Volksstück durch einen Bürgermeister ersetzt, da Anzengruber wusste, dass die Zensur das Motiv des katholischen Pfarrers mit einem Mörder als Sohn niemals zulassen würde.338 Der Geistliche im Einsam, der sehr viel Macht besitzt, ist dem Bürgermeister Eisner aber sehr ähnlich: Beide sind „Fanatiker gegen sich und andere“ und meinen „durch Strenge auch andere vor Übeltun zu sichern“339. Dem Geistlichen sowie dem Bürgermeister Eisner sind der Einsam und der Schneider-Tomerl ein Dorn im Auge, da beide ein unchristliches Leben führen: Der Einsam, weil er nicht in die Kirche gehen und sich dem Pfarrer fügen will, und Tomerl, weil er mit einer jungen Frau ein lediges Kind hat, diese aber nicht heiratet. Nach einer Auseinandersetzung zwischen dem Pfarrer und dem Einsam wegen der unchristlichen Lebensweise des jungen Mannes beauftragt Pfarrer Eisner den Bürgermeister der Erzählung damit, den Einsam aus seiner Höhle holen zu lassen, um ihn des Ortes zu verweisen. Im Volksstück wusste Anzengruber diesen „zelotischen Eifer“340 von Eisner mit mehreren Schicksalsschlägen zu begründen: „mit dem schandbaren Treiben seiner inzwischen verstorbenen Frau und mit dem schauerlichen Tod aller seiner Söhne.“341 Dabei handeln beide Eisners „tragisch blind“342, denn keiner zieht es in Erwägung, dass der Einsam sein Sohn sein könnte. Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen den beiden Figuren, der vor allem mit dem Beruf der beiden zu tun hat: Der Bürgermeister will „offenkundig machen“ (SuS II, 7), dass er einen unehelichen Sohn hat.

337 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 131. 338 Vgl. ebda, S. 149. 339 Seuffert, Dorfgeschichte, 216. 340 Kleinberg, Anzengruber, S. 189. 341 Ebda. 342 Seuffert, Dorfgeschichte, S. 215. 69 Der Pfarrer hingegen will dies verheimlichen und ist sichtlich angeschlagen, als er ein Gespräch belauscht, in dem die Dorfbewohner davon sprechen, dass er möglicherweise ein Kind hat.343 Die Geheimhaltung des Pfarrers hat sicherlich damit zu tun, dass sein Vergehen gegen das Zölibat viel schwerer wiegt und von der Gesellschaft schlimmer bewertet wird als der Ehebruch eines weltlichen Mannes. In der Erzählung kommt die Macht der Priester deutlicher zum Vorschein als im Volksstück, denn der Einfluss des Pfarrers ist sehr groß. Sogar der Bürgermeister der Gemeinde ist dem Pfarrer hörig. In diesem Sinne hält der Dorfschuster fest:

Denn wie da auf ’m Bühel ’s Gotteshaus über dem G’meind’haus und über allem steht, so soll auch der Herr Pfarrer zu oberst in der G’mein stehn! Die paar Tag’ schon, seit er im Ort, hat er ’m Bürgermeister ganz gute Einschläg’ in G’mein’sachen geben, und der, wie er g’scheit is, ordnet sich ihm auch unter; auch der Schulmeister darf sich nit sperren, schon in der Schul’ muß der Grund g’legt werd’n... (E, 156f.)

Der Pfarrer spielt also nicht nur bei geistlichen, sondern auch bei Gemeindefragen und bei Fragen, die die Bildung betreffen, eine bedeutende Rolle. Damit spielt Anzengruber ganz eindeutig auf das Konkordat an, nach dem der öffentliche Unterricht mit der katholischen Lehre übereinstimmen musste. In Stahl und Stein ist der Pfarrer zwar ein Vertrauter des Bürgermeisters, da aber der Bürgermeister in den Mittelpunkt des Geschehens rückt, wird die Vormachtstellung an diesen abgegeben. Der geistliche Einfluss ist zwar noch vorhanden, jedoch ist er nicht so groß und steht auch nicht so deutlich im Vordergrund. Die Figur des Einsam änderte der Dichter äußerlich sowie innerlich leicht ab: Der junge Mann hat im Volksstück nur noch einen „krause[n] Backenbart“ (SuS I, 3) und keinen „Schnurr- und Kinnbart“ (E, 165) mehr. Auch den Charakter veränderte Anzengruber, denn im Volksstück hat der Einsam „weichere Züge“ und ist „weniger verdüstert“, zeigt sogar eine „Spur von Frohsinn“344, als er vorerst das Singen eines traurigen Liedes mit Pauli verweigert. Die „Verweltlichung Eisners“345 wirkt sich aber auch auf die Figur des Einsam aus. So wiegt sein „Unrecht-af-der-Welt-sein“ (SuS III, 2) in der Erzählung viel schwerer als im Volksstück, da sein Vater das Zölibat gebrochen hat, wohingegen der Ehebruch des Vaters im Theaterstück als geringeres Vergehen erscheint. Auch der Mord und der Hass auf die Welt haben im Theaterstück viel weniger Motivierung wie Kleinberg feststellt:

Zweifellos verliert die Mordtat, sobald das religiöse Moment entfällt, einen ihrer zwingendsten Beweggründe, und auch der Haß gegen die Weltordnung wiegt weit

343 Vgl. Ludwig Anzengruber: Der Einsam. In: Ludwig Anzengrubers gesammelte Werke in zehn Bänden. 3., durchges. Auflage. Bd. 3. Hrsg. von Anton Bettelheim. Stuttgart: Cotta 1897, S. 189f. Im Folgenden zitiert als: E, Seitenzahl. 344 Seuffert, Dorfgeschichte, S. 222. 345 Kleinberg, Anzengruber, S. 189. 70 weniger, wenn an der Lebenslüge des Einsam nicht mehr ein jahrtausendaltes, fest im Glauben verankertes Gesetz, sondern die Eheirrung eines Großbauern die Schuld trägt.346

Der Pfarrer im Volksstück und der Kaplan in der Erzählung weisen einige Parallelen auf: So rät der Kaplan dem Pfarrer Eisner, Nachsicht mit dem Einsam zu haben, was Pfarrer Milde in Stahl und Stein ebenfalls macht. Außerdem wird Milde von Eisner damit beauftragt, nach dessen Sohn zu suchen. In der Erzählung will der Pfarrer Eisner den Kaplan mit einer ähnlichen Aufgabe betrauen, wovon er letztendlich aber doch absieht. Den Kaplan zeichnet aber eine ganz besondere Leidenschaft aus, die Milde nicht hat, nämlich das Sammeln von Insekten. Er ist ein Hobby-Entomologe. Anzengruber zeigt damit, dass die Naturwissenschaften auch im Leben von Geistlichen eine Rolle spielen können. Außerdem wird beim Kaplan eine Liebschaft aus früheren Tagen angedeutet, denn als er seinen Koffer packen will, fällt aus diesem das Bild „eines Bauernmädchens“ (E, 169), mit dem er früher vertrauter gewesen sein dürfte. Die Andeutung eines Verhältnisses zwischen dem Pfarrer und einer Frau wäre aber auf der Bühne nicht denkbar gewesen und fehlt daher in Stahl und Stein gänzlich. Tomerl hat in der Erzählung eine ähnliche Rolle wie im Volksstück, denn er steigt zum Einsam auf und warnt ihn vor den Gendarmen. Im Stück wird er aber lustiger gestaltet als in der Erzählung und auch die Liebesbeziehung mit seiner Lebensgefährtin wird weiter ausgebaut. Die Figur Pauli wurde im Volksstück ganz neu erschaffen, denn im Einsam ist sie nicht zu finden. Marthas Rolle wird im Stück wichtiger, da durch sie nicht nur Teile von Eisners Vergangenheit offen gelegt werden, sondern weil sie auch als warnende und belehrende Person für Eisner in Erscheinung tritt. Aus den Handwerkern der Gemeinde wie dem Schuster oder dem Schneider wurden im Volksstück Bauern. „Überhaupt sind gegenüber der Erzählung die Personen zu Charakteren ausgebildet [...].“347 Manche Dialoge übernimmt der Künstler im Volksstück fast wortgetreu von der Erzählung. So zum Beispiel das Gespräch zwischen Vater und Sohn zu Beginn des Volksstücks (vgl. SuS I, 7) und auch die Darlegung der Vergangenheit des Einsam (vgl. SuS III, 2) wird teilweise wortwörtlich übernommen. Das Ende der Erzählung ist jedoch weit weniger versöhnlich als im Volksstück, da es zu keiner Aussprache zwischen Vater und Sohn kommt, weil der Einsam bereits beim Schusswechsel mit den Gendarmen stirbt. Doch der Pfarrer Eisner will wie auch der Bürgermeister in Stahl und Stein aufgrund der Geschehnisse sein Amt niederlegen, sodass er einen Brief an den Kardinal schreibt: „Entheben Sie mich sofort meiner Stelle hier und lassen Sie mich in einem Orden strengster Observanz meine Tage beschließen. Von einem furchtbaren Geschicke

346 Ebda, S. 190. 347 Seuffert, Dorfgeschichte, S. 225. 71 ereilt, unwürdig befunden, ein Rüstzeug des Herrn zu sein, liege ich unter seiner Hand zerbrochen.“ (E, 202) Letztendlich wollen also beide Charaktere aufgrund der tragischen Vorkommnisse ihr Leben verändern. Inhaltlich gibt es natürlich viele weitere Abweichungen zwischen dem Drama und der Erzählung, die den Plot aber nicht wirklich beeinflussen bzw. keine so wichtige Rolle spielen, als dass sie gesondert erwähnt werden müssen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Anzengruber im Volksstück einiges von der Erzählung übernommen hat, wie die Rahmenhandlung, einige Figuren und auch manche Dialoge. Jedoch nahm er auch einige Änderungen vor: Der Pfarrer wird wegen der Zensur zum Bürgermeister, die Liebesbeziehung zwischen Tomerl und seiner Lebensgefährtin wird ausgebaut, mit Pauli wird eine neue Figur geschaffen usw. Letztendlich büßt die dramatische Fassung mit der Umgestaltung von Eisners Beruf sowohl an erschütternder als auch an kritischer Kraft ein, da der Schlag gegen die katholische Kirche größtenteils verloren geht.

5.3 Figurenkonzeption und -konstellation

Insgesamt werden 28 dramatis personae gesondert angeführt, wobei der Künstler nur beim Wirt auf einen Namen verzichtet. Bei den meisten davon wird auch der Beruf oder die soziale Stellung angegeben. Die Figuren kommen, wie es in einem Volksstück üblich ist, aus den niederen Schichten und so treten hauptsächlich Bäuerinnen, Bauern, Dirnen, Burschen und ländliche Beamte auf, mit dem Einsam aber auch ein gesellschaftlicher Außenseiter. Neben den namentlich erwähnten Personen treten weitere Personen auf, die aber nicht einzeln genannt werden, da ihnen nur sehr kleine Neben- oder Statistenrollen zukommen. Aufgrund des umfangreichen Personeninventars sollen nur die wichtigsten beschrieben werden: Eisner, der Einsam, Pauli, Tomerl, Pfarrer Milde und die Wirtsmutter Martha. Den Beginn macht die Figur Eisners, da er neben dem Einsam im Zentrum des Stücks steht. Der neu ernannte Bürgermeister ist, wie er selbst erst am Ende des Stücks herausfindet, der Vater des Einsam, zugleich aber auch sein Feind, da er seinem Leben am Rande der Gesellschaft ein Ende breiten will. Er trägt einen sprechenden Namen, denn trotz oder gerade wegen einiger Schicksalsschläge wurde er immer härter, wie Eisen, das unter Hammerschlägen gehärtet wird. Dies stellt auch Pauli im Stück fest: „Aber der Mon is von Eisen und den verhärten s’ nur.“ (SuS I, 6) Im Nebentext werden seine Erscheinung und sein Verhalten folgendermaßen beschrieben:

Stattlicher Mann, etwa sechzig Jahre alt, untersetzt, nur ein klein wenig zur Korpulenz neigend. Sein Gesicht ist mehr rund als lang, von einem kurzgeschnittenen Backenbart umrahmt, letzterer dunkelbraun, wie das ungekürzte Haar, das hinter das Ohr gestrichen

72 ist. Zwischen den buschigen Augenbrauen zeigt sich stark ausgeprägt die Zornfalte. In seinen Blicken liegt ruhiger Ernst oder in Erregtheit eifernde Strenge. Sein Auftreten ist selbstbewußt, ohne den Eindruck der Anmaßung zu machen. Er spricht mit Bedacht, eindringlich, selbstüberzeugt, und wo er seine reuigen Gefühle kundgibt, ist das ehrlich gemeint und nicht erheuchelt. Nur wenn ihn die Leidenschaft hinreißt, erscheint er voll unbeugsamem Eingenwillen, und verliert seine gemessene Haltung. (SuS I, 2)

Sein Aussehen ist von großer Relevanz, da durch dieses schon Ähnlichkeiten zum Einsam hervortreten sollten: Er hat wie der Einsam einen Backenbart und auch die Zornfalte verbindet die beiden Charaktere miteinander, was an späterer Stelle noch genauer ausgeführt wird. Die Beschreibung seines Blicks lässt erste Rückschlüsse auf seinen Charakter zu und sein selbstbewusstes Auftreten stimmt mit seiner höheren gesellschaftlichen Stellung überein. In der genaueren Charakterisierung des Verhaltens kann ebenfalls eine Verbindung zu seinem Sohn gefunden werden. So besitzen beide Figuren einen starken Eigenwillen, der am Ende die herannahende Katastrophe besiegeln wird. Die Bekleidung des Bürgermeisters dürfte Anzengruber – anders als beim Einsam – nicht als wichtig empfunden haben, da er sie nicht gesondert erwähnt. Es ist jedoch anzunehmen, dass er als Bürgermeister gut gekleidet und damit als Gegensatz zum Einsam in Erscheinung treten sollte. Anzengruber kritisiert in einigen seiner Werke nicht den Glauben an sich, sondern die Art und Weise des Glaubens an Gott.348 Anhand der Figur Eisners wird auch in Stahl und Stein das Wie des Gottesglaubens attackiert, denn der rückwärts gewandte Reformer verwendet den Glauben und die Religion, um die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. So gibt er sich als neuer Bürgermeister sehr gläubig und will „Bub’n und Menscher in d’Kirchen h’neinz’zwingen“ (SuS I, 2), denn ohne den Glauben herrscht „Neid und Unz’friedenheit“ (SuS I, 2) und es „lehnt sich der G’ring’re geg’n d’ göttlich’ Weltordnung auf, die ihn zur Armut b’stimmt, und mißgunnt ’m Reichen dö Gaben, dö ’m selben vom Himmel zug’teilt sein“ (SuS I, 2). Eisner war in jüngeren Jahren laut Pauli aber selbst nicht besonders vorbildlich und gottesfürchtig, denn „dö Dirndeln af ’m Hof, was ihm z’ Gsicht g’standen sein, so arme Hascherln, dö sich kaum unsern Herrgott ihr’ Not z’ klagen ’trau’n, dö hab’n ’n von ’er andern Seit’ kennen g’lernt“ (SuS I, 6). Nun will er den Gemeindebewohnern die Religion aufzwingen, wo er doch selbst ein sündhaftes Leben geführt hat, weshalb ihn Bernhard Seuffert als „scheinfromm“349 bezeichnet. Durch ihn sollen auch Reformen gemacht werden, die die Armen in ihren Rechten mehr einschränken. So setzt er sich dafür ein, „daß d’G’meinden wieder zu ihr’n guten alten Recht kimmen, sich geg’n Verheiratungen z’ verwahrn’n und döselben z’ verbieten, zwischen Leuten, dö um und um nix

348 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 187. 349 Seuffert, Dorfgeschichte, S. 225. 73 hab’n und nix sein“ (SuS I, 2). Auch das ledige Zusammenleben will er verbieten, da dadurch die „Bettlerschar“ (SuS I,2) nur immer größer werde. Letztendlich soll unter seiner Leitung der Gemeinde die ärmere Bevölkerung kleingehalten werden, damit sie der wohlhabenden nicht zur Last fallen kann. Mit der Religion legitimiert er sein Vorgehen. Zuspruch erhält er von den Bauern, die aus seinen Reformen keinen Nachteil ziehen. Die jüngeren Burschen macht er sich dadurch aber zum Feind, denn sie sind von seinen Einschränkungen betroffen. Dabei sieht sich Eisner selbst als streng gläubigen Christen, jedoch folgt er in seinen Taten nicht der Lehre Gottes und es tut sich eine Kluft zwischen Theorie und Praxis auf. So scheint Eisner von der christlichen Nächstenliebe bei seinem Vorgehen gegen den Einsam wenig zu wissen. Es geht ihm hauptsächlich darum, durch seine Unternehmungen einen guten Eindruck bei den Bewohnern der Gemeinde zu machen, was schon der Einsam sehr treffend feststellt: „Wie der Förster d’ jung’ Hund’ abricht’t, jetzt wixt er s’, drauf streichelt er ihnen ’s Fell, nur damit er, wann Gäst’ kimmen, a Ehr’ afhebt mit der Dressur, so möcht’st a du, daß ich in all’m dein’ Worten und Gedanken nachlebet, damit d’ a Ehr’ afhebst vor der G’moan’;“ (SuS I, 7) Eisners Glaube ist im Grunde nicht so tief, wie er selbst gern vorgibt, vor allem in jenen Bereichen, wo er ihm dienlich ist, beruft er sich auf diesen. Am Einsam will er letztendlich nur ein Exempel statuieren, das ihm die Achtung der Gemeindebewohner einbringen soll. Dass er seinen unehelichen Sohn suchen lässt, geschieht auch nicht nur aufgrund selbstloser und gutmütiger Absichten. Eisner gibt zwar an, Gutes tun zu wollen (vgl. SuS II, 7), aber als der Pfarrer ihm erzählt, dass sein unehelicher Sohn den Hof der Großmutter in Gutenthal erben soll und die Suche nach dem Erben Geld kosten könnte, kommt Eisners wahre Absicht zum Ausdruck: „Und wann ’s ganz’ Gutenthaler Erb’ draufgang’, macht der Bub’ koan’ schlechten Tausch!“ (SuS II, 7) Eisner will seinen Sohn finden, um ihn als Erben seines großen Hofes einzusetzen und das Erbe der Großmutter soll die durch die Suche anfallenden Kosten abdecken, da er selbst kein Geld investieren will. Eisner gibt zwar an, gut handeln zu wollen, noch wichtiger scheint es aber zu sein, einen Erben zu haben. Am Ende des Stücks bittet Eisner den Einsam um Verzeihung („Geh du nit von mir – du mein letzter – ja wohl, du mein Einsam – geh du nit von mir ohne a Verzeih’n!“ (SuS III, 11)) und gesteht damit seine Schuld ein. Er will aufgrund der Vorkommnisse auch sein Amt als Bürgermeister niederlegen, was er wie folgt begründet:

An dem Bub’n, den ich ins Haus nehmen wollt’, um mit meiner Reu’ groß z’ thun und z’ prahlen, sein mir meine Sünden heimg’zahlt worden und ich darf mir nimmer anmaßen, daß ich andre af Gott g’fällige Weg’ weis’ und leit’, da ich hitzt selber den schmalen Steig zu seiner Gnad’ und Erbarmnis mir suchen muß. (SuS III, 11)

74 Demnach sieht er die Verlogenheit seines Vorgehens ein und mit dem Tod des letzten Sohnes erfolgt eine Charakteränderung Eisners. Er scheint aus den schmerzhaften Erfahrungen doch etwas gelernt zu haben. Möglicherweise findet er Heil in der Religion, ohne diese als Mittel für seine Zwecke einzusetzen. Der Einsam ist die zweite Figur, die im Mittelpunkt steht. Am Ende des Stücks erfährt das Publikum, dass er das uneheliche Kind von Juliana Auhofer und Eisner ist, jedoch gibt es schon zuvor wiederholte Andeutungen, die Eisners Vaterschaft vermuten lassen. Anzengruber gab dem Einsam einen sprechenden Namen, denn der gelernte Fleischer lebt nach einem Mord und dem darauffolgenden fünfjährigen Gefängnisaufenthalt abseits der Gesellschaft einsam in einer Höhle. Sein bürgerlicher Vorname wird im Stück jedoch nicht preisgegeben. Ihm widerfährt ein tragisches Schicksal und am Schluss findet er den Tod, weil er sich aufgrund seines Eigenwillens nicht dem Bürgermeister beugen will. Seine Auflehnung gegen die Autorität wird ihm letztendlich zum Verhängnis. Im Nebentext wird das Äußerliche des 25-Jährigen beschrieben, der alte abgenutzte Kleidung trägt, aber trotzdem einen säuberlichen Eindruck macht: Er „trägt Bundschuhe gröbster Flickarbeit an den nackten Füßen, städtische, aber zu kurze Beinkleider und eine Jacke, beide Kleidungsstücke von grobem Tuch, stark abgetragen, stellenweise grob geflickt, doch reinlich aussehend“ (SuS I, 3). Die Beschreibung der Bekleidung lässt seine Armut sogleich erkennen und verdeutlicht zugleich, dass er nicht aus dem ländlichen Bereich stammt. Folglich dient sie der sozialen und der lokalen Verortung des jungen Mannes. Seine äußere Erscheinung wird wie folgt beschrieben: „Sein feingeschnittenes, bleiches, finsterblickendes Gesicht ist von langen, dunklen Haaren, die ihm bis auf die Schulter wallen, umrahmt, der Flaum an den Wangen ist ziemlich stark, ein junger, krauser Backenbart.“ (SuS I, 3) Das Gesicht weist ihn als furchteinflößende Person aus und die wilde Frisur und Gesichtsbehaarung deuten auf einen unzivilisierten Menschen hin. In dieser ersten Charakterisierung lässt sich auch eine Ähnlichkeit zu Eisner feststellen, denn er trägt wie sein Vater einen Backenbart. Mit dem Einsam bekommt ein Verbrecher eine Hauptrolle: Er hat eine Gefängnisstrafe abbüßen müssen, weil er einen Fleischergesellen umgebracht hat, von dem er abfällig als „Bankert“ (SuS III, 2), also als „nicht eheliches Kind“350 beschimpft worden ist, und von dem er weitere Unwahrheiten über seine Mutter und seinen Vater zu hören bekommen hat. Damals hat der Einsam noch nicht gewusst, dass er wirklich ein uneheliches

350 Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Bankert [14.08.2019]. Begriff: Bankert. 75 Kind ist und der Fleischer nur die Wahrheit ausgesprochen hat, denn seine Mutter hat ihn zwar „rechtschaffen erzog’n“ (SuS III, 2), als er aber nach seinem Vater fragt, erzählt sie ihm die Lüge, dass dieser schon gestorben sei und dessen Bruder für sie aufkommen würde (vgl. SuS III, 2). Als er den Mord begeht, ist er lediglich darum bemüht, die Ehre seiner Eltern zu wahren, jedoch hat in den Worten des Fleischers die „nackete Schand an all’n Enden fürg’schaut“ (SuS III, 2). Deshalb weist er jegliche Schuld für den Mord und die gesellschaftliche Ausgrenzung von sich:

Zwoafach bin ich von sö g’schiedn, durch dö unehrliche Geburt und durch mein Thun; aber meiner Geburt wegen, an der ich doch koan’ Schuld trag’, kann ich mich nit schämen, und mein Thun, auch durch die Lugenhaftigkeit andrer hellauf in Unsinn verkehrt, kann ich nit bereu’n; aber halt als oan Ganz’s bedrückt’s mich, dös bin ich nit los ’word’n und werd’s nie los! (SuS III, 2)

Dass ihn der Mord, den er begangen hat, bedrückt, lässt auf ein sanfteres Wesen schließen. Er scheint kein durchwegs böser Verbrecher zu sein. Diese Annahme wird am Ende des Stücks bestätigt, als er Tomerl, der sich gegen Ende als Freund erweist, seinen Dank insofern ausdrückt, indem er ihm den von der Großmutter zu erbenden Hof vermacht (vgl. SuS III, 11). Letztendlich ist der Einsam kein schlechter Mensch, sondern den gesellschaftlichen Verhältnissen zum Opfer gefallen und dadurch zum Mörder geworden. Kleinberg bezeichnet ihn deshalb auch als „schuldlos-schuldige[n] Auswürfling einer hassenswerten Gesellschaft“351. Trotzdem sind die Dorfbewohner vom Einsam eingeschüchtert und sagen ihm nach, dass er mehrere Scheunen angezündet habe, weshalb ihm aus Angst niemand die Arbeit verweigert. (Vgl. SuS I, 3) Die Anschuldigungen dürften jedoch nicht stimmen, wie aus einer Selbstaussage des Einsam gegenüber dem Bürgermeister hervorgeht: „Sag’n thut mer’s freilich, aber g’schehn is’s nie; doch red’ ich nix dagegen und lass d’Leut’ a bei ein’m Glauben, von dem ich mein’ Nutzen zieh’“ (SuS I, 7). Er weiß seinen schlechten Ruf also durchaus auszunutzen und denkt nicht daran, die Dinge richtigzustellen und so sein Ansehen zu ändern. Dass er in Verruf geraten ist und dadurch von der Gesellschaft ausgegrenzt wird, nimmt er in Kauf, denn nach seinem fünfjährigen Strafhausaufenthalt wollte er mit anderen Menschen ohnehin nichts mehr zu tun haben und sie auch nicht mit ihm, wie er zu wissen glaubt (vgl. SuS III, 2). Nach seiner Gefängnisstrafe schafft er es nur schwer, wieder Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen, denn er denkt von Tomerl und Pauli, die ihn vor den Gendarmen warnen, dass sie nur zum Auskundschaften zu seiner Höhle aufgestiegen sind

351 Kleinberg, Anzengruber, S. 190. 76 (vgl. SuS III, 2). Der Einsam bleibt zeit seines Lebens ein Gezeichneter, dessen Wunden Narben hinterließen, die ihn zur Vorsicht mahnen. Anzengruber zeigt anhand der Figur des Einsam, wie schwer das Leben für ein außereheliches Kind war, denn nur durch die gesellschaftliche Herabwürdigung wird er letztendlich zum Mörder. Wie wenig Kinder von ledigen Eltern wert waren, geht auch aus dem Haupttext hervor, denn Pauli bezeichnet sie als Kinder, „dö nit zähl’n“ (SuS I, 6). Der Künstler kritisiert im Stück deren gesellschaftliche Verurteilung und regt das Publikum zum Überdenken fragwürdiger Ansichten an. Das Motiv des unehelichen Kindes wird später von weiteren Autoren aufgegriffen, zum Beispiel von Franz Innerhofer in seinem bekanntesten Roman Schöne Tage, in dem er zeigt, dass die Benachteiligung weit ins 20. Jahrhundert reichte. Pauli, die Nichte von Eisner, spielt eine bedeutende Rolle im Stück, denn sie wird zur Vertrauten des Einsam. Anzengruber beschreibt sie als „große, schlanke Dirne, mit schwarzem Haar und dunklen, brennenden Augen“ (SuS I, 4) und einem „hübsche[n] Gesicht“ (SuS I, 4). Mit der Schilderung ihres Äußeren erfolgt „eine symbolische Hindeutung auf den Charakter“352, denn ihre Augen zeugen schon zu Beginn von der lodernden Wut, die ihre Verwandten noch zu spüren bekommen werden. Bettelheim nennt sie einen „Rachedämon“353: Zuerst scheint Pauli sich noch zum Einsam hingezogen zu fühlen, was daran erkennbar wird, dass sie ihn in ein Gespräch verwickelt, in dem sie teilweise ihre Gefühlswelt offen legt (vgl. SuS I, 6). Jedoch würde sie ihre Zuneigung gegenüber dem Einsam nicht zugeben: „Du bildst dir doch g’wiß nit ein, daß du mir lieb warst oder jemal werd’n könnt’st.“ (SuS I, 6) Ein weiteres Indiz für ihre Zuneigung ist, dass sie sich bei den Gendarmen erkundigt, was mit dem Einsam passiert, falls er sich wehren sollte (vgl. SuS II, 10). Sie macht sich ernsthafte Sorgen um das Schicksal jener Person, die sie lieb gewonnen hat. Auch dass sie im letzten Akt zum Einsam aufsteigt, ihn zur Vernunft bringen und vom Verbleib bei seiner Höhle abhalten will, zeigt ihr Interesse: „Gib dich willig, so schicken s’ dich bloß hin, wo d’ her bist, dort wirst doch wem hab’n; laß mich davon wissen, so komm’ ich nach, – denn dir trau’ ich – und wir haben dann a Ansprach, wann mer sonst glei’ fremd sein.“ (SuS III, 2) Sie geht sogar so weit, dass sie seine Nähe sucht und einen weiteren Kontakt in Aussicht stellt. So unlieb, wie sie zu Beginn noch behauptet, kann ihr der junge Mann gar nicht sein, es scheint vielmehr, als hätte sie sich in den jungen Wilden verliebt. In ihrem Verhalten zeigt sich aber eine Änderung, als sie aufgrund bestimmter Wesensmerkmale

352 Weber, Naturalismus, S.63 353 Bettelheim, Anzengruber, S. 188. 77 des Einsam vor allen anderen erkennt, dass er der uneheliche Sohn Eisners ist. Denn da gibt sie ihm „[m]it einem feindseligen Ausdruck“ (SuS III, 2) das zuvor entwendete Gewehr zurück und sagt: „Und wehr dich hitzt, wie lang’ d’ dich rühr’n magst.“ (SuS III, 2) Sie ermutigt ihn, für seinen Verbleib bei der Höhle bis zum bitteren Ende zu kämpfen und besiegelt damit sein Schicksal. Mit dieser Tat nimmt sie Rache an Eisner, durch den sie ihr Erbe verloren und in weiterer Folge gelitten hat, da nun auch sein letzter verbliebener Sohn dem Tod ins Auge sieht. Was Eisner anderen angetan hat, wird ihm durch seine Nichte heimgezahlt, weshalb sie von Kleinberg als „Spiegel seiner rücksichtlos herrischen Vergangenheit“354 bezeichnet wird. Dadurch wird auch ihr Verhältnis zu Eisner deutlich: Sie hasst den Mann, da er ihr nicht nur ihr Erbe genommen hat, sondern sie auch noch mit seinen drei ehelichen Söhnen verheiraten wollte, bei denen sie aber nur eine von vielen gewesen wäre. Außerdem war sie dazu verdammt, bei allen drei Söhnen Totenwache zu halten. (Vgl. SuS I, 6) Als sie über den unehelichen Sohn Eisners spricht, kommen ihre ganze Wut und ihr ganzer Hass zum Vorschein, denn sie könnte ihn nur auf eine Weise lieb gewinnen: „[...] außer ich dürft’ ’m neuchen Vettern gleich zum Willkomm’ all’s so rüsten wie ’n andern, zwoa Wachslichter z’ Häupten und ’n Weihwasserkessel mit ’n Büschel Kornähren drein z’ Füßen, dann wär’ er mir, der allerletzte, a der liebste.“ (SuS I, 6) Ihr Wunsch soll durch ihr eigenes Zutun in Erfüllung gehen und letztendlich bekommt sie von Eisner dann auch, was sie sich gewünscht hat, wenn er zu ihr Folgendes sagt: „Ich mach’ Fried’ mit dir, daß d’ mir nix nachtragst und mich bis dahin redlich betreu’st.“ (SuS III, 11) Da sie die einzige nähere Verwandte Eisners ist, wird sie nach dem Tod des Einsam die alleinige Erbin seines Hofes sein und geht somit als Gewinnerin aus dem tragischen Geschehen hervor. In ihrer materiellen Begierde nach dem Hof steht sie ihrem Onkel aber sehr nahe. Tomerl ist eine weitere wichtige Figur, da er mit dem Einsam, Eisner und Pauli in Verbindung steht. Am Ende verzeichnet er wie Pauli einen materiellen Gewinn, da ihm der Einsam den von der Großmutter geerbten Hof vermacht. Seinen bürgerlichen Namen, „Thomas Fernleitner“ (SuS II, 12), erfährt das Publikum von Eisner, er wird von diesem auch als „Schneider-Tomerl“ (SuS II, 12) bezeichnet. Anzengruber schließt damit an die Erzählung Der Einsam an, in der Tomerl als „Schneider-Tomerl“ (E, 174) bezeichnet wird. Tomerl lebt unverheiratet mit Cenzi zusammen und hat auch zwei Kinder mit ihr, wodurch er zunehmend ins Schussfeld des strengen Bürgermeisters gerät. In seinem Verhalten erinnert er an Anzengrubers Figur des Steinklopferhanns, denn er scheint intelligent zu sein, hat meist gute

354 Kleinberg, Anzengruber, S. 191. 78 Laune und ist immer für einen Witz oder ein lustiges Lied zu haben. Er ist auch die Person mit den meisten Gesangseinlagen. So stimmt er, als die Bauern sich für das Vorgehen gegen Personen, die unverheiratet zusammenleben, aussprechen, folgendes amüsante Lied an:

Wann’s doch eppa dazu kam’, Daß mer mir ’s Rotköpfel nahm’, Jo da müßt’ ich frei glei schrei’n: Bauer, sperr dein’ Bäu’rin ein! Bauer, sperr dein’ Bäu’rin ein, Sist g’hört s’ mein! (SuS I, 1)

Durch das Lied wird erkenntlich, dass er durchaus zu provozieren weiß, denn er bringt die Bauern in Rage, sodass beinahe eine Schlägerei entsteht. Außerdem lehnt er sich gegen höhere Instanzen auf und will sich nichts vorschreiben lassen. So begegnet er auch der Forderung des Bürgermeisters – er solle sich mit seiner Geliebten verheiraten oder sich von ihr trennen – mit allerhand Spaß:

EISNER (mit Nachdruck). Dann werd’ ich nach ’m Rechten sehn! TOMERL. Selb’ muß mer eh’ lieb sein, wann’s a andrer thut, denn wie oft ich schon danach g’schaut hab’, ich hab’s nie z’ sehn g’kriegt. (SuS II, 13)

Ähnlich lustige Antworten Tomerls, die aber durchaus provokant sein können, finden sich im Stück vielerorts. Seuffert bezeichnet ihn deshalb sehr treffend als „Spaßmacher“355. Zugleich ist Tomerl aber sehr couragiert, denn er möchte die jungen Burschen dazu überreden, dem Einsam zu helfen, doch diese lehnen seinen Vorschlag ab (vgl. SuS II, 2). Trotzdem beschließt er, als Warner zur Höhle des Einsam aufzusteigen, jedoch geschieht das Ganze auch nicht ganz uneigennützig, wie er dem Einsam verrät: „Is dalket g’nug, nur Z’sammhalten hilft! Heut kommt d’Reih’ an dich und nachderher kommt s’ an uns.“ (SuS III, 2) Er möchte verhindern, dass der Bürgermeister am Einsam ein Exempel statuiert, da er aufgrund seines Verhältnisses zu Cenzi vermutlich der Nächste wäre, den der Bürgermeister in seinem Handeln einschränken würde. In seinem Vorgehen erweist sich Tomerl als klarer Gegner des Bürgermeisters und widersetzt sich diesem stärker als alle anderen Burschen. Zugleich stellt er sich auf die Seite des Einsam und unterstützt diesen bei der Gegenwehr. Seine Gegnerschaft mit Eisner verbindet ihn mit dem Einsam. Paradoxerweise scheint genau Tomerl, der durch sein unverheiratetes Zusammenleben mit einem Mädchen in den Fokus von Eisner gerät, eine gute Beziehung zu führen. Er ist der Einzige, der vom Hausierer ein Geschenk für seine Freundin kauft (vgl. SuS I, 1), und als sie ihre Angst angesichts des Vorhabens von Eisner äußert, kommt seine Liebe deutlich zum Vorschein: „Wehr’n mer sich halt mit Händ’ und Füßen dagegen, und wann

355 Seuffert, Dorfgeschichte, S. 225. 79 schon gar kein Bleibens mehr wär’, dann mit Füßen z’erst, denn dann laufen mer miteinander davon und nachher müßten d’Händ’ weiter helfen dö seind, Gott sei Dank, noch flink und rührig.“ (SuS I, 5) Er will auch unter erschwerten Bedingungen an der Liebe zu ihr festhalten und lässt sie nicht im Stich. Er scheint wahre Liebe für seine Partnerin zu empfinden und so steht seine glückliche Beziehung mit Cenzi im Gegensatz zu Eisners glückloser Ehe. Mit dieser Figur zeigt Anzengruber, dass eine Hochzeit keine Voraussetzung für ein glückliches Zusammenleben ist. Der junge Mann ist ein Exempel dafür, dass eine Beziehung ohne Vermählung manchmal besser funktioniert als eine Ehe. Eisner, der Einsam, Pauli und Tomerl sind die wichtigsten Figuren und allesamt miteinander verbunden. Mit dem Einsam und Eisner werden zwei Gegensätze einander gegenübergestellt, auch wenn sich die Charaktere in ihren Verhaltensweisen teilweise sehr ähnlich sind. Eisner steht für Zucht und Ordnung, genießt hohes Ansehen und hat einen sehenswerten Reichtum. Der Einsam hingegen stört mit seinem Leben als armer, verachteter Außenseiter diese Ordnung. Tomerl wird mit seiner losen, aber glücklichen Verbindung mit Cenzi Eisner und dessen glückloser Ehe gegenüber gestellt. Sein Zusammenleben mit Cenzi stellt neben dem Einsam einen weiteren Grund für Eisners Zorn dar.356 Pauli stellt für Eisner zwar keine Bedrohung dar, jedoch macht er ihr das Leben schwer, sodass sie ihn zu hassen beginnt. So stehen der Einsam, Tomerl und Pauli dem Bürgermeister als Gegner gegenüber, was sie einander näherbringt. Der Kampf gegen Eisner verbindet die Drei miteinander. Im Stück wird auch ein Konflikt der Generationen deutlich. Eisner, ein Vertreter der älteren Generation, hält an der Religion und am heiligen Sakrament der Ehe fest, wofür er von den älteren Bauern großen Zuspruch erhält. Tomerl und die jungen Bauernburschen geben nicht mehr so viel auf diese von Eisner hochgehaltenen Werte. So kommt es im ersten Akt auch zum Konflikt zwischen den jungen Burschen, die Eisners Strenge beklagen, und den älteren Bauern, die Eisners Standpunkt vertreten und loben. Auch zwischen Eisner und dem Einsam kann ein Konflikt der Generationen erkannt werden, denn der Einsam hält wie auch die Bauernburschen nicht an religiösen Werten fest. Da sich die jüngere Generation mehr von der Religion abwendet, entsteht Konfliktpotenzial. Es sollen noch zwei Nebenfiguren näher beschrieben werden, da sie mit dem Bürgermeister verbunden sind und ihn beeinflussen wollen. Eine davon ist Martha, die Mutter des Wirtes. Sie ist eine ältere Frau von ungefähr 80 Jahren, geht „auf den Stock gestützt“ (SuS I, 2) und sagt von sich selbst, dass sie „kaum mer krallen“ (SuS I, 2) kann. Sie steht Eisner nicht wohlwollend gegenüber, denn sie kennt ihn noch von früher und weiß sowohl von seiner

356 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 191. 80 Vergangenheit als auch von seinen Schicksalsschlägen, die sie folgendermaßen bewertet: „D’Straf’ Gottes! Aber wer seine Sünden andre mitbüßen lassen will, das is net mein Mon.“ (SuS I, 2) Demnach hält sie wenig davon, dass Eisner, der selbst sündhaft gelebt hat, nun die anderen Dorfbewohner zum Glauben und zum bußfertigen Leben anhalten will. Kleinberg beschreibt ihre Rolle im Stück folgendermaßen: „Die Wirtsmutter Martha bekam, je eindringlicher Anzengruber in seinen Briefen ihre Rolle erwog, um so mehr ihre eigene, an den Chor der Antike erinnernde Prägung [...].“357 So erzählt sie Eisner von der kriminellen Vergangenheit seines Sohnes (vgl. SuS II, 15) und belehrt ihn über den Umgang mit diesem: „Wie hart a dir dö Prüfung fallen mag, denk, daß s’ doch dem Bub’n z’ gut kimmt, der vielleicht ’m zeitlich’n und ewig’n Verderben entgegenrennet, wann er nit, vor der Not und der Versuchung hinweg, da in a Vaterhaus flüchten könnt’ und unter dein’ Zucht kam’!“ (SuS II, 15) Außerdem will sie den Bürgermeister von seinem Vorgehen gegen den Einsam abhalten, indem sie ihn über mögliche Folgen seines Verhaltens aufklärt: „Dö Leut’ wurden sagen: Du thätst an dem, wie d’ an dein’m eignen Bub’n wohl nit thun möcht’st! Laß dir raten, Burgermaster, ruf s’ z’ruck, ruf s’ z’ruck!“ (SuS II, 17) Sie versucht den Bürgermeister durch ihre Belehrungen zu beeinflussen und zu guten Taten anzuhalten, sein Starrsinn vereitelt aber ihre Versuche. Milde, der Pfarrer der Gemeinde, handelt ähnlich wie Martha, denn er rät dem Bürgermeister zu Sanftmut in seinem Vorgehen gegen den Einsam (vgl. SuS II, 8), wodurch sich sein Name als sprechender ausweist. Er ist „ein greiser Mann von gedrungenem Körperbau. Schneeweißes Haar umrahmt sein rotangehauchtes, rundliches Gesicht, aus dem ein paar ruhig beobachtende, freundliche Augen blicken.“ (SuS II, 5) Mit der Beschreibung der Augen wird vor allem für das Lesepublikum sein gutmütiger Charakter hervorgehoben. Er ist es auch, dem sich der Bürgermeister anvertraut, indem er ihm von seinem ledigen Sohn erzählt, und den er mit der Suche nach diesem beauftragt, wie aus Paulis Erzählung hervorgeht. (Vgl. SuS I, 6) Wenige Tage nach dem Gespräch mit Eisner gesteht er diesem, dass er sich große Sorgen um den Jungen macht: „Mich hat der Gedanke gepeinigt, daß der Bursch im g’fährlichsten Alter steht, wer weiß, in welcher G’sellschaft sich h’rumtreibt – den schlimmsten Anfechtungen und Versuchungen ausg’setzt – und daß etwa alles, was man zu seiner Rettung unternehmen will, schon z’spät kommt!“ (SuS II, 6) Die Aussage zeigt, dass Milde, der schon Schlimmes befürchtet, einfühlend ist. Leider soll sich seine Vermutung am Ende bestätigen. Er rät dem Bürgermeister auch von seinem übereilten Vorgehen gegen den Einsam ab, doch Eisner will nicht auf ihn hören, sondern setzt sein Vorhaben stur um. (Vgl.

357 Ebda. 81 SuS II, 8) Somit weist sich der Pfarrer als Vertrauter und Helfer des Bürgermeisters aus, der ihm mit Rat zur Seite steht, wenn er mit ihm auch nicht immer einer Meinung ist. Am Ende des Stücks erhält Milde eine ganz besondere Rolle: Er tritt nicht nur für Eisner, sondern auch für das Publikum als moralische Instanz in den Vordergrund, wenn er mit einem Zitat aus der Bibel Kritik an Eisner übt, der laut einem Bauern „stark im Glauben“ (SuS III, 11) ist: „Ja, ja, im Glauben. ‚Aber hätte ich allen Glauben also, daß ich Berge versetzte und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.’ Für was aber alles hält sich unsere verlogene Zeit mit ihrem lieblosen Glauben?!“ (SuS III, 11) Hier spricht nicht mehr nur der Pfarrer zu den dramatis personae, sondern es tritt eindeutig Anzengruber hinter dem Werk hervor und spricht zum Publikum. Der Dichter kritisiert den lieblosen, man könnte auch sagen scheinheiligen Glauben, wie er etwa von Eisner ausgeübt wird. Das Publikum erfährt hier also noch einmal eine Belehrung und soll aus dem Stück mitnehmen, dass der heuchlerische Glaube nicht zum Heil, sondern zur Katastrophe führt. Wer vorgibt, gottesfürchtig zu leben, sollte nicht auf Gnade, Erbarmen und Nächstenliebe vergessen.

5.4 Raum und Zeit

Anzengruber gibt im Nebentext an, dass das Stück in einem Alpendorf spielt. Im Haupttext wird es einmal namentlich erwähnt, und zwar als „Vierhofen“ (SuS II, 1). Dieser Ort ist fiktiv, doch auch wenn der Künstler die Ortsbezeichnung frei erfunden hat, erscheint er durchaus real. Folglich suggeriert das Stück, einen Ausschnitt der Realität zu präsentieren. Die ersten beiden Akte beginnen in der im Nebentext beschriebenen Umgebung: in einem Wirtshausgarten auf dem Land, wo Bauern, Bauernburschen, Dirnen und andere Menschen zusammentreffen. Derartige Lokalitäten waren neben Höfen und Schlössern sehr beliebt, da sie „ein zwangloses Zusammenkommen von Figuren (unterschiedlicher Schichten) legitimieren“358. Folglich kommt dem Wirtshausgarten eine wichtige Funktion zu, da er die Darstellung des bäuerlichen Milieus begünstigt. Anzengruber verleiht dem Ort aber auch einen symbolischen Charakter, denn im Gastgarten steht ein Lindenbaum. Früher war die Linde vielerorts das Zentrum des Dorfes, man traf sich dort und tanzte unter dem Baum mit den herzförmigen Blättern.359 Zugleich wird der Lindenbaum mit Begriffen wie „Heimat, Wärme und Geborgenheit“360 assoziiert und daher ist es wenig verwunderlich, dass der Dichter dort eine Linde platziert, wo Vater und Sohn erstmals aufeinandertreffen. Jedoch ist

358 Schößler, Dramenanalyse, S. 146. 359 Vgl. Doris Laudert: Mythos Baum. Was Bäume uns Menschen bedeuten. Geschichte – Brauchtum – 30 Baumportraits. 3., durchgesehene Auflage. München, Wien, Zürich: BLV 2000. S. 167. 360 Ebda, S. 166. 82 bei der ersten Begegnung von Vater und Sohn wenig Wärme und Geborgenheit zu spüren, denn der Einsam will nicht mit dem Bürgermeister sprechen, sondern flüchtet so schnell wie möglich wieder. Demnach stehen die hervorgerufenen Assoziationen im eindeutigen Gegensatz zu den Gefühlen der beiden Figuren. Der letzte Akt beginnt vor der Behausung des Einsam, die im Nebentext ausführlich beschrieben wird:

Der Prospekt zeigt eine hohe, bis in die Soffiten ragende Felswand, inmitten derselben eine Höhle, deren Eingang mit Brettern und Pfosten verschalt ist. Moos und Streu stopfen die Ritzen und Spalten, eine kleine Schmale Thüre steht offen und läßt Licht und Luft ein, aus einer Ecke der Holzverkleidung biegt das Kniestück einer Ofenröhre hervor, über derselben hat der Rauch einen mannshohen schwarzen Streif auf den Felsen gezeichnet. Vor der Höhle befindet sich eine steinige Fläche, die rechter Hand steil nach einem Abgrund abfällt, links zeigt sich ein sehr schmaler Pfad, welcher der Felswand entlang gegen das Plateau führt, kurz vor diesem durch einen tiefen Spalt unterbrochen wird, über welchen ein Baumstamm als Brücke dient. Der Spalt ist nur so breit, daß er sich durch einen kräftigen Sprung übersetzen läßt. Etliche Felsblöcke im Vordergrunde. Die Coulissen der nicht zu tief zu nehmenden Bühne zeigen Felspartien, die jedoch mit dem Plateau in keinem Zusammenhange stehen. (SuS III, 1)

Durch die genauen Darlegungen der Umgebung werden die ärmlichen Verhältnisse des Einsam deutlich, der nicht einmal genug Geld für eine passende Verzimmerung seines Höhleneingangs besitzt, sodass er bei deren Errichtung improvisieren muss. Die Zusehenden bzw. Lesenden erhalten sofort Einblick in das dürftige Leben des Außenseiters und können ihn sozial verorten. Außerdem verdeutlicht die schwere Erreichbarkeit der Höhle, wie sehr sich der junge Mann von der Gesellschaft abgrenzen will bzw. wie sehr er von dieser ausgestoßen wird. Seine Außenseiterposition wird dadurch nochmals unterstrichen. Die Beschreibung des Weges zur Höhle ist besonders für das Lesepublikum wichtig, da ohne diese das Einziehen der Brücke vor dem Kampf und der Sprung des Gendarmen auf das Plateau unverständlich bliebe. Wie bereits erwähnt wurde, gibt es in jedem Akt eine Verwandlung, die einen Ortswechsel bedeutet. Diese wiederkehrenden Verwandlungen sind nicht nur ein technischer Behelf, sondern ermöglichen dem Künstler, Gegensätze aufzuzeigen. Vor allem im dritten Akt werden diese deutlich, da von der ärmlichen Behausung des Einsam zu den Toren des großen Vaterhauses gewechselt wird.361 Das Vaterhaus wird edel dargestellt, denn es hat „Fensterrahmen mit Butzenscheiben“ (SuS I, 4) und darüber sind die „gotischen Spitzenbogen“ (SuS I, 4). Im Kontrast zur Höhle des Einsam steht auch das Bühnenbild der Verwandlung des zweiten Aktes. Dort wird das schöne Arbeitszimmer im Haus des Bürgermeisters präsentiert, das im Nebentext wie folgt beschrieben wird:

361 Vgl. Bettelheim, Anzengruber, S. 180f. 83 Zimmer mit Vertäfelung. Rechts die Eingansthüre, dieser gegenüber, inmitten der Wand links, ein großes Heiligenbild, davor Betschemel, daneben beidseitig auf Konsolen Vasen mit künstlichen Blumen. Im Hintergrunde rechts und links Erker, die Fenster mit Butzenscheiben und farbigen Gläsern; die Fenster des Erkers rechts stehen offen, man sieht dahinter den Prospekt der zweiten Dekoration des ersten Aktes. An diesem Fenster steht ein massiver Schreibtisch. An der Wand zwischen den beiden Erkern ein Schrank zur Aufbewahrung von Schriften, eine Schiebethüre steht offen, man sieht in voll und halbleere Fächer. Mitten der Bühne ein Tisch, worauf Zeitungen und Schriften liegen. Ein ledergepolsterter Großvaterstuhl, der Thüre zugekehrt, und mehrere Stühle mit lederüberzogenen Sitzpolstern. (SuS II, 4)

Durch den Ort erfolgt teilweise eine Charakterisierung Eisners: Die Vertäfelung, der Schreibtisch und die sonstige Einrichtung weisen auf einen wohlhabenden Besitzer hin. Durch das Heiligenbild und den Betschemel wird sein Gottesglaube symbolisiert. Die künstlichen Blumen neben dem Bildnis dienen als Dekoration, zugleich sind sie aber Ausdruck dafür, dass Eisners Glaube unecht und heuchlerisch ist, da er die Religion vor allem für seine eigenen Zwecke missbraucht. Außerdem entsteht der Eindruck, er wolle durch den nach außen getragenen Gottesglauben sein Ansehen erhöhen. So betont auch Pauli die Heuchelei Eisners, denn „scheinheilig is er allweil g’west, heilig thut er erst neuzeit.“ (SuS I, 6) Zusätzlich weisen ihn die vielen Schriften als arbeitsamen und gebildeten Menschen aus. Die Ortswechsel vom luxuriösen Zimmer im Vaterhaus zur Höhle des Einsam und von dort vor das große Haus des Vaters machen die gegensätzlichen Verhältnisse der beiden Hauptfiguren deutlich. Laut Schößler verweisen solche Raumwechsel „auf eine höhere Erzählfunktion und tendieren damit zur Episierung, die das geschlossene Drama vermeidet“362. Angesichts der Tatsache, dass das Stück die Dramatisierung einer Novelle ist, ist es wenig verwunderlich, dass es in gewissen Bereichen einem epischen Text nahesteht. Der Handlungsraum wird nicht nur im Nebentext, sondern auch im Haupttext beschrieben. Das Dorf hat zu früheren Zeiten eine Abwanderung erfahren, wie aus der Antwort Hahns auf die Frage, warum er den Einsam zum Haus des Bürgermeisters bringen lässt, hervorgeht: „Es is da nix mer unterwegs, seit ’s Ziegelschlagwerk aufg’lassen is. Nackte Mäuern!“ (SuS III, 10) Die Aussage ist eine Anspielung darauf, dass das Dorf die Auswirkungen der Industrialisierung zu spüren bekommt, denn vermutlich hat das Ziegelwerk aufgrund einer stärker werdenden Konkurrenz den Betrieb aufgeben müssen, woraufhin die Angestellten arbeitslos wurden und abgewandert sind. Es wird auch die nähere Umgebung der Gemeinde kurz beschrieben: Beispielsweise erfährt das Publikum von Pauli, dass in der Nähe das Dorf „Gutenthal“ (SuS I, 6) liegt, dessen Standort sie kurz beschreibt: „Dort entern Berg mit dö zwoa großen Hörndln liegt’s.“ (SuS I, 6) Durch die Schilderung wird die Vorstellung,

362 Schößler, Dramenanalyse, S. 146. 84 dass die Handlung in einem Alpendorf spielt, nochmals betont. Außerdem stellt Gutenthal einen Bezugspunkt dar, denn der Ort wird auch von anderen Charakteren erwähnt und die Gendarmen kommen von dort. Des Weiteren spricht der Einsam von seiner Geburtsstadt, die er aber nicht namentlich erwähnt. Dorthin zog seine Mutter vor seiner Geburt, denn in der Stadt gibt es wegen einer größeren Anzahl an Menschen mehr uneheliche Kinder „und mer nimmt’s dort nit gar so hoch auf“ (SuS III, 2). Die Stadtmenschen werden angesichts dessen aber keinesfalls als sündhafter beschrieben, sondern sie „sein a nit braver und nit schlechter wie andre“ (SuS III, 2). Es wird also nicht das positives Landleben im Kontrast zum verdorbenen Stadtleben dargestellt, in der Stadt ist es lediglich leichter sich „unter der Meng’ verlier’n“ (SuS III, 2). Doch gerade deshalb verließ der Einsam die Stadt, denn dort „kann mer ’n Leuten nicht ausweichen, da sein ihrer z’ viel, so bin ich halt fort, daher, wo s’ schütterer sein [...].“ (SuS III, 2) Wie weit die Stadt vom Ort entfernt ist, erfährt das Publikum letztendlich aber nicht. Generell bleiben die Beschreibungen des Handlungsraums im Haupttext sehr vage und dem Publikum im Theater dient zur Verortung eher das Bühnenbild als die verbalen Schilderungen der Figuren. Anzengruber ordnet das Stück nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich ein: Im Nebentext wird die Gegenwart als Zeit, in der das Stück spielt, ausgewiesen. Da das Stück 1886 fertiggestellt wurde, kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts abgebildet wird. Anzengruber legt auch fest, dass das Geschehen an einem Sonntagnachmittag beginnt und am Abend des darauffolgenden Tages endet. Die Einheit der Zeit wird demnach nur fast eingehalten, denn es vergehen etwas mehr als 24 Stunden. Für die Einhaltung der Einheit der Zeit spricht aber der Umstand, dass „die Zeit unbemerkt und unreflektiert verfließt, also nicht in den Vordergrund tritt“363. Der Beginn des Stücks an einem Sonntag geht auch aus dem Haupttext hervor, wenn der Einsam sich selbst für den gewählten Zeitpunkt seines Wirtshausbesuchs tadelt: „Sakra, vergiß ich wieder, daß heut Sonntag is und komm da mitten in den Schwarm h’nein.“ (SuS I, 3) Der Beginn an diesem Wochentag ist nicht unwesentlich, da es an diesem Tag üblich ist, in ein Wirtshaus zu gehen, weshalb sich zu Beginn des Stücks eine große Anzahl an Menschen dort einfindet. Dass Eisner gerade am Tag des Herrn in einen Streit mit einem Mann gerät, der, wie sich später herausstellen wird, sein Sohn ist, kann außerdem schon als erstes Anzeichen für seinen heuchlerischen Gottesglauben gesehen werden. Über die Jahreszeit, in der sich die Handlung zuträgt, wird nichts ausgesagt, jedoch kann man aus der Dekoration des ersten Aktes schließen, dass es nicht Winter sein kann, denn eine Linde verdeckt dahinterstehende Bäume,

363 Schößler, Dramenanalyse, S. 177. 85 was kaum möglich wäre, hätte sie bereits ihre Blätter verloren. Auch durch das Beisammensitzen der Figuren im Wirtshausgarten kann das Publikum feststellen, dass eine eher warme Jahreszeit herrschen muss. Die Zeit im Drama vergeht kontinuierlich, nur zwischen dem ersten und dem zweiten Akt gibt es einen Zeitsprung, denn der erste Akt endet Sonntagsnacht und der zweite Akt beginnt am Morgen des nächsten Tages. Dies geht ausschließlich aus dem Haupttext hervor, weil über das Zusammentreffen von Eisner und dem Einsam am Vortag geredet wird: „Gestern beim schön Mondscheinlicht hat ’n der Burgermaster noch aufg’funden und is mit eahm überanand g’raten.“ (SuS II, 1) Dass die beiden Charaktere gerade bei Mondschein aufeinandertreffen, ist natürlich kein Zufall. „Der wandelbare Mond ist das Signum menschlicher Verwandlungen.“364 So verhält sich Eisner zuerst nett gegenüber dem Einsam und versucht ihn zu überreden, sich wieder in die Gesellschaft einzufinden. Als der Einsam dies jedoch ablehnt und ihn provoziert, zeigt Eisner sein wahres Gesicht und droht ihm: „Schnür dein Bündel, wann d’ oans z’ schnüren hast. Koane vierundzwanz’g Stund’ haust d’ mehr da!“ (SuS I, 7) Im Licht des Mondes entwickelt er sich vom freundlichen Unterstützer zum zornigen Feind. Das Tempo des Dramas variiert in den unterschiedlichen Akten. So gibt es nach der Verwandlung im zweiten Akt im Zimmer des Bürgermeisters viele Auf- und Abtritte. Dabei sind die Repliken eher kurz gehalten. Zu Beginn des dritten Aktes gibt es wiederum nur wenige Auf- und Abtritte und die Äußerungen der Figuren sind teilweise sehr lang. Neben dem Auf- und Abtreten der Personen gibt es weitere verzögernde und beschleunigende Momente wie Formen der Ankündigung, Andeutung oder Vorhersage, aber auch Rückgriffe auf Vergangenes.365 Verzögernde Rückblenden sind vielfach zu finden, da das Stück einen analytischen Handlungsverlauf hat. Neben den bereits erwähnten ausführlichen Botenberichten gibt es viele weitere Rückgriffe, zum Beispiel wenn der Einsam mit dem Bürgermeister über seine Vergangenheit spricht (Vgl. SuS I, 7), wenn der Wirt dem Hausierer von Eisner erzählt (Vgl. SuS I, 3), wenn Martha Andeutungen in Bezug auf Eisner macht (vgl. SuS I, 3) etc. Neben den Rückblenden gibt es aber auch Ankündigungen: So antwortet Eisner dem Einsam auf die provozierende Frage, wer ihn aus seiner Höhle holen würde, folgendermaßen: „Dös werd’n schon d’Landjäger verrichten.“ (SuS I, 7) Diese Ankündigung

364 Wolfgang Schneider: Die Literatur und der Mond: Die schönste Leiche im Universum. In: Der Tagesspiegel vom 23.08.2016. URL.: https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-literatur-und-der- mond-die-schoenste-leiche-im-universum/14439880.html [27.09.2019] 365 Vgl. Patrick Primavesi: Zeit. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. 2., aktual. und erw. Auflage. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat. Stuttgart, Weimar: Metzler 2014, S. 424f. 86 wird sich aber erst im dritten Akt erfüllen, wenn die Gendarmen bei der Behausung des Einsam eintreffen. Die Ankunft der Gendarmen bei der Höhle wird zusätzlich von Tomerl vorhergesagt: „D’Standari sein schon unten in’ Ort und wie bald werd’n s’ uns da nachsteig’n!“ (SuS III, 2) Es finden sich weitere Ankündigungen in Bezug auf die Gendarmen, die der Spannungssteigerung dienen, da die Katastrophe immer näher rückt. Zur Beschleunigung des Tempos verwendet Anzengruber außerdem das rhetorische Mittel der Stichomythie und erzeugt damit Spannung in einer sich bereits zuspitzenden Situation. „Von Stichomythie spricht man, wenn der Vers/der Satz einer Figur unmittelbar auf den Vers/den Satz einer anderen folgt [...].“366 So sprechen sich die Bauern in harmonischer Übereinstimmung kurz nacheinander gegen die jungen Burschen aus:

SELDINGER. Lang’ genug hat eng Mutwill’n und Uebermut g’plagt. HALBHOFER. Zeit is’s, daß mer eng ein’ Herrn zeigt. MEHRERE (wie oben). Schon recht! – ganz recht. (SuS I, 1)

Dieses Mittel wird auch in antagonistischer Form eingesetzt, wenn sich die Bauern und die jungen Burschen gegenseitig drohen, sodass nur noch der Wirt eine Schlägerei verhindern kann (vgl. SuS I, 1). Der Künstler kennzeichnet diese Stellen im Nebentext, indem er die Anweisung gibt, dass die Figuren „rasch nacheinander“ (SuS I, 1) oder „[f]ast zugleich“ (SuS I, 1) sprechen sollen. Am Ende des Stücks gibt Anzengruber im Nebentext als letzte Anweisung, dass in der Abendröte die fernen Berge erglühen. (Vgl. SuS III, 11) Die Abendröte ist ein „Symbol des Todes“367 und durch sie wird am Schluss des Stücks nicht nur das Ende des Tages, sondern auch der Tod des Einsam symbolisiert. Eisner bleibt nach dem Ableben seines letzten Sohnes in Trauer und Verzweiflung zurück.

5.5 Sprachliche Gestaltung

Da es sich beim Volksstück Stahl und Stein um ein analytisches Stück handelt, kommt dem Diskurs eine große Bedeutung zu, denn die Vergangenheit wird nur in den Repliken der Figuren erzählt. Wo es nicht um die Aufdeckung vergangener Geschehnisse geht, sind verbale Aussagen und Handlungen eng miteinander verknüpf, denn das Gesagte wird oft nochmals nonverbal dargestellt oder die Figuren verleihen ihren Äußerungen Nachdruck, etwa wenn Drohungen von Faustgebärden begleitet werden. Manchmal ist es aber der Fall, dass

366 Schößler, Dramenanalyse, S. 126. 367 Günter Butzer/Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart, Weimar: Metzler 2008, S. 2. 87 Handlungen gar nicht dargestellt, sondern nur von anderen Figuren thematisiert und kommentiert werden. Die personae dramatis verwenden eine ungebundene Sprache, wodurch Realitätsnähe generiert wird.368 Durch den Gebrauch einer an den bairisch-österreichischen Dialekt angelehnten Sprache, des Soziolekts und der Fäkalsprache wird der Wirklichkeitsbezug erhöht, da die Vorstellung, dass ein Ausschnitt der ländlichen Realität auf der Bühne dargestellt wird, verstärkt wird. Würden die Bauern allesamt in der Hochsprache kommunizieren, wäre das Drama auf sprachlicher Ebene realitätsfern. Anzengruber achtete in Stahl und Stein bei der Verwendung der Mundart wie schon in seinen bisherigen Dramen aber darauf, dem Publikum verständlich zu bleiben, d. h. er bildet den Dialekt nicht genau ab, sondern verwendet eine an ihn angelehnte Kunstsprache. So kommt es auch, dass Anzengruber bezüglich der Ausdrucksweise inkonsequent ist: Beispielsweise sagt der Einsam wenn er mit Pauli spricht zuerst „Ich“ (SuS I, 6) und wenig später verwendet er stattdessen „I“ (SuS I, 6). Es scheint, als würde sich Anzengruber bei der Redeweise der Figuren auf sein Gefühl verlassen, wodurch es manchmal zu unterschiedlichen Formen eines Wortes kommt. Die dialektal gefärbte Sprache wird aber nicht nur zur Herstellung eines Wirklichkeitsbezugs verwendet, sondern dient auch der sozialen Verortung der Figuren. Durch die verwendete Sprache wird dem Publikum klar, dass das österreichische bäuerliche bzw. dörfliche Milieu abgebildet wird. Die Authentizität der Sprache wird erhöht, indem in den Repliken der Figuren Wörter vorkommen, die dem bairisch-österreichischen Dialektsprecher vorbehalten sind, wie zum Beispiel „warteln“ (SuS I, 6), was so viel bedeutet wie „zanken, streiten“369, oder „Patsch“ (SuS I, 1), womit ein „ungeschickter Mensch“370 gemeint ist. Die Anzahl derartiger Wörter ist aber nicht allzu hoch, sodass das Stück verständlich bleibt. Generell tendiert das Volksstück Stahl und Stein eher zu einem einheitlichen Ausdruck. Einzig der Pfarrer hebt sich mit seiner Sprache eindeutig von allen übrigen Figuren ab. Er spricht fast nach der Schrift, nur manchmal tilgt er die Vokale, zum Beispiel am Ende von Wörtern wie bei „glücklicherweis’“ (SuS II, 6). Dadurch zeichnet sich der Pfarrer als Gelehrter aus und hebt sich von der ländlichen Bevölkerung ab, die weniger Bildung erfahren hat. Hier ist eine eindeutige Parallele zum Vierten Gebot zu erkennen, in

368 Vgl. Schößler, Dramenanalyse, S. 113. 369 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 27. Leipzig: Hirzel 1854-1961. URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi- bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GW07479#XGW07479 [10.10.2019]. Begriff: Warteln. 370 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 13. Leipzig: Hirzel 1854-1961. URL: http://woerterbuchnetz.de/DWB/call_wbgui_py_from_form?sigle=DWB&mode=Volltextsuche&le mid=GP01318#XGP01318 [10.10.2019]. Begriff: Patsch. 88 dem sich der gebildete Klavierlehrer Frey durch die durchgehende Verwendung der Hochsprache von den anderen dramatis personae abhebt. Durch die Sprache werden die Figuren teilweise auch charakterisiert. So wird das aggressive Auftreten des alten Bauern Seldinger, „der einen Krug ergriffen hat, um ihn nach den Burschen zu werfen“ (SuS I, 1), nicht nur durch sein Verhalten, sondern auch durch seine Sprache zum Ausdruck gebracht, indem er viele Drohungen ausspricht und Tomerl als „Lotter“ (SuS I, 1) beschimpft, was so viel bedeutet wie „Herumtreiber“371. Gegenüber dem Einsam erweist er sich ebenfalls als äußerst aggressiv und beschimpft ihn als „Tagdieb“ (SuS I, 3). Durch die Anweisung im Nebentext, dass er bei manchen Aussagen „kreischen“ (SuS I, 1) soll, wird seine Aggressivität zusätzlich durch eine Erhöhung der Lautstärke aufgezeigt. Auch Eisner erfährt durch seine Sprache eine erste Charakterisierung. Dass er sehr christlich ist bzw. sich so gibt, wird schon an seiner Sprache erkenntlich, da er oft von Gott spricht und teilweise einen christlichen Duktus verwendet, zum Beispiel wenn er von „Sündhaftigkeit“ (SuS I, 2), „christlicher Nächstenlieb’“ (SuS I,2), „Gott’s Barmherzigkeit“ (SuS I,7), „Trost und Erbauung“ (SuS I,7) usw. spricht. Laut Schößler erlangen Figuren durch die Berufung auf bildungsbürgerliche Autoritäten wie die Bibel Anerkennung von anderen Personen und wollen ihr soziales Ansehen steigern.372 So scheint es auch bei Eisner zu sein, denn die Achtung der Gemeindebewohner ist ihm sehr wichtig. Wenn Eisner tief erschüttert ist oder vor Wut kocht, findet er keine Worte und macht längere Pausen, wie am Ende des Stücks, als er zum sterbenden Einsam sagt: „Denn ich – ich – bin dein Vater!“ (SuS III, 11) In diesen Momenten ist er von seinen Gefühlen so überwältigt, dass es ihm schwer fällt, sich passend auszudrücken. Der Gemeindeschreiber Zirl, der nur einen kurzen Auftritt hat, wird aufgrund seiner Sprechweise als sehr störrischer Mensch dargestellt, denn der Autor gibt im Nebentext die Anweisung, dass er „sehr barsch“ (SuS II, 9) sprechen muss. Das von ihm Gesagte betont nochmals seine abweisende Art, wie im folgenden Beispiel ersichtlich wird:

EISNER. No, no, ich bin nit dörrisch! (Nimmt die Papiere.) Is das alles? ZIRL. Ist das nit g’nug? Hätt’ ich mir vielleicht dö Finger bis zu dö Knöcheln abschreiben soll’n? (SuS II, 9)

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Figuren hinsichtlich der sprachlichen Varianten vereinzelt in nicht allzu starker Ausprägung voneinander unterscheiden, sieht man vom Pfarrer ab. So ausdifferenziert in den Redeweisen wie in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, in dem sich die Figuren durch Hochsprache,

371 Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Lotter [10.10.2019]. Begriff: Lotter. 372 Vgl. Schößler, Dramenanalyse, S. 123. 89 Dialekt und viele sprachliche Eigenheiten voneinander unterscheiden, sind die dramatis personae in Anzengrubers Stück letztendlich aber nicht. Eine Erwähnung sollte noch der Chor finden, der in der letzten Szene des Stücks auftritt. Durch die Kommentierung des Chors kann die Fiktion punktuell durchbrochen werden, was eine Bewusstmachung der Fiktion zu Folge hat.373 In Stahl und Stein fungiert der Chor aber nicht als illusionsbrechendes Moment, sondern er wird in Form von Betenden, die für den Sterbenden um Gottes Barmherzigkeit bitten, in ein realistisches Szenario integriert. Der Chor erscheint also durchaus real, folglich steht er auch nicht im Gegensatz zur naturalistischen Poetik.

5.6 Naturalistische und antinaturalistische Tendenzen im Stück

Eine erste Verbindung zum Naturalismus lässt sich bereits in der Konzeption des Handlungsaufbaus erkennen, denn das Drama ist ein analytisches Stück. Ibsen hat diese Form geprägt, die dann von vielen deutschen Autoren übernommen wurde. Diesbezüglich steht Stahl und Stein in einer Reihe mit Ibsens Gespenstern, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, Sudermanns Die Ehre u.a. Es finden sich aber auch inhaltliche Berührungspunkte mit dem Naturalismus. So spielt Charles Darwins Evolutionstheorie mit den Faktoren Vererbung und natürliche Selektion, die Anzengruber schon in anderen Werken behandelte, auch in Stahl und Stein eine bedeutende Rolle. Bereits in der ersten Beschreibung des Einsam kommt die Vererbung zum Vorschein, denn der Junge „muß durch eine entfernte Aehnlichkeit mit Eisner auffallen“ (SuS I, 3). Dem Lesepublikum wird aufgrund dieser Anweisung in weiterer Folge klar, dass es sich beim Einsam um den Sohn von Eisner handeln muss. Für das Publikum im Theater klingt die Vererbung erst später durch, wenn Pauli im zornigen Verhalten des Einsam eine Ähnlichkeit mit Eisner bemerkt: „Tomerl, ich bitt’ dich, wann er so herrisch thut, gleicht er da nit ganz ’m alten Eisner?!“ (SuS III, 2) Die Verwandtschaft der beiden Charaktere wird auch aufgrund bestimmter äußerer Merkmale sichtbar. So wird bei der Beschreibung Eisners schon im Nebentext festgehalten, dass sich bei ihm „scharf ausgeprägt die Zornfalte“ (SuS I, 3) zeigt, die Pauli gegen Ende des Stück beim Einsam bemerkt: „Da hat ’r a d’ nämlich’ Zornfalten.“ (SuS III, 2) Auch seinen Trotz und seine Sturheit hat der junge Mann von seinem Vater vererbt bekommen, der entgegen der Warnungen von Milde und Martha darauf besteht, den Jungen aus seiner Behausung holen zu lassen. Beim Einsam zeigen sich diese

373 Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Auflage. München: Fink 2001. (= UTB. 580.) S. 22. 90 Charaktereigenschaften, wenn er seine Mutter, nachdem sie ihn weggewiesen hat, in ihrer Todesstunde nicht mehr besucht (vgl. SuS I, 7) oder wenn er der Ladung des Bürgermeisters nicht nachkommt (vgl. SuS I, 7). Auch als sich schon ein Unheil ankündigt und Pauli und Tomerl ihn zum Mitkommen überreden wollen, lässt er sich nicht beirren und beharrt stur darauf, bei seiner Höhle zu bleiben. (Vgl. SuS III, 3) Deshalb stellte schon Kleinberg fest, dass der „Erbteil des Jungen an Trotz, Jähzorn und Hochmut“374 im Drama deutlicher zum Vorschein kommt als in der Erzählung. Diese Eigenschaften kosten dem jungen Mann letztendlich das Leben. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Anzengruber die Vererbung im Äußeren der Figuren sichtbar machte und auch darum bemüht war, die vom Vater geerbten Eigenschaften im Handeln und Sprechen des Einsam hervortreten zu lassen. Hier war er ganz Darwinist und folglich auch Naturalist. Anzengruber greift in Stahl und Stein wie schon in einigen anderen Stücken, das bei Ibsen beliebte Sujet der Ehe in unterschiedlicher Art und Weise auf und streift auch das Thema der Sexualität. Er zeigt beispielsweise die unverheiratete Partnerschaft auf der Bühne: So sind Tomerl und Cenzi zwar nicht verheiratet, leben aber dennoch glücklich zusammen und haben Kinder. Aber auch Haberls Tochter hat in einer ähnlichen Verbindung gelebt, wie aus Seldingers Kritik an Haberl und dem alten Bürgermeister hervorgeht: „Weil d’r der Morgruber zug’schaut hat, wie d’ dein leiblich’ Kind prob’weis’ mit ’n Großknecht hast hausen lassen, bis a spate Hochzeit dem Aergernis a End’ g’macht hat.“ (SuS I, 1) Das Thema der unglücklichen Ehe und des Ehebruchs wird anhand der Figur des Eisners behandelt, denn er hat seine verstorbene Frau noch im ersten Jahr der Ehe betrogen. Aus dieser Affäre ist der Einsam hervorgegangen. (Vgl. SuS I, 6) Eine Liebelei aus früheren Tagen lässt sich zwischen Seldingers Frau und dem Gendarmen Seiffert vermuten. Der Gendarm, der sich über das Zusammentreffen mit Seldinger wenig freut, ist umso entzückter, als er dessen Frau erblickt, die er ohne ihre Zustimmung festhält und küsst. (Vgl. SuS II, 3) Der Künstler bringt also auch eine leicht anrüchige Szene auf die Bühne. Das Publikum kann nur mutmaßen, dass die beiden Figuren zu früherer Zeit vertrauter gewesen sind. Womöglich hat Seldingers Ehefrau ihren Mann sogar mit dem Gendarmen betrogen. Mit diesen Figuren und Szenen veranschaulicht Anzengruber, dass die Ehe kein Garant für ein glückliches Liebesleben ist. Außerdem führt er die scheinheiligen gesellschaftlichen Verhältnisse vor und mit dem glücklichen Paar Tomerl und Cenzi regt er zum Überdenken fragwürdiger Grundsätze an und stellt Forderungen nach neuen gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten.

374 Kleinberg, Anzengruber, S. 190. 91 Wie schon im Vierten Gebot zeigt Anzengruber in Stahl und Stein den Einfluss der Erziehung. Der Einsam wird durch seine Erziehung bestimmt, denn die Lügen seiner Mutter verursachen, dass er zum Mörder wird. So weist er gegenüber Eisner jede Schuld für sein Verbrechen von sich: „Versteh mich recht, wann mer ein’ in ein’m falschen Meinen aufwachsen laßt, dann kann wohl sein’ Hand und sein Sinn beim Uebelthun sein, aber sein Verschulden is nit dabei“ (SuS I, 7). Demnach trägt er keine Schuld daran, dass er zum Mörder geworden ist, denn der Mord ist nur das Produkt der Erziehung. Dennoch hält Anzengruber an der Zurechnung der Handlung fest, denn der Einsam gesteht Folgendes: „Ich mocht’ mich nit falsch verantworten a noch, ich mußt’ g’stehn, ob ich bei B’sinnen oder nit, damal wollt’ ich ihm ’n Tod.“ (SuS III, 2) Der Einsam erwähnt auch mit keinem Wort, dass er zu Unrecht im Gefängnis gesessen hat, sondern sagt über die Länge der Gefängnisstrafe: „Aus Gnaden nur fünfe!“ (SuS III, 2) Er gibt sogar an, dass er sich nach seiner Strafe „aus ganz oan g’rechten Einsehn, gegenseitigen Fried’s halber, da herobn einb’schlossen g’halten hätt’, wie a wild’s Viech.“ (SuS III, 2) Letztendlich scheint er also ein Rechtsgefühl zu haben und will sich als Übeltäter von der Gesellschaft fernhalten. Wenn er sich seine Schuld auch nicht eingesteht, sondern sie im Fehlverhalten seiner Mitmenschen sucht, so erkennt er immerhin, dass er „oan’ Menschen ganz für nix und wider nix umg’bracht hätt’!“ (SuS III, 2) In der deterministischen Darstellung der Erziehung war Anzengruber ganz Naturalist, wenn er seinem Verbrecher aber ein Bewusstsein für Recht und Unrecht gibt, weicht der Künstler von der naturalistischen Poetik ab, nach der die sittliche Wertung der Handlung aufgrund der Unfreiheit des Willens unterbleibt.375 Mit Eisner weicht Anzengruber noch weiter vom Naturalismus ab, denn mit dieser Figur zeigt er die Verantwortlichkeit des Individuums: Als Eisner von Martha erfährt, dass sein unehelicher Sohn straffällig geworden ist, gesteht er: „Mein’ Schuld!“ (SuS II, 5) Er macht sich durch sein Versagen in der Erziehung und durch die Streichung der finanziellen Mittel für die begangenen Taten seines Sohnes verantwortlich. Auch am Schluss des Stücks sieht Eisner die Scheinheiligkeit seiner Handlungen ein und will sich angesichts des Todes seines letzten Sohnes ändern. (Vgl. SuS III, 11) Die Schuld wird nicht mehr bei der Gesellschaft gesucht, sondern die Einzelperson zeigt Reue und bekennt sich schuldig. Hier weicht Anzengruber von der Ansicht des Naturalismus ab, nach der die Zuschreibung von Schuld ausfallen muss, da der Mensch durch unterschiedliche Faktoren determiniert ist.376

375 Vgl. Weber, Naturalismus, S. 51. 376 Vgl. ebda. 92 Mit Pauli schließt Anzengruber aber an den Naturalismus an, denn die zentralste weibliche Figur wird nicht idealisiert, da besonders ihre dunkle und wütende Seite im Stück zum Ausdruck kommt. Sie wird auch nicht ideologisch überhöht, sondern als eine vom Leben Benachteiligte dargestellt, die unter ihrem Onkel als Vormund sehr zu leiden hat. Mit ihr spricht der Dichter auch das Thema der Emanzipation der Frau an. So gibt sie an, ein gutes Mädchen, „[a] rechter’s vielleicht, als manch’s andre“ (SuS I, 6), sein zu wollen, jedoch möchte sie als solches nicht herabgewürdigt werden: „Ich wehr’ mich nur dagegen, daß mer mir’s nit gar z’ stark g’spüren laßt, ich wär’ oans!“ (SuS I, 6) Demnach stellt sie die Forderung nach fairer Behandlung, die aber keineswegs so radikal ausfällt, dass Mann und Frau gleichberechtigt behandelt werden sollen. Kleinberg fasst ihre Rolle wie folgt zusammen und zieht einen Vergleich:

Ihre seltsam abweisende Zuneigung zum Einsam aber, ihr starres Vereisen, sobald sie auch ihn als den Sohn des Verhaßten erkennt, und der zerstörende Trotz, der die immer nur als schwaches Weib mißachtete durchlodert, machen sie jedenfalls zu einer eigenartigst geschauten Frauengestalten Anzengrubers, zu der im Formate freilich weit kleineren Schwester Hedda Gablers.377

Bernhard Seuffert spricht von der Figur Pauli in ähnlichem Ton, wenn er Folgendes sagt: „[S]ie ist die komplizierteste Charakterfigur, die Anzengruber gezeichnet hat, eine originelle Leistung.“378 Thematisch gibt es weitere Verbindungen zum Naturalismus: Mit dem Einsam wird eine gesellschaftliche Randfigur in den Mittelpunkt des Stücks gestellt. Die Folgen der Industrialisierung werden mit der Erwähnung des aufgelassenen Ziegelwerks und den leerstehenden Häusern gestreift (vgl. SuS III, 10). Außerdem zeigt der Dichter mit den Bauersleuten und der teilweise sehr armen ländlichen Bevölkerung die unteren gesellschaftlichen Schichten und ihre oftmals prekäre Lebenslage. Anzengruber bricht im Stück mit der bis zum Naturalismus vorherrschenden Vorstellung, dass die Schauspielenden nicht mit dem Rücken zum Publikum agieren dürfen, auch wenn er dies nur an einer Stelle explizit fordert. So wird im Nebentext folgende Anweisung gegeben: „Die folgende Scene über deckt der mit dem Rücken gegen das Publikum gekehrte Zirl dem Eisner die sprechenden Personen.“ (SuS II, 12) Zirls Abwenden vom Publikum hat eine bestimmte Funktion: Während er von Eisner Papiere unterschreiben lässt, macht er für diesen ein Vernehmen des Gesprächs zwischen Tomerl und Pauli unmöglich. Anzengruber schließt sich mit dem Brechen dieser Konvention dem Naturalismus

377 Kleinberg, Anzengruber, S. 191. 378 Seuffert, Dorfgeschichte, S. 225. 93 an, jedoch dient es nicht nur der Erhöhung der Fiktion, dass auf der Bühne ein Ausschnitt aus dem realen Leben gezeigt wird. Auf dem Gebiet der Sprache weist sich Anzengruber in Stahl und Stein als Naturalist aus. Wie gezeigt werden konnte, verwendet er eine an den Dialekt angelehnte Kunstsprache. Durch diese erhält das Stück einen höheren Realitätsbezug, da sie der Sprache der alpenländischen Bauern näher ist als das Standarddeutsch. Außerdem können die Figuren dadurch sozial verortet werden und es erfolgt teilweise auch eine Charakterisierung und Individualisierung der handelnden Personen, die aber nicht so ausgeprägt ist wie in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang. Auch hinsichtlich der Nebentexte tendiert Anzengruber mit dem Stück zum Naturalismus, denn er beschreibt die Schauplätze und Figuren teilweise sehr ausführlich. Es wird vor allem die Verwandlung des ersten Aktes, in der das Haus von Eisner gezeigt wird, sehr genau ausgeführt, da er Eisners Reichtum zur Darstellung bringen wollte. (Vgl. SuS I, 4). In der Verwandlung des nächsten Aktes wird dem Publikum Eisners Luxus noch einmal anhand der schönen Innenausstattung vorgeführt. (Vgl. SuS II,4) Im Gegensatz dazu steht die ebenfalls ausführlich geschilderte ärmliche Behausung des Einsam. (Vgl. SuS I, 3) Auch bei der Beschreibung von Eisner und dem Einsam musste Anzengruber sehr genau sein, da er bei diesen erste Ähnlichkeiten herausarbeiten wollte. Andere Figuren wie Pauli, Milde oder Zirl werden zwar umschrieben, jedoch viel weniger genau als Eisner und der Einsam. Bei den Beschreibungen der Handlungen der Figuren war Anzengruber aber nicht so ausufernd wie etwa Gerhart Hauptmann in Vor Sonnenaufgang oder Die Weber. Dennoch steht Stahl und Stein mit den längeren Nebentexten einem epischen Text nahe, weshalb schon Kleinberg allerorts ein Durchschimmern der Novelle Der Einsam bemerkte.379 Neben den erwähnten naturalistischen Merkmalen enthält das Stück eine Vielzahl von Elementen, die sich nicht mit der Poetik des Naturalismus vereinbaren lassen. So hat das Stück eine klar steigende und fallende Handlung, von der man sich im Naturalismus größtenteils abwandte. Die Handlung spitzt sich immer weiter zu, weil sich der Einsam nicht in die von Eisner geplante Ordnung einfügen will. Seine Situation wird immer bedrohlicher, bis sich die herannahende Katastrophe nicht mehr abwenden lässt. Durch das wiederkehrende Ankündigen der Ankunft der Gendarmen – zuerst im Ort (vgl. SuS II, 2), später bei der Höhle des Einsam (vgl. SuS III, 2) – wird Spannung aufgebaut, die durch die Warnungen von Milde und Martha zusätzlich gesteigert wird. Der Höhepunkt ist erreicht, als die Gendarmen bei der Höhle eintreffen, die Schüsse und das Zusammenbrechen des Einsam (vgl. SuS III, 3)

379 Vgl. Kleinberg, Anzengruber, S. 190. 94 kennzeichnen das tragische Moment. Mit den Mutmaßungen der Dorfbewohner (vgl. SuS III, 4), wer geschossen hat, sowie Pointners und Hahns Darlegungen des Geschehens (vgl. SuS III, 10) wird die Katastrophe, in diesem Fall der Tod des Einsam, noch hinausgezögert. Darin unterscheidet sich das Stück stark von anderen naturalistischen Stücken: In der Familie Selicke gibt es keine sich derartig steigernde Handlung und keinen großen Kampf, da die Figuren und die Milieuschilderungen im Mittelpunkt stehen. Auch in Hauptmanns Die Weber spitzt sich die Handlung nicht kontinuierlich zu, sodass die Katastrophe unvorhersehbar ist. Deshalb ist auch der Schluss von Stahl und Stein nicht so schrecklich und überraschend wie in den großen Dramen des Naturalismus. Es gibt zwar kein glückliches Ende, dennoch kommt es zu einer zumindest zum Teil versöhnlichen Auflösung, da der Einsam seinem Vater vergibt und zuletzt Gutes tut, indem er Tomerl und Cenzi den kleinen Hof seiner verstorbenen Großmutter vermacht. Sein Tod kommt auch nicht besonders unerwartet, sondern er bahnt sich schon in den ersten beiden Akten aufgrund seines Verhaltens an. Das Publikum hofft zwar, dass die Tragödie abgewendet werden kann, aber spätestens mit Pointners Feststellung – „er is im Auslöschen“ (SuS III, 10) – wissen alle, dass die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten ist. Anders ist es in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, in dem Helenes unvorhergesehener Tod das Ende markiert, oder im Schauspiel Die Weber, in dem am Ende der alte Hilse ganz unverhofft und ohne Vorwarnung seinen Tod findet. In den beiden exemplarischen Stücken kommt es zu keiner Klärung der Verhältnisse, sondern das Ende erfolgt abrupt und das Publikum bleibt in Irritation zurück. Außerdem ist in Stahl und Stein wie schon im naturalismusnahen Vierten Gebot ein Monolog zu finden. So gibt der Einsam im letzten Akt in einem Lied sein Gefühlsleben wieder, das dann in ein Selbstgespräch übergeht, in dem er bekennt, dass es ihm „in der eigenen Haut nit viel g’fallt“ (SuS III, 1). „Eine realistische Dramenästhetik hingegen lehnt den Monolog als artifizielle und damit als zu vermeidende Artikulationsform ab [...].“380 Anzengruber wendet sich mit der Verwendung des Monologs also gegen eine realistische Darstellungsweise und somit auch gegen naturalistische Normen. Von einem Beiseitesprechen, das „monologischen Charakter“381 hat, sieht Anzengruber im Stück aber gänzlich ab. In Stahl und Stein sind neben der erwähnten noch weitere Gesangseinlagen zu finden. Durch die Verwendung von Liedern und Musik wird das Stück aber weniger realistisch und folglich auch weniger naturalistisch. Dass Personen ihre Gefühle anhand von

380 Vgl. Schößler, Dramenanalyse, S. 128. 381 Vgl. ebda, S. 130. 95 Liedern ausdrücken, verleiht dem Stück eher ein Element der Heimatdichtung als eine Verbindung zum Naturalismus.382 Mit den Liedern will Anzengruber das Publikum unterhalten: Teilweise dienen sie der Komik, wie etwa das „Trutzlied“ (SuS I, 1), oder es wird Stimmung erzeugt, wie im vom Einsam und Pauli gemeinsam gesungenen Lied über das Leben von Waisenkindern (vgl. SuS I, 6). Dieses Lied beinhaltet aber auch Gesellschaftskritik, denn es kommt die gesellschaftliche und soziale Benachteiligung von Waisenkindern zum Ausdruck. Nicht nur an den Liedern, sondern auch an den Witzen von Tomerl wird ersichtlich, dass Anzengruber neben Belehrung auch auf Unterhaltung abzielte, was an folgendem Beispiel ersichtlich wird:

SELDINGER. [...] Was mer aus einer heutig’n Zeitung lest, von der Schlechtigkeit und Verderbnus, dö sich in der Welt breit macht, so was hat mer in mein’ jungen Tag’n nit z’ lesen ’kriegt. TOMERL (den keifenden Ton nachahmend). Weil’s in dein’ jungen Tag’n gar koan’ Zeitung geb’n hat. (SuS I, 1)

Mit solchen Scherzen wird ganz bewusst das Lachen des Publikums forciert. Dies hat Anzengruber in seinem Stück teilweise von der Posse übernommen, die „durch Sprachkomik, Groteske und durch parodistische Elemente“383 gekennzeichnet ist. Wie es auch die Autoren des deutschen Naturalismus nach ihm machen werden, stellt Anzengruber in seinem Stück eindeutig einen Bezug zur eigenen Zeit her. Er deutet auf soziale Missstände hin, tritt jedoch entgegen naturalistischer Prämissen als Autor hinter dem Stück hervor. So spricht er in Stahl und Stein mithilfe des Pfarrers moralische Belehrungen aus: Er kritisiert den lieblosen Glauben und diejenigen, die diesen zur Legitimierung ihres Vorgehens missbrauchen. Demnach hält Anzengruber auch drei Jahre vor seinem Tod an seiner Ansicht, dass er mit dem Volksstück „belehren“384 will, fest. Deshalb enthält Stahl und Stein wie schon der 1870 uraufgeführte Pfarrer von Kirchfeld und viele andere seiner Stücke eine moralische Tendenz. Dass Anzengruber in seinen letzten Jahren aber religionskritische Stücke schreibt, zeigt sein Festhalten an alten Bestrebungen: Er kämpft auch gegen Ende seines Lebens für die Aufklärung des Volkes und versucht, dem Publikum den moralisch richtigen Weg zu weisen.

5.7 Rezension

Laut Anton Bettelheim war die österreichische Uraufführung von Stahl und Stein sehr gelungen: „Und unvergeßlich bleibt jedem Besucher dieser Vorstellung die Meisterschaft, mit

382 Vgl. Saur, Naturalism, S. 106. 383 Schmitz, Volksstück, S. 27. 384 Anzengruber, Briefe 1, S. 299. 96 der fast Alle von der ersten bis zur letzten Rolle [...] ihrer Aufgabe gerecht wurden.“385 Für den Anzengruber muss die Aufführung des Stückes überaus bewegend gewesen sein, denn Bettelheim sah ihn nach dieser „verklärt, wie nie zuvor“386. Am nächsten Tag schrieb der Schriftsteller selbst einen Brief an Ludwig Gabillon, in dem er seiner Freude Ausdruck verlieh:

So will ich es denn Ihnen den Präsidenten des ‚Schröder’ anvertrauen, zu dessen Agenden es gewiß auch gehört, den Dank eines Dichter in Empfang zu nehmen, daß mir gestern gar weit, warm und unendlich dankbar ums Herz geworden ist! Widrige Umstände ließen mich wohl in letzter Zeit der Mehrheit des großen Publikums als einen ‚ausgeschriebenen’ Autor erscheinen, die Künstler des Hofburgtheaters, welche in der gestrigen Vorstellung mitwirkten, haben mich rehabilitiert und in einer Weise, wie ich dies am freudigsten anerkennen kann, nicht nur mit dem Gefühle des tiefsten Dankes für ihr Wollen, sondern auch mit dem des höchsten Respekts vor ihrem Können.387

Demnach war die Aufführung für Anton Bettelheim und Ludwig Anzengruber sehr fruchtbar. Doch welches Urteil fällten die Zeitungen über jene Aufführung am 6. November 1887? In der Allgemeinen Kunst-Chronik wurde die Aufführung trotz ungünstiger Rahmenbedingungen – schlechte Akustik im großen Hofoperntheater, ungünstige Aufführungszeit etc. – sehr positiv bewertet: „Und trotzdem können wir von einem Siege berichten.“388 Der Aufführungserfolg wird besonders auf die gute Inszenierung der Schauspielenden zurückgeführt.389 Ähnliches schrieb die Presse, denn das Stück wurde vor „überfülltem Hause und mit großem Erfolg“390 aufgeführt und auch hier wird die fabelhafte Leistung der Schauspieler hervorgehoben. Auch das Neue Wiener Tageblatt berichtete sehr positiv über das Stück, das „den tiefsten poetischen Eindruck“ hinterließ und beim Publikum die „wärmste Aufnahme“391 fand. Doch nicht jede Zeitung bewertete die schauspielerische Leistung so positiv, denn die Wiener Presse meinte, dass sich die Schauspielenden „mit einer Aufgabe abmühten, der sie nicht gewachsen waren“, dennoch war die Aufführung ein „volle[r] Erfolg“392. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die erste Aufführung des Stücks erfolgreich war, wenn in den Zeitungen auch kein Konsens bezüglich der schauspielerischen Leistung herrscht.

385 Bettelheim, Anzengruber, S. 153. 386 Ebda. 387 Anzengruber, Briefe 2, S. 236. 388 Gerhard Ramberg: Zwei dramatisirte Novellen. Anzengruber’s „Stahl und Stein“, Ohnet’s „Gräfin Sarah“. In: Allgemeine Kunst-Chronik. Illustrierte Zeitschrift für Kunst, Kunstgewerbe, Musik, Theater und Literatur 11 (1887), S. 1169. Im Folgenden zitiert als: Ramberg, Novellen. 389 Vgl. ebda. 390 [Anon.]: Theater und Kulturnachrichten. In: Die Presse vom 07.11.1887, S. 2. 391 M. K.: Theater, Kunst und Literatur. Manitée in der Hofoper. In. Neues Wiener Tageblatt vom 7.11.1887, S. 3. 392 [Anon.]: Theater, Kunst und Literatur. In: Wiener Presse vom 14.11.1887, S. 3. 97 In manchen Zeitungen wurde aber nicht nur die Aufführung bewertet, sondern auch das Stück an sich. In der Presse bewunderte man zwar die „Geschicklichkeit und Sorgfalt“, mit der Anzengruber die Novelle abänderte, doch „die naive Wahrheit ist darüber in Stücke zerschlagen worden“393. Dem Stück fehle die erschütternde Durchschlagskraft, die durch Eisners Verweltlichung verloren gegangen ist. Die Allgemeinen Kunst-Chronik schrieb, dass die „moralische und sittliche Wirkung“ des Stücks großartig sei, doch an manchen Stellen gehe Anzengruber zu heftig vor und durchbreche die „Schranken der herrschenden Theatersitte“394. Diese Kritik kann als Ausdruck dafür gesehen werden, wie wenig das Publikum in Wien für erschütternde Stücke Anzengrubers bereit gewesen ist. So ist es im Nachhinein auch wenig verwunderlich, dass sein Viertes Gebot erst im deutschen Naturalismus die volle Anerkennung bekam. Sehr treffend ist die Wirkung von Stahl und Stein im Badener Bezirks-Blatt zusammengefasst: „Zu den besten und besseren Stücken des großen Dichters gehört aber ‚Stahl und Stein’ keinesfalls, interessant ist es auf alle Fälle.“395 So erfolgreich und wirkungsvoll wie das Vierte Gebot oder Der Pfarrer von Kirchfeld ist Stahl und Stein nicht, wohl auch weil die Zensur zur damaligen Zeit sehr streng war und der Dichter in seiner Schaffenskraft eingeschränkt wurde. Dennoch enthält es interessante Elemente, die wenige Jahre später im Naturalismus in Deutschland zu finden sind.

393 Emil Granichstädten: Feuilleton. Stahl und Stein. In: Die Presse vom 09.11.1887, S. 1. 394 Ramberg, Novellen, S. 1169. 395 [Anon.]: Theaterzeitung. In: Badener Bezirks-Blatt vom 04.07.1889, S. 3. 98 6 Fazit

In dieser Diplomarbeit konnte gezeigt werden, dass der Naturalismus nicht nur in Deutschland wirkte, sondern auch in der österreichischen Literatur eine maßgebende Rolle spielte. So wurden Autorinnen und Autoren wie Berta von Suttner, Marie Eugenie Delle Grazie, Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand von Saar, Peter Rosegger, Franz Kranewitter etc. von diesem beeinflusst. Dennoch nahm er im österreichischen Teil der Habsburgermonarchie nicht die gleichen Ausprägungen wie im Deutschen Reich an, zumal die Ausgangssituation und die literarischen Bedingungen in Österreich andere waren. So ist in der österreichischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon einiges von dem zu finden, was im deutschen Naturalismus zu einer Blüte kommen wird, man denke hier beispielsweise an die Darstellung des Arbeitermilieus in Ferdinand von Saars Novelle Die Steinklopfer. Deshalb blieb auch eine derart hitzige Diskussion um den Naturalismus (wie in Deutschland) in Österreich aus. Außerdem übte Hermann Bahr einen großen Einfluss aus, der gegen den Naturalismus in Österreich ankämpfte und stattdessen die Wiener Moderne als dem Naturalismus gegenläufige Richtung propagierte. Folglich zeigte sich der Naturalismus in Österreich nur mit gewissen Einschränkungen. Ein österreichischer Autor, der ganz eindeutig im Kontext des Naturalismus steht, ist Ludwig Anzengruber. Es konnte nachgewiesen werden, dass es eine Vielzahl von Berührungspunkten zwischen ihm und der naturalistischen Poetik gibt, wenn er in bestimmten Bereichen auch von dieser abweicht. Vor allem sein Stück Das Vierte Gebot sollte an dieser Stelle besonders hervorgehoben werden, denn dieses weist über weite Teile eine Verbindung zum Naturalismus auf. In diesem nahm er mit den behandelten Themen, mit der deterministischen Darstellung der Erziehung, mit der fehlenden Steigerung der Handlung etc. dem deutschen Naturalismus schon einiges vorweg. Jedoch sollte angemerkt werden, dass Anzengruber in diesem Drama zum Teil vom strengen Naturalismus abwich, vor allem wenn er als Autor hinter dem Werk hervortrat, indem er moralische Unterweisungen aussprach. Das heißt auch dieses Werk ist nur mit Abstrichen dem Naturalismus zuzuschreiben. Dies ist auch der Grund dafür, warum er von vielen als Vorläufer des Naturalismus bezeichnet wurde. In der Analyse wurde der Fokus aber auf ein späteres Werk des Autors gelegt. Es sollte festgestellt werden, ob das Stück Stahl und Stein dem Naturalismus ähnlich nahe steht wie schon das Vierte Gebot – denn wäre dies der Fall, so hätte der Autor an seinen Bestrebungen festgehalten und es würde vielleicht eher gelingen, ihn der Epoche des Naturalismus zuzuordnen. Es zeigte sich, dass auch in diesem gesellschafts- und religionskritischen Stück einige naturalistische Elemente zu finden sind, wie die Konzeption 99 des Handlungsaufbaus, die Themen, die an die Mundart angelehnte Redeweise und die ausführlichen Nebentexte. Letztendlich bleibt das Stück hinsichtlich naturalistischer Tendenzen aber hinter dem Vierten Gebot zurück, denn es enthält eine steigende und fallende Handlung, ein Eingeständnis der Schuld, Lieder und lustige Elemente sowie ein tragisches, aber doch einigermaßen versöhnliches Ende, das das Publikum nicht in Irritation zurücklässt, sondern die Verhältnisse auflöst. Es weicht also in einigen Bereichen von einer naturalistischen Poetik ab, mehr noch als das Vierte Gebot. Außerdem gibt sich der Autor wie schon im Vierten Gebot zu erkennen, sodass sich eine aufklärerische und moralische Tendenz zeigt. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass sich Anzengruber gegen Ende seines Lebens in Stahl und Stein wieder weiter vom Naturalismus entfernte. Ein möglicher Grund hierfür mag das Publikum sein, das nicht so sehr schockiert, sondern unterhalten werden wollte. Dem versuchte Anzengruber mit den Liedern und lustigen Elementen nachzukommen. Eine tragende Rolle spielte natürlich auch die Zensur, die den Autor in seinem Wirken stark einschränkte. Wenn Anzengruber bezüglich des Plots näher an der Erzählung geblieben wäre, was ihm durch die strenge Zensur natürlich versagt geblieben ist, so hätte mit Sicherheit ein noch viel kritischeres und schockierenderes Stück entstehen können. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte Anzengruber aber auch bei einem derartigen Drama nicht darauf verzichtet, als Künstler hinter dem Stück hervorzutreten und das Publikum zu belehren, denn das war seine Absicht und diese hätte er wohl nicht verworfen. Letzten Endes kann Anzengruber dem Naturalismus wie er in Deutschland auftrat nicht uneingeschränkt zugerechnet werden, vor allem weil er es bevorzugte, sich als Autor in Form von moralischen Belehrungen zu zeigen. Mit Stahl und Stein entfernte er sich wieder weiter von einer naturalistischen Poetik, d.h. das Stück bestärkt die Annahme, dass Anzengruber dem Naturalismus zugerechnet werden kann, keineswegs. Trotzdem wäre es falsch ihn aufgrund dessen eindeutig vom Naturalismus abzugrenzen, da er in einigen Bereichen mit diesem übereinstimmt. Wenn man davon ausgeht, dass der Naturalismus in Österreich nicht in derselben Ausprägung wie in Deutschland in Erscheinung trat, dann könnte man den Autor zumindest als österreichischen Naturalisten bezeichnen. Er bewahrte sich gegenüber den deutschen Naturalisten einige Eigenheiten, die nicht mit der Poetik des deutschen Naturalismus zu vereinen sind, und grenzt sich dadurch von diesem ab. Doch es lässt sich nur erahnen, in welche Richtung sich Anzengruber möglicherweise entwickelt hätte, wäre es ihm nicht verwehrt geblieben, den großen Erfolg seines Vierten Gebots in Deutschland noch miterleben zu können. Mitunter hätte sich Ludwig Anzengruber unter diesen Voraussetzungen tatsächlich zum Naturalisten par excellence entwickelt.

100 7 Literaturverzeichnis

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Stockinger, Claudia: Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus. Berlin: Akademie 2010. (= Akademie Studienbücher Literaturwissenschaft.)

Stöckmann, Ingo: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart, Weimar: Metzler 2011.

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Weber, Fritz: Anzengrubers Naturalismus. Berlin: Ebering 1929.

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107 überarb. und aktual. Auflage. Hrsg. von Herbert Zeman. Freiburg i. Br., Berlin, Wien: Rombach 2014, S.493-632.

Zentner, Wilhelm: Einleitung. In: Ludwig Anzengruber: Der Meineidbauer. Volksstück mit Gesang in drei Akten. Hrsg. und eingel. von Wilhelm Zentner. Stuttgart: Reclam 1959. (= Reclams Universalbibliothek. 133.) S. 3-8.

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Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 27. Leipzig: Hirzel 1854-1961. URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi- bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GW07479#XGW07479 [10.10.2019]. Begriff: Warteln.

Schneider, Wolfgang: Die Literatur und der Mond: Die schönste Leiche im Universum. In: Der Tagesspiegel vom 23.08.2016. URL.: https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-literatur- und-der-mond-die-schoenste-leiche-im-universum/14439880.html [10.10.2019]

108 7.4 Zeitungsartikel

Granichstädten, Emil: Feuilleton. Stahl und Stein. In: Die Presse vom 09.11.1887, S. 1-2.

K., M.: Theater, Kunst und Literatur. Manitée in der Hofoper. In: Neues Wiener Tageblatt vom 7.11.1887, S. 3.

[Anon.]:Theater und Kulturnachrichten. In: Die Presse vom 07.11.1887, S. 2-3.

[Anon.]: Theater, Kunst und Literatur. In: Wiener Presse vom 14.11.1887, S. 3.

[Anon.]: Tagesbericht. In: Wiener Allgemeine Zeitung vom 19.11.1887, S. 3.

[Anon.]: Theaterzeitung. In: Badener Bezirks-Blatt vom 04.07.1889, S. 3.

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