Diplomarbeit
Titel der Diplomarbeit „Medienerziehung: Filmstandbilder zwischen Film und Fotografie am Beispiel des spanischen Autorenkinos “
verfasst von Irene Jahn
angestrebter akademischer Grad
Magistra der Philosophie (Mag.phil.)
Wien, 2013
Studienkennzahl lt. Studienblatt: A190 353 344
Studienrichtung lt. Studienblatt: Lehramtsstudium UF Spanisch und UF Englisch
Betreut von: Univ.-Prof. Dr. Jörg Türschmann
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ...... 1 2 Medienerziehung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ...... 5 2.1 Filmvermittlung im Unterricht: Ein medienpädagogisches Manifest ...... 5 2.2 Medienkompetenz vs. media literacy ...... 7 2.3 Persönlichkeitsbildung und Medien als kulturelle Gestaltungsmittel ...... 8 2.4 Medien und Manipulation ...... 12 2.5 Medienerziehung und Bildungsauftrag ...... 13 2.6 Filmstandbilder im Unterricht ...... 14 3 Film und Fotografie: Kunst, Kommerz und Medienkultur ...... 16 3.1 Film und Fotografie als Künste ...... 16 3.2 Das Bild: Das Kunstwerk als Schnittstelle zwischen Autorin und Rezipientin ...... 18 3.3 Das fotografische Bild: Verwertbarkeit und Manipulationspotential ...... 20 3.4 Das bewegte Bild: Rezeption und Publikum ...... 24 3.5 Das Filmstandbild zwischen Film und Fotografie ...... 26 4 Filmstandbilder ...... 29 4.1 Standfotografie ...... 29 4.2 Stehkader ...... 30 4.3 Schaukastenbilder...... 30 4.4 Das Filmplakat ...... 31 5 Das spanische Autorenkino ...... 33 5.1 Autorenkino und Autorenfilm ...... 33 5.2 El Joven Cine español ...... 35 5.3 Werdegang und Filmschaffen von Isabel Coixet: Ein Überblick ...... 38 5.4 Werdegang und Filmschaffen von Alejandro Amenábar: Ein Überblick ...... 40 6 Medienwissenschaftliche Analyse ...... 41 6.1 Arbeitsgrundlage ...... 41 6.2 Bildquellen ...... 42 6.3 My Life Without Me (Mi vida sin mí) ...... 43 6.3.1 Kurzbeschreibung und Hintergrund ...... 43 6.3.2 Synopse ...... 43 6.3.3 Analyse des Visuellen ...... 44
IV
6.4 Mar adentro ...... 54 6.4.1 Kurzbeschreibung und Hintergrund ...... 54 6.4.2 Synopse ...... 54 6.4.3 Analyse des Visuellen ...... 56 6.5 Sequenzprotokolle ...... 64 6.5.1 Sequenzprotokoll: My Life Without Me ...... 64 6.5.2 Sequenzprotokoll: Mar Adentro ...... 68 6.6 Einstellungsprotokolle ...... 77 6.6.1 Einstellungsprotokoll: My Life Without Me ...... 77 6.6.2 Einstellungsprotokoll: Mar Adentro ...... 82 7 Conclusio ...... 92 8 Resumen en español ...... 94 9 Bibliographie ...... 104 9.1 Abbildungen ...... 107 10 Anhang ...... 108 10.1 Auszug: Interview mit Bettina Henzler und Winfried Pauleit ...... 108 10.2 Filmografien: Alejandro Amenábar & Isabel Coixet ...... 109 10.3 Abstract ...... 110 10.4 Lebenslauf ...... 111
1 Einleitung
Filmstandbilder sind Gebrauchsfotografien der Filmindustrie oder Werbeträger. Manche erreichen den Status von Ikonen oder Fetischobjekten. Die Mehrzahl ist Massenware, die ein Schattendasein führt neben der eigentlichen Attraktion, dem Film. Und dennoch: die Kinos zeigen Film Stills in ihren Schaukästen - Film im Anschnitt - wie die Wurst beim Fleischer […]. (http://www.bertz- fischer.de/product_info.php?cPath=1_42&products_id=86).
In diesem Kommentar zu einer von Winfried Pauleits Publikationen über Filmstandbilder, wird bereits der Facettenreichtum dieser Medien angedeutet. Vor allem kam Filmstandbildern seit jeher die Bedeutung eines Zusatzes zu. Sie standen – insbesondere in der prä-digitalen Ära – so gut wie nie alleine für sich, bzw. wurden zumindest immer als Werbemedium dem Film beigefügt (e.g. Filmplakate und Schaukastenbilder). Das Filmstandbild jedoch als Ausgangsmedium zu sehen, geschweige denn es zum Gegenstand einer detaillierten medienwissenschaftlichen Analyse zu machen, wurde lange Zeit schlichtweg ignoriert. Denn abgesehen von vereinzelten, richtungsweisenden Beiträgen aus der bildenden Kunst 1 oder philosophischen Abhandlungen über die Fotografie 2, nahm man sich vergleichsweise spät der Analyse von Filmstandbildern an (cf. ibid.).
Der Kinofilm war das zu anpreisende Hauptmedium, welches durch die Zuhilfenahme des Begleitmediums Filmstandbild popularisiert wurde. Das Filmstandbild als reines Marketingbeiwerk. Doch mittlerweile – in Zeiten von Blogging, YouTube , Facebook und Co. – scheinen Filmstandbilder sich immer häufiger von ihrem Ursprungsmedium zu emanzipieren und ein Eigenleben zu entwickeln: Man denke hierbei an diverse copy and paste -Praktiken in den social media . Insbesondere bezüglich der Anliegen der – offenkundig aber oft auch verdeckt – in den social media vertretenen Werbepartner, war Gratiswerbung noch nie zuvor so leicht zu generieren. Passend zu einem Zeitgeist, der zusehends stärker von einer kulturellen
1 E.g. Erläuterungen zu Filmstandbildern in der Kunst bzgl. entsprechender Werke von Cindy Sherman, Richard Hamilton und John Baldessari in: Pauleit, Winfried: Filmstandbilder/Passagen zwischen Kunst und Kino, Stroemfeld, Frankfurt am Main, Basel, 2004, 175 ss. 2 Cf. etwa Barthes, Roland: Die helle Kammer/Bemerkungen zur Photographie , Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1992.
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Reproduktionsmaschinerie (Stichwort: Retromania) definiert wird und von einer verblüffenden Kurzlebigkeit der Dinge, und den ihnen anhaftenden, identitätsstiftenden Merkmalen, geprägt ist. Der Mensch ist immer dringlicher dazu aufgefordert sich in ihrer Verarbeitung dem Takt und der Vehemenz der täglich auf ihn oder sie einprasselnden Informationsflut anzupassen, oder sich ihr, durch gekonnte Selektion, entgegenzustellen. Es ist insbesondere für Jugendliche bei weitem keine leichte Aufgabe sich dem Werbe- bzw. Mediendiktat dieser Tage zu erwehren – zu stark ist oftmals die sozial-verbindende Komponente, die mitschwingt (Stichwort: Gruppenzugehörigkeit). Konsum schafft Gemeinplätze, Konsum verbindet und Konsum erzeugt – zumindest dem Anschein nach – Sinn. Was also, in seiner landläufigen Ausführung, auf Kleidung und Lebensmittel zutreffen mag, scheint auch hinsichtlich der Konsumation von medialen Inhalten seine Gültigkeit zu haben.
All das legt in Folge den Schluss nahe, dass es sich nun nicht mehr lohnen mag, sich mit langen Synopsen und Filmkritiken epischer Länge abzumühen, wenn man sich doch genauso gut einen Trailer „streamen“ oder Filmstandbilder „googeln“ kann. Die beiden letzteren können wohl als postmodernes Pendant zu einer, bei Genette den Schaukastenbildern zugedachten, Verführungsfunktion gesehen werden (cf. 1992 zit. in Pauleit 2004: 77): Durch sie sollte die Kinobesucherin in spe für den Film begeistert werden (siehe hierzu auch die eingangs zitierte Metapher, welche ironisch Schaukastenbilder mit der Anpreisung von „Wurst beim Fleischer“ gleichsetzt).
Somit gestaltet sich das Wissen jeder Einzelnen um Bilder, ihre Gestaltungsformen und Funktionen dieser Tage als wichtiger denn je. Vor allem auf einen Kenntnisgewinn bezüglich der psycho-emotionalen Wirkungsweisen von Bildern – auch hinsichtlich ihres manipulativen Potentials – sollte hierbei besonderes Augenmerk gelegt werden, da nach wie vor gilt:
Bilder bleiben durch ihren assoziativen Charakter […] länger und klarer im Gedächtnis haften als Worte. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß Bilder die Emotionalität einfacher und direkter ansprechen (Schafiyah 1997: 19).
So wie diesbezüglich Bilder aller Art – aber insbesondere in der Werbebranche – als eine Verdichtung von Bedeutungsketten oder visuelle Umsetzung einer prägnanten Aussage, geschmackvoll und ansprechend zu Papier oder Monitor gebracht werden, so ähnlich gestaltet
2 sich der Einfluss von Filmstandbildern auf die jeweilige Betrachterin. Die Zuseherin in spe wird durch ausdrucksstarke Fragmente für einen bestimmten Inhalt zu begeistern versucht; also nicht nur durch Filmplakate an Litfaßsäulen bzw. Filmstandbildern in Schaukästen in Kinos, sondern auch mit gleichwertiger Gültigkeit im Internet bzw. Medien aller Art. Potentielle Filmkonsumentinnen und Filmkonsumenten werden dadurch direkter und schneller erreicht, und die rasche Verbreitung der Informationen rund um einen Film – auf sozialen Plattformen etwa – noch um ein vielfaches gesteigert. Filmrezensionen und Kommentare verbreiten sich daher wie ein Lauffeuer, neue Fan-Communities schießen aus dem Boden und erhalten wachsenden Zulauf, und Filmstandbilder entwickeln teilweise ein Eigenleben und werden etwa zu oben genannten „Ikonen“ und „Fetischobjekten“ stilisiert – und das alles (scheinbar) ohne großes Zutun der Filmverleihe und der Produktionsfirmen. Es handelt sich hierbei um Inhalte, die jede bereits einmal tangiert oder voll erfasst hat bzw. mit denen man sich mit größter Wahrscheinlichkeit in Zukunft noch auseinandersetzen wird. Demnach, und nicht zuletzt aufgrund der – mittlerweile zur Institution herangewachsenen – social media und dem Prinzip von jugendlicher Identitätsarbeit, sind Filme und ihre Begleitmedien unweigerlich zu einem fixen Bestandteil unseres – insbesondere jugendlichen – Alltags geworden, worin die jungen Konsumentinnen und Konsumenten als kreative Nutzer bereits vorhandener Medieninhalte agieren, aber auch – in Anlehnung an diese – ihre eigenen kreieren.
So würde ich es schlussendlich als sinnvoll erachten, Filmstandbilder in die Medienerziehung – besonders hinsichtlich der Ausbildung von media literacy – aufzunehmen und, in Bezug auf Film- und Fotoanalyse, diese im Unterricht – separat aber eben auch kontrastiv – zu behandeln. Aufgrund dessen möchte ich in dieser Arbeit genauer untersuchen, wie sich Filmstandbilder in Hinsicht auf Konzeption, technische Umsetzung sowie ihre rezeptions-ästhetische Komponente, zu ihrem Referenzmedium Film bzw. zur Fotografie verhalten. Bezüglich letzterem möchte ich es mit Pilarczyk und Mietzner (in: Ehrenspeck und Schäffer 2003: 19) halten: „ Wenn man Fotografien als Quelle nutzen will, so muss man ihre medialen, technischen und ästhetischen Qualitäten berücksichtigen und sich nicht allein auf eine Inhaltsanalyse stützen. “
Dementsprechend werde ich, nach einer Beleuchtung relevanter Aspekte der Medienerziehung, eine kontrastive Analyse vornehmen und ausgewählte Standfotos ihrem jeweiligen filmischen Äquivalent – sprich eine Einstellung repräsentiert durch einen Stehkader bzw. screen shot –
3 gegenüberstellen. Als Beispiele werden mir hierfür dem Internet entnommene Standfotos sowie selbstangefertigte screen shots dienen. Hinsichtlich der Filmauswahl, fiel diese auf zwei relativ bekannte Werke des spanischen Autorenkinos, nämlich My Life Without Me (Mi vida sin mí) von Isabell Coixet bzw. Mar adentro von Alejandro Amenábar. Diese Regisseurin bzw. dieser Regisseur repräsentieren zwei gänzlich verschiedene Persönlichkeiten des kontemporären spanischen Autorenfilms, deren filmische Schreibstile sich wesentlich voneinander unterscheiden, aber dennoch auf ihre Art bemerkenswert sind. Aus diesem Grund werden auch Erläuterungen zum spanischen Autorenfilm im Allgemeinen, sowie zum Filmschaffen von Isabell Coixet und Alejandro Amenábar im Besonderen, Teil dieser Arbeit sein.
Ziel der medienwissenschaftlichen Analyse soll es schlussendlich sein, eventuelle Gemeinsamkeiten, Überschneidungen bzw. Divergenzen in Komposition und Wirkungsweise von Standfotografien und Stehkadern (i.e. screen shots ) herauszuarbeiten. Als Analyseparameter werden hierbei grundlegende Elemente der jeweiligen Gestaltungstheorie der Bereiche Film und Fotografie herangezogen werden.
So möchte ich vor allem auch aufzeigen, wie ähnlich sich – bzw. wie unterschiedlich – doch Fotografie und Film schlussendlich sind und was das über die Möglichkeiten ihrer Nutzung im Unterricht aussagt. In diesem Zusammenhang, wird es mein Ziel sein, die Frage zu klären, ob – und wenn, dann in welchem Ausmaß – sich Filmstandbilder als Lehrmittel für eine verschränkte Film- und Fotoanalyse im Unterricht, eignen.
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2 Medienerziehung zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Medien sind, aufgrund ihrer Omnipräsenz in der heutigen Welt als „ ‚originäre‘ Ressource“ für die individuelle Entwicklungsarbeit Jugendlicher, ja aller, zu sehen (cf. Schorb in: Theunert 2009: 84). Darüber hinaus sind Medien kaum mehr aus der heutigen Erlebniswelt wegzudenken und der Mensch hat scheinbar einen gangbaren Weg gefunden, sie optimal für seine bzw. ihre sozialen Interessen einzusetzen – sei es nun zu kommunikativen, kreativen, aber auch manipulativen Zwecken. Eben dieses Moment der Mediennutzung bzw. -aneignung, und seine Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung, und die damit verbundene soziale Verantwortung von Bildungseinrichtungen, sollen in den folgenden Unterpunkten erläutert werden.
2.1 Filmvermittlung im Unterricht: Ein medienpädagogisches Manifest
Bevor hier auf die politische und historische Tragweite von Medienerziehung im Allgemeinen eingegangen wird, soll an dieser Stelle am Beispiel der Filmvermittlung im Fremdsprachenunterricht kurz umrissen werden, warum eine Hinwendung zur aktiven Auseinandersetzung mit Medien – im Sinne einer integrierten Medienwissenschaft – im Unterricht unbedingt erforderlich ist: So stellen etwa schon seit mittlerweile drei Jahrzehnten Spielfilme wichtige Ressourcen für den Englischunterricht dar (cf. Decke-Cornill und Luca in: Decke-Cornill und Luca 2007: 14). Dabei dienen sie nicht nur dem „Spracherwerb, [der Ausbildung von] landeskundlicher sowie (inter-)kultureller Kompetenz [und] fremdsprachlicher Text- und Literaturkompetenz“ (ibid.); sondern auch dem, was im weiten Sinne als media literacy oder Medienkompetenz (s.u.) bezeichnet wird. In anderen Worten, es wird der Lehrkraft nahe gelegt, nicht nur den Filminhalt zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, sondern auch den Film selbst zur Diskussion zu stellen. Als unabdingbarer Unterbau fügt sich hierbei ein medienkritischer Ansatz mit einem film- und rezeptionsästhetischen zu einem medienanalytischen Kompendium zusammen (cf. ibid.). Um schließlich eine verantwortungsvolle, selbstbewusste und effektive Umsetzung eines solchen Konzepts zu gewährleisten, müssen die Verantwortlichen – sprich die Lehrkräfte – entsprechend dafür ausgebildet werden.
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Nach eigener Aussage, gibt es laut dem deutschen Medienwissenschaftler Winfried Pauleit (cf. http://www.kunst-der-vermittlung.de/dossiers/filmpaedagogik/gespraech-henzler-pauleit/) in seinem wissenschaftlichen Umfeld an der Universität Bremen schon seit mittlerweile über zwanzig Jahren eine Tradition einer integrierten Medienwissenschaft, die Theorie und Praxis – sprich in diesem Fall Universität und Kino bzw. Universität, Kino und Schule im weiten Sinne – verbindet. In diesem Zusammenhang meint dieser auch beobachtet zu haben, dass Film zusehends „stärker in die Kunstpädagogik integriert wird“ (ibid.). Somit scheint sich in unserem Nachbarland hinsichtlich eines flächendeckenden Ausbaus von Medienerziehung im Allgemeinen, bzw. Filmvermittlung an Schulen im Besonderen, zurzeit viel zu tun: Im März 2011 wurde diesbezüglich ein Medienpädagogischer Kongress in Berlin abgehalten, an dem rund 400 Experten aus Bildung und Wissenschaft teilnahmen. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurde nebst einer Erarbeitung von informativem Material für eine Broschüre – welche im Wesentlichen als Appell an Politik, Bildungswesen und Wissenschaft gerichtet ist – auch ein medienpädagogisches Manifest verlautbart (cf. http://www.keine-bildung-ohne-medien.de/). In diesem Manifest 3 wird unter anderem darauf hingewiesen, dass sich Medienpädagogik im Schulalltag als Aufgabe aller Unterrichtsfächer noch nicht zureichend quer durch das Curriculum durchgesetzt hat. Desweiteren wird eine Verankerung einer medienpädagogischen Grundausbildung von angehenden Sozialpädagoginnen, Lehrerinnen – und weiteren Fachleuten aus dem Bildungsbereich – in der allgemeinen, pädagogischen Ausbildung gefordert (cf. ibid.). Zudem wird auf eine Vielzahl von bereits bestehenden, wertvollen wissenschaftlichen Beiträgen und erfolgreichen Modellversuchen hingewiesen, die allerdings bislang nur punktuell umgesetzt wurden und nicht nachhaltig griffen, da es an geeigneten infrastrukturellen sowie kompetenzbezogenen Grundvoraussetzungen mangelte (cf. ibid.).
In Österreich gestaltet sich die Lage ähnlich, und so wurde etwa im Herbst 2010, im Rahmen eines Symposiums zur Medienbildung und Filmarbeit in Österreich 4, der zaghafte Versuch gestartet, das Thema Medienerziehung bzw. Filmvermittlung Teil des sozialpolitischen Diskurses werden zu lassen (unter Teilnahme der Verfasserin der vorliegenden Arbeit; Anm. d.
3 Für detaillierte Informationen bzw. den exakten Wortlaut des Manifests siehe: http://www.keine- bildung-ohne-medien.de/medienpaed-manifest/ 4 Siehe hierzu Informationen zur Vortragsreihe educamp in Wien vom 10.-11.12.2010, eine Initiative des Netzwerks für Bildung, Kultur und Medien (BIKUM) in Kooperation mit dem wienXtra -Medienzentrum: http://bikum.mixxt.at/networks/wiki/index.Educamp_2010
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Verf.). Allerdings geschah dies in einem viel zu kleinen Rahmen – sowie ohne Beisein der Medien – als dass die Öffentlichkeit – geschweige denn die Politik – davon Wind bekommen hätte. Auch im Bereich der universitären Ausbildung von Lehrkräften ist Medienerziehung nicht als fixer, verpflichtender Bestandteil der pädagogischen Grundbildung vorgesehen. Bislang besteht lediglich die Möglichkeit, sich im Rahmen themenspezifischer Lehrveranstaltungen Grundkenntnisse der Medienarbeit anzueignen, was hinsichtlich realer, medienerzieherischer Anforderungen denkbar unzureichend ist.
Dass Medienpädagogik bzw. Filmvermittlung in professioneller Weise in der Praxis konsequent umgesetzt werden kann – und ein Nichtvorhandensein ihrer nicht zuletzt auf massive strukturelle Probleme zurückzuführen ist – zeigt das Beispiel der französischen Schulpolitik: In Frankreich können Gymnasien beim Bildungsministerium die Einrichtung des Faches Film für die Oberstufe beantragen, gleich wie etwa bildnerische Erziehung oder Musik (cf. Desbarats in: Henzler und Pauleit 2009: 34). Hierfür sind die Schulen wiederum nachweislich dazu verpflichtet, zum einen qualifizierte Lehrkräfte zu stellen und zum anderen eine gesicherte Zusammenarbeit dieser mit vom Kulturministerium anerkannten (Film-)Künstlern zu gewährleisten (cf. ibid.).
2.2 Medienkompetenz vs. media literacy
Der Begriff „Medienkompetenz“ hat sich mittlerweile zu einer Standardbezeichnung in der Medienpädagogik und den Wissenschaften entwickelt. Hierbei wird der Begriff im deutschsprachigen Raum immer häufiger mit dem Begriff media literacy synonym verwendet. Zudem lässt sich feststellen, dass der Terminus „Medienkompetenz“, sowohl in einschlägiger Literatur als auch im öffentlichen Diskurs, derart stark ausgereizt bzw. mit verschiedensten Konnotationen versehen wurde, dass er schlussendlich eine beinah vollständige Sinnentleerung erfahren hat (cf. Pauleit in Henzler, Pauleit, Rüffert et al. 2010: 29).
Trotz dieser weitgehend anerkannten, verschränkten Nutzung beider Begriffe, ist hier dennoch festzuhalten, inwiefern sich „Medienkompetenz“ und media literacy , abgesehen von ihren sprachlichen Wurzeln, in ihren geläufigsten Verwendungen unterscheiden: Diesbezüglich wurde
7 der deutsche Begriff lange Zeit im Sinn einer geschickten Handhabung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT oder ICT) verwendet, während dem englischen Äquivalent der media literacy vornehmlich eine Verweisfunktion auf einen verantwortungsvollen Umgang mit medieninhaltlichen Aspekten, aufgrund eingehender Erfahrung mit den selbigen – im Sinn der Aneignung von „ knowledge and skills“ , also „Wissen und Fähigkeiten“ – zugedacht wurde (Buckingham 2007: 145). Im Rahmen der Expertenkonferenz von Vertreterinnen der media education im Jahr 1992 im angloamerikanischen Diskurs wurde media literacy allerdings einst so definiert: „ The ability to access, analyze, and produce communication in a variety of forms“ (http://medienimpulse.at/articles/view/272). Sinngemäß umfasst dieses Konzept demnach ursprünglich die Fähigkeit erfolgreich Zugang zu einer (medialen) Kommunikation zu erlangen (i.e. Geräte- und Programmnutzung), und diese auch analysieren und in einer Vielzahl an Weisen selbst anwenden zu können. Die technische Komponente des Mediums und seiner Anwendung ist somit bereits implizit im Begriff media literacy enthalten.
2.3 Persönlichkeitsbildung und Medien als kulturelle Gestaltungsmittel
Durch einen verstärkten Fokus auf sozio-kulturelle bzw. ontologische Belange in den Medienwissenschaften, erfuhr das Konzept der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien schließlich eine Bedeutungsverschiebung: Sie werden nun nicht mehr als reine Behelfsmittel zum Informationsaustausch, sondern vielmehr als kulturelle Gestaltungsmittel ( cultural forms ) verstanden und sollten demgemäß im Bereich der Medienerziehung behandelt werden (cf. Buckingham 2007: 145). Diese Konzeption hebt auch den aktiven Part, den die interagierenden Mediennutzer einnehmen viel deutlicher hervor: Jugendliche werden somit nicht mehr länger als unschuldige Opfer manipulativer Medien (Stichwort: moral panic 5) – bzw. des Mediums, das sie nutzen – sondern als kreative Mit- und Umgestalterinnen deren Inhalte wahrgenommen (cf. ibid.). So ist gegenwärtig in der Sozial-
5 Zum Konzept moral panic in den Medien seit Ende der 1960er Jahren und seiner Bedeutung als Instrument sozialer Kontrolle, siehe etwa: Mc Robbie, Angela: The Moral Panic in the Age oft he Postmodern Mass Media , in: Mc Robbie, Angela: Postmodern Popular Culture, London, Routledge, 1994, s. 198-219; Cock, John: Moral Panic/Its Origins in Resistance, Resentiment and the Translation of Fantasy into Reality , British Journal of Criminology, Vol. 49, 2009, s. 4-16.
8 bzw. Medienwissenschaft – zumindest im deutschsprachigen Raum – von einer Persönlichkeitsbildung, durch und mithilfe von Medien, die Rede, mit einer zentralen Ausrichtung hinsichtlich der Handlungsfähigkeit des Individuums (cf. Pauleit in: Henzler, Pauleit, Rüffert et al. 2010: 29). Der Aspekt der Handlungsfähigkeit deutet wiederum auf einen aktiven – durch enormes, kreatives Potential gekennzeichneten – Part hin, den die postmoderne, kulturell vielfältig interessierte Mediennutzerin, in Auseinandersetzung mit einem Medium, einnimmt (cf. Bienk 2008: 16).
Medien dienen also gewissermaßen als Gestaltungsmittel unseres Alltags, oder in anderen Worten, als Werkzeuge zur Persönlichkeitsbildung. So, oder so ähnlich will auch Schorb (in: Theunert 2009: 82) diesen Zusammenhang verstanden wissen:
[W]obei unter Persönlichkeit nicht nur die äußere, durch den anderen wahrnehmbare Gestalt der Identität zu fassen ist, sondern auch die Möglichkeit im lebenslangen Prozess der Identitätsbildung auf taugliche Werkzeuge einer Identitätsarbeit zurückgreifen zu können.
Worauf hier mit dem Ausdruck „taugliche Werkzeuge“ angespielt wird, kann in zweierlei Hinsicht interpretiert werden: Zum einen, dass es einer gewissen Souveränität, etwa im Sinne einer Ausbildung eines persönlichen Geschmacks oder der Festigung probater Sozialkompetenzen, bedarf, um die weitere Persönlichkeitsentwicklung in erwünschte Bahnen zu lenken. Zum anderen aber auch, dass eine materielle Komponente – hier im Sinne von Medien aller Art – verfügbar sein muss, um eine Persönlichkeitsarbeit in erster Linie zu ermöglichen und voranzutreiben: Das Tagwerk einer Reflexionsarbeit etwa möchte in ein Notizbuch festgehalten sein, die Fotos der New York- Reise auf einer online Plattform präsentiert werden, ebenso wie sich eine Gruppe von Jugendlichen nach einem gemeinsamen Kinobesuch über den verstörenden Inhalt eines kontroversen Spielfilms austauschen mögen. Ungeachtet ihrer spezifischen Eigenschaften bzw. Erscheinungsformen, werden Medien von ihren Nutzerinnen, hinsichtlich sozialer Austauschprozesse, als „ soziale Räume“ , als Schauplätze für ihre Identitätsarbeit, gebraucht (cf. Würfel und Keilhauer in: Theunert 2009: 96).
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Hierbei bieten mediale Räume dem Menschen die Möglichkeit, „ Teilidentitäten kommunikativ zu validieren, interaktiv zu gestalten und umzugestalten“ (Schorb in: Theunert 2009: 91). Diese Teilidentitäten werden somit in die alltägliche Erlebniswelt integriert und in ihr – mit und anhand von Medien – „erprob[t], simulier[t] und praktizier[t]“ (ibid.).
Demnach stehen, im Zuge der Persönlichkeitsarbeit, den realen Lebenssituationen, denen sich ein Mensch Tag für Tag stellt und anhand derer er sich sein Persönlichkeitsbild erarbeitet, fiktive, simulierte Wirklichlichkeitsszenarien gegenüber; ebensolche, wie sie etwa in Büchern, Filmen oder in den social media zu finden sind. Wenngleich der Inhalt der soeben genannten Medien nicht sinnlich ganzheitlich erfahrbar gemacht werden kann, bzw. Film und Buch per definitionem nicht als direkt sozial-interaktive Medien gelten, bieten diese dennoch veritables Material für die Identitätsarbeit.
Pauleit (in: Henzler, Pauleit, Rüffert et al. 2010: 29 ff.) meint diesbezüglich, dass das persönlichkeitsbildende Potenzial des Films etwa, in Gestalt einer „ Differenzerfahrung “ zutage tritt. Sprich, die Erfahrung einer Differenz, die etwa durch konträre Haltungen bzw. kontroverse Verhaltensweisen der Filmfiguren entsteht, und die wiederum eine Differenz zwischen Betrachterin, ihrer eigenen Realität und der Gesellschaft herstellt. Im Spezifischen behandelt Pauleit ein dem Film als Sozialistationsinstanz eingeschriebenes Potenzial: Nämlich die Möglichkeit als Input lieferndes Pendant einer Art „philosophische Spielereien“ im Geiste der Betrachterin, eines Orts sogenannter mind games , zu fungieren (cf. Pauleit in: Henzler, Pauleit, Rüffert et al. 2010: 32). Bezug nehmend auf die Arbeit der Filmwissenschaftlerin Miriam Hansen, welche die besondere Wahrnehmungsform eines Films treffend darstellt 6, konstatiert Pauleit (ibid.), dass uns „ im Film […] Dinge scheinbar direkt und körperlich [ansprechen], obwohl sie tatsächlich abwesend sind“ . Anhand dieser doch sehr intensiven Wahrnehmung eines aufrüttelnden Filminhalts – welcher oftmals mit der Unterminierung gesellschaftlicher Normen, und bewussten Brüchen mit ethischen oder religiösen Dogmen, spielt – kann sich die Betrachterin etwa ihren Ängsten und nicht ausgelebten Bedürfnissen stellen und sie
6 Cf. Hansen, Miriam: Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden. Kino als Ort der Gewalt- Wahrnehmung bei Benjamin, Kracauer und Spielberg , in: Gertrud Koch (Hrsg.): Auge und Affekt. Wahrnehmung und Interaktion, Frankfurt am Main, 1995, s.249-271. zit. in: Pauleit, Winfried: Diesseits der Leinwand/ Differenzerfahrung als Persönlichkeitsbildung im Kino , in: Henzler, Bettina, Pauleit, Winfried, Rüffert, Christine, et.al.: Vom Kino lernen/Internationale Perspektiven der Filmvermittlung, Bertz + Fischer, Berlin, 2010, s. 29-38.
10 vorübergehend zu einer simulierten Realität – im Geiste während der Rezeption – werden lassen. Diese Simulation bildet somit, nebst der Befriedigung einer gewissen Schaulust durch den Film, einen Anhaltspunkt dafür, wie betreffende Erfahrungen – in der realen Welt, aber auch jenseits alltäglicher Interaktion – bearbeitet werden können (cf. Pauleit in: Henzler, Pauleit, Rüffert et al. 2010: 31 ss.). Hinsichtlich der Persönlichkeitsbildung schließlich, erwähnt Pauleit (id.: 34), dass diese sich unter anderem aus „Prozessen von Anschauung und achahmung“ speist, die wiederum zum Großteil mit einer Orientierung an role models aller Art in Verbindung stehen. Er schreibt allerdings dem im Film dargestellten Nichtgelingens von Nachahmungsprozessen bzw. Kommunikation eine größere Lernfunktion – im Sinne der oben genannten Differenzerfahrung – zu, die „bis hin zum extremen Dissens unvereinbarer Diskurse reichen kann “ (ibid.). Hier wird einmal mehr deutlich, dass Filme – im Sinne von Erfahrungen, die von Personen des Filmgeschehens gemacht werden – durch Übertragungsprozesse wesentlichen Einfluss auf die Welt der Betrachterin, nehmen können. Mit anderen Worten: „Kino braucht die Dinge nicht auf den Begriff zu bringen, sondern kann sie auch sinnlich- materiell in Ton und Bild – oder in Ton gegen Bild – erfahrbar und ‚bearbeitbar‘ machen“ (id. 37).
Aus diesem Zusammenhang geht hervor, dass Medien, beziehungsweise Film und Fotografie im Besonderen, nicht ohne den sozialen Kontext, in dem sie produziert bzw. rezipiert werden, gedacht werden können. Sie sind wesentlicher Bestandteil des Lebensalltags – nicht nur Jugendlicher, sondern aller – und somit in gewisser Hinsicht eine Sozialisationsinstanz mit grundlegendem Einfluss auf „die Beurteilung der sozialen Realität, […] die lebensweltliche Orientierung und die Identitätsbildung […]“ (Bienk 2008: 16). Darüber hinaus ist zu verstehen, dass vor allem Filme, welche die alltägliche, zwischenmenschliche Erlebniswelt möglichst realitätsgetreu nachbilden, den Bereich der interkultureller Kommunikation in Zukunft verstärkt bestimmen, und folglich das individuelle Selbstverständnis im Verhältnis zu dem kollektiven des eigenen Kulturkreises – und vor allem zu dem, noch unbekannter Kulturen – wesentlich prägen werden (cf. ibid.). Somit gilt es, Medien und deren Inhalte nicht nur als Ressourcen zur individuellen Identitätsarbeit, sondern auch als Behelfsmittel zur Förderung interkultureller Kommunikation, zu sehen.
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2.4 Medien und Manipulation
Trotz, oder wohl eher wegen, der steten Überwindung eines Weltbildes, welches eine Dämonisierung der Medien a priori aufgrund ihrer potentiell negativen Effekte auf junge, „naive“ Nutzer (s.o. moral panic ) beinhaltet, sollte nicht außer Acht geraten, dass Medien gewiss ein manipulatives Potenzial in sich tragen (cf. Bienk 2008: 16). Allerdings ist dies in einem Zusammenhang zu verstehen, in dem durch „gezielte Desinformation des Rezipienten durch das Interaktionsangebot des Medientextes“ eine bewusste Irreführung oder Lenkung geschieht (Hickethier 1993: 18 zit. in id.: 20). Nicht jeder Medieninhalt ist in erster Linie auf Manipulation ausgelegt, und nicht jeder scheinbar manipulativer Akt war gezwungenermaßen als solcher intendiert. So lässt sich etwa „ [d]ie Wirkungsintention eines Filmtextes […] mit Hilfe von Absichtserklärungen der Produzenten, des Regisseurs oder des Drehbuchautors relativ eindeutig feststellen“ (Bienk 2008: 18). Die Verantwortung, wie sie einen Medientext liest, bzw. wie sie ihn auslegt, liegt schlussendlich immer noch bei der Rezipientin und ist maßgeblich von ihrem Weltwissen abhängig (cf. id.: 19). Wie bereits weiter oben angedeutet, nutzen insbesondere Jugendliche Medien als „ Hauptquelle [für die Erarbeitung von] Wissen, Meinungen, Wertungen und kulturell[e] Orientierungen“ (Schorb in: Theunert 2009: 89). Für die Weiterverarbeitung, „Einordnung und Bewertung“ der herausgefilterten Inhalte, sind sie jedoch selbst verantwortlich und lernen somit, dass der Erfolg oder vermeintliche Misserfolg ihrer Identitätsarbeit maßgeblich in ihren eigenen Händen liegt (cf. ibid.).
Folglich scheint es mehr als unserer Zeit entsprechend zu sein, junge Konsumentinnen nicht als Opfer von Medien und Werbung zu brandmarken, und sie verbissen vor einem gesellschaftlich konstruiertem Phantom des vergangenen Jahrhunderts beschützen zu wollen, sondern sie zu aufgeklärten, souveränen Mediennutzerinnen zu erziehen; Nutzerinnen, die zu einem informierten Gespräch über ihre Erlebnisse mit dem Medium und seinem Inhalt befähigt werden, um es in weiterer Sicht für eigene Zwecke sinnvoll nutzen zu können – im Sinne medialen Selbstausdrucks. Damit einhergehend, sollten vor allem Elemente der Film- bzw. Bildsprache auch „ als [potentielle] Mittel der Wahrnehmungslenkung, der bewussten Inszenierung und damit der gezielten Wirkungs- und Bedeutungsschaffung [behandelt werden] “ (Bienk 2008: 18).
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Dies sollte dementsprechend öffentlich kommuniziert und vor allem in Institutionen, welche sich im Wesentlichen einem sozial-konstitutiven Bildungsauftrag verschrieben haben, vermittelt werden.
2.5 Medienerziehung und Bildungsauftrag
In Bezug auf die weiter oben angesprochene Rolle von Medien in der Persönlichkeitsbildung, ist für die methodische Umsetzung vor allem nicht nur die Untersuchung des Was sondern auch des Wie – hinsichtlich der Gestaltung und Rezeption eines Films bzw. einer Fotografie – von Bedeutung. Schließlich sollte den Heranwachsenden das richtige Werkzeug zum Verständnis, kritischer Reflexion und Anwendung von medial transportierten Inhalten (s.o. Medienkompetenz bzw. media literacy ) in die Hand gegeben werden. Souveränes Handeln beziehungsweise kritische Reflexion in Auseinandersetzung mit medialen Inhalten setzen allerdings ein gewisses Maß an Erfahrung und auch nötiges Basiswissen um ihre Gestaltungsprinzipien und Wirkungsweisen voraus, welcher man sich unter anderem in der Film- bzw. Fotoanalyse annimmt. An Schulen könnte dies konkret in Form von „Filmarbeit“ oder „Fotoarbeit“ geschehen, also einer Arbeit mit den Ausdrucks- und Kommunikationsmedien Film und Fotografie im Unterricht.
In diesem Sinn wird im nationalen Curriculum Österreichs der Notwendigkeit der Medienerziehung – wenn auch nicht explizit – nebst einer Förderung von „ Sozialer-“ und „Selbstkompetenz “, an Schulen Ausdruck verliehen (cf. http://www.bmukk.gv.at/medienpool). Konkrete Anhaltspunkte zur praktischen Umsetzung dieses Bildungsauftrags sucht man im Gesetzestext allerdings vergeblich. Lediglich Angaben zu allgemeinen Zielsetzungen bzw. verhaltene Empfehlungen lassen sich aus dem Text herausfiltern, wie etwa an dieser Stelle des Artikel I, 5. Bildungsbereiche des allgemeinen Teil des Lehrplans für die AHS-Unterstufe :
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[…] Ausdrucks-, Denk-, Kommunikations- und Handlungsfähigkeit sind in hohem Maße von der Sprachkompetenz abhängig. In jedem Unterrichtsgegenstand sind die Schülerinnen und Schüler mit und über Sprache – zB auch in Form von Bildsprache – zu befähigen, ihre kognitiven, emotionalen, sozialen und kreativen Kapazitäten zu nutzen und zu erweitern. […] Ein kritischer Umgang mit und eine konstruktive Nutzung von Medien sind zu fördern (http://www.bmukk.gv.at/medienpool/11668/11668.pdf).
Somit wird Medienerziehung dem privaten Bereich enthoben und an die Institution Schule herangetragen. Was die praktische Umsetzung anbelangt, wird der jeweiligen Lehrperson freie Hand gelassen, was zum einen positiv bewertet werden kann, insofern der Handelnden ein großzügiger Spielraum hinsichtlich Methodik und Themenwahl eingeräumt wird, andererseits kann nicht davon ausgegangen werden, dass jede Lehrkraft über genügend Fachwissen – etwa hinsichtlich Filmgestaltung und -rezeption – verfügt, um dem Anspruch einer angemessenen Medienerziehung, welche sich als äußerst komplexes Thema erweist, in der Praxis gerecht zu werden. Und das ist gerade der Punkt, an dem eine zeitgemäße Medienpädagogik, sowie Bildungspolitik im weitesten Sinn, ansetzen sollte – einerseits konkrete und verpflichtende Ziele zur Umsetzung im Unterricht zu formulieren, und andererseits die erforderliche Ausbildung bzw. Weiterbildung der Lehrkräfte – sowie eine angemessene Infrastruktur – zu garantieren.
2.6 Filmstandbilder im Unterricht
Ende der 1980er Jahre wurden Filmstandbilder erstmals im akademischen Bereich thematisiert (cf. Pauleit 2004: 29). Und trotz ihrer zunehmenden Beliebtheit in Kunst und Alltagskultur der 90er Jahre, waren theoretische Abhandlungen über Filmstandbilder nach wie vor Mangelware; und selbst wenn solche existierten, dann waren sie – und sind es auch heute noch – vorwiegend auf verschiedene Wissenschaftsbereiche verstreut – u.a. Kunstgeschichte, Filmwissenschaft und Fototheorie (cf. id.: 30). Damit einhergehend waren entsprechende Abhandlungen für lange Zeit nur denkbar selten in den angewandten Erziehungswissenschaften zu finden 7. In diesem
7 Für aktuelle Beiträge zu Filmstandbildern im Unterricht siehe etwa Maurer, Barry J.: Film Stills Methodologies/A Pedagogical Assignment , Cinema Journal, 41:1, Fall 2001, s. 91-108; bzw. Desbarats, Claude und Francis: Filmstandbilder/ Für eine schulische Vermittlung des Kinos als Kunst, in: Henzler,
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Zusammenhang, sprach sich Bettina Henzler im Jahr 2009 für eine stärkere Verbindung von Filmwissenschaft und Pädagogik, bzw. für eine stärkere Orientierung der Filmwissenschaften an der Praxis des schulischen Alltags, aus 8; und wie entsprechende wissenschaftliche Publikationen der vergangenen Jahre belegen, ist dieses ambitionierte Ziel im Grunde durchaus auch zu erreichen. So behandelten etwa Claude und Francis Desbarats 9 im besonderen Fall Filmstandbilder im Unterricht und präsentierten hierbei unterschiedliche Analyseansätze: Zum einen verglichen sie ein Filmstandbild mit einer kompositorisch ähnlichen Malerei aus dem 15. Jahrhundert, um Aspekte der Szenografie zu behandeln; und zum anderen versuchten sie filmische Codes anhand einer kontrastiven Analyse von ausgewählten Filmstandbildern in Serie aufzuzeigen bzw. stellten anhand von weiteren Beispielen den individuellen Schreibstil von Alfred Hitchcock dem von Orson Welles gegenüber. An dieser Vorgehensweise lässt sich ablesen, dass diese Arbeit nicht nur im Zeichen einer langen kunsthistorischen Tradition steht, sondern gewissermaßen auch eine Hommage an den klassisch französischen Autorenfilm sowie die französischen Filmkritik ist; nicht zuletzt deswegen, da die Verfasser zu den beiden Letzteren auch einleitend Stellung beziehen.
Trotz vereinzelter, wichtiger Beiträge wie diesem, ist anzunehmen, dass Filmstandbilder im filmpädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Bereich nach wie vor den Status akzeptierter – aber dennoch gemiedener – Exoten haben. Dies erscheint insbesondere dahingehend als problematisch, insofern nebst informierenden und unterhaltenden Medientexten, auch vor allem werbende, hinsichtlich ihrer Ästhetik und Wirkungsweisen, im Unterricht analysiert werden sollten (cf. Bienk 2008: 25). Zu diesen werbenden Medientexten zählen schlussendlich auch Filmstandbilder.
Bettina und Pauleit, Winfried (Hrsg.): Filme sehen, Kino verstehen/ Methoden der Filmvermittlung, Schüren Verlag, Marburg, 2009, 33-65. 8 Der exakte Wortlaut ist dem Auszug des entsprechenden Interviews mit Bettina Henzler und Winfried Pauleit im Anhang der vorliegenden Arbeit zu entnehmen. 9 Für Details siehe Desbarats, Claude und Francis: Filmstandbilder/ Für eine schulische Vermittlung des Kinos als Kunst , in: Henzler, Bettina und Pauleit, Winfried (Hrsg.): Filme sehen, Kino verstehen/ Methoden der Filmvermittlung, Schüren Verlag, Marburg, 2009, 33-65.
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3 Film und Fotografie: Kunst, Kommerz und Medienkultur
In den folgenden Unterpunkten möchte ich vor dem Hintergrund der allgemeinen Kunsttheorie einige grundlegende Aspekte der beiden reproduzierenden Künste Fotografie und Film beleuchten. Dabei gilt es diese in ihren kontemporären, sozio-kulturellen Kontext zu setzen und die ihnen zugrunde liegenden psychologischen- bzw. rezeptionsästhetischen Mechanismen zu thematisieren.
3.1 Film und Fotografie als Künste
Der Begriff „Kunst“ lässt sich ebenso schwer definieren, wie seine Idee alt ist: Bereits in der Antike gab es eine Reihe von Tätigkeiten, die als Künste erachtet wurden. Zu ihnen zählten unter anderem auch Musik, Tanz sowie Komödie und Tragödie, welche alle einer eigenen Muse verschrieben waren und zugleich ihren eigenen Gesetzen folgten (cf. Monaco 2000: 16). Bei aller Unterschiedlichkeit, die sie voneinander trennte, war ihnen dennoch ein Merkmal gemein: „Sie waren Werkzeuge, [um] das Universum und unseren Platz darin zu beschreiben“ (ibid.). Eben in diesem Zusammenhang wird auch das zeitgenössische Verständnis von Film und Fotografie als Kunstformen evident. Sie sind Gestaltungs-, Kommunikations- und Ausdrucksmittel zugleich, die ihren Benutzerinnen erlauben, sich anhand ihrer die Welt anzueignen, sie von den unterschiedlichsten Perspektiven aus zu beleuchten, und diese in letzter Konsequenz zu verstehen; sie sind Werkzeuge, mittels derer sich die Einzelperson mit weitaus größeren, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomenen auseinandersetzen – und gegebenenfalls auch auf diese Einfluss nehmen – kann.
Ausgehend vom Mittelalter bis hin zur frühen Neuzeit wurde Kunst als Handwerk bzw. als Ausübung einer Fertigkeit gedeutet (cf. id.: 17). Im späten 17. Jahrhundert wurde der Kunstbegriff auf weitere Tätigkeiten ausgeweitet – es entstanden die sogenannten „schönen Künste“ wie Malerei, Bildhauerei und Architektur (cf. ibid.). Mit der Romantik hielt schließlich
16 der „begnadeter Künstler“ Einzug, und es wurde zwischen dem einfachen, geschulten Handwerker und dem einfallsreichen, kreativen Schöpfer unterschieden (cf. Monaco 2000: 17). Im 19. Jahrhundert kristallisierte sich das Wesen der Künste immer stärker anhand seiner Differenz zu den neuen Wissenschaften heraus – Kunst als Pendant zur streng reglementierten, logischen Aktivitäten. Als schließlich mit Einführung der Kulturwissenschaften auch noch die praktische Bedeutung der Künste verloren zu gehen schien, und sich um die Jahrhundertwende schwerwiegende sozio-politische Veränderungen manifestierten, sowie technologische Neuheiten aufkamen, wandte man sich in der Kunst immer stärker der Realität ab bzw. der Abstraktion zu (cf. ibid.). Im Kontext dieser Entwicklungen behaupteten sich zwei neue Kunsttechniken, wenngleich von Anfang an ihre Bezeichnung als solche mehrfach in Frage gestellt wurde: die Fotografie und der Film. Beide wurden zwar für ihren mimetischen Charakter – also ihrer Eigenschaft die Realität nachzubilden – im Alltag geschätzt (cf. id.: 38 s.); andererseits wurden sie paradoxerweise aufgrund derselben Eigenschaft lange Zeit von Kunsttheoretikern ignoriert. In diesem Zusammenhang begründeten – und tun es auch heute noch – etwa Verfechter der Meinung „Film sei kein Qualitätsmedium“ ihre Argumentation in der Hinsicht, als dass „Filmemacher der Realität verpflichtet seien […] dass sie abhängig seien von bereites vorhandenen Objekten […] und dass es ihnen daher unmöglich sei, ein eigenes Universum zu schaffen“ (Desbarats in: Henzler und Pauleit 2009: 33). Dem gegenüber setzten sich unzählige Cineasten zur Wehr und betonten, dass Filmemacherinnen gelernt haben, diese Dependenz für ihre eigenen Zwecke zu nutzen und dadurch ihr Filmschaffen geschickt in eine persönliche Hommage an die Welt zu verwandeln; eine Grundhaltung, die sich später auch im Begriff des „persönlichen Filmstils“, in Bezug auf das Autorenkino, niederschlagen sollte (cf. id.: 33s.). In diesem Sinne erfüllt eine Regisseurin oder ein Regisseur gewissermaßen das traditionelle Künstlerklischee, insofern sie oder er, ebenso wie eine Malerin oder eine Musikerin, unzählige Entscheidungen zu treffen hat, die schlussendlich ihren eigentümlichen Stil – und dessen Wiedererkennungswert – begründen (cf. ibid. ). Im Fall der Arbeitsphilosophie von Fotokünstlerinnen und der Gestaltung ihrer Werke verhält es sich ähnlich.
Somit wurde schließlich um die vorletzte Jahrhundertwende die Moderne eingeläutet, und nachdem bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Abstraktionen in den klassischen Künsten ihren Höhepunkt in der minimalistischen Kunst gefunden hatte – und die Kunst auf ihre Essenz herunter gebrochen worden war – wurde einhergehend mit einem Paradigmenwechsel vom
17 illusionistischen Fortschrittsbegriff zum Traum von Stabilität, entlang eines politischen sowie ökonomischen Wandels die Kunst in anderer Weise neu erfunden (cf. Monaco 2000: 18s.): Entgegen vieler damaliger Meinungen, wurden die Künste, nach ihrer Abkehr vom Reduktionismus, auf dem Nährboden der kulturellen Bewegungen der 1960er und 70er auf längere Sicht nicht explosionsartig von einer sozialen Idee erfüllt, sondern „steuerten […], der Film voran, in eine wirtschaftliche Ruheperiode“ (id.: 19). In diesem Zusammenhang hat sich zudem gezeigt, dass die Grenzen von Gegenwartskunst und Alltagskultur in den vergangenen 30 Jahren zusehends stärker verschwammen; die sozio-politischen Problemstellungen veränderten sich hierbei bis zur letzten Jahrhundertwende kaum (cf. id.: 20). Im vergangenen Jahrzehnt haben sich die reproduzierenden Medien Film und Fotografie insbesondere im intermedialen Bereich der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien als unabdingbar erwiesen; insofern sie, im Gegensatz zu den symbolischen Künsten (e.g. geschriebene Sprache), einen Sachverhalt wesentlich einfacher vermitteln bzw. „einen viel direkteren Kommunikationskanal zwischen Gegenstand und Betrachter [herstellen]“ (ibid.). Ein Aspekt, von dem nicht nur die Medienkunst profitiert, sondern der auch von wesentlicher Bedeutung für andere Bereiche des täglichen Lebens ist – angefangen vom investigativen Journalismus bis hin zum privaten Austausch in den social media . In anderen Worten, die gesamte Gesellschaft ist in Zeiten der Schnelllebigkeit und rasantem Informationsaustausch in globalen Netzwerken von ihrem Umgang mit Medien und deren Inhalten – bzw. von ihrem Wissen um deren Wirkungsweisen – abhängig.
3.2 Das Bild: Das Kunstwerk als Schnittstelle zwischen Autorin und Rezipientin
Spricht man in der Kunsttheorie vom Bild im weitesten Sinn, so ist meist die Rede von einer Repräsentation der Wirklichkeit, beziehungsweise einer Stellvertretung des Realen (cf. Hamann 1980: 18f. zit. in Hickethier 2007: 38). In dieser Stellvertreterrolle ist das Bild demnach als Mittel zur „ Illusionierung “ zu verstehen, als Schnittstelle und zugleich Medium, welches das Reale „ vertrete und beherrsche“ (Hickethier 2007: 38). Die hierbei implizierte Frage nach der Wahrheitstreue von Bildern ist im Grunde so alt wie die Geschichte der bildenden Künste selbst. Bilder hatten – zumindest aus der Sicht zeitgenössischer Kunstbetrachtung – neben ihrer
18 darstellenden Funktion, schon immer auch eine kommunikative Funktion. Sie dienten seit jeher dazu, zu dokumentieren aber gleichzeitig auch zu kommunizieren, und das latent Vorhandene, nicht unmittelbar Sichtbare, abzubilden. Bilder stellen demnach nicht nur dar, sondern werden, wenn sie auf das Bewusstsein und die Erfahrung einer Betrachterin treffen, zu einem Teil des Konstruktionsprozesses ihrer individuellen Wirklichkeit (cf. Lange 1994 zit. in Bienk 2008: 18). In anderen Worten, Bilder appellieren an das bereits bestehende Gedankengerüst, an die Gesinnung der Betrachterin, mithilfe derer diese – als reflektierendes bzw. agierendes Mitglied eines definierten Kulturkreises – wiederum den Inhalt des Bildes aufzuschlüsseln versucht bzw. sich diesen als Quelle neuer Erkenntnisse zunutze macht.
Die illusorische Kraft eines Bildes beruht hierbei auf komplexen Mechanismen, die dem Medium eingeschrieben sind. Es handelt sich um psychologische Phänomene, die mit technisch- künstlerischer Finesse evoziert werden: So kann z.B. eine bestimmte Perspektivenwahl maßgeblich über die Aussagekraft eines Bildes – beziehungsweise über dessen Interpretation – entscheiden und, was noch viel wichtiger ist, diese dementsprechend gelenkt werden. Somit hat der Vorgang der bewussten Abbildung auch immer etwas mit Manipulation – der Wahrnehmung der Betrachterin bzw. durch die Künstlerin – zu tun. Ist sich die Betrachterin dieser potentiell suggestiven Kraft eines Bildes bewusst, wird dadurch eine aufgeklärte, kritische Bildbetrachtung erst ermöglicht.
Insbesondere seit der Renaissance lässt sich eine, wenn auch unstete, Öffnung des Kunstwerkes Bild gegenüber der Betrachterin erkennen. Mit der Einführung der Zentralperspektive, und unter der Prämisse größtmöglicher Realitätstreue, wird dem Seherlebnis bei der Bildbetrachtung zusehends mehr Bedeutung zugestanden. Hickethier (2007: 38), für seinen Teil, bringt diesen Zusammenhang folgendermaßen auf den Punkt:
Das Abgebildete sollte nicht mehr nur aufgrund einer in einem Regelkanon festgelegten Bedeutung dargestellt werden, sondern sollte sich auch – bei aller subjektiven Organisation des Bildes durch den Künstler – mit der visuellen Erfahrung der Menschen verknüpfen lassen.
Demnach war schon damals der Weg für die zeitgenössische Haltung eines anarchisch anmutenden Verhältnisses zwischen Künstler, Kunstwerk und Betrachterin im beginnenden 21. Jahrhundert geebnet worden. Das heißt, rund 500 Jahre nach Leonardo Da Vincis Wirken, und
19 nach dem bereits für Tod erklärten – und seither sorgsam wiederbelebten – Autor 10 , befinden wir uns derzeit in einer Periode, welche maßgeblich von den bestinformierten Leserinnen aller Zeiten und einer neuen, kritischen Auseinandersetzung mit der Autorin als „Künstlerin“ und dem Verhältnis zu ihrem Werk (siehe hierzu das Kapitel „Neues spanisches Autorenkino“ der vorliegenden Arbeit) – die weit über den akademischen Rahmen hinaus- bzw. in die Alltagskultur hineinragt – gekennzeichnet ist (cf. Von Hagen und Ansgar 2012: 12 ss.). Dies ist als Spiegel eines Zeitgeistes zu sehen, in dem „ die Auseinandersetzung mit den Medien […] einen Teil der Lebensbewältigung dar[stellt] “ (Bienk 2008: 16). Filme und Fotografien etwa, als Symptome der Postmoderne, in der Schaffende, Werk und Rezipientin in einem scheinbar gleichberechtigen, offenen Verhältnis zueinander stehen und – aufgrund neuer Technologien – interaktiv kommunizieren können, um dadurch Bedeutungen zu erschließen bzw. neuen Sinngehalt zu kreieren (cf. Monaco 2000: 27). Die Autorin und die Rezipientin mögen sich hierbei gleichsam auf einer Sinnsuche befinden und ihren Gedanken Form und Aussagekraft verleihen, in dem sie, auf der einen Seite, ein persönliches Werk erschaffen, oder, auf der anderen, dieses analysieren, zitieren und es sich für das eigene Persönlichkeitskonzept aneignen (Stichwort: bricolage 11 ). In diesem Sinne wird hier die oben erwähnte Erweiterung der Dichotomie von Künstlerin und Kunstwerk zur Triade 12 – um die Wahrnehmung und das Erleben der Betrachterin – um ein Weiteres, nämlich den Faktor der Rezipientin als Künstlerin für sich, ergänzt.
3.3 Das fotografische Bild: Verwertbarkeit und Manipulationspotential
Mit der Erfindung der Fotografie wurde die Abbildung schließlich, durch ein technisiertes Verfahren universeller sowie flexibler, und es entstand somit schnell die Vorstellung davon, die Realität – genauer gesagt, einen Realitätsausschnitt – so objektiv und unmittelbar wie nur
10 Siehe hierzu Roland Barthes, über die soziale Konstruktion des Autorenbegriffs bzw. dessen Vernachlässigbarkeit in der Rezeption eines Werkes, in seinem Essay The Death of the Author (1967) in: Barthes, Roland: Image, Music, Text, Fontana Press, London, 1977, s. 142-148. 11 Zum Konzept bricolage als Kulturpraktik bzw. Ausdrucksform subkulturellen Stils siehe etwa Hebdige, Dick: Subculture/The Meaning of Style , in: Ken Gelder and Sarah Thornton (Hrsg.): The Subcultures Reader, Routledge, London, 1997, s. 135 ss.; bzw bricolage als kontemporäre Methode der Identitätsbildung etwa Schorb, Bernd in: Theunert 2009: 85. 12 Zur Veranschaulichung des Dreiecks Künstler-Werk-Betrachter siehe: Monaco 2000: 27.
20 möglich darzustellen bzw. in das lichtempfindliche Material – i.e. der Film im analogen bzw. der Sensor im heutigen digitalen Segment – einzudrücken (cf. Hickethier 2007: 39). Der hier erwähnte Eindruck einer vermeintlichen Objektivität entstand deshalb, da die Produzentin (i.e. der Fotograf bzw. die Fotografin) allem Anschein nach effektiv nicht in den eigentlichen Abbildungs- bzw. Herstellungsvorgang einer Fotografie involviert war; der Fotografin wurde also keine Einfluss nehmende Rolle hinsichtlich des Kausalitätsverhältnisses zwischen Realität und Bild zuerkannt (cf. ibid.). Allerdings, wie sich mittlerweile herausgestellt hat, gibt es das objektive Bild nicht. Jede Fotografie ist ein (in der Regel bewusst) gewählter Ausschnitt der Realität – bzw. oftmals einer fingierten Realität durch Inszenierung –, welcher eng an die Vorgaben einer bestimmten Situation, sowie an die Perspektive und Entscheidung, das Augenmaß und handwerkliche Feingefühl der jeweiligen Fotografin, gebunden ist: Sie ist eine „Umwandlung [einer] Anschauung in Aufzeichnung“ und trägt „ die Fähigkeit [zur] Weltnachbildung und –neubildung“ in sich (Schnell 2000: 39s.).
Dementsprechend, ist „ der Akt der Objektwahl […] subjektiver atur“ (id.: 40). Der Gedanke an das rasche Festhalten eines subjektiv wertvollen und einmaligen Augenblicks hat sich in den Köpfen der Menschen, über Jahrzehnte hinweg, festgesetzt. In dieser Hinsicht lässt sich feststellen, dass vor allem im Privatbereich sich die Fotografie großer Beliebtheit erfreut: Ganz gleich ob das erste Fahrrad, der Schulabschluss, oder die Geburt des ersten Kindes – all das sind Anlässe und Momente, die nun schon seit über 100 Jahren auf Film, bzw. mittlerweile auch auf die Speicherkarte, gebannt werden, um eine Illusion der Wirklichkeit aufrecht zu erhalten, um diese auszugestalten und festzuhalten.
In diesem Zusammenhang zeichnet sich bereits ein weiterer, essenzieller Aspekt der Fotografie ab: Ihre Verwertbarkeit. Diesbezüglich drängt sicher immer häufiger die Frage auf, welchen künstlerischen Wert man einer einzelnen Fotografie heutzutage noch zuschreiben kann, angesichts des schier grenzenlosen Ausmaßes, welche ihre kommerzielle Verwertung seit der letzten Jahrhundertwende angenommen hat. Doch war es schlussendlich, nebst ihrem Kunstcharakter, eben diese Verwertbarkeit, die die Fotografie schon seit Beginn ihrer Tage definierte (cf. Schnell 2010: 41). Das Verständnis der Fotografie als Kunst, sollte somit unwesentlich von der Tatsache ihrer kommerziellen Ausschlachtung beeinflusst sein. Einzig und allein die Problematik des manipulativen Potenzials – und des teils moralisch fragwürdigen
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Einsatzes von Fotografien in Werbung und politischer Propaganda – welches meist mithilfe moderner Computertechnologien ausgereizt wird, bietet regelmäßig Anlass zur Beunruhigung. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass mediale Inhalte immer noch größtenteils auf Konsum ausgelegt sind (cf. Schorb in: Theunert 2009: 88). Dennoch arbeiten auch Künstlerinnen selbst mit neuen Technologien und verändern ihre Originale dementsprechend, um ihnen einen innovativen bzw. subjektiven Ausdruck zu verleihen. Demnach scheint sich die Diskussion um Kunst oder Kommerz nach wie vor an Themen der sozialen Verantwortung zu brechen. Die Schaffende ist für den Inhalt verantwortlich, aber das Medium, das Instrument, ist und bleibt neutral.
Demzufolge, hat eine gut konzipierte, formvollendete Fotografie, trotz der scheinbar unkontrollierbaren Bilderflut – welche nicht zuletzt ihren Zenit durch das Aufkommen der social media erreicht hat –, die in kontinuierlich steigender Zahl auf die Konsumentenwelt einstürzt, nichts von ihrem ursprünglichen Wert eingebüßt. Im Gegenteil, es lässt sich beobachten, dass die Beschäftigung mit Fotografie als Kunst- bzw. persönliche Ausdrucksform, ausgehend vom öffentlichen Kulturtreiben, bereits weit in den Privatbereich vorgedrungen ist, und vice versa. Auch die Grenzen der Berufsfotografie, in all ihren Teilbereichen, verschwimmen zusehends mehr mit denen der Kunstfotografie. Diesbezüglich lassen sich durchaus einschlägige Beispiele finden, welche eine künstlerische Umwertung der kommerziellen- beziehungsweise Berufsfotografie belegen: man denke hierbei an die Aufmerksamkeit, welche nun schon seit über 60 Jahren dem Fotojournalismus – als tragendes Element des politischen bzw. investigativen Journalismus – hinsichtlich seines ästhetischen Wertes zukommt, wenn auch dieser zuletzt immer noch einem originär inhaltlichen (i.e. dokumentarischen) Anspruch verschrieben ist 13 . Auf ähnliche Weise wird herausragenden Dokumentarfilmen Tribut gezollt, indem man diese auch in den künstlerischen Kanon der Öffentlichkeit aufgenommen hat 14 .
Die starke Wirkungskraft von Bildern folgt dabei einem simplen Prinzip: das fotografische Bild (sowie im weitesten Sinn auch das Filmstandbild, Anm. d. Verf.) vermag es, „ durch das Zeigen
13 Siehe hierzu auch die Details zur alljährlichen Wanderausstellung der niederländischen NPO für Weltpressefotografie: http://www.worldpressphoto.org/ 14 Siehe hierzu etwa das alljährliche Teilprogramm der Viennale , welches internationale und nationale Beiträge dieser Sparte miteinschließt: http://www.viennale.at/
22 von bislang Ungeschautem den Betrachter auf unerwartete Weise [zu] treffen und zutiefst [zu] beeindrucken“ (Hickethier 2007: 39). Es werden „ Bilderlebnisse “ geschaffen, die Sachverhalte mit einer derartig treffsicheren Vehemenz, mit einer überwältigenden Bedeutungsdichte, darstellen, welche allein in Worte gefasst wohl nie ihren gerechten Ausdruck finden würden (cf. ibid.). Die Suche nach der Begründung, warum der Mensch von Bildern derart berührt werden kann, sei hierbei der Rezeptionsforschung überlassen.
Schließlich, wer immer noch glaubt, dass fotografische Bild sei ein unverfälschtes Dokument der Realität, der irrt. Dieser Authentizitätsanspruch basiert wohl mitunter auf der tiefen Sehnsucht, im Zeitalter des überbordenden Konsumismus und eines beschleunigten Informationsaustausches, das Präsente einzufangen und in seinem für den Moment wichtigen Zustand zu konservieren. Dennoch, so stark das Bestreben nach festgehaltener und kommunizierter (subjektiver) Wirklichkeit auch sein mag, ein Bild bleibt schlussendlich nur das was es ist – ein Ausschnitt, ein Abdruck der Realität, welcher mit der Zeit in ein dissoziativen Verhältnis mit dem Abgebildeten tritt, also seinen kontextbezogenen Ausdruck verliert und somit ein Paradoxon entsteht: nämlich dem, dass die primäre Intention – die, einen Augenblick wirklichkeitsgetreu für die Ewigkeit festzuhalten – verloren geht und die Erinnerungen an die dargestellte Situation mit der zeitlichen Distanz verblassen. Was bleibt, ist die Illusion einer Präsenz in einem Moment der effektiven Nicht-Präsenz.
Somit ist alles, was bleibt, das fotografische Bild als materieller Beleg, dessen Abbildung eine „größtmögliche Ähnlichkeit mit dem Abgebildeten [zugesprochen wird,] wobei diese Ähnlichkeit sich jedoch nur auf einige Merkmale der äußeren Erscheinung bezieht“ (Hickethier 2007: 40). Das unabwendbare Moment der Vergänglichkeit, eingeschrieben in ein Medium, welches von Natur aus den Anspruch von Persistenz erhebt. Oder im Sinne Roland Barthes (1989: 92 zit. in ibid.), ist das Einzige, was das fotografische Dokument bescheinigt, „daß das, was ich sehe, tatsächlich gewesen ist“ . Also im Grunde keinerlei Rückschlüsse darauf bietet, wie es gewesen ist.
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3.4 Das bewegte Bild: Rezeption und Publikum
Nun stellt sich die Frage, ob das bewegte Bild (im Gegensatz zum Statischen) in der Lage ist, diesen, bereits im voranstehenden Unterpunkt erwähnten, aus einer zeitlichen Distanz bedingten Präsenzverlust zu überbrücken und die zur Zeit der Aufnahme abgebildeten Realität wirksamer in die gegenwärtige Wirklichkeit zurückzuholen. – Man denke hierbei z.B. an die Ästhetik alter Videoaufnahmen aus der Kindheit, an sogenannte home movies (cf. Altman 1999: 186). Dem ist tatsächlich so, auch wenn letzten Endes einem simplen – und offenkundigen – Kunstgriff geschuldet, welcher im Allgemeinen die Filmaufnahme von der Fotografischen unterscheidet: Erstere ist in der Regel mit Ton unterlegt (i.e. Addition einer weiteren Sinneswahrnehmung) und lässt schlichtweg mehr Bildinformation zu, da der Rahmen der Kamera ein beweglicher ist und somit – etwa durch einen Kameraschwenk – mehr Sinnzusammenhänge eingefangen werden können. Es werden sogar ganze Kausalketten evident, welche anhand eines Einzelbildes nur schwer nachzuvollziehen sind bzw. bei deren kompositorischer Umsetzung die Fotografie an ihre Grenzen stößt. Diesbezüglich, schafft es etwa ein Heimvideo, das verlorene Gefühl der Präsenz im Moment des erlebten Augenblicks, und vielmehr das Empfinden der damals beobachteten Realität in Bewegung, beinah vollständig wiederherzustellen. Im weitesten Sinn, könnte denkbar auch ein thematisch deckungsgleicher Spielfilm entsprechende Assoziationen und Empfindungen wachrufen.
Wie bereits weiter oben angedeutet, gilt für die Fotorezeption sowie für die Filmrezeption dasselbe Prinzip – nämlich, dass Bildwahrnehmung immer auch in Rückkopplung mit dem Erfahrungsschatz und dem sozio-kulturellen Hintergrund der Rezipientin passiert, und schlussendlich auch die Lesart des Films und somit dessen Popularität wesentlich mitbestimmt. Daraus folgt, dass der Erfolg eines Films – an seiner Publikumsreichweite und an den Einspielergebnissen gemessen – ebenso wie der eines gelungenen Fotos, meist proportional zu seinen vom Autor kunstfertig eingesetzten (möglichst konventionellen) Stilmitteln und einer stark verallgemeinerten Thematik, erwächst. Oder in den Worten von Rick Altman (1999: 189):
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Instead of seeking topics and strategies that would exploit whatever similarities existed among movie patrons, producers very early discovered that large audiences could be built by offering topics that simply avoided obvious disparities among filmgoers. […] Concerned to maximize audience size, producers were responding to an economic mandate associated with the capital investment required by all mechanical reproduction systems. Thus were born the ‘sharable unspecifics’ for which Hollywood genre production is so justly (in)famous.
Hier ist auch bereits implizit enthalten, dass diese Rechnung nicht selbstverständlich mit einem Qualitätsmerkmal gleichzusetzen ist, was der augenfällige Unterschied hinsichtlich der Verkaufszahlen und Besucherquoten in Bezug auf Hollywood-Blockbuster, etwa gegenüber Werken des europäischen Autorenkinos, bezeugt. Denn schlussendlich gilt für den Film sowie für das fotografische Bild: Umso unkonventioneller eine Aufnahme – besonders hinsichtlich ihres assoziativen Spielraums, den sich die Autorin in Berufung auf ihre „künstlerische Freiheit“ einräumt –desto mehr Freiheit ist meist in ihrer Interpretation gegeben. Daher, umso Massenpublikum untauglicher sind sie bzw. umso anspruchsvoller gestalten sich die Anforderungen an die Rezipientin hinsichtlich deren Lesart und kognitiven Verarbeitung. Massenpublikumstaugliche Werke hingegen, scheinen explizit auf ihren Unterhaltungswert abzuzielen: Dies liegt vor allem darin begründet, dass sie leicht zugänglich sind, sich „populärkulturelle[r] Genremuster“ bedienen und mit einer „ durchaus vorhersehbaren Dramaturgie und Figurengestaltung“ aufwarten (Von Hagen und Ansgar 2012: 8).
Zusammenfassend, umso einfacher bzw. stereotyper die Dramaturgie eines Films, desto weniger Spielraum bleibt für die Interpretation – meist zugunsten der puren Unterhaltung. Andererseits, umso komplexer und unkonventioneller ein Film konstruiert ist, desto mehr Interpretationsarbeit muss die Rezipientin leisten. In der Regel wird hierbei meist eine intensivere Beschäftigung mit dem Film – hinsichtlich seiner Thematik, als auch Dramaturgie und Autorin – über einen längeren Zeitraum vorausgesetzt.
Was also das Pop(corn)-Kino und die kommerzielle Fotografie an Verkaufszahlen bzw. Auflagenstärke auszeichnet, machen das Autorenkino und die Kunstfotografie augenscheinlich mit ihrem exklusiven Charakter, vor allem ihrer thematischer Brisanz – oft mit sozialpolitischem Anspruch (e.g. der italienische Neorealismus) – und Tiefgang wieder wett. Infolgedessen scheint das Künstler- bzw. Autorenkino der, von einer fatalen Kurzlebigkeit
25 geprägten, Wegwerf- und Kopieindustrie erhaben zu sein, oder gar einen nachhaltigeren Wert zu besitzen, als das kommerzielle Kino. Doch der Schein trügt: Zum einen verschwimmen Genregrenzen immer stärker (cf. Altman 1999: 194); und zum anderen bewegen sich herausragende Künstler und Autoren, bis auf wenige Ausnahmen, selbst in den Umlaufbahnen der großen Filmindustrie, und pflegen die Launen einer materialistischen, kapitalistischen Gesellschaft in ihren eigenen Werken zu zitieren – ganz im Stil einer postmodernen Gesellschaftskritik.
3.5 Das Filmstandbild zwischen Film und Fotografie
Hinsichtlich einer Verortung des Konzeptes Filmstandbild ist in erster Linie zu berücksichtigen, in welchem Zusammenhang es verstanden wird: Ein Filmstandbild im Sinne einer Standfotografie etwa, unterliegt den Gestaltungsprinzipien bzw. -bedingungen der Fotografie. Ist im Gegensatz dazu von einem Filmstandbild als Bezeichnung für einen Stehkader die Rede, so ist dieses nicht nur bildinhaltlich sondern auch materiell bzw. medial an den Film gebunden, insofern es einem Filmstreifen – bzw. der digitalen Aufzeichnung – entnommen wird (hierzu mehr im Kapitel „Filmstandbilder“ der vorliegenden Arbeit). Im klassischen Verfahren wird dieser Typus von Filmstandbildern nach dem Dreh von Experten am Schneidetisch eines Sichtungsraums ausgewählt (cf. Desbarats in: Henzler und Pauleit 2009: 35).
Was das Standfoto wiederum von anderen Fotografien unterscheidet, ist seine Zweckgebundenheit an den Film. So stellt es eine Referenz zum Filminhalt dar – im Sinn eines Parabildes 15 – um im Anschluss an seine Aufnahme für Werbe- (e.g. Filmplakat) oder Dokumentationszwecke (e.g. Abbildungen in einer Filmzeitschrift) weiterverarbeitet zu werden.
Im privaten Alltag ist eine Fotografie zumeist ein unmittelbares, spontanes, ja sogar willkürliches Erzeugnis (Schnappschuss), welches zwar auch als visueller Beleg dient, aber meist unter weniger anspruchsvollen Bedingungen angefertigt wird bzw. in der Regel nicht inszeniert ist. Das Geschehen eines Augenblicks wird eingefangen, verdichtet und festgehalten.
15 Siehe hierzu detaillierte Ausführungen zur Charakteristik der Zusätzlichkeit eines Filmstandbilds – bzw. seiner Funktion als Parabild – in: Pauleit, Winfried: Filmstandbilder/Passagen zwischen Kunst und Kino , Stroemfeld, Frankfurt am Main und Basel, 2004: 68 ss.
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Bei der filmischen Aufzeichnung hingegen, ähnlich dem menschlichen Sehvorgang, wird ein frame ausgewählt und der Film sprichwörtlich laufen gelassen – gleichsam, wie visuelle Eindrücke vom menschlichen Gehirn registriert und festgehalten werden, wenngleich auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Ziel der filmischen Aufnahme ist es also, den Inhalt eines Ablaufs aufzuzeichnen – dies geschieht in der Regel in 24 Einzelbildern pro Sekunde, als Standardbildfrequenz des Tonfilms bei seiner Projektion (cf. Paech 2005: 86 zit. in Hickethier 2007: 40). Diese Bewegungsbilder erzeugen schließlich durch ihre Wiedergabe die Illusion einer „ ungestellten Realität “, des „ Flüchtigen “ und Authentischen, was zudem laut Kracauer (1973 zit. in id.: 40 s.) als Definition einer Parallele – und nicht etwa als Differenz – zwischen bewegtem und fotografischen Bild zu verstehen ist. Er gesteht also dem fotografischen Bild einen, dem Bewegungsbild ähnlichen, Realitätsanspruch zu, wenngleich er eine zusätzliche Eigenschaft des Filmes klar hervorhebt; nämlich, dass dieser „eine – der Fotografie versagte – Affinität zum Kontinuum des Lebens oder ‚Fluß des Lebens‘ [hat], der natürlich identisch mit dem abschlußlosen, offenen Leben ist“ (ibid.).
Audiovisuelle Bilder setzen demnach fotografische Abbildungen von Bewegungen mit der Dimension der Zeit in Verbindung (cf. Hickethier 2007: 37). In dieser Hinsicht, erhält der Film, im Gegensatz zur Fotografie, nicht nur den Charakter eines Belegs dafür, was geschehen ist, sondern wird durch das Aufzeichnen von Bewegung und Ton bzw. der fließenden Abfolge mehrerer Handlungsschritte im selben frame , um den Aspekt, wie es geschehen ist erweitert – das Geschehende wird in der Zeit organisiert, es wird etwas erzählt (cf. ibid.) In den audiovisuellen Medien wird demnach das „ Präsentative “ von einem statischen Bild in das „Performative“ eines bewegten Bildes übersetzt (cf. ibid.).
In Hinsicht auf den Bildinhalt, kann ein einzelnes fotografisches Bild sehr wohl zumindest den Eindruck einer Bewegung erwecken – meist im Sinne einer Andeutung in der abgebildeten Körperhaltung oder eines Ungleichgewichts der Proportionen innerhalb einer Komposition (cf. Hickethier 2007: 47 s.). Auch Verwischungen – aufgrund der Wahl einer entsprechenden Belichtungszeit, die hierbei länger ist als erforderlich – haben eine ähnliche Wirkung (cf. Feininger 1961: 348). Demzufolge, ist dem fotografischen Bild die Möglichkeit zur Darstellung einer Bewegung nicht abzusprechen, selbst wenn diese auf dem Prinzip der optischen Täuschung beruht bzw. sie nur symbolisch angedeutet wird.
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Schlussendlich kann ein Filmstandbild im weiteren Sinn als Rückführung einer audiovisuellen Wiedergabe, einer „ Performanz“ (s.o.), in die (Re-)präsentation, also in den Wirkungsbereich einer Fotografie, gesehen werden. Dennoch bleibt es weder der Fotografie noch dem Film eindeutig verhaftet und scheint zwischen den beiden Praktiken zu oszillieren bzw. einen „Zwischenrau[m] zwischen zwei Zentren mit eigener Bildpraxis und ihrem jeweiligen Spezialdiskurs [auszufüllen]“ (Pauleit 2004: 30). Mit der Einnahme dieses Zwischenraums durch das Filmstandbild – und den dadurch aufgezeigten Kontrast zwischen bewegtem und statischem Bild – wird wiederum die „Unvereinbarkeit der Medien Film und Fotografie [verdeutlicht]“ (id.: 31).
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4 Filmstandbilder
4.1 Standfotografie
Standfotografien ( film still bzw. scene still ) werden im Zuge der Dreharbeiten direkt am Set aufgenommen (cf. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=2203). Dabei können sie rein dokumentarischen Zwecken dienen, in Gestalt von Setaufnahmen, die das Arbeitsgeschehen bezeugen sollen – etwa um nach Drehpausen die richtigen Anschlüsse zu finden (cf. Pauleit 2004: 25). Diese Art von Standfotos wird im Englischen als behind the scenes shots bezeichnet und findet im Deutschen eine ungefähre Entsprechung als Arbeits- bzw. Werkfotos; wobei der Begriff „Werkfoto“ sowohl für Fotos des Geschehens am Set und im Studio stehen kann, als auch für Szenenfotos des Films (cf. id.: 94). Zum anderen können Standfotografien auch die bereits erwähnten Szenenfotos bezeichnen, welche meist während der Probe – oder im seltenen Fall auch während der Filmaufnahme – angefertigt werden (cf. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=2203).
Ein weiterer Unterschied wird auch im Hinblick auf ihre weitere Verwertung deutlich: behind the scenes shots werden etwa gerne für Illustrationen in Fachbüchern zur Arbeit von Regisseurinnen und Regisseuren verwendet, während scene stills tendenziell für Werbezwecke – etwa für die Illustration einer Filmrezension in einem Magazin oder im Schaukasten vor dem Kino – herangezogen werden (cf. Pauleit 2004: 94). Bei letzterem ist zudem zu beachten, dass dieses nicht unbedingt den exakten Szeneninhalt darstellen muss – scene stills bzw. in diesem Fall film stills können auch Situationen darstellen, die in keiner Szene des Films vorkommen (e.g. Schauspielerportrait).
Was nun das Kunsthandwerk der Standfotografen anbelangt, so fassen Claude und Francis Desbarats (in: Henzler und Pauleit 2009: 35) dieses wie folgt zusammen:
„Talentierte Standfotografen können, wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, hervorragend den Geist einer ganzen Sequenz auf den Punkt zu bringen, selbst wenn sie eine Kameraeinstellung wählen, die in keiner Einstellung der Sequenz vorkommt. Oder aber es gelingt ihnen, sich auf die eine Einstellung des Films zu konzentrieren, die die Gesamtsituation symbolisiert.“
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Die hier erwähnte Symbolisierung einer Gesamtsituation, verweist wiederum auf die potentielle Eigenschaft des Standfotos bzw. des Filmstandbildes im Allgemeinen als „Schlüsselbilder“ gelten zu können, welche – in diesem Zusammenhang – als Reduktion auf die wesentlichen Aspekte des Filminhalts zu verstehen sind.
4.2 Stehkader
In den Filmstandbildarchiven finden sich neben unzähligen Abzügen von Standfotografien für gewöhnlich auch Vergrößerungen von Einzelbildern eines Filmstreifens, sogenannter Kader bzw. Stehkader (cf. Pauleit 2004: 25). Die englische Bezeichnung hierfür wäre freeze frame . Wird ein Film heute hingegen nicht analog sondern bereits digital aufgezeichnet, so werden nachträglich screen shots – als digitale Äquivalente der Stehkader – angefertigt. Doch im Gegensatz zu den „authentischen“ Abzügen eines Filmnegativs, sind screen shots in erster Linie als jene Erzeugnisse zu sehen, die theoretisch jede Privatperson nach Belieben und bei relativ geringem Aufwand – mittels eines Computers – anfertigen kann.
Was ihre Weiterverwendung anbelangt, so kommen Stehkader bzw. screen shots bei detaillierten Filmanalysen zum Einsatz bzw. in vereinzelten Ausnahmefällen werden diese auch für Werbezwecke verwendet (cf. ibid.).
4.3 Schaukastenbilder
Werden Filmstandbilder in einem Schaukasten vor dem Kino ausgestellt, so dienen diese – in Kombination mit dem Filmtitel – zur Bewerbung des Films bzw. bereitet die Kinobesucherin auf die folgende Vorstellung vor. Diese erhält dabei aus der Zusammenstellung von Filmstandbildern, Anfangszeit und dem Filmtitel Informationen in dreierlei Hinsicht: „[E]rstens es ist so gewesen; zweitens es gibt einen Film und drittens der Film wird gezeigt werden“ (Pauleit 2004: 93). Ersteres weist auf das Set hin bzw. in welcher Gestalt es während des Filmdrehs existierte und stellt somit einen Bezug zum Wesen der Fotografie her (cf. ibid.).
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Gleichzeitig wird, wie bereits erwähnt, die Existenz eines Films bezeugt und ein Bogen von seiner Produktion in der Vergangenheit, über die Betrachtung in der Gegenwart, bis hin zu einer möglichen Rezeption in der Zukunft gespannt – kurzum, es wird signalisiert: Es gibt einen Film, der gerade läuft und den ich noch nicht kenne (cf. id.: 93 s.). Hierbei ist allerdings zu beachten, „daß eine Gruppe von Filmstandbildern die tatsächliche Handlung eines Films nicht beschreibt“ (Pauleit 2004: 86). Dennoch sind sie in der Lage eine Stimmung zu vermitteln, aufgrund derer sich die Besucherin auf das bevorstehende Filmerlebnis einstellen kann.
Wird der Fokus hingegen auf den Filmtitel gelegt, so kann dieser – in Kombination mit den Filmstandbildern – zusätzlich Aufschluss über das Filmgenre bzw. die Filmgattung geben (cf. Pauleit 2004: 92 s.). Dies ist, wie bereits oben angedeutet, schlussendlich auch mit einer Beeinflussung der Erwartungshaltung verknüpft; vorausgesetzt die Rezipientin ist mit den zutreffenden filmischen Codes vertraut (cf. Pauleit 2004: 85 ss.). In anderen Worten, sind die geltenden Genrekonventionen bekannt, so können diese theoretisch auch von Filmstandbildern abgelesen werden, und helfen daher der Person dabei, sich auf den Film einzustimmen bzw. – sollte sie noch unschlüssig hinsichtlich der Auswahl gewesen sein – sich auf einen Film festzulegen.
4.4 Das Filmplakat
Im Gegensatz zur Kombination von Bildern, Filmtitel und Anfangszeiten in Schaukästen, verschwimmen Bildinformation und Text auf dem Filmplakat zu einem einheitlichen Bedeutungsfeld. Hierbei hat die „Mischung aus textuellen und visuellen Hinweisen […] Anteil sowohl an den bezeichnenden Funktionen als auch an der visuellen Repräsentation“ (Pauleit 2004: 87). Sprich, durch die grafische Einbettung des Titels und der Filmdaten in ein Filmstandbild wird auf den Filminhalt verwiesen und – vor allem dann, wenn Schauspielerinnen oder Schauspieler wiedererkannt werden – dieser genauer bezeichnet (cf. ibid.).
Eine weitere Eigenschaft von Filmplakaten ist jene, dass sie nicht zwangsläufig örtlich an ein Kino gebunden sein müssen. Im Gegenteil, in ihrer bewerbenden Funktion werden sie wesentlich häufiger an Litfaßsäulen, oder anderen öffentlichen Werbeflächen angebracht.
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Darüber hinaus werden sie gerne entweder von den Kinobetreibern selbst, aber auch von Videotheken und vom Einzelhandel für den Privatgebrauch zum Verkauf angeboten bzw. gelegentlich auch verschenkt. Angefangen von alteingesessenen Cineasten bis hin zu den eingeschworenen Fans des Genrekinos – es sind mit Sicherheit viele, die das eine oder andere Filmplakat ihres Lieblingsfilms zuhause an der Wand hängen haben – was meist mit einem Star- und Regisseurinnenkult einhergeht. Aus diesem Zusammenhang geht deutlich hervor, dass Filmstandbilder nicht nur vor der Rezeption des Films von Bedeutung sind, sondern auch danach. Sie dienen somit auch zur Erinnerung, sind „sowohl Reliquien des Fluß-Körpers Film, indem sie als greifbare Objekte, als Fotografien in Erscheinung treten, als auch Reliquien der Figuren, die innerhalb des Films auftreten […]“ (ibid.).
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5 Das spanische Autorenkino
5.1 Autorenkino und Autorenfilm
Der Begriff des Autorenfilms wurde mit der Zeit mehrfach neubelegt und kann somit auf verschiedene Weise verstanden werden: Zum einen nimmt er, im weiten Sinn, Bezug auf cineastisch-literarische Strömungen des vergangenen Jahrhunderts, und zum anderen weist er auf die schöpferisch-subjektive Komponente im Filmschaffen – nämlich den persönlichen Blick einer Filmschaffenden – hin (cf. Grob in: Koebner 2007: 49). Letzteres nähert sich bereits dem zeitgemäßen Verständnis einer Vertreterin des Autorenkinos, als – nahezu – unabhängige Urheberin ihres Werkes, an. Um vor allem aus ökonomischer und politischer Sicht als vollständig unabhängig gelten zu können, versuchen viele Autorenfilmerinnen, wenn möglich, ihre eigenen Produktionsfirmen zu gründen. Dennoch kann sich dies eine Vielzahl nicht leisten, und ist somit, wenngleich sie sich weit abseits der kommerziellen Filmindustrie bewegen, nach wie vor auf Subventionen und Prämien angewiesen (cf. Beicken 2004: 28).
Jedenfalls ist es heute die Autorenfilmerin, die der Schriftstellerin im klassischen Sinne am meisten ähnelt (cf. ibid.). Dies impliziert, dass heutige Regisseurinnen in vielen Fällen zugleich auch die Verfasserinnen der Drehbücher ihrer Filme sind. Darüber hinaus, ist der literarische Aspekt nach wie vor in den Schlüsselbegriffen „Autorin“ bzw. „Autor“ und „Drehbuch“ selbst enthalten, hat aber nichts mehr mit den Absichten der ursprünglichen Kinoreformbewegung rund um ausgewählte deutsche Schriftsteller des beginnenden 20. Jahrhunderts gemein (cf. ibid.). Nach diesem frühen Verständnis des Autorenfilms, welches sich am französischen Film d’Art orientierte, sollten dem Film seine Kinderkrankheiten ausgetrieben werden und dieser in eine erwachsene, den traditionellen Künsten entsprechende, Form gepresst werden (cf. id.: 50). Doch dieses Vorhaben scheiterte zum Großteil an der Unvereinbarkeit herkömmlicher künstlerischer Ausdrucksformen mit den höchst eigenwilligen und innovativen des Films. Die nächste Generation von deutschen Autorenfilmern sollte sich dennoch noch nicht von den Ansichten ihrer Vorgänger emanzipieren und trieben ihr Verlangen nach Anerkennung für ihr künstlerisches Schaffen sogar noch auf die Spitze, indem sie den Regisseur „ als alleinigen Schöpfer eines Films [verklärten] “ (id.: 51). Damit einhergehend wurde ihnen hinsichtlich ihrer
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– nach wie vor – starken Verhaftung in der Literatur nachgesagt, vornehmlich ihre persönliche Sicht sozialpolitischer Verhältnisse zu propagieren und, im Sinne einer selbsternannten Avantgarde, im hohen Maße in den Produktionsprozess sowie in das öffentliche Politgeschehen, zugunsten eines aufpolierten Images, einzugreifen (cf. Beicken 2004: 51). Doch der eigentliche Wesenszug des Autorenfilms, wie wir ihn heute kennen, wurde schließlich andernorts begründet: Das Postulat der Freiheit in ihrem künstlerischen Ausdruck und die Unabhängigkeit der Regisseurin in der Filmgestaltung, wurde im zentraleuropäischen Raum erstmals in Verbindung mit der französischen ouvelle Vague der 1950er bzw. 1960er Jahre aufgestellt. In Berufung auf Größen des europäischen bzw. U.S.-amerikanischen Kinos (Jean Renoir, Roberto Rossellini, Alfred Hitchcock u.a.) erklärten ihre Vertreterinnen:
[E]in ‚gelungener Film‘ [vermittelt] immer auch ‚eine Vorstellung von der Welt und eine Vorstellung vom Kino‘ […], gleichgültig ob in künstlerischer Freiheit entstanden oder unter den kommerziellen Bedingungen Hollywoods (ibid.).
Diese „jungen Wilden “ des neuen, französischen Kinos waren es schließlich auch, die zwischen dem Filmschaffenden als realisateur und demselben als auteur unterschieden – zwei Kategorien, die als wertneutral gelten (cf. Grob in: Koebner 2007: 52). Hierbei wird Ersterer als geschickter Umsetzer eines vorgegebenen Drehbuchs verstanden, während Letzterer – wenngleich nicht immer makellos – einer eigenen Geschichte, bzw. seinem individuellen Blick auf die Welt, filmischen Ausdruck verleiht (cf. ibid.). Vor diesem Hintergrund machten sich Jean Luc Godard und seine Zeitgenossen auf, einen neuen Weg des Autorenfilms zu beschreiten: Sie markierten mit ihrem Schaffen eine Abkehr vom klassisch-formvollendeten Film, wählten eine betont subjektive Perspektive und schenkten der Mise en Scène die größte Aufmerksamkeit (cf. ibid.). Somit wurde ein Film- bzw. Selbstverständnis im Rahmen des Autorenkinos geschaffen, welches heute noch Bestand hat: Der Ausdruck bzw. die bildsprachliche Kommunikation einer individuellen Sichtweise bildete das zentrale Anliegen dieser neuen Generation von Filmschaffenden; im Sinne eines Blicks auf die Welt, der feinste Nuancen in ihr erfassen mag, die der Betrachterin bislang noch gänzlich unbekannt waren (cf. ibid.).
Hierauf beruhend zeichnet sich der heutige – insbesondere der spanische – Autorenfilm, nebst einer eigenwilligen Symbolik und metaphorischen Dichte, vor allem durch „seinen gesamten
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Inszenierungsstil, seine eigene Filmsprache, seinen originellen Umgang mit der Kamera, die [von der Regisseurin bzw. vom Regisseur] gewählte Musik und seine Bilder [und] obsessiv wiederkehrende Themen [aus]“ (Sartingen und Landvogt in Von Hagen und Thiele 2012: 165). Die Regisseurin schreibt sich nach diesem Verständnis in ihr Werk ein, erschließt ungeahnte Möglichkeiten im Bereich der Filmgestaltung und erzählt dabei noch, auf teils höchst unkonventionelle Weise, eine Geschichte, die ihr – für gewöhnlich – aus verständlichem Grund am Herzen liegt.
5.2 El Joven Cine español
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Jahr 1955 eine bedeutende Wende in der Historie der spanischen Filmkultur markierte (cf. Caparrós Lera 2007: 113). In diesem Jahr nahm der Altmeister des spanischen Films Luis García Berlanga an den sogenannten Conversaciones des Salamanca teil (cf. Payán 2001: 9). Er zog ein äußerst ernüchterndes Fazit hinsichtlich der Lage des spanischen Kinos und nahm somit bereits damals vorweg, dass sich dieses auf bestem Wege in eine Krise befand (cf. ibid.). Er sollte insofern recht behalten, als dass sich in den folgenden zwei Jahrzehnten, unter der nach wie vor herrschenden Franco-Diktatur, ein großer Graben zwischen der spanischen Filmlandschaft und ihrem Publikum auftun sollte (cf. ibid.). Es handelte sich hierbei um eine Filmlandschaft, die maßgeblich von der politischen Zensur gezeichnet war und, bis auf wenige Ausnahmen, von einer schalen, franquistische Konventionen propagierenden, Einheitlichkeit zeugte (cf. Caparrós Lera 2007: 137 ss.). Diesem unsäglichen Zustand wurde erst mit Francos Tod ein Ende gesetzt. Der Tod des Diktators markierte hierbei einen weiteren Einschnitt in der spanischen (Film-)geschichte, der den Horizont für ein junges, kontroverses Kino, rund um die Protagonisten eines schillernden, subkulturellen Phänomens (i.e. la movida madrileña ) eröffnen sollte.
Schließlich war es erneut Berlanga, der zu Beginn des neuen Milleniums zur Generation „ Post- Almodóvar “ junger Regisseurinnen Stellung nahm (cf. id.: 217). Doch diesmal fiel sein Urteil wesentlich optimistischer aus, als jenes, zu welchem er sich noch ein halbes Jahrhundert zuvor gezwungen sah, indem er im Jahr 2001 lakonisch konstatierte: „La nueva generación española de cineastas es un fenómeno muy positivo“ (ibid.). Dieses von Berlanga erwähnte Phänomen
35 wird von Caparrós Lera (2007: 137) als Joven Cine español (JCE) bezeichnet, welches nun, seiner Ansicht nach, das Erbe des in den 1960ern verwurzelten uevo Cine español (NCE) antritt.
Im Besonderen ist hier die Rede von jungen, aufstrebenden Regisseurinnen und Regisseuren, die sich, im Anschluss an die Generation der Transición democrática española – u.a. Pedro Almodóvar und Fernando Trueba –, in den vergangenen zwei Jahrzehnten hervortaten (cf. id.: 218). Seinen Anstoß erhielt diese Welle des Joven Cine español schließlich mit dem Filmschaffen vier baskischer Regisseure – Enrique Urbizu, Álex de la Iglesia, Julio Medem und Juanma Bajo Ulloa – Anfang der 1990er und kam Mitte des Jahrzehnts, einhergehend mit dem Auftritt junger, ambitionierter Regisseurinnen – u.a. Isabel Coixet, Icíar Bollain und Rosa Vergés – ins Rollen (cf. Heredero 1999: 12 ss.). Viele von ihnen erlernten das kinematografische Handwerk in Kursen privater Ausbildungszentren – in Ermangelung öffentlicher Bildungseinrichtungen dieser Art – doch die Mehrheit von ihnen sind Autodidakten, die sich ihren Weg, anhand der Realisierung eigenfinanzierter Kurzfilme, selbst ebneten (cf. Scholz 2004: 89 ss.).
Die Filme dieser neuen Generation an Regisseurinnen und Regisseuren sorgten mit ihren schwer zu klassifizierenden Stilen und aufrüttelnden Thematiken mitunter für Furore und stießen insbesondere beim jungen Publikum auf große Beliebtheit (cf. Caparrós Lera 2007: 218 s.). Damit einhergehend stiegen die Besucherzahlen der spanischen Kinos stetig, bis schließlich im Jahr 1997 das U.S.-amerikanische The Wall Street Journal in seiner Europaausgabe diesem Phänomen junger Filmschaffender eine Titelgeschichte widmete, in der verdeutlicht wurde, dass der spanische Filmmarkt, zu der Zeit, einer der am stärksten wachsenden in ganz Europa war (cf. ibid.). Im Jahr 2001 schließlich, zeichnete sich der Höhepunkt einer typischen Begleiterscheinung der spanischen Filmpolitik ab: Die zehn erfolgreichsten spanischen Filme stellten einen Anteil von rund 70 Prozent der gesamten Zuschauerzahlen für nationale Filme (cf. Scholz 2004: 81). Wie diese Zahlen bezeugen, ist der Publikumserfolg der spanischen Filme in erster Linie auf einen starken Regisseurinnenkult zurückzuführen, der sich in den vergangenen 20 Jahren immer wieder um dieselben Namen drehte: Angefangen von den Gallionsfiguren des Kinos der demokratischen Wende, Pedro Almodóvar und Álex de la Iglesia etwa, bis hin zu den
36 neuen Lieblingen des spanischen Publikums, Santiago Segura und Alejandro Aménabar (cf. id.: 80 s.).
Ungeachtet der starken Resonanz vonseiten des Publikums, gehörte diese Riege an Jungregisseurinnen und Jungregisseuren keiner bestimmten Bewegung an, weder in programmatischer noch in theoretischer Hinsicht (cf. Heredero 1999: 15); in ihrer Themenwahl konzentrierten sie sich – und tun es heute noch – vornehmlich auf Einzelschicksale bzw. anrührende Problematiken zwischenmenschlicher Beziehungen (cf. Caparrós Lera 2007: 220). Die Drehbücher für ihre Filme schreiben einige dabei selbst oder sind zumindest als Koautorinnen tätig, was schlussendlich eine Bezeichnung dieser Gruppe an Regisseurinnen und Regisseuren als Joven Cine Español de Autores nahelegt (cf. Scholz 2004: 105 s.).
Im Hinblick auf dieses kontemporäre spanische Autorenkino, meint Caparrós Lera (2007: 221 s.) zwei wesentliche Typen von spanischen Regisseurinnen und Regisseuren unterscheiden zu können: Die Einen scheinen mehr der ästhetischen Dimension ihres Filmes zugetan zu sein (e.g. Alejandro Amenábar und Julio Medem) und mithilfe technischer Innovationen neue, kreative Normen auszuloten; andere wiederum scheinen sich wesentlich stärker der Qualität des Drehbuchs und der Dramaturgie verschrieben zu haben bzw. weniger Wert auf Kameraarbeit oder Montage zu legen (cf. id.: 222). Diese formieren sich zu einer gut vernetzten Gruppe, die vereinzelt auch gute Kontakte mit Hollywood pflegen und sich mitunter auf hausgemachte Kollaborationen mit gefragten Schauspielerinnen und Schauspielern (e.g. Penélope Cruz und Javier Bardem) verlassen können (cf. ibid.). Dennoch hat das Joven Cine español nach wie vor mit denselben Problemen wie junge Autorenfilmerinnen anderer Länder zu kämpfen, was nicht zuletzt der prekären Lage hinsichtlich der Finanzierung ihrer Projekte, sowie der teils zaghaften Akzeptanz ihrer Ergebnisse vonseiten des Massenpublikums, geschuldet ist (cf. ibid.) . So versuchten – bzw. versuchen nach wie vor – viele junge Autorenfilmerinnen und Autorenfilmer den Spagat zwischen „ Qualität und Kommerzialität“ zu meistern, ohne dabei Ausdrucksfreiheit und persönlichen Stil aufzugeben (id.: 224). Und einigen scheint dies offensichtlich auch gut zu gelingen.
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5.3 Werdegang und Filmschaffen von Isabel Coixet: Ein Überblick
Bis zum Jahre 1988 zeugte die Kinolandschaft Spaniens von einer förmlichen Abwesenheit spanischer Regisseurinnen – nur zehn waren es, die bis dahin aktiv am öffentlichen Filmgeschäft teilhatten. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass das spanische Kino des ausgehenden Franqismo bzw. der anlaufenden Transición noch wesentlich von den patriarchalen Strukturen des Regimes geprägt, und innerhalb dieser schlichtweg kein Platz für Regisseurinnen vorgesehen war (cf. Camí-Vela 2005: 17). In den 90er Jahren kam es schließlich – im Kontext eines generellen Aufschwungs des jungen, spanischen Autorenfilms – zu einer Wende und die Anzahl debütierender Regisseurinnen verdreifachte sich während dieses Jahrzehnts (cf. id.: 17 s.). Allen voran standen hierbei Isabel Coixet, Cristina Andreu und Ana Díez, die bereits im Jahr 1988 ihr Debüt gaben (cf. id.: 18). Erstere lieferte dieses mit ihrem Spielfilm Demasiado viejo para morir joven . Die Katalanin ist auch eine der Wenigen, die bislang ihren Platz in der spanischen Filmlandschaft behaupten konnten – ein Platz den sie sich hart, im Wesentlichen durch Eigenfinanzierung, erkämpfte (cf. id.: 24 ss.).
Coixet ist – abgesehen von ihrer Leidenschaft für das Kino – schon seit ihrer Jugend als begeisterte Leserin und Schriftstellerin bekannt (cf. Heredero 1999: 104). Bevor sie ernsthaft damit begann Filme zu drehen, studierte Coixet Geschichte an der Universitat de Barcelona , nachdem sie zuvor am Centro Sperimentale di Cinematografia in Rom abgewiesen wurde (cf. id.: 105). Schon bald versuchte sie auch in der Werbebranche Fuß zu fassen und finanzierte sich bisher mit wechselnden Tätigkeiten als Werbetexterin und Filmjournalistin – bis hin zur Kreativdirektorin und Gründerin ihres eigenen Werbelabels Miss Wasabi – Leben und Projekte selbst (cf. ibid; cf. Camí-Vela 2005: 22). Ihre Karriere als Regisseurin begann sie mit dem Dreh von Werbefilmen, bis sie schließlich ihren ersten Spielfilm Demasiado viejo para morir joven in Angriff nahm (cf. Pavlović, Alvarez, Blanco-Cano et al. 2009: 224). Allerdings wurde ihr Erstlingswerk von Kritikern zerrissen und entsprechend vom Publikum nicht weiter beachtet (cf. Heredero 1999: 105). Nach dieser bitteren Lektion sollte es acht Jahre dauern, bis sie endlich den erhofften Durchbruch mit Things I ever Told You schaffte. Diesen eigenfinanzierten Film drehte Coixet in Kanada mit einer kanadisch-U.S.-amerikanischen
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Besetzung, da man ihr neues Projekt, nach dem Misserfolg ihres Erstlingswerks, in Spanien nicht finanziell unterstützen wollte (cf. Camí-Vela 2005: 26).
Nachdem mit Things I ever Told You ihre Karriere endlich ins Rollen geriet, drehte sie bald darauf wieder in Spanien ( A los que aman ), um daraufhin erneut nach Kanada zurückzukehren um ihren mehrfach prämierten Film My Life Without Me – Coixet erhielt dafür unter anderem den Goya für die beste Drehbuchadaption – zu realisieren (cf. Pavlović, Alvarez, Blanco-Cano et al. 2009: 224). Seit diesem Erfolg, drehte die engagierte Regisseurin bis dato sieben weitere Spielfilme und steuerte, unter anderem, jeweils einen filmischen Beitrag zum sozialkritischen Dokumentarfilm ¡Hay motivo! und zur europäischen Großproduktion París je t’aime bei. Wobei Coixet immer auch ein wachsames Auge auf ihr eigenes Metier hatte: Als erfahrene Medienkünstlerin war sie sich schon immer der Vorteile, aber eben auch der Nachteile der Massen- bzw. Unterhaltungsmedien bewusst und scheute sich nicht davor sich über den beträchtlichen Einfluss, den besagte Medien auf die öffentliche Meinung ausüben, laut Gedanken zu machen (cf. Coixet in De España 1999, zit. in: Maurer Queipo in: Pohl und Türschmann 2007: 262 ss.).
Hinsichtlich ihrer eigenen Ambitionen, bzw. des Kinos im Allgemeinen, hebt Coixet klar hervor, dass ihr vor allem der humanistische Aspekt im Filmschaffen am wichtigsten sei: „ Un cineasta debe ser ante todo un humanista, alguien que tiene algo que decir, no un exhibicionista que mueve muy bien la cámara “ (id.: 252). Diese Aussage ist auch indirekter Beweis für Coixets starken und lebendigen Charakter, welcher den wachen und vor allem (selbst- )kritischen Geist einer postmodernen Autorenfilmerinnengeneration in seinen wesentlichen Zügen einfängt. Oder, wie es einst die Protagonistin von My Life Without Me zum Ausdruck brachte: „[…] Isabel es una persona más generosas, divertidas, temperamentales, sabias, inmaduras, maternales e infantiles que he conocido. Es todo a la vez, está llena de vida ” (Sarah Polley, zit. in: Andreu 2008: 139).
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5.4 Werdegang und Filmschaffen von Alejandro Amenábar: Ein Überblick
Noch vor knapp acht Jahren wurde Alejandro Amenábar als Aushängeschild des Phänomens neuer spanischer Autorenfilmer um die Jahrhundertwende – welche den Stoff für ihre Filme aus den jüngsten Entwicklungen einer post-franquistischen Gesellschaft zogen – gepriesen (cf. Scholz 2005: 108). Diese hohen Töne hat Amenábar wohl seinem Multitalent zu verdanken. Denn schon seit Beginn seines Filmschaffens versuchte er in so vielen Teilbereichen seiner Produktionen wie nur möglich Feder zu führen: So staunte der Filmveteran – und späterer Produzent dreier Filme Amenábars – José Luis Cuerda nicht schlecht, als ihm Himenóptero , die zweite Arbeit eines jungen Regisseurs vorlegt wurde, bei der dieser nicht nur Regie geführt hatte, sondern sich auch dem Drehbuch, der Produktion, Fotografie, Schnitt und Musik seines Films im Alleingang angenommen hatte (cf. id.: 114).
Schon von Kindestagen an war der gebürtige Chilene für Kino und Musik zu begeistern (cf. Heredero 1999: 31). Erstere Leidenschaft lebte er vor allem im Zuge regelmäßiger Kinobesuche mit seinem älteren Bruder aus, bis Amenábar schließlich nach jahrelangem Selbststudium und einem kurzen Intermezzo an der Fakultät der Kommunikationswissenschaften der Universidad Complutense in Madrid selbst zur Kamera griff um seine eigenen Filme zu realisieren (cf. Scholz 2004: 113). Amenábar hat dabei auch heute noch keinen offiziellen Abschluss einer entsprechenden Universität oder Hochschule vorzuweisen (cf. ibid.). Was ihm das Studium allerdings einbrachte, war Bekanntschaft mit Mateo Gil zu machen, seinem späteren Mitbewohner, Kollegen und langjährigen Freund (cf. id. 113 s.). Gil war es auch, der Amenábar bei seinem ersten Projekt, dem Kurzfilm La cabeza , unterstützte, indem er die Kamera führte. Amenábar wiederum schrieb Jahre später die Filmmusik für Gils Film adie conoce a nadie (cf. ibid.). Auch in den zwei folgenden Kurzfilmen Amenábars, Himenóptero und Luna , machten die beiden wieder gemeinsame Sache (cf. ibid.). Und auch an Amenábars späteren Filmen – mit Ausnahme von The Others , aber vor allem an seinem mehrfach prämierten Mar Adentro – ist Gil nicht zuletzt als beständiger Koautor der Drehbücher beteiligt.
In ihrer gemeinsamen frühen Schaffenszeit, Anfang der 90er Jahre, wurde der Regisseur José Luis Cuerda auf das eingespielte Duo aufmerksam. Er ist es auch, der schließlich die Produktion
40 des ersten Spielfilms Amenábars, Tesis, übernahm (cf. id.: 114 s.). Schon bald wurden nationale und internationale Kritiker auf den jungen Regisseur aufmerksam und noch im selben Jahr seiner Premiere wurde Tesis bei den Premios Goya 1996 siebenfach ausgezeichnet, unter anderem als bester Film des Jahres, für das beste Drehbuch und Amenábar selbst für seine Regiearbeit als Einsteiger (cf. Heredero 1999: 33). Tesis kam vor allem beim jungen Publikum gut an und legte somit den Grundstein für Amenábars weitere Karriere, die wohl im Jahr 2004 seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, als sein bereits in Europa mehrfach ausgezeichneter Film Mar adentro bei den Academy Awards mit einem Oscar für den besten fremdsprachigen Film prämiert wurde.
Amenábar selbst sieht sein künstlerisches Schaffen, und das der Kolleginnen und Kollegen seiner Generation, als etwas Naturgegebenes an, das sich aus den Umständen einer Kindheit entwickelt hat, die vor allem von einem starken Bilderkonsum geprägt war, was sich seiner Meinung nach erkennbar in einer von technischen Aspekten bedingten, visuellen Sprache niederschlägt (cf. id.: 34). Und trotz seiner Vorliebe für das Genrekino und U.S.-amerikanischer Hollywood-Regisseure, steht er der Filmindustrie nicht unkritisch gegenüber. Im Gegenteil, er ist der festen Überzeugung, dass nur diejenigen, die eine starke Persönlichkeit besitzen, sich in der Branche halten können bzw. dass man das Persönliche nicht für das Kommerzielle verraten sollte (cf. ibid.).
6 Medienwissenschaftliche Analyse
6.1 Arbeitsgrundlage
Die folgende Analyse beschäftigt sich mit ausgewählten inhaltlichen, kompositorischen, sowie ästhetischen Aspekten von Film und Fotografie. Die Analyse soll sich in ihrem Verlauf so gestalten, als dass auf einzelne Komponenten der Film- sowie der Fotogestaltung zurückgegriffen wird bzw. diese zugleich als Analyseparameter herangezogen werden.16
16 Hierzu dienten als Grundlagenlektüre: Bienk, Alice: Filmsprache/ Einführung in die interaktive Filmanalyse , Schüren, Marburg, 2008; Feininger, Andreas: Die Hohe Schule der Fotografie , Econ, Düsseldorf und Wien, 1961.
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Außerdem werden Prinzipien der Fotopraxis angesprochen, wenn immer sie für die Aufschlüsselung einer Komposition oder des Inhalts relevant zu sein scheinen. All das soll in erster Linie dazu dienen, den didaktischen Aspekt, welcher als ursprünglicher Beweggrund dieser Analyse gilt, implizit mitzuführen. Dennoch wollen die folgenden Ausführungen höchstens als Selbstversuch einer Konzeptgrundlage für den Unterricht verstanden sein und erheben in keinster Weise den Anspruch einer Allgemeingültigkeit, da nach wie vor gilt:
Die Bildwahrnehmung [bzw. Filmwahrnehmung, Anm.d.Verf.] unterliegt subjektiven Faktoren, der individuellen Sozialisation, der kulturabhängigen Symbolik sowie der Intention der Betrachtung. Die Interpretation des Bildes ist deshalb ebenfalls subjektiv gefärbt und kann nur zu einem geringen Teil als objektiv angesehen werden (Schafiyha 1997: 25).
Allerdings steht außer Frage, dass durch eine diskursive bzw. interaktive Auseinandersetzung mit der Materie – etwa im Zuge eines intersubjektiven Austauschs einer Lehrperson mit einer Gruppe von Schülerinnen im Rahmen einer eigeninitiierten Film- und Fotoanalyse – die hier erwähnte, streng subjektive Komponente aufgebrochen werden kann.
6.2 Bildquellen
Die unten präsentierte Auswahl an Bildern beschränkt sich – mit Ausnahme des Filmplakats von My Life Without Me – auf das Angebot, das auf der online als offiziell ausgewiesenen Homepage der Regisseurin (i.e. clubcultura.com/clubcine/clubcineastas/isabelcoixet) bzw. des Regisseurs (i.e. clubcultura.com/clubcine/clubcineastas/amenabar ) zu finden ist. Hierbei handelt es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um offizielle Standfotografien, welche in der Regel für Werbezwecke bzw. für Pressetexte und Rezensionen verwendet werden. Verwandte Homepages bzw. frei im Internet kursierende Filmstandbilder wurden bei der Auswahl nicht berücksichtigt. Alle weiteren Abbildungen sind von mir eigens angefertigte screen shots , welche der DVD des jeweiligen Films entnommen wurden.
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6.3 My Life Without Me (Mi vida sin mí)
6.3.1 Kurzbeschreibung und Hintergrund
My Life Without Me (Mi vida sin mí) ist das Ergebnis einer spanisch-kanadisch-U.S.- amerikanischen Kollaboration und feierte im Jahr 2003 seine Premiere. Das Drehbuch zum Film ist eine Adaption einer Kurzgeschichte aus dem Buch Pretending the Bed is a Raft von Nanci Kincaid (cf. Pavlović, Alvarez, Blanco-Cano et al. 2009: 224). Es wurde von der Regisseurin selbst verfasst, was für ihre Positionierung inmitten des Kreises der neuen spanischen Autorenfilmer und Autorenfilmerinnen spricht (cf. Maurer Queipo in: Pohl und Türschmann 2007: 262). Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass Pedro Almodóvar – als Pionier, großer Befürworter und Unterstützer des neuen spanischen Autorenkinos der letzten Jahrhundertwende – die Produktion des Films übernahm (cf. Andreu 2008: 157). My Life Without Me spiegelt dabei nicht nur Coixets individuelle Sicht auf ausgewählte zwischenmenschliche Belange, die ihr nahe gehen, wider, sondern steht auch im Zeichen wesentlich allgemeinerer Problematiken – angefangen von sozialer Ungerechtigkeit, über Intoleranz und Ignoranz, bis hin zur patriarchalen Maschinerie des machismo , die alle seit der Diktatur Francos in der spanischen Gesellschaft einzementiert sind, und nur langsam von dieser abgebaut werden (cf. Maurer Queipo in: Pohl und Türschmann 2007: 259). Auch in ihren folgenden Projekten bezog Coixet filmsprachlich Stellung zur Schieflage der spanischen Sozialpolitik – wie etwa in ihrem Kurzfilm La insoportable levedad del carrito de la compra , ihr Beitrag zur Dokumentation ¡Hay motivo!, für die sich mehrere Filmemacher und Filmemacherinnen der iberischen Halbinsel zusammenschlossen und ihre Empörung auf Film bannten.
6.3.2 Synopse
My Life Without Me erzählt die Geschichte von Ann, einer jungen Frau, die mit ihrem Ehemann Don und ihren beiden Töchtern Patsy und Penny in einem Wohnwagen im Garten ihrer Mutter wohnt. Ann arbeitet als Putzkraft und ihre Kollegin Laurie ist zugleich auch ihre einzige Freundin, mit der sie somit die meiste Zeit ihres Alltags verbringt. Doch dann bekommt Ann
43 aus heiterem Himmel die Diagnose Gebärmutterkrebs gestellt. Laut behandelndem Arzt, sollen ihr nur noch wenige Wochen bleiben. Ann ist im ersten Moment schockiert, aber fängt sich schnell wieder. Sie akzeptiert ihr Schicksal und beschließt kurzerhand die Zeit bis zu ihrem Tod damit zu verbringen, ihren Alltag wie gewohnt zu bestreiten, wobei sie ihre Familie und Freunde bezüglich ihres prekären Gesundheitszustands bis zum Schluss in Unwissenheit lässt. Allerdings fügt sie kleine Besonderheiten in ihrem Alltag hinzu: sie beschließt sich noch ein paar lang gehegte Wünsche zu erfüllen: Sie beginnt eine Affäre mit einem Unbekannten namens Lee, der sich Hals über Kopf in sie verliebt, bespricht heimlich Tonbänder für ihre Töchter, sucht nach einer potentiellen Nachfolgerin – wobei sie Laurie und später auch die neue Nachbarin zu sich nachhause einlädt, damit diese Bekanntschaft mit Anns Mann und ihren Kindern machen können; und sie versucht zudem die Beziehung zu ihrer Mutter und zu ihrem Vater, der im Gefängnis sitzt, zu rekapitulieren. Auf diese Weise versucht Ann unbemerkt ihr unmittelbares soziales Umfeld, auf die Zeit nach ihrem Tod vorzubereiten und beginnt dabei erst richtig zu Leben.
6.3.3 Analyse des Visuellen
6.3.3.1 Filmplakat (Standfoto) vs. screen shot : r. 1
Das Standfoto des Filmplakats von My Life Without Me (s. Abb. 1) entspricht der Sequenz (Nr. 42, siehe Einstellungsprotokoll), in der Ann während ihres Aufenthalts im Waschsalon auf der Couch einnickt. Lee war inzwischen Kaffee für sich und seine neue Bekanntschaft holen gegangen. Als er zurückkommt, nimmt er neben der schlafenden jungen Frau Platz, deckt diese mit seinem Mantel zu und beobachtet sie eine Weile. Das Standfoto stellt den Moment im Film dar, in dem Ann schließlich erwacht, Lee verdutzt anblickt und dann noch ein paar Worte mit ihm wechselt, bevor sie schlussendlich den Waschsalon wieder verlässt. Der passend dazu angefertigte screen shot (s. Abb. 2) unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum vom Standfoto. Allerdings werden bei genauerer Betrachtung vor allem Unterschiede in der Bildkomposition deutlich, welche im Folgenden näher erläutert werden.
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So ist etwa auf dem Filmplakat nur die Protagonistin zu sehen, um den Fokus auf das Einzelschicksal der Person zu lenken. Die Kinobesucherin erhält dadurch – in Verbindung mit dem Filmtitel – bereits einen Hinweis darauf, dass es sich mit größter Wah rscheinlichkeit um ein Drama handeln könnte. Insbesondere wird dieser Eindruck dadurch verstärkt, dass die Darstellerin einen leicht traurige n, aber dennoch gefassten Gesichtsausdruck hat. Ihr Blick ist auf die Betrachterin fixiert. Das Gegenüber wird also unweigerlich zur Protagonistin in Relation gesetzt. S omit wird bereits vor der Rezeption des Films eine Beziehung zu der noch unbekannten Person im Bild aufgebaut. Die Protagonistin wirkt alleine und verlassen und wird erst durch ihr Gegenüber – in diesem Fall die Betrachterin – komplettiert. Ihr Blick geht nun nicht mehr ins Leere, sondern, verpflichtet die Betrachterin , sich mit ihr auseinanderzusetzen. Schlussendlich sollte sich die Kinogeherin dazu veranlasst fühlen, sich eine Eintrittskarte für den Fi lm zu kaufen, um der Sache nachzugehen.
Abb. 2
Abb.1
Dieser Wirkungsweise bedient man sich auch in der Porträtfotografie: Hierbei wird davon ausgegangen , ein direkter Blick in die Kamera, also der Blickkontakt mit einem fiktiven Ge genüber, evoziere den Eindruck von charakterlicher Stärke der Abgebildeten, kann aber auch
45 als unliebsame Konfrontation, Herausforderung oder gar als Bedrohung interpretiert werden, je nachdem wie der Gesichtsausdruck und die Pose der abgelichteten Person ausfällt. Natürlich kann im oben gezeigten Filmplakat (s. Abb. 1) der Blick der Protagonistin durchaus auch als herausfordernd gedeutet werden. Allerdings würde sich die Herausforderung auf ihren bevorstehenden Tod beziehen, was den Wissensstand der Rezipientin vor der Projektion übersteigt und selbst nach der Rezeption noch hoch spekulativ bleibt. Wahrscheinlicher ist also, dass der direkte Blick in die Kamera in erster Linie Charakterstärke suggerieren und zugleich eine Beziehung zur Betrachterin etabliert werden soll.
Im Fall des screen shot (s. Abb. 2) hingegen, würde nach den Konventionen der Filmgestaltung, ein direkter Blick in die Kamera unpassend erscheinen. Ein – angedeutet – direkter Blickkontakt mit der Rezipientin wird in der Regel nur in Nachrichtensendungen bzw. bestimmten Fernsehsendungen durch den Moderator hergestellt, in Spielfilmen hingegen ist dies eher die Ausnahme (cf. Altmann, Rick 1999: 185). Sollte dieser Fall dennoch eintreten, ist dies entweder als Regiefehler bzw. Versehen der Schauspielerin bzw. des Schauspielers, oder ganz im Gegenteil, als bewusst gesetzter Verfremdungseffekt zu deuten. Bei Letzterem entsteht der Eindruck, dass der Protagonist bzw. die Protagonistin sprichwörtlich aus seiner oder ihrer Rolle fällt, was meist auch mit einer inhaltlichen Zäsur einhergeht. Da es an besagter Stelle in My Life Without Me aber weder einen erkennbaren Bruch im Erzählstrang gibt, noch eine andere Erzählebene eingeschoben wird (e.g. Traumsequenz oder Rückblende), hätte ein direkter Blick in die Kamera wenig Sinn und würde die Zuseherin lediglich irritieren.
In der Fotografie (s. Abb. 1) hingegen, erzeugt der von der Kamera abgewandte bzw. leicht versetzte Blick an der Kamera vorbei den Eindruck der Spontaneität und Zufälligkeit eines Schnappschusses. Das Foto wirkt dadurch weniger inszeniert bzw. authentischer.
Was die Umgebung betrifft, ist der Bildausschnitt in beiden Fällen ganz klar auf einen Teil der Couch begrenzt, wobei im screen shot (s. Abb. 2) noch deutlicher zu sehen ist, dass es sich um eine Couch handelt, da ein größerer Ausschnitt der Rückenlehne zu sehen ist, sowie sich deren Kopfende knapp über Lees Schulter abzeichnet. Aus dem Filmplakat hingegen (s. Abb. 1) geht nicht klar hervor, dass es sich bei dem Möbelstück, auf dem die Protagonistin gebettet ist, eindeutig um eine Couch handelt.
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Die Komposition zeugt hierbei von einer geschlossene Form in der Begrenzung des Bildausschnitts. Demnach sind alle wichtigen Elemente im Bildausschnitt enthalten – in diesem Fall Kopf und Schultern der Protagonistin. Im screen shot (s. Abb. 2) hingegen, liegt eine offene Form vor. Somit „ ergänzt der Betrachter mit Hilfe seines Weltwissens“ all das, was vom Bildkader nicht mehr erfasst wurde (cf. Bienk 2008: 43 ss.); also den Rest des Raumes und die Person, deren Anwesenheit links im Bild angedeutet ist.
Bezüglich der Tatsache, dass sich die entsprechende Szene in einem Waschsalon abspielt, erhalten wir allerdings keinerlei Hinweise, weder durch die Standfotografie noch durch den screen shot . Der Kontext kann also nur durch die Rezeption der Filmsequenz erschlossen werden, was hier für die Aussage des Bildes ohnehin irrelevant ist. Ganz im Gegenteil, im Standfoto (s. Abb. 1) wurde wahrscheinlich bewusst darauf geachtet, so wenige zusätzliche Elemente wie möglich abzubilden, um vor allem den Hintergrund möglichst flächig zu halten. Das Gesicht der Protagonistin wird ins Zentrum gerückt und nur um dieses sollte es sich auch drehen. Hier ist anzumerken, dass in der professionellen Fotografie generell darauf geachtet wird, dass – aus dem soeben genannten Grund – Porträtfotos vor einem möglichst ebenmäßigen Hintergrund entstehen. Der abgebildete Mantel auf dem Filmplakat ist somit nebensächlich. Er könnte auch genauso gut eine Decke sein. Abgesehen davon stellt der Mantel ein symmetrisches Gegengewicht zu den schwarzen Haaren in Kombination mit dem dunklen Schatten auf der Rückenwand der Couch – vermutlich durch Bildbearbeitung nachträglich geschwärzt – dar. Und das alles bildet einen flächigen, negativen Raum 17 in der oberen Hälfte des Bildausschnitts.
Die Kante der Liegefläche der Couch scheint desweiteren den Bildausschnitt exakt in der Mitte zu teilen. Durch das ebenfalls flächige – aber im Gegensatz zum Schwarz der oberen Bildhälfte leuchtende – Rot der Samtcouch ist der zweite negative Raum der Bildkomposition geschaffen, welcher als Hintergrund für den Filmtitel sowie für die Filmdaten dient. Was also bleibt, ist der positive Raum in der Mitte des Bildes, welcher in Form des blassen Gesichts bzw. der markanten Gesichtszüge der Darstellerin, sowie ihrer geballten Faust, ins Auge sticht.
17 Im Gegensatz zum positiven Raum , der meist „ein Objekt oder eine Figur definiert“ und deren Form darstellt, ist der negative Raum – als dessen Pendant – das formgebende Element der Komposition (cf. Bienk 2008: 41).
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Bezüglich der Einstellungsgröße, lässt sich anhand des screen shot (s. Abb. 2) feststellen, dass für die Szene, die den kurzen Moment von Anns Erwachen beschreibt, eine Nahe 18 gewählt wurde. Das ist insofern plausibel, da der Fokus klar auf der Aktion der Protagonistin liegt. In diesem Moment wird der Übergang von ihrem Schlaf zur Wiederaufnahme des Gesprächs mit der zweiten Person der Szene dargestellt. Auch wenn Ann noch nicht zu sprechen begonnen hat, tritt sie anhand ihres Blicks bereits mit ihrem Gegenüber – im Gegensatz zur Kontaktaufnahme mit einer fiktiven Betrachterin im Fall des Filmplakats (s. o.) – in einen Dialog. Die Präsenz von ihrem Gesprächspartner wird hierbei durch die – relativ augenfällige – Positionierung der rechten Schulter Lees in der linken Bildhälfte angedeutet. Diese Anspielung auf eine zweite Person im Raum bzw. die dem entgegengesetzte Betonung der klar zu erkennenden Protagonistin wird hierbei durch ein markantes Schärfe- (Anns Gesicht) Unschärfeverhältnis (Lees Schulter) verstärkt. Durch die extreme Nähe der angedeuteten Schulter zur Kamera und der Abstand zur Protagonistin im Hintergrund, lässt eine starke räumliche Tiefenwirkung entstehen (cf. Bienk 2008: 43). Dies wird zusätzlich durch die Überschneidung von Lees Schulter mit Anns Haaren, bzw. durch den verdeckten Teil der Couch, betont. In diesem Zusammenhang werden die verdeckten Objektteile von der Betrachterin – in Bezugnahme auf ihr Weltwissen – ergänzt und es entsteht eine räumliche Beziehung der abgebildeten Personen bzw. Objekte zueinander (cf. ibid.).
Der Gestaltungstrick einer gezielten Positionierung eines Referenzobjekts im Bildvordergrund, in Relation zu einem – oder mehrerer – im Hintergrund, zur Darstellung räumlicher Tiefe, wird vor allem auch in der Fotografie angewandt. Nicht zuletzt wird hier das Prinzip menschlichen Sehens imitiert 19 . Im Standfoto (s. Abb.1) kommt dieser Kunstgriff allerdings nicht zum Tragen, da dieses auf die alleinige Präsentation der Protagonistin ausgerichtet ist.
Desweiteren wird, trotz der scheinbar unausgeglichenen Situation von Beobachter und unwissend Beobachteter, wird im screen shot (s. Abb. 2) Gefühl der Nähe vermittelt. Lees Schulter nimmt hierbei, wie bereits erwähnt, einen relativ großen Teil der Bildfläche ein. Der Darsteller wurde demnach möglichst nahe an der Kamera platziert. Der Betrachterin wird
18 I.e. „ Kopf und Oberkörper beherrschen das Bild, mimische und gestische Elemente stehen im Vordergrund und sind genau zu erfassen. Diese Einstellung wird häufig in Dialogszenen gebraucht .“ (Paech 1977 zit. in Bienk 2008: 56). 19 I.e. Im Gegensatz zur dreidimensionalen Wirklichkeit sind Fotos zweidimensional: „ Die Tiefe, die räumliche Ausdehnung kann nur versinnbildlicht werden “ (Feininger 1961: 203).
48 demnach suggeriert, sehr nahe am Geschehen dran zu sein. Dieser sinngemäß verhaltene Blick über die Schulter der Person im Bild lässt ein Gefühl von Intimität aufkommen, trotz – oder eben gerade wegen – des Ungleichgewichts des Machtverhältnisses, das sich aus der Konstellation namenloser Beobachter und Schlafende ergibt. Dieser Eindruck entsteht vor allem auch dadurch, dass die die liegende Protagonistin im unteren Bereich des Kaders positioniert ist. Dies definiert nicht nur Lees Position im Raum, wobei er leicht erhöht auf einem Sessel sitzt, sondern es wird somit auch Anns – vorübergehende – Unterlegenheit bzw. Verletzlichkeit in der Situation bildlich zitiert.
Desweiteren ist im abgebildeten Kader (s. Abb. 2) ein verhältnismäßig großer Headroom zu verzeichnen, welcher in seiner Wirkungsweise die jeweilige Person generell klein, bzw. bedroht oder verlassen, erscheinen lässt (cf. Bienk 2008: 40). Im Filmplakat hingegen, ist ein normaler bzw. geringer Headroom zu erkennen, was zum einen wieder auf eine Betonung der Charakterstärke der Protagonistin schließen lässt, bzw. einfach nur der gewollt zentrierten Platzierung des Kopfes – und der dadurch erreichten Stimmigkeit der Komposition – geschuldet ist.
Jedenfalls, was die im screen shot (s. Abb. 2) dargestellten Situation anbelangt, so wird diese in ihrer Narrativität, wie soeben gezeigt wurde, bildsprachlich geschickt umgesetzt: Lee, der in diesem Moment unweigerlich zum Voyeur wird, auf der einen Seite, und die vom Schicksal gebeutelte, erschöpfte Ann, auf der anderen Seite. Dieser spannungsgeladene Dualismus aus suggerierter Intimität auf der einen, und einem unausgeglichenen Machtverhältnis auf der anderen Seite, lässt eine besondere Atmosphäre entstehen, welche die Zuseherin emotional ins Filmgeschehen einbindet.
6.3.3.2 Standfoto vs. screen shot : r.2
Das Standfoto und der Stehkader beziehen sich auf die Sequenz (Nr. 32, siehe Einstellungsprotokoll) des Films, in der Ann für ihren Mann und ihre beiden Töchter Pfannkuchen macht. Genauer gesagt handelt es sich um den Moment, kurz bevor die Protagonistin den Rest der Familie zu Tisch ruft.
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Was bei einer ersten Betrachtung der beiden Beispiele sofort ins Auge fällt, ist dass sie inhaltlich beinah deckungsgleich sind, abgesehen vom kleineren Bildausschnitt des screen shot (s. Abb. 4). Dies ergibt sich – abgesehen vom unterschiedlichen Bildformat – daraus, dass für die Einstellung eine Nahe gewählt wurde, der Fokus also auf dem Gesicht der agierenden Person liegen soll (cf. Paech 1977 zit. in Bienk 2008:56). Ihre Tätigkeit wird hierbei nur angedeutet. Lediglich der Griff des Pfannenwenders in der Hand der Protagonistin gibt einen Hinweis darauf, was diese im dargestellten Moment tut. Demnach handelt es sich hier um eine offene Form (s.o.) des Bildkaders. Die Mütze, die Pfanne, der Herd und der Rest der Küche werden automatisch von der Rezipientin in Berufung auf ihr Weltwissen ergänzt (s.o.). Im Gegensatz zum Standfoto, ist im screen shot eine vergleichsweise reduzierte Bildinformation auszumachen, welche aber ohnehin durch die folgende Kamerabewegung erweitert wird.
Abb. 4
Abb. 3
Als kompositorisch auffälligstes Element, sticht das Mixgerät am linken Bildrand hervor. Es lässt einen Rückschluss auf die dargestellte Aktion im Bild zu. Vermutlich hat die Protagonistin den Teig für die Pfannkuchen in ihm angerührt oder eventuell ein Getränk darin zubereitet. Im Standfoto (s. Abb. 3) ist das Küchengerät derart nahe an der Kamera platziert, dass es nur zur Hälfte im Bild zu sehen, aber dennoch als solches zu erkennen ist. Hier wird durch eine optische
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Dreiteilung 20 ein starker Effekt von Tiefe erzeugt: Zum einen durch den relativ großen Abstand zwischen dem Mixgerät im Vordergrund und der Protagonistin im Mittelfeld; zum anderen durch den Abstand von der Protagonistin zum Küchenkästchen bzw. zu der Wand im Hintergrund.
Im screen shot (s. Abb. 4) hingegen ist das Mixgerät beinah vollständig zu erkennen, ist relativ gut in seinen Konturen auszumachen und nimmt beinah die gesamte linke Bildhälfte für sich ein. Im Vergleich dazu, beansprucht es im Standfoto (s. Abb. 3) nur ein Drittel der Bildfläche für sich. Demnach ergibt sich, im Gegensatz zum Standfoto, im screen shot ein verhältnismäßig flächiges Bild. Dennoch liegt der Fokus eindeutig auf der Protagonistin, bzw. auf ihrer Tätigkeit, insofern die den Pfannenwender führende Hand im Bildzentrum platziert ist. Der Kopf der Darstellerin hingegen ist im äußeren rechten Drittel des Bildes angesiedelt. Im Gegensatz dazu befindet sich im Standfoto der Kopf der Darstellerin in der Bildmitte und liegt zudem im oberen Drittel bzw. auf der vertikalen Mittelachse des Bildes, was die Person im Bild fixiert und somit einen harmonischen Eindruck erweckt.
Was die Perspektive anbelangt, so scheint das Standfoto aus einer leichten Untersicht aufgenommen worden zu sein, während der screen shot (s. Abb. 4) auf eine Kameraausrichtung in Augenhöhe schließen lässt. Die leichte Untersicht im Standfoto (s. Abb. 3) in Kombination mit der Asymmetrie welche zwischen der schrägen Achse des leicht vorgebäugten Körpers und der senkrechten Linie des Mixgeräts entsteht, erzeugt einen dynamischen Eindruck (cf. Bienk 2008: 46 s.). Es wirkt ganz so, als wäre die Protagonistin in Bewegung.
6.3.3.3 Standfoto vs. screen shot : r. 3
Bei dieser Gegenüberstellung von Standfoto (s. Abb. 5) und dem screen shot (s. Abb. 6) der entsprechenden Sequenz (Nr. 62, siehe Einstellungsprotokoll) lassen sich feine Unterschiede
20 Hierbei werden im Bildvordergrund Personen und Objekte abgebildet, zu denen sich die Betrachterin in Relation setzten kann – dabei werden Größenrelationen im Bild ausgelotet; bei der Platzierung in der Bildmitte erscheinen Personen und Objekte meist noch relativ detailliert; im Bildhintergrund hingegen sind oft weniger Details auszumachen, was einen atmosphärischen Eindruck erweckt (cf. Bienk 2008: 42).
51 hinsichtlich der Bildkomposition sowie wesentliche bezüglich des Bildausschnitts erkennen. Als wohl auffälligstes Differenzierungsmerkmal stechen die im linken Bild geöffneten – bzw. im rechten geschlossenen – Augen der Protagonisten hervor. In der Fotografie (s. Abb. 5) verleiht dies den dargestellten Personen einen kontemplativen Ausdruck, während im screen shot (s. Abb. 6) eine friedvolle Atmosphäre erzeugt wird, da die Personen scheinbar schlafend – entsprechend der Handlung ist die Protagonistin allerdings noch wach – dargestellt werden. Beide Bilder wurden aus der Vogelperspektive angefertigt, allerdings gibt der screen shot mehr Bildinformation preis als es das Standfoto tut: Die dunkelrote Bettdecke ist ebenso angedeutet, wie auch das Bett beinah zur Hälfte zu sehen ist. Diesbezüglich handelt es sich um eine offene Form des Bildkaders (s.o.).
Abb. 5 Abb. 6
Im Gegensatz zum screen shot (s. Abb. 6), weist die Positionierung der Darsteller im Standfoto (s. Abb. 5) eine starke Zentrierung auf. Während sich im screen shot die Personen nicht nur im linken Teil des Bildes befinden, sondern auch zusätzlich eine Asymmetrie durch Anns Körper – der quer über dem Bett zu liegen scheint – entsteht. Diese Ausrichtung der Darsteller zum linken Bildrand hin ist allerdings nicht ungewöhnlich. Durch diese auffällige Linkspositionierung, entsteht in der rechten Bildhälfte ein negativer Raum (s.o.), der die nicht eingenommene Liegefläche des Bettes gewissermaßen als Leerstelle ausweist und durch den Schlagschatten der beiden Personen noch zusätzlich betont wird. Im Kontrast dazu heben sich die Konturen der beiden Körper klar vom Bildhintergrund ab. Das Bild erhält somit einen stark
52 plastischen bzw. dreidimensionalen Charakter (cf. Bienk 2008: 70 s.). Somit rückt das sich umarmende Paar stärker in den Fokus. Die zwischenmenschliche Nähe, das emotionale Zusammenrücken der beiden Charaktere, wird dadurch bildsprachlich unterstrichen.
Während im screen shot (s. Abb. 6) eine Asymmetrie hinsichtlich der schrägen Ausrichtung der beiden Körper im Kontrast zur vertikalen Linie der Fensterfront links im Bild ergibt, entsteht diese im Standfoto (s. Abb. 5) hingegen aufgrund des Verhältnisses zwischen der schräge der Fensterfront und der geraden Ausrichtung des Körpers des Darstellers. Dieser Unterschied ergibt sich aus dem veränderten Aufnahmewinkel des Standfotos im Gegensatz zum dem des Filmbildes. Dadurch wirkt das Standfoto in seiner Komposition weniger harmonisch.
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6.4 Mar adentro
6.4.1 Kurzbeschreibung und Hintergrund
Mar adentro ist ein mehrfach prämierter Film aus dem Jahr 2004. Regie führte der Autorenfilmer chilenischer Herkunft, Alejandro Amenábar. Das Drama basiert auf wahren Begebenheiten und erzählt die Geschichte des galicischen Seefahrers Ramón Sampedro, der von einem missglückten Sprung ins seichte Meerwasser als junger Erwachsener eine irreversible Lähmung vom Hals abwärts (Tetraplegie) davon trug und somit bis an sein Lebensende ans Bett gefesselt war. Doch Sampedro wollte sein Schicksal nicht akzeptieren und kämpfte jahrelang – zuletzt auch vor Gericht – unermüdlich dafür, sterben zu dürfen. Schließlich erfüllte ihm eine enge Freundin diesen Wunsch und bereitete eine Zyankalilösung für ihn zu. Noch vor seinem Ableben im Jänner 1998 ließ Sampedro allerdings noch ein Buch über seine Erlebnisse veröffentlichen, das den Titel Cartas desde el infierno (Briefe aus der Hölle) trägt (cf. http://www.clubcultura.com/clubcine/clubcineastas/amenabar/mar07.htm).
Schließlich wurde Alejandro Amenábar auf das Schicksal des Galiciers aufmerksam und nutzte dessen Lebensgeschichte als Grundlage für sein nächstes Drehbuch. Nach eigener Aussage ist der Tod ein wiederkehrendes Thema in Amenábars Filmen (cf. Caparrós Lera 2007: 226). Dennoch beteuert dieser, dass Mar adentro gleichermaßen eine Reise ins Leben und in den Tod sei (cf. ibid.). Wie schon in allen anderen Filmen davor, schrieb Amenábar die Filmmusik für seinen vierten Spielfilm selbst (cf. id.: 227).
6.4.2 Synopse
Der Film Mar adentro erzählt die Geschichte des Tetraplegikers Ramón Sampedro, einem Mann mittleren Alters, der seit einem Badeunfall in seiner Jugend ans Bett gefesselt ist, und sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich sterben zu dürfen. Eines Tages stellt Gené, Ramóns Vertrauensperson des Vereins DMD (derecho a morir dignamente ), ihrem Klienten die Anwältin Julia vor, welche an einer degenerativen Erkrankung des Nervensystems leidet. Julia und ihr Kollege Marc reisen von Barcelona nach A Coruña um sich den Fall von Ramón näher anzusehen. Ramón bewohnt ein Zimmer im Haus seines Bruders José und dessen Frau Manuela,
54 die sich hingebungsvoll um ihren Schwager kümmert. Außer den dreien leben noch Ramóns Vater und der Neffe Javi auf dem bescheidenen Bauernhof. Julia und Marc verbringen mehrere Tage mit Ramón, Gené und der Familie, um sich ein Bild von Ramóns Situation zu machen. Bald kommt Rosa, eine alleinstehende Fabrikarbeiterin, zu Besuch. Sie hat über das Fernsehen von Ramón erfahren und wollte ihn unbedingt kennen lernen. Doch Ramón ist anfangs nur minder begeistert von seiner Verehrerin. Dennoch gelingt es Rosa nach und nach in das Alltagsgeschehen um Ramón eingebunden zu werden, und sich ihm anzunähern. Marc trifft sich mit Gené und zwischen den beiden entwickelt sich eine Liebesbeziehung. Julia zieht für längere Zeit auf den Bauernhof und arbeitet eng mit Ramón zusammen. Im Zuge dessen wird sie auf Ramóns Talent als Schriftsteller aufmerksam. Sie ermuntert Ramón dazu, seine alten Gedichte zu publizieren. Als schließlich Julias Krankheit wieder zuschlägt, muss diese wieder zurück nach Barcelona. Sie und Ramón halten Briefkontakt. Ramón arbeitet eifrig, mit Unterstützung seines Neffen, an der Überarbeitung seiner Texte. Als Ramóns Auftritt vor Gericht schließlich spruchreif wird, schaltet sich ein gewisser Padre Francisco – selbst Tertaplegiker – ein, der Ramóns Ansuchen vehement kritisiert. Als dieser Fall dann auch noch die Familie zu zerrütten droht, entschließt sich Ramón zu handeln – er lädt den Padre zum Schlagabtausch auf dem Bauernhof ein, um auch bald darauf vor dem Landesgericht zu erscheinen. Marc tritt hierbei als Ramóns Rechtsanwalt auf. Gené hat kurz zuvor ihren gemeinsamen Sohn zur Welt gebracht. Julia war zwischenzeitlich wieder bei Ramón zu Besuch, und es entsteht eine immer innigere Freundschaft zwischen den beiden. Dennoch ist es Rosa, die verstärkt Anspruch auf die Stellung als Ramóns Freundin erhebt. Ramón, der sie mittlerweile ins Herz geschlossen hat, betont die Ausweglosigkeit seiner Situation und dass der Mensch, der ihn wirklich liebe, ihm auch seinen Wunsch zu sterben erfüllen würde. Rosa will dies aber nicht wahr haben und bemüht sich weiterhin in derselben, fürsorglichen Weise um ihn. Ramóns Antrag wird bald darauf abgelehnt. Nach langem Hadern erklärt sich Rosa schließlich dazu bereit ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Ramón erhält ein Exemplar des fertigen Gedichtbandes mit einem Brief von Julia. Er schenkt das Buch seinem Neffen mit dem Hinweis, dass auch ihm ein Gedicht darin gewidmet ist. Ramón zieht bald darauf zu Rosa, direkt ans Meer, wo sie ihm schlussendlich ein Glas mit einer Zyankalilösung zubereitet. Eine Weile nach Ramóns Tod sucht Gené Julia auf, um ihr einen alten Brief von Ramón zu übergeben. Doch die Erkrankung hat bereits ihren Tribut gefordert und Julia kann sich nicht mehr an ihren Freund erinnern.
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6.4.3 Analyse des Visuellen
6.4.3.1 Filmplakat (Standfoto) vs. screen shot : r. 1
Für das Filmplakat von Mar adentro (s. Abb. 7) lässt sich im Film kein exaktes Äquivalent finden. Lediglich der weiße Pullover des Schauspielers gibt Aufschluss darüber, im Rahmen welcher Sequenz das Standfoto entstanden sein könnte. Die Auswahl viel hierbei auf die Sequenz (Nr. 49, siehe Einstellungsprotokoll) in der Ramón von der schwangeren Gené und ihrem Freund Marc besucht wird. Im screen shot (s. Abb. 8) ist daher der Babybauch von Gené links im Bild zu sehen.
Abb. 8
Abb. 7
Das Standfoto (s. Abb. 7) weist hierbei eine frappante Ähnlichkeit mit Ergebnissen aus der berufsfotografischen Praxis auf. Besonders auffällig ist hierbei, dass die Augen des Darstellers auf der Trennungslinie des oberen Bilddrittels liegen, was der klassischen Drittelregel 21 der Fotopraxis entspricht. Dieses Gestaltungsprinzip verspricht eine möglichst harmonische
21 Diese Gestaltungsregel der Fotografie besagt, dass der Bildausschnitt möglichst so gewählt sein sollte, dass sich die Augen einer Person auf der Begrenzungslinie des oberen Drittels bzw. im oberen Drittel des Bildes befinden (cf. http://synchronzeit.ch/2010/01/bildaufbau-fur-portraits-die-drittel-regel/).
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Bildwirkung. Dies steht in Verbindung mit einer leichten Aufsicht, in Position derer das Standfoto angefertigt wurde, wodurch die abgebildete Person etwas Erhabenes auszustrahlen scheint. Dieser Eindruck wird noch zusätzlich dadurch verstärkt, insofern das Foto für die Gestaltung des Filmplakats merklich retuschiert wurde: Durch den erhöhten Kontrast und die Verwendung eines Weichzeichners 22 erscheint das Gesicht des Protagonisten ungewöhnlich stark illuminiert und erhält dadurch einen eigentümlichen Charakter. Das Porträt des Darstellers wirkt hierbei seltsamerweise wie ein Heiligenbild. Was eine nicht gänzlich abwegige Assoziation zu sein scheint, insofern es sich in Mar adentro in erster Linie um die ethische sowie metaphysische Problematik des Leben- und Sterbenlassens dreht.
Trotz der starken Retusche des Fotos (s. Abb. 7), lässt sich dennoch mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass das Bild von vornherein unter Einwirkung von direktem Licht – in dem Fall Blitzlicht – in Kombination mit indirektem – also reflektiertem oder zerstreutem – Licht angefertigt wurde; eine übliche Vorgehensweise bei Porträtaufnahmen, um diese so optimal wie nur möglich auszuleuchten und schlussendlich ein qualitativ hochwertiges Ergebnis zu garantieren (cf. Feininger 1961: 216 ss.).
Die im screen shot (s. Abb. 8) dargestellte Sequenz wurde hingegen unter normalen Lichtbedingungen gedreht. In anderen Worten, die Beleuchtung entspricht der Wahrnehmung von Tageslicht und erweckt somit den Eindruck von Authentizität und Ausgewogenheit (cf. Bienk 2008: 68). In diesem Fall ist die erdachte Lichtquelle des source lighting 23 das Zimmerfenster, welches sich rechts vom Darsteller – im Off – befindet. Zudem verleiht die verhältnismäßig normale Lichtmenge und der weiche Kontrast dem Charakter eine sanfte Erscheinung. In dieser Sequenz schäkert Ramón mit Gené kurz nachdem er an ihrem Bauch lauschte um ein Lebenszeichen von ihrem Baby zu vernehmen. Das anrührende Moment der Situation wird also durch die sanfte Beleuchtung noch zusätzlich betont.
22 Was heutzutage meist mit einem digitalen Bildbearbeitungsprogramm gemacht wird, wurde in der Analog-Fotografie nur mit Zuhilfenahme eines Weichzeichner-Objektivs erreicht: Der sogenannte „Halo- Effekt“ – ein zart schimmernder Lichthof um das Objekt herum, wobei „ sich die Halo-Wirkung meist auf die hellsten Partien des Motivs beschränkt “ (Feininger 1961: 234). 23 Beim source lighting dient das verwendete Licht zur „ Aufrechterhaltung der Wirklichkeitsillusion und der Geschehenskohärenz “ (Bienk 2008: 69). Im Gegensatz dazu wird eine stilisierende Lichtgebung für die Erzeugung von Verfremdungseffekte eingesetzt.
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Abgesehen von der Lichtmenge fällt nach längerem Betrachten auch die bläuliche Lichtfarbe des screen shot ins Auge. Dabei wurde die kühle Lichttemperatur wahrscheinlich im Zuge der Postproduktion erzeugt oder mithilfe eines vor der Linse befestigen Farbfilters erzielt (cf. Bienk 2008: 71). Diese Blaufärbung evoziert zum einen ein Gefühl von Ruhe und Harmonie und symbolisiert nicht zuletzt auch das Element Wasser (cf. id.: 73). Letzteres steht in direktem Zusammenhang mit der Identität des Filmcharakters, als ehemaliger Seefahrer und Weltreisender, der dem Meer nach wie vor emotional stark verhaftet ist. Insofern werden auch die übrigen Filmbilder von der Farbe Blau dominiert.
Was zudem noch bei der Betrachtung des screen shot (s. Abb. 8) ins Auge sticht, ist der runde Bauch der Nebendarstellerin, der von links ins Bild ragt. Dieser dient zum einen als Hinweis auf die Anwesenheit der Dialogpartnerin im Raum und zum anderen gibt er dem Bild eine harmonische Note, insofern sich die Kontur des Bauches in der des runden Gesichts des Darstellers wiederholt; somit wird eine angenehme Rhythmisierung der Komposition erwirkt (cf. Bienk 2008: 46). Was zudem die Begrenzung des Bildkaders anbelangt, so liegt eine offene Form (s.o.) vor; die Dialogpartnerin, deren Anwesenheit links im Bild angedeutet ist, wird ebenso vor dem inneren Auge der Betrachterin vervollständigt, wie das Bett und das Zimmer in dem sich die Szene abspielt.
Hinsichtlich der Kadrierung ist anzumerken, dass der Kopf des Darstellers ganz klassisch seiner Blickrichtung entgegen – hier im Bereich der rechten, vertikalen Drittelungslinie – platziert ist; dies ist Voraussetzung dafür, dass im On noch genügend look space (Blickraum) vorhanden ist, um die Aufmerksamkeit – durch den Blick des Darstellers geführt – weg vom Charakter im On auf den im Off gelenkt wird (cf. id.: 40). Im Standfoto hingegen, ist der Protagonist – als einzige Person bzw. einziges Objekt im Bild – deutlich zentral positioniert. Dadurch und aufgrund des intensiven Charakters der Nahaufnahme wird die Aufmerksamkeit der Betrachterin auf Augen und Mund des abgebildeten Darstellers gelenkt. Generell scheint der Kopf des Darstellers aus dem Bild herauszuragen, insofern er sich stark vom stechend weißen Hintergrund bzw. vom hellen Pullover abhebt. Die deutlich plastische Wirkung des Gesichts wird dadurch noch zusätzlich verstärkt und erweckt den Eindruck man könne das Gesicht wahrhaft ergreifen. Schließlich ist es für eine nicht vorinformierte Kinobesucherin wahrscheinlich schwer zu sagen, ob der Mann auf dem Filmplakat lächelt oder einen traurigen Gesichtsausdruck hat. Erst in
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Verbindung mit dem Filmtitel – der ein Drama nahe legt – und nach der Rezeption des Films erhält die Betrachterin endgültig Aufschluss über den Gemütszustand der Person auf dem Standfoto. Ähnlich wie bei der Konzeption des Filmplakats zu My Life Without Me , wird hier darauf gebaut, dass die potentielle Kinobesucherin beginnt sich für die Person auf dem Foto zu interessieren und infolge ihre Neugierde auf den Film erweckt wird.
6.4.3.2 Standfoto vs. screen shot : r.2
Wie im voranstehenden Vergleich, war auch hier für das Standfoto (s. Abb. 9) kein inhaltlich deckungsgleicher Stehkader im Film zu finden. An der entsprechenden Stelle der Sequenz (Nr. 27, siehe Einstellungsprotokoll) ist der Protagonist in einer Rückblende als junger Mann zu sehen, der sich auf seinen Sprung ins Wasser vorbereitet.
Abb. 10
Abb. 9
Im Standfoto (s. Abb.9) ist der Darsteller exakt in der Bildmitte positioniert. Die gerade Körperhaltung und der feste Stand auf beiden Beinen verleihen dem Protagonisten einen
59 gefestigten Ausdruck. Seine Pose mutet gar heroisch an, was sich vor allem auch aus der leichten Untersicht ergibt. Durch die Positionierung des Kopfes im oberen Bilddrittel wird der Blick bei der Betrachtung zuerst auf Kopf und Oberkörper gelenkt. Der Blick des Protagonisten wirkt starr und konzentriert und ist scheinbar auf ein Objekt oder eine Person am Strand außerhalb des Bildes gerichtet. Dagegen mutet der Ausdruck des Protagonisten im screen shot (s. Abb. 10) versonnen und unnahbar an. Sein Blick ist hierbei auf das Meer gerichtet. Dies zeugt davon, dass das Standfoto bzw. das Filmbild aus zwei vollkommen unterschiedlichen – sich gegengesetzten – Perspektiven aufgenommen wurden. Auf dem Standfoto ist im Hintergrund unverkennbar das Meer zu sehen, während im screen shot die Küstenlandschaft angedeutet ist. Auf beiden Bildern ist zudem die Bewegung der Haare im Wind deutlich auszumachen. Dieser Aspekt bringt Unruhe in das allzu statische und glatte Standfoto (s. Abb.9) und verleiht dem Moment ein gewisses Maß an Dramatik. In anderen Worten, es wird Dynamik versinnbildlicht, gleichsam einer Vorwegnahme des bevorstehenden, verhängnisvollen Sprungs. Der Wind symbolisiert hier wohl auch die Rauheit des Meeres und bedeutet zugleich die emotionale Verbundenheit des Protagonisten mit demselben.
Im Gegensatz zur zentralen Ausrichtung der Person im Standfoto, befindet sich der Kopf des Darstellers im screen shot (s. Abb. 10) auf der linken Drittelungslinie des Kaders. Durch die beinah bildfüllende Abbildung des Kopfes als Großaufnahme ( close-up 24 ) kann allerdings auch im Stehkader eine zentrale Ausrichtung – insbesondere des Gesichts – erkannt werden. Der Blick des Filmcharakters geht knapp an der Kamera vorbei ins Off. Dabei ist im Kader gerade noch so viel look space (s.o.) gegeben, damit die Betrachterin die Blickrichtung gut ausmachen bzw. auf ihre Ausrichtung schließen kann.
Betrachtet man den Hintergrund etwas genauer, so wird erkennbar, dass die vom Meer gebildete horizontale Linie im Standfoto (s. Abb. 9) leicht schräg ist. Dabei wurde die Kamera wohl leicht nach links geneigt. Aufgrund des gekippten Horizonts entsteht der Eindruck von Dynamik, die Komposition wird aufgelockert und dem Bild ein Hauch von Spannung verliehen (cf. Bienk 2008: 58). Der Küstenstrich im Hintergrund des screen shot hingegen ist parallel zum oberen
24 Durch die Großaufnahme wird der Blick der Betrachterin auf den Kopf der abgebildeten Person konzentriert; es wird „ein Einblick in das Gefühlsleben des Dargestellten vermittelt, was die Figur einerseits charakterisiert, andererseits die Identifikation des Zuschauers mit ihr erhöhen kann“ (Hickethier 1993 zit. in: Bienk 2008: 56).
60 und unteren Bildrand ausgerichtet und deutet daher auf eine standardmäßige Ausrichtung der Kamera hin.
Was darüber hinaus das Standfoto (s. Abb. 9) ansprechend wirken lässt, ist die räumliche Tiefenwirkung, die aus ihm hervorgeht. Dabei heben sich die Konturen des dargestellten Körpers im Vordergrund klar vom Horizont ab. Auch der Felsboden im Mittelfeld des Bildes ist zum Großteil noch relativ scharf abgebildet. Meer und Himmel im Hintergrund sind dagegen stark verschwommen auszumachen. Diese Dreiteilung (s.o.) – und die durch sie entstehende Illusion räumlicher Tiefe – ergibt sich aus dem bestimmten Abstand zwischen der Kamera und der Person im Bild, sowie der richtigen Wahl eines Objektivs mit geeigneter Brennweite – d.h. mit großer Wahrscheinlichkeit wurde dieses Standfoto mit einem Teleobjektiv 25 aus entsprechender Entfernung aufgenommen (cf. Feininger 1961: 312). Im Vergleich hierzu wirkt das Bild des Stehkaders flach und eintönig.
6.4.3.3 Standfoto vs. screen shot : r.3
In diesem Vergleich sind sich Standfoto und screen shot kompositionell wieder sehr ähnlich. Der Stehkader ist der Sequenz (Nr. 55, siehe Einstellungsprotokoll) des Films entnommen, welche sich aus einem Szenenkomplex im Zeitraffer zusammensetzt. Der hier dargestellte Moment, beschränkt sich nur auf wenige Sekunden der Sequenz, in der Julia Ramón an ihrer Zigarette ziehen lässt und soeben dazu ansetzt, sie ihm wieder aus dem Mund zu nehmen.
Das wohl auffälligste Unterscheidungsmerkmal der beiden Bilder ist ihre Perspektive: Während die beiden Darsteller im Standfoto (s. Abb.11) in Seitenansicht zu sehen sind, zeugt der screen shot (s.Abb. 12) von einer Frontalsicht. Zudem erscheint die Darstellerin im Standfoto leicht erhöht positioniert. Im screen shot hingegen – welcher auf eine Aufnahme aus leichter Obersicht hindeutet – scheinen beide Darsteller sich auf gleicher Höhe zu befinden; nicht nur Wort wörtlich sondern auch im überertragenen Sinne. Das Personenverhältnis wirkt im screen shot verhältnismäßig harmonischer bzw. ausgeglichener.
25 Je nach Lichtstärke und Brennweitenbereich des Teleobjektivs lassen sich kleinste Details eines Motivs aus relativ großer Entfernung scharf abbilden. Der optische Zoom des Teleobjektivs ist dabei nicht mit dem digitalen Zoom moderner Kameras zu verwechseln (Anm. d. Verf.).
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Hierbei fallen bei der Betrachtung des Standfotos in erster Linie die Geste der Darstellerin sowie ihr Lächeln ins Auge. Die Aktion, der Handgriff der Person ist das wesentliche Moment, das hier dargestellt wird und daher sich auch im Bildzentrum abspielt. Zudem ist erkennbar, dass im Fall des Standfotos (s. Abb. 11) eine offene Form des Kaders vorliegt, insofern der Kopf des Darstellers, sowie der Rest beider Körper sich zum Großteil nicht im Bild befinden und das Bett sowie die Zimmereinrichtung im Hintergrund angedeutet sind. Es wirkt ganz so, als wäre das Foto zufällig aufgenommen worden, einem Schnappschuss gleich, um den Eindruck von Authentizität und Spontaneität zu erwecken. Bezüglich des screen shot (s. Abb. 12) verhält es sich ähnlich, obwohl durch die Nahaufnahme hier eher von einer geschlossene Form die Rede sein sollte. Dies ergibt sich daraus, insofern der Fokus erkennbar auf den Köpfen der Personen liegt, unter Aussparung von Details aus dem Hintergrund. Die handelnden Personen sind hierbei zentral im Bild positioniert, und was sich außerhalb der Bildgrenzen befindet scheint gänzlich unwichtig zu sein (cf. Bienk 2008: 48).
Abb. 12
Abb. 11
Hinsichtlich der Ausrichtung der Körper im Bild, ist aus dem Standfoto (s. Abb. 11) ersichtlich, dass beide, Körper und linker Arm der Darstellerin, auf einer diagonalen Linie liegen, was zusätzlich noch von einer Wiederholung in der schräge der Bettkante im Mittelfeld des Bildes verstärkt wird. Durch diese Diagonalen Linien wird das Bild dynamisiert und der Blick der
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Betrachterin aus diesem heraus gelenkt (cf. Bienk 2008: 46). Dem entspringt auch der Eindruck, dass sich Arm, Hand und Fingern der Darstellerin scheinbar in Bewegung befinden.
Für die kompositorische Offenheit des Standfotos (s. Abb. 11) spricht auch dessen Kadrierung: Die Köpfe der Filmcharaktere sind in der linken Bildhälfte – bzw. deren Gesichter auf der linken Drittelungslinie des Bildfeldes – positioniert. Somit konzentriert sich das Geschehen im Bildvordergrund auf die linke Bildhälfte und gibt den Blick auf den stark verschwommenen Hintergrund in der rechten Bildhälfte frei; dagegen heben sich die Konturen von Kopf, Schulter und Arm der Darstellerin sichtlich ab. Es entsteht der Effekt einer markanten Tiefe des Raumes (s.o.), wobei zugleich die Aufmerksamkeit der Betrachterin primär auf den Bildvordergrund gelenkt wird. Dieser Kniff der Aufmerksamkeitslenkung wird auch in Filmsequenzen – also im bewegten Bild – angewandt; eine Kameratechnik, bei der Details im Bild scharf gezogen werden, also ein Wechsel von der Fern- in die Nahsicht – und vice versa – vorgenommen wird (cf. Bienk 2008: 66s.). Somit wird nicht nur beiläufig die Wahrnehmung des menschlichen Auges imitiert, sondern eben auch die Aufmerksamkeit der Betrachterin auf eine Handlungsebene – von mehreren – im Bild gelenkt, insbesondere dann, wenn sie ihr Interesse explizit darauf richten sollte (cf. ibid.).
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6.5 Sequenzprotokolle
6.5.1 Sequenzprotokoll: My Life Without Me