Leonhard Ragaz 1868-1945

Autor(en): Lejeune, Robert

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Bündner Jahrbuch : Zeitschrift für Kunst, Kultur und Geschichte Graubündens

Band (Jahr): 10 (1968)

PDF erstellt am: 10.10.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-555585

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Leonhard Ragaz 1868—1945 Von Pfr. iîo&erl Le/eime

Leonhard Ragaz wurde am 28. Juli 1868 Biindnerheer im Mai 1499 in den Rücken in Tamms geboren. Die Herkunft aus diesem cler großen Schanze und des feindlichen Hee- Bauerndorf am Zusammenfluß des Vorder- res geführt hat. Und nicht zuletzt wurzelte er und Hinterrheins hat Ragazens Wesen stark in jener Eidgenossenschaft im Kleinen, zu der mitgeprägt und sich in seinem Leben man- Graubünden im Lauf seiner Geschichte aus nigfach ausgewirkt. In seinem autobiographi- den drei Bünden geworden ist. Ragaz spricht sehen Buch «Mein Weg», das - selbst von einem «religiös begründeten Bünd- Nadig nach dem Tode ihres Mannes auf nertum», das ihn beseelte und das besonders Grund der von diesem noch in seinen letz- stark zum Ausdruck kam, als er an der gro- ten Monaten in großer Hast hingeworfenen ßen Calvenfeier von 1899 als Pfarrer zu Sankt Manuskriptblätter herausgegeben hat, berich- Martin in die Festpredigt zu halten tete Ragaz eingehend über seine in hatte. Zeitlebens fühlte er sich in erster Linie verlebte Kindheit und Jugendzeit und gab als Bündner, gerade als solcher dann aber frei- seiner Schilderung den bezeichnenden Titel: lieh auch als Schweizer von ursprünglichem «Meine Naturwurzeln». Tatsächlich war er Gepräge. in diesem seinem Heimatboden tief verwur- Obschon Ragaz den größten Teil seines zeit: er wurzelte im eigentlichen Sinn dieses Lebens in der Stadt gelebt Hat — erst in Wortes in der bäuerlichen Dorfgemeinschaft Chur, dann in Basel und vom Jahre 1908 an mit ihren durch die Landwirtschaft gegebe- bis zu seinem im Jahre 1945 erfolgten Tode nen Lebensformen — der junge Leonhard in Zürich —, bewahrte er zeitlebens die Na- Ragaz selbst galt im Dorf als bester Mähder turverbundenheit des einstigen Bauernbuben. und als ein besonders zuverlässiger Hirt —, Er hatte ein ganz persönliches Verhältnis zu mit ihren auf dem ursprünglichen Gemein- den Blumen, zu den Bäumen und Wäldern; besitz beruhenden Traditionen und Rechten er liebte das Wasser, ob es als kleines Bäch- und mit ihrer lebendigen Demokratie sowie lein munter zu Tale eilte, ob es als wilder in der weithin noch unberührten Natur der Bergbach schäumend einherrauschte oder näheren Umgebung von Tamins, wobei das auch im jungen Rhein mächtig dahinströmte; einsame Maiensäß auf Runkels im Leben des auch die Berge seiner Heimat gehörten zu Knaben und jungen Burschen eine besonders seiner Welt, wobei der wuchtige Flimserstein wichtige Rolle spielte. recht eigentlich «sein» Berg war und für ihn Er wurzelte aber auch in der weiteren sozusagen den Berg überhaupt darstellte. Mit Bündner Heimat, die er auf vielen Wände- Franz von Assisi, den er tief verehrte, hätte rungen durch ihre Täler und über ihre Pässe er in dessen «Laudes creaturarum» — «Lau- durchstreifte und dabei gründlich kennen dato sie, mi signore, cum tuete le tue créa- lernte und mit deren Geschichte er sich eng ture!» — einstimmen und dabei auch seiner- vertraut machte — bezeichnend ist für den seits clen «frate sole», die «sor acqua» und jungen Ragaz, daß er nicht nur das Schlacht- die «sora nostra matre terra» mit ihrem fehl der Calvenschlacht genau studierte, son- Grase und all ihren bunten Blumen preisen dem sogar den Marsch wiederholte, der das können. In solch inniger Naturverbundenheit

15 hatte einst der heranwachsende Knabe die ben, und auch für die Gestaltung der Wirt- Einsamkeit und Stille von Runkels erlebt — schaft hatte der Genossenschaftsgedanke für «Ich habe nicht umsonst bis in meine alten ihn hohe Bedeutung — nach einem bekann- Tage fast jede Nacht davon geträumt», heißt ten Wort von Friedrich Naumann sollte auch es am Schluß jenes Kapitels über seine Na- auf diesem Gebiet der Arbeiter aus einem Un- turwurzeln —, und zeit seines Lebens war ein tertan zum mitverantwortlichen und mit- überaus starkes Bedürfnis nach Einsamkeit bestimmenden Bürger werden. und Stille ihm eigen. Dieses Leben mit der Diese freiheitliche Gesinnung hat Ragaz Natur kam aber auch immer wieder zur Gel- später zumal in Zeiten, da die freie Schweiz tung, wenn Ragaz fast ein halbes Jahrhundert von außen und innen bedroht war, immer lang seine Erholung in Parpan oben suchte wieder von neuem bezeugt. So richtete er bald und hier auch in den Zeiten intensiver schrift- nach Ausbruch des ersten Weltkrieges, als stellerischer Arbeit — von clen weit über tau- weite Kreise unseres Volkes der deutschen send Arbeiten, die ich in meiner Bibliogra- Propaganda zu erliegen schienen und ein un- pliie seiner Werke und Schriften aufführte, abhängiges schweizerisches Urteil vermissen ist ein wesentlicher Teil in Parpan entstan- ließen, unter dem bezeichnenden Pseudonym den — stets kleinere und größere Spaziergänge «Helveticus» einen Appell an das Schweizer- unternahm. Deshalb hat Ragaz aber auch volk und rief darin zu einem «Schweizer- ganz besonders unter tili den Zerstörungen Standpunkt» auf. Er hat damit die Parole gelitten, welche die fortschreitende Technik ausgegeben, unter der Carl Spitteier einige in der Natur anrichtete: Wie er der Technik Monate später seine mutige und weithin De- überhaupt mit tiefer Skepsis gegenüberstand achtete Rede hielt. In einer Reihe von Arti- und ihren Siegeszug eher mit bangen Be- kein in der von Ernst Bovet herausgegebenen fürchtungen als mit unbeschwerter Begeiste- Zeitschrift «Wissen und Leben» — bald dar- das rung verfolgte, so wurde ihm schon Auto, auf auch in einer besonderen Broschüre — das dem heutigen Menschen zur Selbstver- setzte er sich für «die geistige Unabhängigkeit ständlichkeit, ja zu einer Art moderner «Na- der Schweiz» ein. Seinen stärksten Ausdruck türlichkeit» geworden ist, zum schweren Är- aber fand dieser Kampf um eine ihrem Ur- gernis, als es nach hartnäckigem Widerstand sprung und Sinn entsprechende Schweiz in des Bündnervolkes schließlich auch in Grau- seinem aufrüttelnden Buche «Die neue bünden Eingang fand unci die erhabene Stille Schweiz — ein Programm für Schweizer und der Lenzerheide für immer verscheuchte. solche, die es werden wollen». Wie zeitgemäß Mit Ragazens ursprünglichem Bündnertum dieses wohl populärste Buch von Leonhard hängt auch seine starke Leidenschaft für die Ragaz damals war, zeigte das unerwartet Freiheit zusammen. Das Erlebnis einer ge- starke Echo: in kürzester Zeit erlebte es vier lebten Demokratie in der heimatlichen Dorf- Auflagen und wurde auch ins Franzö >isclie gemeinschaft, wie er es in seiner Autobiogra- und Italienische übersetzt. Und noch einmal pliie schilderte, hat irgendwie sein ganzes po- trat Ragaz als großer Mahner seines Volkes litisches Denken und Fühlen mitbestimmt. hervor, als in den dreißiger Jahren der deut- Als freier Bürger eines freien Volkes — und sehe Nationalsozialismus zur großen geistigen «Alt fry Rhätien» war für ihn nicht zum blo- und damit vollends auch äußeren Bedrohung Ben historischen Begriff geworden — blieb er der Schweiz wurde: angesichts der fragwür- zeitlebens der urwüchsige Demokrat, dem aller digen «Erneuerer», die damals unter uns auf- Etatismus und Bürokratismus, aller Zentralis- traten, und all der verschiedenen «Fronten», mus und jegliche Art von Totalitäre mus in denen Hitlers Machtergreifung Auftrieb gege- der Seele zuwider war. So kämpfte er sein Le- ben hatte, gab er seine Schrift «Die Erneue- ben lang leidenschaftlich für die Verwirk- rung der Schweiz» als «ein Wort zur Besinn- lichung echter Demokratie im politischen Le- nung» heraus. Wie er schon während des er-

16 Leonhard Ragaz

Bildnis aus der Basler Zeit von H ch. Altherr

sten Weltkrieges der einseitig militärisch ver- Kirchenrates über das Jahr 1945, das Todes- stanclenen Landesverteidigung eine «geistige jähr von Leonhard Ragaz — Ähnliches dürfte Landesverteidigung» gegenübergestellt hatte auch im entsprechenden Bericht an die Bünd- — es sei dahingestellt, ob es Leonhard Ragaz ner Synode registriert worden sein, da Ragaz gewesen ist, der damals diesen heute geläufi- ja jahrelang auch im Dienst der Bündner gen Begriff geprägt —, so stand er auch jetzt, Kirche gestanden hat — mit folgenden Daten wo diese geistige Landesverteidigung ange- umschrieben wurde: «Ordiniert 1890 — übri- sichts der Bedrohung durch das «Dritte gens an der Synode von Cliur —; Pfarrer in Reich» besonders dringlich wurde, stets an 1890—1893; Religionslehrer an der vorderster Front. Kantonsschule in Chur 1893—1895; Pfarrer Doch — so wesentlich sein Bündner- unci zu St. Martin in Chur 1895—1902; Pfarrer am Schweizertum zu Ragazens Person und Leben Münster in Basel 1902—1908; Professor an cler gehört — seine Bedeutung reicht weit dar- theologischen Fakultät der Universität Zürich über hinaus: wie der Bündner und Schweizer 1908 bis zum Rücktritt 1921; von 1921 bis Leonhard Ragaz müßte auch der «Sozialist» zum Tode Leiter eines religiös-sozialen Settie- und «Pazifist», ganz besonders aber der ments in Außersihl.» «Christ» Ragaz Erwähnung und Würdigung Gewiß, in diesen knappen Angaben ist finden, wobei wir uns freilich cler Fragwür- wohl alles erwähnt worden, was den äußeren digkeit all solcher Bezeichnungen gerade in Rahmen von Ragazens Leben bildete. Dieses ihrer Anwendung auf Ragaz durchaus bewußt Leben läßt sich aber überhaupt nicht ein- sind. Über das Wesentliche seines Lebens und spannen in den Rahmen eines Pfarrers, Re- Wirkens ist aber auch recht wenig gesagt, ligionslehrers, Theologieprofessors und Lei- wenn dieses im Jahresbericht des Zürcher ters eines «Settlements». Ragaz ist zwar dies

17 alles seinerzeit gewesen, und zeit seines Le- sondern «Bekenner», was ja der ursprüng- bens nannten ihn auch die meisten Leute liehe Sinn dieses Wortes ist. Wie Christoph mit einem dieser Titel «Herr Pfarrer», «Herr Blumhardt sich seinerzeit dagegen wehrte, Professor» oder auch «Herr Doktor», nach- daß man ihn einen «berühmten Prediger» dem die LTniversität Genf ihn mit dem theo- nannte — «Ich möchte nicht bloß so ein Red- logischen Ehrendoktor ausgezeichnet hatte. ner vor euch sein — ich bin überhaupt kein Aber sooft wir einen dieser Titel auf die Lip- Redner und will's auch nicht sein! — ich pen nahmen, fühlten wir das Unangemessene, möchte als Zeuge vor euch stehen» —, so ja beinahe etwas Komische dieser Benennun- wollte auch Ragaz als Zeuge und Kämpfer gen. verstanden werden. Das war er auch tatsäch- Leonhard Ragaz war Theologe, unci wenn lieh: ein Wahrheitszeuge und ein Gottesstrei- er gut dreißig Jahre lang als Pfarrer und ter. Mit seinem Glauben und Hoffen, mit sei- theologischer Lehrer gewirkt hat, entsprach nein Wirken und Kämpfen stellte er sich mit- dies durchaus einer besonderen Berufung. Es ten in die Zeit, nahm verantwortungsbewußt ist ja auch bezeichnend, daß er noch nach teil an der aktuellen Geschichte und sah sei- seinem Rücktritt von der Professur auch als nen Auftrag darin, den «Kampf der Zeit» zu Leiter jenes «religiös-sozialen Settlements» — führen, wie er auch seiner Zeitschrift «Neue oder sagen wir lieber unci einfacher: als Lei- Wege» anstelle des früheren Untertitels — ter des von ihm begründeten Heims von «Ar- «Blätter für religiöse Wahrheit» — den neuen, beit und Bildung» an der Gartenhofstraße in weit zutreffenderen gegeben hat: «Blätter für Zürich — und als freier Schriftsteller die Aus- den Kampf der Zeit». Aufmerksam achtete er legung der Bibel in den Mittelpunkt seiner auf die «Zeichen der Zeit» und suchte sie von Tätigkeit stellte. Aber in allen seinen Stellun- seinem Glauben her zu deuten; je und je gen — als Theologieprofessor so gut wie ah nahm er Stellung zu den brennenden Zeit- Leiter seines Volksbildungsheims — sprengte fragen und setzte sich leidenschaftlich für die er den Rahmen der Theologie und führte Wahrheit ein, die hier und jetzt zur Verwirk- sogar zeitlebens einen eigentlichen Kampf lichung drängte. gegen die Theologie. «Wir treiben Theologie, Diese aktive Teilnahme am Geschehen un- um diese aufzuheben» — so lehrte er uns Stu- serer Zeit stand bei Ragaz in engstem Zusam- deuten schon in der ersten Stunde seiner Vor- menhang mit seinem Glauben: immer war es lesung über «Dogmatik». Nicht um die Dog- sein Verständnis Gottes und seines Willens, matisierung und Systematisierung des christ- das ihn in die Wirklichkeit dieser Welt hin- liehen Glaubens ging es ihm, sondern er sah einführte und hier nach dem Sinn der inten- umgekehrt eine wesentliche Aufgabe des siv erlebten Zeit suchen ließ. Die entschei- Theologen gerade darin, die in den alten elende Wahrheit, die sich ihm in der Mitte Dogmen eingeschlossene Wahrheit aus ihren seines Lebens erschlossen hat und die fortan Fesseln zu befreien. Lind als er nach 13jähri- sein Glauben und Denken bestimmte, die ihn ger erfolgreicher akademischer Tätigkeit das den Sinn der Bibel immer tiefer und leben- Katheder mit dem einfachen Tisch im schlich- diger verstehen ließ und ihm für die mannig- ten Saal cles «Gartenhofs» — mitten im Arbei- fachen Probleme unserer Zeit die wahre Lö- terquartier Außersihl — vertauschte, brachte sung zeigte, war die biblische Botschaft vom er mit diesem aufsehenerregenden Schritt ge- Reiche Gottes. Gewiß, Ragaz hat die Bibel radezu zeichenhaft zum Ausdruck, daß er auch schon vorher gekannt: im ersten Win- nicht mehr junge Theologen für clen Kir- ter seines Pfarramts in Flerden am Heinzen- chendienst heranbilden, sondern unabhängig berg saß er täglich schon um fünf Uhr in der von Kirche und Staat in freier Weltlichkeit Morgenfrühe an seinem Tisch und las bis allem Volke die frohe Botschaft verkünden zum Frühstück eifrig die Bibel und zwar vom wolle. Ragaz wollte nicht «Professor» sein, ersten Wort der Bibel — «Am Anfang schuf

18 Geburtshaus von Leonhard Ragaz in Tamins

Gott Himmel und Erde» — bis zum letzten: Erlebnis meines Daseins. Es hat ihm immer «Komm, Herr Jesu!», und bei dieser ersten mehr die Richtung gegeben, hat mein Schick- wirklichen Begegnung ist die Bibel ihm leben- sal bestimmt. Und es ist die große Freude, dig geworden. Er hat auch schon als Pfarrer das überschwängliche Glück meines Lebens, zu St. Martin in Ghur und in seiner ersten sein nie aufhörender Frühling geworden.» Basler Zeit als Pfarrer am dortigen Münster Tatsächlich stand der Glaube an das Reich immer wieder Predigten gehalten, die durch Gottes fortan im Zentrum von Ragazens Den- ihren Gehalt an echt biblischer Wahrheit ken, seiner Verkündigung und LTnterweisung viele Menschen aufhorchen ließen. Aber erst in Wort und Schrift; er stand auch hinter während seiner Basler Jahre wurde ihm jene seiner ganzen Haltung und seiner jeweiligen entscheidende Erkenntnis geschenkt. Was Stellungnahme in der konkreten Situation. diese für ihn bedeutete, hat er selbst in sei- Hätte Ragaz je versucht, seinem Glauben ner Autobiographie — unter der vielsagenden eine bekenntnishafte Form zu geben, ihn in Überschrift «Das große Erlebnis» — ausgespro- einem «Credo» auszudrücken, was er indessen eben: «Da geschah die große Wendung: der bis zuletzt mit aller Entschiedenheit abge- Aufbruch des Glaubens an das Reich Gottes lehnt hat, so wäre als wesentliche Aussage als Kern und Stern der Bibel und der Sache eines solchen Bekenntnisses einzig der Glaube Christi. Diese Wendung war ein Wunder — an das Reich Gottes in Frage gekommen. Und es war ein Aufbrechen der mächtigen Gottes- wie er selten das Wort «Reich Gottes» aus- quelle mitten in der Wüste. Ich habe diesen gesprochen hat, ohne mit einer beinahe pe- Glauben an das Reich nicht von anderen dantischen Nachdrücklichkeit noch die Worte übernommen, weder aus Büchern noch von «für die Erde» hinzuzufügen oder — im An- Personen, nicht einmal unmittelbar aus der schluß an eine zentrale Weisung Jesu in der Bibel — er hat mir vielmehr die Bibel erst er- Bergpredigt — ausdrücklich vom Reiche Got- schlössen. Er ist mir, als ureigenstes Erleben, tes «und seiner Gerechtigkeit» zu reden, so unmittelbar von Gott gekommen. Ich habe hätte diese wichtige Konkretisierung in einer ihn auch nicht, wie die Meinung ist, von solchen bekenntnishaften Aussage nicht feil- Blumhardt übernommen, — von ihm wußte len dürfen. Denn das Reich Gottes, dem sein i.h damals so gut wie nichts. Es ist das große Glaube galt, bedeutete für ihn zugleich das

19 wahre Reich des Menschen, in welchem Ge- trachtungen aus den «Neuen Wegen» er- rechtigkeit, Friede, wahre Freiheit und echte schien unter dem Titel «Das Reich und die Gemeinschaft herrschen und wo cler Wille Nachfolge», und sogar für zwei Bücherwählte Gottes «auf Erden wie im Flimmel» geschieht. er den Titel «Die Botschaft vom Reiche Got- Nicht bloß im festummauerten «Raum der tes» und unterschied sie voneinander nur Kirche», von denen Theologen und Kirchen- durch die beigefügten Untertitel: «Ein reli- manner so gerne reden, will Gott mit seiner giös-soziales Bekenntnis» und «Ein Kateclris- Wahrheit zur Geltung kommen: es gibt auch mus für Erwachsene». Und was so schon in einen Willen Gottes in der «FFelt», und kein einer Reihe von Büchertiteln zum Ausdruck Gebiet des menschlichen Lebens darf dem kam, das bildete auch ohne solche Titel den Herrschaftsanspruch Gottes entzogen und sei- Grundgedanken in seinem gesprochenen und ner «Eigengesetzlichkeit» überlassen werden. geschriebenen Worte und macht auch die «/» der Welt und /ür die Welt soll das Reich Eigenart seiner Bibelauslegung aus, wie sie Gottes kommen, das nicht cor« der Welt ist. — abgesehen von den mehr als zweihundert Diese Welt ist als Gottes Schöpfung voll gött- Betrachtungen in den «Neuen Wegen» und lieber Möglichkeiten — daß sie heraustreten, einigen kleineren Schriften — in seinen Bü- darin besteht das Kommen des Reiches.» So ehern über die Bergpredigt und über die betonte Ragaz in einem Vortrag an der Gleichnisse Jesu und vollends in dem erst christlichen Studentenkonferenz in Aarau nach seinem Tode erschienenen großen Bi- vom Frühjahr 1912. belwerk «Die Bibel — eine Deutung» nieder- Wie sehr es Ragaz stets um die eine große gelegt ist. Aber auch dort, wo Ragaz in ori- Sache des Reiches Gottes ging, deuten schon gineller Weise einen Abriß der sogenannten einige Titel seiner Bücher an: Eine Samm- «Kirchengeschichte» gibt, stellt diese gerade lung seiner in den Jahren 1904—1908 im keine ÄffVc/rnngeschichte und keine Dogmen- Basler Münster gehaltenen Predigten stellte er geschichte, keine «Geschichte der theologi- unter die Bitte des Unservaters «Dein Reich sehen Lehrmeinungen» oder wie immer die komme!», wie auch seine Basler Abschieds- üblichen Titel lauten mögen, sondern eine predigt unter diesem Titel stand*. Im Jahre «Geschichte der Sache Christi» dar. Er geht 1922 gab er unter dem Titel «Weltreich, Re- darin den verschiedenen Durchbrüchen der ligion und Gottesherrschaft» ein zweibändiges Wahrheit des Reiches Gottes nach und hebt Sammelwerk mit Aufsätzen aus den Jahren im breiten Strom der Geschichte jene Gestal- des ersten Weltkrieges heraus. Sein Blum- ten und Bewegungen hervor, die für das Wer- hardt-Buch, das er bald nach dem Tode Chri- den und den schließlichen Sieg der Sache stoph Blumhardts geschrieben und in dem er Christi von besonderer Bedeutung waren. erstmals zugleich seinen eigenen Glauben in Den Spuren des Schaffens des lebendigen umfassender Weise dargelegt hat, trägt den Gottes in der Geschichte nachzugehen und im etwas umständlich anmutenden, aber gerade Geschehen der Zeit auf das «Tun der Hände in solcher Umständlichkeit höchst bezeich- Jahwes» zu achten, das war ja stets Ragazens nenden Titel: «Der Kampf um das Reich wesentliches Anliegen. Denn auch in der Gottes bei Blumhardt, Vater und Sohn — Welt ist Gott am Werk — hier seinen Willen und weiter!» Eine spätere Sammlung von Be- erkennen und von diesem sich leiten lassen, das hieß für ihn an Gott glauben, auf Gottes * Es mag interessieren, daß diese Predigten damals Wort hören und Gott dienen. Was Christoph auch ins Dänische und Schwedische übersetzt wurden Blumhardt, dem Ragaz einige Jahre nach — Ragaz hatte in Skandinavien viele Freunde und Anhänger —, wie überhaupt eine ganze Anzahl sei- jenem großen Erlebnis erstmals begegnete ner Bücher und Schritten auch in französischer, italie- und bei dem er eine vollmächtige Bestätigung .nischer, holländischer — vereinzelte englischer, Sprache der ihm geschenkten Wahrheit fand, einmal auch in tschechischer, finnischer und sogar hebräischer — erschienen ist. von seinem Vater gesagt hat, darf sehr wohl

20 Das Kirchlein von Flerden, der ersten Pfarrei von Leonhard Ragaz

auch von Leonhard Ragaz gesagt werden: und richtete an das Kirchenvolk die mahnen- «Das Werden Gottes auf Erden, das Werden den Worte: «Wenn das offizielle Christentum seines Willens bestimmte all sein Denken kalt und verständnislos dem Werden einer und Handeln.» neuen Welt zuschauen wollte, die doch aus Bei seinem Achten auf die «Zeichen der dem Herzen des Evangeliums hervorgegangen Zeit» erkannte Leonhard Ragaz insbesondere ist, dann wäre das Salz der Erde faul gewor- in der sozialen Frage, die von frommen Chri- den.» Die Predigt, die der sozialdemokratische stenleuten geringschätzig als «bloße Magen- «Vorwärts» in einem Leitartikel wiedergab, frage» gewertet wurde, eine an unser Ge- erregte großes Aufsehen und brachte Ragaz schlecht gerichtete Gottesfrage. Schon in sei- neben warmer Zustimmung auch heftige Geg- ncr Churer Zeit beschäftigte er sich mit die- nerschaft. Nach intensiver Beschäftigung mit ser Frage und nahm bereits auch Fühlung der ganzen sozialen Frage hielt Ragaz im mit dem dortigen Grütliverein, dieser typisch Herbst 1 906 vor der Schweizerischen Prediger- schweizerischen Form der sozialistischen Be- gesellschaft, dem heutigen Schweizerischen re- wegung. Das «Kapital» von Karl Marx, das formierten Pfarrverein, seinen weithin beach- die Churer Griitlianer ihm als Dank für teten Vortrag über das Thema «Das Evan- seine Mitwirkung an einer Feier und für gelium und der soziale Kampf der Gegen- seine gelegentliche Bildungsarbeit geschenkt wart», der noch im gleichen Jahre auch im hatten, hielt er in großen Ehren und wurde Druck erschien und zusammen mit Hermann bei dessen Studium vor allem durch die Schil- Kutters aufrüttelnder Schrift «Sie müssen!» derungen der Lage des Arbeiters im engli- den Anstoß zur Gründung der «Religiös-sozia- sehen Frühkapitalismus im Tiefsten erschü- len Bewegung» gab. Wie es dieser Name vor tert. Zum eigentlichen Durchbruch kam seine allem durch den Bindestrich zwischen «reli- sozialistische Gesinnung aber erst in Basel. giös» und «sozial» ausdrücken wollte, ging es Anläßlich eines Maurerstreiks im Frühjahr dabei wesentlich um eine Verbindung zwi- 1903 nahm Ragaz in einer Predigt Stellung sehen der Welt des Glaubens und der Welt zu diesem großen Arbeitskonflikt, bezeichnete des — im weitesten Sinn verstandenen — So- darin die soziale Bewegung als das weitaus zialen. Leonhard Regaz wurde zum Verkün- Wichtigste, was sich in unseren Tagen zutrage, der und Vertreter eines religiös begründeten

21 Sozialismus, eines «Sozialismus aus dem Glau- stand, gleichsam «Fleisch» werden wollte. Der ben» und nahm als solcher im In- und Aus- Kampf um den Frieden wurde für Ragaz zum land eine eigentliche Führerstellung ein. Hin- großen Gebot der Stunde, und er selber ter der sozialistischen Bewegung seiner Zeit wurde zu einem der bedeutendsten Vorkämp- erkannte Ragaz einen messianischen Zug, und fer in diesem Kampfe. In Wilsons Plan eines als er einige Jahre später der sozialdemokra- Völkerbundes erblickte er die rettende Idee, tischen Partei beitrat, hätte er den Sinn die- und als diese Idee nach Kriegsende zu einer ses Schrittes wie eleu- — zunächst gewiß noch recht fragwürdigen — ten können: «Ich verbinde mich mit der Realität wurde, setzte er sich mit ganzer Hin- Sehnsucht nach einer neuen Zeit, nicht mit gäbe für den Beitritt der Schweiz in den jun- der Partei.» Wesentlich in der sozialistischen gen Völkerbund ein. Während seine Kampf- Bewegung war ihm die Hoffnung auf eine genossen Ernest Bovet, August Egger, Max «neue Erde, in der Gerechtigkeit wohnt», der Huber u. a. vor allem im bürgerlichen Lager Kampf um eine neue Wirtschafts- und Gesell- für diesen Beitritt warben, wandte sich Ragaz schaftsordnung, in deren Mittelpunkt der im besondern an die Arbeiterschaft, deren po- Mensch und nicht das Geld stehen und die litische Führung im Abstimmungskampf die sich am Wohl der Gemeinschaft und nicht Verwerfungsparole ausgegeben hatte. Raga- am privaten Interesse des Einzelnen orientie- zens persönliche Verbindung mit Wilson, wie ren sollte. Aus der Bibel selbst trat ihm die auch seine Freundschaft mit Arthur Elender- soziale Botschaft als wichtiger Teil der gro- son und Thomas Masaryk, welch letzterer Ben Botschaft vom Reiche Gottes entgegen, ein regelmäßiger Leser der «Neuen Wege» und es gehörte mit zu seiner theologischen war, geht auf den gemeinsamen Kampf für Arbeit, diese Botschaft aufzuzeigen; denn die Sache des Friedens in jenen entschei- nicht bloß dem Seelenheil des Einzelnen gilt dungsvollen Zeiten zurück. Es war auch kaum das Evangelium, wie das bisherige Christen- ein bloßer Zufall, wenn die Universität Genf tum in einseitigem Individualismus lehrte — Woodrow Wilson und Leonhard Ragaz gleich- die Erlösung, die Jesus Christus den Men- zeitig zu Ehrendoktoren ernannte, wie Ragaz sehen bringen will, umfaßt auch das mate- auch besonders berufen war, nach Wilsons rielle, das wirtschaftliche, das soziale, das po- Tod bei der Zürcher Gedenkfeier clem gro- litische, überhaupt das ganze Leben des Men- ßen amerikanischen Staatsmann die Gedenk- sehen. rede zu halten. In engem Zusammenhang mit Als der erste Weltkrieg entbrannt war, rang seinem Kampf für den Frieden und für den Leonhard Ragaz von Anfang an um die Er- Völkerbund vertrat Ragaz unter viel Wider- kenntnis eines Sinnes in all dem furchtbaren, spruch und Anfeindung auch den Gedanken unheilvollen Geschehen. «Das Gericht», einer internationalen Abrüstung und mutete «Über die Ursache des Krieges», «Der Weg bis zu der von Arthur Henderson präsidier- des Friedens» — unter diesen bezeichnenden ten Genfer Abrüstungskonferenz vom Jahre Titeln erschienen schon in den ersten Kriegs- 1932 auch dem Schweizervolk einen ersten monaten in den «Neuen Wegen» einige sehr tapferen Schritt auf diesem neuen Wege zu. bedeutende Aufsätze, denen im ersten Kriegs- In einer größeren Schrift «Die Abrüstung als winter Ragazens Vortrag «Über den Sinn des Mission der Schweiz» vertrat er den Stand- Krieges» vor der Zürcher Studentenschaft punkt, daß eine internationale Rechtsordnung folgte. Auch der Krieg erschien Ragaz als ein mit ihrer kollektiven Sicherheit und einer «Zeichen der Zeit», das in Gericht und Gnade allgemeinen Abrüstung gerade für ein kleines den Menschen zeigen sollte, daß die ewige Volk die zuverlässigste Garantie der eigenen Wahrheit des Friedens in die Zeit eingehen, Existenz bedeute. Das klägliche Scheitern daß das Verheißungswort «Friede auf Erden!», jener Genfer Konferenz bedeutete für ihn das über dem Erscheinen Christi auf Erden eine herbe Enttäuschung, und mit dunklen Ahnungen schaute er seit diesem Entschei- Abessinien seinen Höhepunkt: im Auftrag des dungsjahr mit seinen ungenutzten Chancen Internationalen Bundes Religiöser Sozialisten in die Zukunft. verfaßte Ragaz ein von höchstem Ernst getra- Einen heftigen Kampf führte Ragaz in all genes Manifest — «Letzter Appell an die Chri- diesen Jahren gegen die verschiedenen totali- stenheit» —, das in deutscher, französischer tären Bewegungen, ob sie nun in kommunisti- und englischer Sprache verbreitet wurde. An scher, in faschistischer oder in nationalsozia- der enttäuschenden Stellungnahme des Völ- listischer Gestalt auftraten und ihre kollek- kerbuncles in diesem Konflikt, durch die ein tivierte Gesellschaft, ihren Staat oder ihre kleiner Staat dem imperialistischen Wahn Nation zum absoluten Wert erhoben. In sei- eines Großen geopfert und der Völkerbund ner Leidenschaft für die Freiheit bekämpfte er selbst aufs schwerste kompromittiert wurde, im Totalitarismus den Todfeind aller Demo- übte Ragaz herbe Kritik und geißelte dabei kratie und die schlimmste Bedrohung des insbesondere die zweideutige Haltung der Weltfriedens. In jenen wahrhaft apokalypti- Schweiz und ihres Vertreters in Genf, Bundes- sehen Zeiten wurde ihm die Offenbarung des rat Motta, in einem fulminanten Artikel: Johannes zum aktuellsten Buch der Bibel, und «Die Schande der Schweiz.» das vergötzte Kollektiv, zumal der totale In den fahren aber, da Hitler die größte Staat, erschien ihm als das «Tier aus clem Gefahr für die Schweiz heraufbeschwor, wurde Abgrund». Ragaz zu einer markanten Verkörperung des In seiner Auseinandersetzung mit dem Konr Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. munismus spielte der Kampf um den An- Die wachsende Bedrohung Europas durch das Schluß der schweizerischen sozialdemokrati- «Dritte Reich» bis zum unheilvollen «Frieden sehen Partei an die Dritte Internationale von München» rief den leidenschaftlichen noch eine besondere Rolle: Ragaz, dem jede Kämpfer für Recht, Frieden und Freiheit Diktatur verhaßt war, wandte sich mit aller immer wieder — sozusagen Monat für Monat Schärfe auch gegen die «Diktatur des Proie- — auf den Plan, bis dann die nach Kriegsaus- tariats». Sein Auftreten in Wort und Schrift bruch inthronisierte Militärzensur von ihrer — besonders auch seine weithin beachtete Macht Gebrauch machte und im Frühjahr Schrift «Sozialismus und Gewalt» — dürfte 194! über die «Neuen Wege» die Vorzensur nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, verhängte und dem ihr längst unbequemen daß das sozialistische Parteivolk in einer Ur- Mahner das freie Wort entzog. Ragaz, dem abstimmung den Beitritt zur Dritten Inter- es unerträglich gewesen wäre, seine Zeitschrift nationale mit großer Mehrheit ablehnte, jeweils erst irgendwelchen subalternen Zen- nachdem der Parteitag diesen bereits beschlos- surbeamten zur Genehmigung zu unterbrei- sen hatte. Durch seine entschiedene und offen- ten, verzichtete unverzüglich auf das öffent- bar auch erfolgreiche Stellungnahme machte liehe Erscheinen seiner Zeitschrift, so schwer sich Ragaz freilich maßgebende Arbeiterfüh- es ihm fiel, gerade in solch entscheidungsvol- rer wie Robert Grimm und Fritz Platten zu len Zeiten zum Schweigen verurteilt zu sein. heftigen Gegnern; weit schmerzlicher aber be- Es wirkt heute noch bemühend, daß die zu- rührte es ihn, daß er sich in jenem Kampfe ständigen Instanzen erst nach der geglückten auch weite Kreise der Arbeiterschaft entfrem- Landung der Alliierten in Frankreich und an- dete, die an eine Verwirklichung des Sozialis- gesichts des ungestümen Vormarsches der rus- mus durch den russischen Kommunismus sischen Armeen gegen die deutschen Grenzen glaubten. sich endlich bereit fanden, die über diesen Ragazens Kampf gegen Mussolini und den großen Schweizer verhängte Maßnahme wie- Faschismus, der in jenen Jahren stets parallel der aufzuheben. zum Kampf gegen den Bolschewismus lief, Als gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erreichte mit dem italienischen Überfall auf der amerikanische Präsident Roosevelt den Gedanken einer neuen Friedensordnung ver- einander zu halten. Sein zentrales Anliegen trat und diese Idee kurz nach seinem plötz- aber, das auch hinter seiner Einstellung zum liehen Hinschied an de'r Konferenz von San Weltgeschehen und seiner Stellungnahme zu Franzisko Gestalt anzunehmen verhieß, be- den brennenden Zeitfragen stand, blieb un- grüßte Ragaz diese «Auferstehung des Völ- beachtet. Und doch bestimmte Ragazens kerbundes» in der neuen «U. N. O», den Glaube an das Reich Gottes je und je auch «Vereinten Nationen», dieser «Eidgenossen- seine Haltung in der «Welt», unci auch seine «chaft der Völker», als den Regenbogen über politischen Entscheidungen bedeuteten letzt- der Sintflut cles Krieges und dem grauenvol- lieh nichts anderes als ein «Trachten nach len Chaos von Tod und Zerstörung, den die- dem Reiche Gottes unci seiner Gerechtigkeit». ser zurückgelassen hatte. Wiederum stellte er Sein Bekenntnis zum Sozialismus, sein Kampf sich mit der ganzen Kraft seines Glaubens um den Frieden, sein Eintreten für den Völ- und Hoffens hinter diese rettende Iclee und kerbund und für die Abrüstung, seine leiden- den neuen Versuch ihrer Realisierung. Und schaftliche Verteidigung der Demokratie ge- als dann bald darauf — nur wenige Monate gen jegliche Diktatur — nicht zuletzt auch vor Ragazens eigenem Tod — die Atombombe gegen die Diktatur des Proletariates —, seine auf Hiroshima abgeworfen wurde und unvor- vehemente Ablehnung des Faschismus und stellbare Zerstörung anrichtete, verstand Ra- Nationalsozialismus und anderes mehr moch- gaz auch dieses «Wunder des Satans» als er- ten zwar zu Zeiten stärker hervortreten und schlitterndes Zeichen, das die Menschheit vor seinem Leben in besonderen geschichtlichen die letzte Entscheidung stellen sollte: Entwe- Situationen — von außen gesehen — das Ge- der Umkehr vom alten Weg des Krieges und präge geben: immer wurde solch konkretes entschlossenes Vorwärtsschreiten auf dem Zeugen und Kämpfen aber von jenem Glau- neuen Weg des Friedens — das aber heißt: ben an das Reich Gottes getragen, der seinem Ernstmachen mit der Errichtung einer Ord- Leben tatsächlich die Richtung gegeben hat. nung des Rechts auch im Völkerleben, Ver- Soziale Not und sozialistische Bewegung, wirklichung der kollektiven Sicherheit durch Weltkrieg und Kampf um den Frieden, Dik- einen neuen, handlungsfähigen Völkerbund tatur, totaler Staat — diese und ähnliche Ge- und eine allgemeine Abrüstung — oder Wei- schehnisse auf der weiten Weltbühne wurden •tertaumeln auf dem bisherigen Wege, beses- für ihn «Zeichen der Zeit», durch welche /sen vom Glauben an die Gewalt; allgemeines aktuelle Nöte aufgedeckt und Wege zu ihrer Wettrüsten der Nationen mit der Erfindung Überwindung gewiesen werden sollten. Sein und dem Einsatz immer furchtbarerer Zerstö- Eingreifen in den «Kampf der Zeit» bedeutete i'ungsmittel — bis ztir endgültigen Weltkata- ihm stets Gehorsam gegen ein Wort des le- strophe! «Der Krieg bedeutet nun die Selbst- bendigen Gottes, dessen Stimme er auch aus •Vernichtung der Menschheit — mit dem Krieg der Welt und den Stürmen der aktuellen Ge- •muß es zu Ende sein», schrieb Ragaz in einer schichte vernommen hatte. Das Reich Gottes Betrachtung «Die Atombombe». will ja eben alles Leben erfassen — das ma- Angesichts dieses steten Kampfes an ver- terielle wie das geistige, das soziale und po- schiedenen Fronten galt I,eonhard Ragaz vie- litische wie das religiöse —, und so können len lediglich als «Sozialist», als «Pazifist», als auch politische Entscheidungen zu Entschei- «Antimilitarist», jenachdem auch als sturer düngen für Gott und sein Reich werden. Wie Schweizer Demokrat oder als schwärmerischer schon in den ersten christlichen Jahrhun- Weltbürger, und gerade in theologischen Krei- derten die Verweigerung des Kaiseropfers ein sen warf man ihm immer wieder vor, zum realeres Zeugnis für Christus darstellte als bloßen «Politiker» geworden zu sein und Re- etwa die Bejahung irgendeines christlichen ligion und Politik miteinander zu vermen- Glaubenssatzes, so können auch heute schein- gen, statt Kirche und Welt feinsäuberlich aus- bar peripherische Dinge, wie die Forderung

24 sozialer Gerechtigkeit in unserer Wirtschaft und Gesellschaft, wie der Widerstand gegen ein falsches Regiment und das Einstehen für •einen auf das Recht gegründeten und die Frei- heit schützenden Staat, oder wie der Kampf für eine Rechtsordnung auch im Völkerle- ben eine zentrale und absolute Bedeutung er- halten, während ein Christentum, das abseits der Welt seine «reine Religion» pflegt, seine Bekenntnisse formuliert und seine Liturgien •revidiert, bei alldem aber nicht auf die Zei- chen der Zeit achtet, unfruchtbar bleibt und •bei aller Konzentration auf Höchstes und •Letztes am Willen Gottes in der Welt vor- übergeht. In alldem trat die neue Stellung zur Welt zutage, die Ragaz in seinem Glauben an das Reich Gottes für die Erde gewonnen hatte. Im Gegensatz zu aller alten und neuen Tren- nung von Gott und Welt glaubte er an ein Eingehen Gottes und seiner Wahrheit in die Welt. Wie das Wort am Anfang des Johan- nes-Evangeliums: «Das Wort ward Fleisch Leonhard Ragaz, Aufnahme aus seinen letzten sahen seine und wohnte unter uns, und wir Lebensjahren Herrlichkeit» für ihn im Mittelpunkt der Bibel stand, so bildete die Fleischwerclung des treten haben, sondern Menschen, die für die Wortes Gottes für ihn überhaupt den tief- Welt Großes hoffen und dafür auch schaffen sten Sinn aller Geschichte Gottes mit den wollen,» — so betonte Ragaz mit allem Nach- Menschen. druck schon in seiner akademischen Antritts- In dieser Geschichte Gottes mit den Men- Vorlesung, als er seine neue Tätigkeit als sehen fällt aber nach Ragazens Überzeugung Theologieprofessor an der Universität Zürich auch dem Menschen eine wichtige Rolle zu: aufgenommen hatte. Wenn solche Gedanken «Das Reich Gottes kommt durch die Kraft und eine diesen entsprechende Haltung des Gottes, aber es kommt auch durch die Men- Christen in der Welt heute wohl besser ver- sehen — durch die Zusammenarbeit Gottes standen werden als zu Lebzeiten von Leon- und des Menschen.» Aller theologischen Ver- hard Ragaz, dann darf die inzwischen erfolgte ketzerung dieses Wortes zum Trotz, glaubte Wandlung nicht zidetzt als das Aufgehen Ragaz an eine solche Mitarbeit. Der Mensch einer Saat bewertet werden, die dieser einst kann und soll das Schaffen des lebendigen mit: seinem Zeugnis ausgestreut hat. Gottes in seiner Geschichte mit den Menschen Was Ragaz ersehnte und wofür er sich mit sehen und verstehen; er kann und soll an das seiner ganzen Person einsetzte, war die Er- in der Bibei verheißene, in Jesus Christus neuerung der Sache Christi, ja eine eigent- offenbar gewordene Reich Gottes, dieses Va- liehe «Revolution Christi», die allein im- ter-Reich, Kindes-Reich und Bruder-Reicli, stände ist, uns aus unseren Nöten und Schwie- glauben und in solchem Glauben sich seinem rigkeiten herauszuführen und jene falschen Kommen handelnd und kämpfend zur Ver- Revolutionen zu überwinden, die mitunter fügung stellen. «Christen sind nicht in erster zwar ein notwendiges Nein für die verkehr- Linie Leute, die eine Weltanschauung zu ver- ten Ordnungen dieser Well bedeuten, nie

25 aber eine wahrhaft neue Ordnung aufzurich- Bewegung» zielte von Anfang an auf eine ten vermögen. Als Träger einer solchen Er- Überwindung der kirchlichen Parteigegen- neuerung der Sache Christi von Grund auf sätze und sah ihren Sinn darin, einmal in erhoffte Ragaz eine lebendige Gemeinde der größeren Bewegung derer aufzugehen, Jesu Christi, die an keine Kirche und Kon- denen die Sache Christi in der Welt hoch- fession gebunden ist, ihre Glieder aber in stes Anliegen ist. Noch in seinem letzten Le- allen Kirchen und Konfessionen und selbst bensjahr bemühte sich Ragaz um eine Ver- außerhalb dieser Gebilde findet, — ein neues ständigung mit den verschiedenen kirchlichen «Volk Gottes», dem alle Menschen angehö- Richtungen und Parteien und gab dabei sei- ren, die «am ersten trachten nach dem Reich ner Einstellung in den bezeichnenden Wor- Gottes und seiner Gerechtigkeit». ten Ausdruck: «Es kann sich heute so wenig Ragaz selbst stand in echter geistiger Ge- um die Erneuerung des Freisinns als um die meinschaft mit Männern wie Arthur Hender- Erneuerung der Orthodoxie oder des ,posi- son, dem einstigen Methodistenprediger und tiven Christentums' handeln. Was wir brau- späteren englischen Arbeiterführer und zeit- chen und wozu Gott uns ruft, ist die Erneue- weiligen englischen Außenminister, mit Tho- rung der Sache Christi von Grund aus mit mas Masaryk, dem geistigen Sohn von Johan- dem Ruf zu der großen, freien, Einen Ge- nes Uns und ersten Präsidenten der neuer- nteinde des Reiches Gottes.» stanclenen Tschechoslowakei, mit Elie Gou- Heute, hundert Jahre nach seiner Geburt, nelle, dem Gründer und Leiter des französi- findet Leonhard Ragaz, der zu seinen L.eb- sehen «Mouvement du Christianisme Social», zeiten recht einsam dastand, arg verkannt mit Otto Bauer, dem Führer der katho- und auch heftig bekämpft wurde, wachsende lischen Sozialisten Österreichs, mit Martin Beachtung und Würdigung, wovon neben Buber, dem bedeutendsten Vertreter des anderem eine im Erscheinen begriffene mehr- heutigen Judentums, mit Henriette Roland- bändige Biographie und ein kürzlich erschie- p[olst, der großen holländischen Dichterin nener erster Band von Briefen Zeugnis geben. und Freundin von Rosa Luxenburg, die Seine Bedeutung ist seinerzeit im Ausland einen echten, am Menschen orientierten Kom- vielleicht noch klarer erkannt worden als munismus vertrat. Der wahrhaft ökumenische vom eigenen Volke — auch Ragaz mußte die Geist, der in dieser mannigfaltigen geistigen herbe Erfahrung machen, daß ein Prophet Gemeinschaft zum Ausdruck kam, spiegelte nirgends weniger gilt als in seinem Vaterland sich auch in Ragazens Zeitschrift «Neue — jedenfalls kam eine solche Erkenntnis treff- Wege» wider, zu deren regelmäßigen Mit- lieh zum Ausdruck, als Elie Gounelle, dieser arbeitern der römisch-katholische Priester wohl bedeutendste Vertreter des französischen Georg Sebastian Huber —- gelegentlich auch Protestantismus in unserer Zeit, einen in Zii- tier russisch-orthodoxe Philosoph Nicolai Ber- rieh gehaltenen Vortrag mit einem Dank an diajew —, ganz besonders aber die Schweiz eröffnete, die der Welt einen Ul- und Margarete Susman gehörten. Auch die rieh Zwingli und Johannes Calvin, einen von Ragaz gegründete und jahrzehntelang Heinrich Pestalozzi und Leonhard Ragaz ge- recht eigentlich verkörperte «Religiös-Soziale schenkt habe.

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