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Carsten Rohde / Thorsten Valk / Mathias Mayer (Hg.) Handbuch Konstellationen – Diskurse – Medien XHUB-Print-Workfow | 00_HB_Rohde_Faust_Titelei_{Druck-PDF} | 29.06.18 Carsten Rohde / Thorsten Valk / Mathias Mayer (Hg.) Faust-Handbuch Konstellationen – Diskurse – Medien

Unter Mitarbeit von Annette Schöneck Mit 53 Abbildungen

J. B. Metzler Verlag

XHUB-Print-Workfow | 00_HB_Rohde_Faust_Titelei_{Druck-PDF} | 29.06.18 Das diesem Buch zugrunde liegende Projekt wurde im Rahmen des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert.

Die Herausgeber PD Dr. Carsten Rohde ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel (MWW). Prof. Dr. Thorsten Valk leitet das Referat Forschung und Bildung der Klassik Stiftung Weimar. Prof. Dr. Mathias Mayer ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature über http://dnb.d-nb.de abrufbar. www.metzlerverlag.de [email protected] ISBN 978-3-476-02275-2 ISBN 978-3-476-05363-3 (eBook) Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: Theaterwissenschaftliche Sammlung, Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist Universität zu Köln) urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb Satz: Claudia Wild, Konstanz in Kooperation der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist mit primustype Hurler GmbH, Notzingen ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über- J. B. Metzler, Stuttgart setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung © Springer-Verlag GmbH Deutschland, und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ein Teil von Springer Nature, 2018 Inhalt

Vorwort VII III Faust, das Genie – 1750 bis 1850

A Gattungs- und Mediengeschichte I Paradigmen des Mythos 18 Literatur Mathias Mayer 146 19 Theater Nikolas Immer 154 1 Historizität, Legende, Mythos: Die Faust-Figur 20 Musik Torsten Valk 163 zwischen Faktualität und Fiktionalität 21 Bildende Kunst Alexander Rosenbaum 174 Elisabeth Wåghäll Nivre 2 22 Mediale Transformationen: Faust um 1800 2 Individualitätsmythen der Moderne: Faust im Carsten Rohde 185 Kontext Stefan Matuschek 12 3 Die Ordnung des Raumes: Faust-Topo- B Problem- und Kulturgeschichte graphien Dirk Niefanger 23 23 Kritik Michael Multhammer / 4 Medialität und Materialität: Zugänge zum Faust- Carsten Rohde 194 Stoff Cornelia Ortlieb 33 24 Genie Alexander Košenina 202 5 Faust-Forschung: Wissenschaftliche Entwick- 25 Idealismus Mathias Mayer 210 lungen und Tendenzen Albert Meier / 26 Moderne David E. Wellbery 219 Ingo Vogler / Carsten Rohde 42 27 Revolution Arnd Beise 227 6 Faust und die Philologen 28 Faust und Annette Simonis / Mark-Georg Dehrmann 52 Alexandra Müller 237 29 Gesa von Essen 244 30 Weltschmerz Burkhard Meyer-Sickendiek 254 II Faust, der Schwarzkünstler – 1500 bis 1750 31 Goethe als Modell und Herausforderung Mark-Georg Dehrmann 262 A Gattungs- und Mediengeschichte 7 Literatur Dieter Martin 62 8 Theater Dieter Martin 72 IV Faust und das ›Faustische‹ – 1850 bis 1945 9 Musik Dieter Martin 80 10 Bildende Kunst Petra Maisak 85 A Gattungs- und Mediengeschichte 11 Mediale Transformationen: Von der Historia 32 Literatur Sabine Doering 274 über Marlowe zum Wandertheater 33 Theater Carsten Rohde 284 Christoph Fasbender 91 34 Musik Cord-Friedrich Berghahn 295 35 Bildende Kunst Johannes Rößler 306 B Problem- und Kulturgeschichte 36 Film Stefan Keppler-Tasaki 316 12 Wissen und Glaube Jörg Wesche 98 37 Sprache Carsten Rohde 326 13 Schwarzkunst Maximilian Bergengruen 105 38 Ausstellungen Christiane Holm / 14 Melancholie Antje Wittstock 113 Nerina Santorius 333 15 Buchdruck Nicolas Detering 121 39 Mediale Transformationen: Faust bei Klaus und 16 Helena Tilo Renz 129 Thomas Mann Tim Lörke 339 17 Komik Karin Vorderstemann 137

XHUB-Print-Workfow | 00_HB_Rohde_Faust_Titelei_{Druck-PDF} | 29.06.18 VI Inhalt

B Problem- und Kulturgeschichte 59 Ausstellungen Christiane Holm / 40 Weltanschauung Dorothee Kimmich 348 Nerina Santorius 502 41 Deutsche Mythologie Ralf Klausnitzer 357 60 Mediale Transformationen: Faust in Werner 42 Realistische Metamorphosen Roman Lach 366 Fritschs »Theater des Jetzt« 43 Faust, der Ingenieur Robert Leucht 376 Günther A. Höfer 508 44 Wissenschaft Philip Ajouri 383 45 Postheroismus Toni Tolen / B Problem- und Kulturgeschichte Volker Pietsch 390 61 Nachkriegshumanismus Matthias Löwe / 46 Rührung Carsten Rohde 399 Gregor Streim 517 47 Übermensch Faust Katharina Grätz / 62 Der sozialistische Faust Stefan Elit 527 Milan Wenner 407 63 Homunculus Andrea Albrecht / 48 Peter Sprengel 417 Marcus Willand 535 49 Nazifizierung Franziska Bomski / 64 Ökonomie Bernd Blaschke 544 Anja Oesterhelt 427 65 Gender Tina Hartmann 553 66 Postmoderne Carsten Rohde 561 67 Posthumanismus und Anthropozän V Arbeit am Mythos: Emphase und Roland Borgards 568 Ernüchterung – Faust nach 1945 68 Pop Jan Süselbeck 575

A Gattungs- und Mediengeschichte 50 Literatur Michael Braun 440 Anhang 51 Theater Norbert Otto Eke 451 52 Musik Florian Trabert 460 Orte und Institutionen Annette Schöneck / 53 Bildende Kunst Claudia Keller 467 Denise Roth 586 54 Film Oliver Jahraus 474 Auswahlbibliographie 591 55 Fernsehen Henning Wrage 483 Ausführliches Inhaltsverzeichnis 594 56 Radio Hans-Ulrich Wagner 488 Abbildungs- und Bildquellenverzeichnis 599 57 Internet Constanze Baum 493 Autorinnen und Autoren 601 58 Sprache Carsten Rohde 498 Personen- und Werkregister 603 47 Übermensch Faust 407

47 Übermensch Faust 47.1 Begriffsgeschichte

Der Begrif des Übermenschen begegnet seit dem Der Begrif des Übermenschen ist wesentlich älter als Ausgang des 18. Jahrhunderts im Kontext des Faust- der Faust-Stof (zum Folgenden auch: Meyer 1901, Stofes und bietet von da an eine Bezugsfolie, die bei Gerhardt 2001). Er fndet sich bereits in der Antike. den Aktualisierungen der Faust-Figur nicht selten un- Der dem deutschen Wort ›Übermensch‹ entsprechen- ausgesprochen im Hintergrund steht oder sogar ein de altgriechische Begrif ›υπεράνθρωπος‹ (hyper- explizit aufgerufenes Deutungsparadigma abgibt. Die anthropos) taucht nach heutiger Kenntnis erstmals bei Grundlage dafür liefern strukturelle Analogien zwi- Dionysios von Halikarnassos (ca. 54–7 v. Chr.) auf schen der Faust-Gestalt in dem ihr zugeschriebenen und bezieht sich dort auf die übermenschliche Schön- Drang, die Grenzen des menschlichen Daseins zu heit einer Frau. Etwa 150 Jahre später lässt sich das überwinden, und der im Begrif des Übermenschen Wort in Lukians (ca. 120–180 n. Chr.) Die Hadesfahrt abstrakt angelegten Idee eines solchen Transzendie- oder der Tyrann nachweisen, wo es, spöttisch verwen- rens. Da der ›Übermensch‹ kein spezifsches philoso- det, der retrospektiven Demontage eines zu Lebzeiten phisches Konzept bezeichnet, sondern einen his- prächtigen Herrschers dient. Polemisch ist auch die torisch veränderlichen Vorstellungskomplex, eröfnet erste nachgewiesene Verwendung des deutschen Be- er diferierende Perspektiven auf Faust-Stof und grifs ›Übermensch‹ im Kontext der Reformations- Faust-Figur. bewegung. Luther kritisiert die anmaßende Haltung Die Vorstellung des Übermenschlichen scheint der Mönche, denen er vorwirf, sie hielten ihren reli- schon im Ursprung des Faust-Mythos angelegt, schrei- giösen Gehorsam für »ubermenschlich, vollkomm- ben doch bereits die Zeitgenossen dem historischen lich, und gleich engelisch« (Luther 1840, 331). Der Faust außerordentliche, insbesondere übersinnlich- Dominikaner Hermann Raab dreht den Spieß um, in- magische Fähigkeiten zu. Zur ausdrücklichen Engfüh- dem er 1527 den »Lutherschen« anlastet, sie dünkten rung von Faust und Übermensch kommt es aber erst sich »vber menschen. und vber menschliche engel wesentlich später. Entscheidende Stationen sind ers- vielleicht« (Raab 1721, 704). tens Goethe, der den Ausdruck »Übermensch« in sei- Im theologischen Kontext erfährt das Wort ›Über- nem Faust-Drama am Ende des 18. Jahrhunderts erst- mensch‹ im 17. Jahrhundert dann aber auch eine afr- mals explizit auf die Titelfgur bezieht, und zweitens mative, bisweilen sogar emphatische Verwendung. Nietzsche, der den Begrif am Ende des 19. Jahrhun- Bereits im frühen Christentum dienen die lateini- derts neu besetzt und zu einem höchst populären und schen Begrife ›super humanus‹ und ›super homines‹ wirkmächtigen Konzept aufwertet. Weil sich in der als Bezeichnung für den in Christus ›erhöhten‹ und Nachfolge Nietzsches an die Idee des Übermenschen vollendeten Menschen, den die Gnade Gottes dazu vielfältige kulturkritische, pädagogische, politische befähige, über sich selbst hinauszuwachsen. Wichtig und gesellschafliche Erwartungen hefen, löst er weit sind in diesem Zusammenhang Passagen aus dem ausstrahlende wirkungsgeschichtliche und ideologi- Neuen Testament, die zwar nicht wörtlich vom Über- sche Resonanzen aus, die sich auch auf die Faust-Be- menschen handeln, aber eine Erhöhung des Men- arbeitungen und -Deutungen erstrecken. schen durch Gott und die Ofenbarung thematisieren. Im Folgenden werden zum einen die literatur- Auch wird Christus, der menschgewordene und zu- geschichtlichen, politischen und ideologischen Hori- gleich über die Menschen gestellte Gottessohn, als zonte skizziert, in denen die Faust-Figur mit der Idee Übermensch bezeichnet. Im Anschluss an das früh- des Übermenschen in Beziehung tritt, und zum ande- christliche Verständnis dient dann in der Reformati- ren spezifsche Entwürfe des ›Übermenschen Faust‹ onszeit das deutsche Wort ›Übermensch‹ der positi- exemplarisch vorgestellt. Die dabei zur Sprache kom- ven Charakterisierung eines ›neuen Menschen‹. menden Aneignungen und Deutungen des Faust- Der Übermensch-Begrif hat also schon eine lange Stofes weichen nicht nur konzeptionell sowie inhalt- Vorgeschichte, bevor ihn Goethe um 1800 mit dem lich stark voneinander ab, sondern umfassen auch ei- Faust-Stof verknüpf. Bis zum Ende des 19. Jahrhun- ne Vielfalt literarischer Formen. derts sind für die Verbindung der Faust-Figur mit dem Konzept des Übermenschen historisch drei Stu- fen relevant: 1) In der Goethezeit fndet der Begrif des Übermenschen im Kontext der Genieästhetik ver- stärkt Verwendung. Goethe appliziert ihn unmittelbar

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 C. Rohde / T. Valk / M. Mayer (Hg.), Faust-Handbuch, https://doi.org/10.1007/ 978-3-476-05363-3_47

XHUB-Print-Workfow | 04_HB_Rohde_Faust_{Druck-PDF} | 29.06.18 408 IV Faust und das ›Faustische‹ – 1850 bis 1945 auf die Faust-Figur. 2) Durch Nietzsche erhält der Be- Wurm« (ebd., V. 137–146). Nimmt Goethes Gedicht grif dann in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ei- Zueignung (1784) mit dem Begrif des Übermenschen ne neue Prägung und erfährt eine entscheidende Auf- den Hang zur individuellen, der sozialen Gemeinschaf wertung zum kulturphilosophischen Schlüsselbegrif. schadenden Selbstüberhebung ins Visier (»Kaum bist 3) In der Nachfolge Nietzsches wird er zum geradezu du Herr vom ersten Kinderwillen; / So glaubst du dich infationär gebrauchten weltanschaulichen Kampf- schon Übermensch genug, / Versäumst die Pficht des begrif, den unterschiedliche Lager für sich verein- Mannes zu erfüllen! / Wie viel bist du von andern un- nahmen. Insbesondere dient er als zentrales Deu- terschieden? / Erkenne dich! leb’ mit der Welt in Frie- tungsmuster großer Individuen und kultureller Leitf- den«; Goethe FA, I.1, 10 f.), so demontiert die Rede des guren; neben Faust werden etwa Napoleon und Bis- Erdgeistes genialischen Anspruch auf unmittel- marck, in der NS-Zeit schließlich auch Hitler als bares Erfassen der Natur und verweist auf die Unver- Übermenschen bezeichnet. einbarkeit von Wollen und Sein: »Er möchte nur gern ein Titan, ein genialer Übermensch sein, kann es aber nicht.« (Schmidt 2011, 71) 47.2 Goethes Faust und der zeitgenössische Während der Begrif des Übermenschen bei Goe- Kontext the, aber auch wenige Jahre später bei Grabbe und By- ron an den Besitz übersinnlicher Kräfe geknüpf ist, Im Spannungsfeld von Auflärung und Genieästhetik gibt ihm Jean Paul erstmals eine rein aufs Diesseits be- lässt sich der ›Übermensch‹ erstmals 1769 bei Herder zogene, politische Bedeutung (Benz 1961, 82). In der im zweiten Band der Kritischen Wälder nachweisen Erzählung Über Charlotte Corday von 1809 preist eine (Herder SW, 3, 202). Herder bezeichnet damit ironisch der Figuren die Höhepunkte der Geschichte als Leis- einen Menschentypus, dessen Urteilskraf das Men- tungen von Übermenschen: Das »vulkanische, an- schenmögliche scheinbar übersteigt. Einige Jahre spä- fangs verwüstende Feuer solcher Uebermenschen, ter spricht er von »Un- oder Übermenschen« (ebd., 5, z. B. Bonaparte Frankreich« hebe alle »Größen und 679), um das geistliche Ideal der Triebverneinung als Berge in der Geschichte [...] kühn auf einmal aus dem verfehlt bloßzustellen. Nicht ein solches ›übermensch- Wasser« (Jean Paul 1809, 222). Derartige Tatgenies liches‹ Transzendieren des Menschlichen sei erstre- setzen sich dem fktiven Sprecher zufolge in ihrer ge- benswert, sondern die Förderung der »Humanität« im schichtlichen Aufgabe über die Moral hinweg und er- Menschen, die zwar »in Anlagen angebohren« (ebd., achten diese überhaupt als eine unverbindliche »Ge- 17, 138) sei, zu deren Ausbildung es jedoch einer hu- schmacks-Lehre« (ebd.). In der Ausrichtung auf das manistischen Erziehung bedürfe. Es ist durchaus mög- Diesseits und der Negation der Moral klingen Ele- lich, dass Goethe den Ausdruck ›Übermensch‹ von mente von Nietzsches Übermenschen-Konzept bei Herder übernimmt: 1770 lernt er Herder kennen, des- Jean Paul in ironischer Form bereits an. sen Bedeutung für die eigene geistige Entwicklung er Knapp zehn Jahre später schließt Lord Byron mit im zehnten Buch von Dichtung und Wahrheit betont, seinem 1817 veröfentlichten Manfred an Goethe an. ca. 1773 beginnt er mit der Arbeit am ›Urfaust‹, in dem Goethe selbst hat in einer 1820 in Kunst und Alter­ er das Wort ›Übermensch‹ erstmals verwendet. thum abgedruckten Rezension des Manfred bemerkt, Goethe führt den ›Übermenschen‹ an exponierter Byron habe seinen »Faust in sich aufgenommen, und, Stelle in sein Faust-Drama ein, nämlich gleich in der hypochondrisch, die seltsamste Nahrung daraus geso- ersten Szene Nacht, in der Faust, der an der Beschränkt- gen«, überdies habe er die »seinen Zwecken zusagen- heit seines Gelehrtendaseins leidet, im Wahn von den Motive auf eigne Weise benutzt, so daß keins Ebenbürtigkeit – »Ich bin’s, bin Faust, bin deines glei- mehr dasselbige« (Goethe FA, I.20, 454) geblieben sei. chen« (Goethe: Faust. Frühe Fassung, V. 148) – den Tatsächlich gilt das auch für den Begrif des Übermen- heraufeschwört, ohne jedoch fähig zu sein, schen. Zweimal begegnet in Manfred das Adjektiv »su- der Vision standzuhalten. In der Rede des Erdgeistes, per-human«. Allerdings ist es kein Erdgeist, der den die das Selbstverständnis Fausts fundamental in Frage Protagonisten als ›Übermenschen‹ verspottet, son- stellt, dient der Begrif des Übermenschen der iro- dern Manfred selbst, der Held des Werks, beklagt die nischen Entlarvung von Fausts Hybris: »Welch er- Nutzlosigkeit seiner »übermenschlichen Kunst« (»su- bärmlich Grauen / Fasst Uebermenschen dich! / [...] per-human art«; Byron 1986, 75) – gemeint ist die Du! der, den kaum mein Hauch umwittert / In allen Le- Zauberkunst –, die ihm trotz ihrer übersinnlichen benstiefen zittert, / Ein furchtsam weggekrümmter Macht nicht dazu verhilf, quälende Erinnerungen 47 Übermensch Faust 409

loszuwerden. Und als er sich von der Hofnung ver- tert er weniger am Streben nach übermenschlicher Er- abschiedet, die Geister könnten ihm den Wunsch kenntnis, sondern mehr am eigenen rücksichtslosen nach dem Vergessen erfüllen, verwirf er auch deren Egoismus, der alles zerstört, was sich ihm in den Weg übermenschlichen Beistand (»I lean no more on su- stellt. Seine betont destruktiven Züge lassen sich als Il- per-human aid«; ebd., 62). lustration einer Pervertierung des bürgerlichen Indi- Wenngleich Byron in einem Brief an seinen Ver- vidualitätsideals verstehen (Michelsen 2000, 222). leger John Murray darauf hinweist, dass er Faust vor der Abfassung des Manfred noch nicht gelesen habe, da er kein Deutsch könne (das Drama war zu diesem 47.3 Nietzsche Zeitpunkt noch nicht ins Englische übersetzt), ver- hehlt er nicht, dass er zumindest Teile des Faust durch Obwohl der Begrif des Übermenschen schon lange die mündliche Übersetzung eines Freundes kannte, vor Nietzsche gebräuchlich ist, erfährt er doch erst und er gesteht die Ähnlichkeit der Eröfnungsszenen durch ihn die entscheidende Aufwertung. Nietzsches ein (7.6.1820; Byron 1831, 340). Umso bemerkens- Überlegungen zum Übermenschen fallen derart ofen werter sind konzeptionelle Unterschiede. Denn wäh- und schillernd aus (wie Haase 1984 unter Einbezug der rend Faust, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen nachgelassenen Notate eindringlich herausstellt), dass hat, durch sein Handeln schuldig wird und am Ende sich die Interpreten dazu herausgefordert sehen, das von Faust II göttlicher Gnade bedarf, beharrt Manfred Konzept des Übermenschen in unterschiedliche, mit- darauf, dass sein eigener »Promethean spark« (Byron unter radikale Richtungen weiterzudenken und sich 1986, 58) demjenigen der Geister ebenbürtig sei. dabei auf Nietzsche als Autorität zu berufen. In der Manfred lässt sich von den Geistern, die er rief, nicht Forschung ist umstritten, welche Bedeutung dem beherrschen, sondern behauptet sich ihnen gegenüber Übermenschen in Nietzsches Denken zukommt: Han- noch im Moment des nahenden Todes. Dieser unbe- delt es sich um eine veranschaulichende Metapher, ei- dingte Wille zur Autonomie dürfe ein wichtiger nen utopischen Entwurf, ein philosophisches Konzept Grund dafür sein, dass Nietzsche den Manfred schon oder gar um seine zentrale philosophische Lehre? als 17-Jähriger begeistert lobt (Nietzsche 1994, 10 u. Aufmerken lässt eine Formulierung aus Also sprach 14) und ihn noch kurz vor seinem geistigen Zusam- Zarathustra, mit der Zarathustra daran erinnert, dass menbruch 1889 in Ecce homo weit über den Faust stellt er einst »das Wort ›Übermensch‹ vom Wege aufas« (Nietzsche KSA, 6, 286). (Nietzsche KSA, 4, 248). Dies könnte ein Hinweis da- Auch Grabbe tritt in die Spuren von Goethes Faust. rauf sein, dass Nietzsche den Begrif aus fremden Tex- Er veröfentlicht 1829 mit Don Juan und Faust ein ten übernimmt. Als Quellen kommen die bereits ge- Drama, »dessen Idee«, wie er in einer zu Werbezwe- nannten Texte von Herder, Goethe und Byron in Fra- cken verfassten anonymen Selbstrezension schreibt, ge; mit den beiden Letzteren war Nietzsche bestens »sich in der Gegenüberstellung des Strebens nach dem vertraut. Überdies fndet der Begrif des Übermen- Sinnlichen und Uebersinnlichen in den beiden Cha- schen zu Nietzsches Zeit weite Verbreitung in wissen- rakteren des Don Juan und Faust begründet« (Grabbe schafsphilosophischen Schrifen, die – zumeist im WuB, 4, 114). Zu den Anleihen, die Grabbes Stück bei Ausgang von evolutionistischen Vorstellungen – Goethe macht, gehört auch das Wort ›Übermensch‹, Teorien einer Höherentwicklung des Menschen ver- mit dem Don Juan, Fausts Nebenbuhler um die Gunst treten. Nietzsche, dem derartige Konzepte etwa aus der Donna Anna, das Übermenschentum Fausts in den Schrifen Dührings, F. A. Langes und Spencers gut Frage stellt. Zwar gesteht er zu, dass Faust sich durch bekannt waren, gibt dem Begrif des Übermenschen seinen Pakt mit dem Teufel »übermenschlicher Ge- freilich eine neue Prägung, indem er ihn als anthropo- walt« (ebd., 1, 484) bediene, mit der paradox klingen- zentrischen Leitbegrif etabliert, der dem Menschen den Frage »Wozu übermenschlich, / Wenn du ein die Aufgabe einer Selbstbegründung des eigenen Da- Mensch bleibst?« (ebd., 485) deckt er jedoch den Wi- seins zuweist. derspruch zwischen Fausts übermenschlichen Fähig- Nietzsches Überlegungen zum Übermenschen ent- keiten und seinem durchaus menschlichen Verlangen standen in engem Zusammenhang mit Also sprach Za- nach (sinnlicher) Liebe auf. Bei Grabbe reduziert sich rathustra. Zwar taucht das Adjektiv ›übermenschlich‹ Fausts Übermenschentum auf die Fähigkeit, durch schon früher mehrfach in seinen Niederschrifen auf, Zauberei mögliche Widersacher bei seinem Verlangen doch erst im Zuge der Arbeit am Zarathustra rückt das nach sexueller Befriedigung auszuschalten. So schei- Substantiv ›Übermensch‹ im Sommer 1882 zu einem

XHUB-Print-Workfow | 04_HB_Rohde_Faust_{Druck-PDF} | 29.06.18 410 IV Faust und das ›Faustische‹ – 1850 bis 1945

Zentralbegrif auf, um den seine Aufzeichnungen für ma des modernen Menschen erklärt – ausgestattet mit eine Zeitspanne von einem knappen Jahr intensiv einem unerschrockenen Erkenntnisdrang und einem kreisen. Die Schlüsselpartien und überhaupt die ein- »heroischen Zug ins Ungeheure« (Nietzsche KSA, 1, zigen zusammenhängenden Ausführungen zum 119) –, fallen die späteren Bemerkungen zunehmend Übermenschen fnden sich in »Zarathustra’s Vor- skeptisch, ja geradezu abschätzig aus. Eine Nieder- rede«, wo sich Zarathustra den auf dem Marktplatz schrif von 1882 lautet: »Faust, die Tragödie der Er- versammelten Menschen mit drei Reden (Abschnitt kenntniß? Wirklich? Ich l a c h e über Faust.« (Ebd., 3–5) als ›Lehrer‹ des Übermenschen präsentiert. Ein- 10, 102) Etwa zeitgleich erklärt Abschnitt 178 der geführt wird seine ›Lehre‹ vom Übermenschen in Ver- Fröhlichen Wissenschaf Faust und Mephisto zu »zwei bindung mit der Vorstellung vom Tod Gottes, was ihre moralische[n] Vorurtheile[n] gegen den Werth der Er- Verschränkung mit evolutionistischen Denkfguren kenntniss« (ebd., 3, 501). Und ein Notat von 1885 ur- umso provozierender erscheinen lässt: »Alle Wesen teilt bündig über Goethes Faust und seinen Protago- bisher«, so hält Zarathustra seinen Zuhörern vor, nisten: »Eine Entartung des Erkennenden, ein Kran- »schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Eb- ker, nichts mehr! Keineswegs die Tragödie des Erken- be dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum nenden selber!« (Ebd., 12, 27) Hinzu kommt, dass Tiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?« Goethe und seinem bloß ›zeitgemäßen‹ Werk jede Ak- (Nietzsche KSA, 4, 14) Zarathustras Rede erklärt den tualität abgesprochen wird: »Wie wird sich später ein- Übermenschen zur Signatur einer evolutionären Fort- mal Goethe ausnehmen! wie unsicher, wie schwim- entwicklung des Menschen, die auf kein endgültiges mend! Und sein ›Faust‹ – welches zufällige und zeitli- Ziel zuläuf, sondern ihre Bestimmung in einer nie en- che, und wenig nothwendige und dauerhafe Pro- den wollenden Bewegung der Selbsttranszendenz hat blem!« (Ebd., 26 f.) Noch dezidierter lautet das Urteil (Pieper 1990, 55). Metaphorische Veranschaulichung einer Niederschrif von 1888: »Man studirt achtzehn- erfährt dies insbesondere durch die Bilder der ›Brü- tes Jahrhundert, wenn man den ›Faust‹ liest, man stu- cke‹, des ›Seils‹ und der ›Treppe‹ (ebd., 16 u. 26). Mit dirt Goethe: man ist tausend Meilen weit vom N o t h - dem Übermenschen rückt somit kein konkreter Ent- w e n d i g e n in Typus und Problem.« (Ebd., 13, 635) wurf eines neuen Menschen in den Mittelpunkt von Die zunehmende Abkehr vom Faust bezeugt sich be- Nietzsches Denken, sondern die Idee einer dynamisch sonders deutlich in Nietzsches Vergleich des Faust mit sich immer weiter steigernden Form des Daseins. Byrons Manfred: Nennt Nietzsche Manfred und Faust Die ofene und prozessuale Struktur unterscheidet im 86. Abschnitt der Fröhlichen Wissenschaf noch in Nietzsches Übermenschen-Konzeption von früheren einem Atemzug, heißt es in Ecce homo verächtlich: Begrifsverwendungen, die wie diejenige Goethes im »Ich habe kein Wort, bloss einen Blick für die, welche Horizont der Genievorstellung verankert sind. Nur in Gegenwart des Manfred das Wort Faust auszuspre- ein einziges Mal, nämlich als 17-Jähriger, knüpf chen wagen.« (Ebd., 6, 286) Nietzsche in seiner Jugendschrif Ueber die dramati- schen Dichtungen Byrons (1861), in der er das Sub- stantiv ›Übermensch‹ zum ersten Mal überhaupt ge- 47.4 Nietzsches Wirkung in der Faust- braucht, an eine derartige Begrifsverwendung an, in- Rezeption dem er Byrons Manfred als »geisterbeherrschenden Uebermenschen« bezeichnet und das Drama »ein Trotz seiner überwiegend ablehnenden Haltung trägt übermenschliches Werk« nennt (Nietzsche 1994, 10 u. Nietzsche entscheidend zur Aktualisierung des Faust- 14). Obwohl Faust das von Nietzsche am häufgsten Dramas am Beginn des 20. Jahrhunderts bei. Nach zitierte Werk Goethes ist und in fast allen Nietzsche- Nietzsches Tod kommt es zu Konvergenzen in den Schrifen von der frühen bis in die späte Zeit hinein Rezeptionsbewegungen, insofern die vehement ein- Spuren hinterlassen hat, fällt der Begrif des Über- setzende Nietzsche-Rezeption auch eine neue Welle menschen in diesem Zusammenhang nicht. Nietz- der weltanschaulichen Aufadung des Faust-Stofes sches Neubesetzung des Übermenschen-Begrifs er- auslöst. Leitbegrife aus Nietzsches Philosophie – folgt unabhängig von seiner Auseinandersetzung mit ›Herrenmoral‹, ›Wille zur Macht‹ und ›Übermensch‹ Goethes Faust, dessen starke Beachtung kein Indiz der – werden unmittelbar an Goethes Faust herangetra- Hochschätzung ist. gen oder bilden mittelbar den Dunstkreis, in dem sich Während Nietzsches Frühwerk (zentral ist der 18. die Rezeption vollzieht. So entsteht eine difuse Ge- Abschnitt der Geburt der Tragödie) Faust zum Paradig- mengelage, in der sich Einfüsse vermischen und wir- 47 Übermensch Faust 411

kungsgeschichtlich bestimmende Faktoren sich re- Übermenschen. Er sieht in Goethes Faust-Figur eine trospektiv nicht klar voneinander isolieren lassen. menschliche Entwicklungsmöglichkeit präfguriert, Was sich hingegen ohne Schwierigkeit nachweisen die durch das moderne monistisch-evolutionistische lässt, ist ein enges Zusammenrücken von Nietzsche Denken eingelöst wird. und Goethe, insbesondere von Zarathustra und Faust Als Leitfguren rücken Faust und Zarathustra noch in der Rezeption seit der Jahrhundertwende. Beide in ganz anderer, unmittelbar räumlicher Weise zu- Werke tauchen nicht nur in den gleichen Kontexten sammen: Sie landen in tausendfacher Ausgabe in den auf, sondern werden explizit miteinander in Verbin- Tornistern deutscher Soldaten. So erzählt Walter Flex dung gebracht. Teodor Lessing etwa nannte den Za- in seiner autobiographischen, Erlebnisse des Ersten rathustra das »philosophische Seitenstück zu Goethes Weltkriegs verarbeitenden Novelle Der Wanderer zwi- ›Faust‹« (Lessing 1985, 57). Und Kurt Hiller sprach schen beiden Welten (1916) von der Begegnung mit ei- 1912 in der expressionistischen Zeitschrif Die Aktion nem Soldaten, der einen Band Goethe sowie den Za- von dem »Faust- und Zarathustra-Massstab« (Hiller rathustra mit sich führt. Auf die Frage, wie diese un- 1912, 977), den er an aktuelle künstlerische Produktio- terschiedlichen Bücher sich denn miteinander vertra- nen anlegen wolle. Immer wieder werden vor allem die gen könnten, verweist der Soldat darauf, dass im Protagonisten beider Werke miteinander verglichen – »Schützengraben [...] allerlei fremde Geister zur Ka- wobei Zarathustra mitunter als eine Art Vollender der meradschaf gezwungen« seien. Es verhielte sich mit Faust-Figur aufgefasst wird. So befndet Rudolf Stei- Büchern ebenso wie mit Menschen: »Sie mögen so ner: »Zarathustra ist auch ein Faust; aber ein in sein verschieden sein, wie sie wollen – nur stark und ehr- Gegenteil verwandelter« (Steiner 1892, 187), habe er lich müssen sie sein und sich behaupten können, das sich doch aus den menschlichen Vorurteilen befreit, in gibt die beste Kameradschaf.« (Flex 1925, 73) Das ist denen Goethes Faust noch verhafet sei. Und ein 1900 eine für die Zeit symptomatische Begründung der erschienener Aufsatz, der sich mit Nietzsche befasst ›kriegerischen‹ Allianz von Goethe und Nietzsche, und Faust mit Zarathustra vergleicht, gelangt zu dem Faust und Zarathustra: Es handelt sich um eine er- Urteil: »Was Faust versagt war, nämlich die Natur in zwungene Gemeinschaf, die auf der Zuschreibung ihrem innersten Wesen zu fassen, das vollbringt Nietz- von Stärke und Selbstbehauptungswillen gründet. sches Held Zarathustra.« (Rathmann 1900, 20) Pointiert bringt Werner Sombart, Professor für Staats- Für eine solche Wertung tritt auch Hermann Hesse wissenschaf, die Idee der geistigen Stärkung des deut- – Mitglied des Bremer Monistenbundes und nicht zu schen Kampfeswillens zum Ausdruck, wenn er in sei- verwechseln mit dem gleichnamigen Schrifsteller – nem den »jungen Helden draußen vor dem Feinde« in seinem 1909 gehaltenen monistischen Faust-Vor- gewidmeten Buch Händler und Helden. Patriotische trag ein. Hesse stimmt darin ein Loblied an auf »Faust Besinnungen (1915) erklärt: »Militarismus ist der zum und Zarathustra! Alles, was groß und göttlich ist am kriegerischen Geist hinaufgesteigerte heldische Geist. menschlichen Geschlechte, klingt uns aus diesen bei- Er ist Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung. den Tempeln entgegen« (Hesse 1909, 4). Dabei ent- Er ist ›Faust‹ und ›Zarathustra‹ und Beethoven-Par- wirf er jedoch eine deutliche Rangfolge. Faust ist für titur in den Schützengräben.« (Sombart 1915, 84 f.) ihn der »höchste Mensch des alten Weltbildes« (ebd., 7), einerseits »Revolutionär« (ebd., 9) in seinem un- erschrockenen Erkenntnisstreben, andererseits befan- 47.5 Expressionistische und sozialistische gen in alten Vorstellungen, weil er in seinem »Wesen« Visionen des ›neuen Menschen‹ noch »dualistisch geteilt ist in Körper und Seele, in Gut und Böse« (ebd., 7). Zarathustra hingegen gilt Schon Nietzsche selbst sieht seinen Übermenschen ihm als der »begeisterte Seher eines neuen, einheitli- fehlgehenden und verfälschenden Deutungen unter- chen, monistischen Weltbildes«, das die religiösen worfen. In Ecce homo kritisiert er ein moralisch-ver- und moralischen Anschauungen hinter sich lässt und harmlosendes Verständnis, das im Übermenschen den »auf dem Boden moderner Naturerkenntnis und »›idealistische[n]‹ Typus einer höheren Art Mensch« Weltanschauung stehend, den Menschen als ein gan- sehen will, »halb ›Heiliger‹, halb ›Genie‹« (Nietzsche zes, unteilbares Wesen einreiht in die Zahl der übrigen KSA, 6, 300), und in einem Brief von 1888 hält er der Geschöpfe und ihm neue Ziele, neue Wege weist zum Schrifstellerin Malwida von Meysenbug vor: »Sie ha- Übermenschen« (ebd.). Derart erklärt Hesse Faust ben sich [...] aus meinem Begrif ›Übermensch‹ wieder zum Wegbereiter des von Zarathustra gepredigten einen ›höheren Schwindel‹ zurechtgemacht, Etwas aus

XHUB-Print-Workfow | 04_HB_Rohde_Faust_{Druck-PDF} | 29.06.18 412 IV Faust und das ›Faustische‹ – 1850 bis 1945 der Nachbarschaf von Sybillen und Propheten: wäh- Zentrum rücken. Zu den Leittexten dieser Autoren rend jeder e r n s t h a f t e Leser meiner Schrifen wis- zählen der Faust, der mit dem Perfektibilitätsstreben sen m u ß, daß ein Typus Mensch, der mir nicht Ekel seines Protagonisten der expressionistischen Erneue- machen soll, gerade der Gegensatz-Typus zu den Ide- rungs-Anthropologie sehr weitgehend entspricht al-Götzen von Ehedem ist, einem Typus Cesare Borgia (Paulsen 1934), und vor allem Nietzsches Zarathustra, hundert Mal ähnlicher als einem Christus.« (Nietzsche der den expressionistischen Visionen von der Neu- 1986, 458) gestaltung des Menschen mit seinem hymnisch-pathe- In der Zeit nach Nietzsche vollzieht sich die Karrie- tischen Ton, seiner vitalistischen Metaphorik und der re des Übermenschen-Begrifs zwar in Nietzsches Na- Idee des Übermenschen entscheidende Impulse gibt. men, verliert aber die Hafung an sein Werk. Domi- Inspiriert durch die Zarathustra-Lektüre notiert etwa nant tritt in der sich verselbständigenden Rezeption Georg Heym 1906 in sein Tagebuch die Erwartung, und Nachwirkung freilich nicht nur die humanistisch- »daß wir alles Große und Erhabne in uns nach unsern idealisierende Auslegung hervor, sondern im Gegen- besten Kräfen ausgestalten und so Sprossen werden teil wird der Übermensch nun dezidiert als immora- auf der Leiter zum Übermenschen« (Heym 1960, 44). lischer Typus verstanden, der seinen Machtwillen ge- Künstlerische Umsetzung fndet die Vision des neu- waltsam durchsetzt. Mitunter geschieht dies in iro- en Menschen insbesondere in der expressionistischen nischer Gegenwendung, etwa wenn George Bernard Wandlungsdramatik Georg Kaisers, Reinhard Sorges, Shaw in seinem Drama (1903) zu- Walter Hasenclevers und Ernst Tollers. Diese Autoren sammen mit dem Don-Juan-Mythos die Vorstellung schließen sich Nietzsches Idee einer grundlegenden männlichen Übermenschentums demontiert und Erneuerung des Menschen an, sagen sich allerdings stattdessen der Frau die Oberhand im Geschlechter- vom Kult des großen Einzelnen los und rufen stattdes- kampf zuweist. Weitaus häufger jedoch wird der Ge- sen den ›neuen Menschen‹ aus, der sich am Ideal der danke des Übermenschen in afrmativer Weise auf- Gemeinschaf orientiert. Exemplarisch zu sehen ist das gegrifen. Noch vor der Jahrhundertwende stellt der an Georg Kaisers Drama Die Bürger von Calais, das naturalistische Autor Karl Bleibtreu in seinen Ge- christliche Vorstellungen mit Nietzsches Übermen- schichtsdramen vor der Folie des Übermenschen un- schen-Idee zur Synthese führt und den »von Nietzsche terschiedliche Varianten des modernen autonomen inspirierten Voluntarismus mit einem christlich af- Tatsubjekts vor, dem es gelingt, der Geschichte seinen zierten Altruismus« verknüpf (Valk 2009, 11). Stempel aufzuprägen. Schon die Titel zeigen, dass Dominant zeigt sich der Faust-Bezug in Franz Wer- Bleibtreu wie in einem Brennspiegel alle die Namen fels Trilogie Spiegelmensch, einem typisch expressio- versammelt, die am Ende des 19. Jahrhunderts als Sig- nistischen Wandlungs- und Erlösungsdrama, das naturen individueller Größe gelten: So verfasst er die Hermann Bahr in seiner Zeitungskolumne Tagebuch biographische Studie Byron der Übermensch. Sein Le- als den »österreichischen Faust« (Bahr 1920, 4) be- ben und sein Dichten (1890), das Cromwell-Drama zeichnet. Es handelt sich um das Drama einer Selbst- Ein Faust der Tat (1889) und ein Napoleon-Drama, fndung und Neugeburt, durch die der Mensch lernt, das in der Letztfassung den Titel trägt Der Über- die illusionäre Spiegelbilderwelt, in der er gefangen ist, mensch. Charakterbild in fünf Akten (1889). Einen zu überwinden. Dabei steht »die Werdung des Ich Gipfelpunkt erreicht die immoralistische Übermen- durch Selbstüberwindung« (Oei 2013, 237) im Zen- schen-Deutung in Bernhard Sorges Szene Zarathustra trum. Auch in der kleinen Szenenfolge Der Aufgang (1911), in der ein junger Künstler die vermeintliche Gottes oder das Nachtgespräch, die der evangelische Lehre von Nietzsches Werk vollstreckt, indem er einen Teologe Paul Schütz 1920 unter dem prägenden Ein- Krüppel erschießt. fuss Goethes und Nietzsches verfasst, tritt die Verbin- Die vom Konzept des Übermenschen ausgehenden dung von Faust und Übermensch im Zeichen des Faust-Deutungen der literarischen Moderne umfassen ›neuen Menschen‹ zutage. Hier steht ebenfalls der ein weites Spektrum: Mal erscheint Faust als auto- Mensch an sich im Zentrum, der wie Zarathustra aus nomes Individuum, mal als amoralischer Macht- der Lüge in die Einsamkeit gefohen ist und wie Faust mensch, mal als geradezu religiöse Erlöserfgur. Letz- seinem Erkenntnisdrang folgt: »Um jeden Preis teres gilt vor allem für die Entwürfe der expressionis- schaf’ ich mir Wahrheit« (zit. n. Köhler 2005, 24), lau- tischen Autoren, die von der Sehnsucht nach gesell- tet seine Parole. Er präsentiert sich als Zerstörer und, schaflichem und kulturellem Aufruch geprägt sind wie Nietzsches Übermensch, als einsam Schafender, und die Vision einer Erneuerung des Menschen ins der die Welt aus sich hervorbringt: »Des Schafens Or- 47 Übermensch Faust 413

gie, ja Raserei, / Im Übermaß der Kraf / Rings um Faust-Figur ab 1874 durchgehend als schwächlich und dich alles zu zerschmettern / Und gleich mit selben anachronistisch verwerfen. Tatsächlich wird in der Schlag / Im Wirbelsturm der kreisenden Gebärung / Zeit nach Nietzsche die Faust-Figur immer wieder im Hervorzuschleudern neuer Welten künstlerisch Ge- Namen Nietzsches gegen dessen eigene Deutungen bild.« (Ebd., 28) gewendet. Nietzsches Konzept des Übermenschen bildet eine Eine Form der ideologischen Vereinnahmung, die Folie, vor der vielfältige Entwürfe des ›neuen Men- Goethes Werk gewaltsam an die eigenen Erwartungen schen‹ Kontur erhalten. Nicht zuletzt richtet sich da- anpasst, zeigt sich bei Arthur Moeller van den Bruck, ran auch die sozialistische Ideologie in ihren Plänen der in seinem Goethe-Buch von 1907 die antiken und zur Erziehung eines neuen Menschentyps aus, der sich christlichen Bezüge in Goethes Faust für randständig laut Leo Trotzkij in der idealen klassenlosen Gesell- erklärt, um dagegen ein »Hohelied auf den nordischen schaf bis zum Niveau eines Aristoteles oder Goethe Tatmenschen« (Jasper 1998, 138) anzustimmen. In sei- aufschwingen werde (Trotzkij 1968, 215). Beispielhaf ner Darstellung erscheint Faust als Gipfel von Goethes für die literarisch-künstlerische Umsetzung solcher Werk, weil das Drama als ein »freies und natürliches, Vorstellungen ist das Lesedrama Faust und die Stadt deutsches und gotisches Monument« (Moeller van den (Faust i gorod, Entstehung: 1906–1916), das der sowje- Bruck 1907, 185) ein Gegengif vorstelle gegen die tische Kulturpolitiker und Literat Anatoli W. Lunat- Gefahr künstlerischer und politischer Überfremdung. scharski 1918 veröfentlicht und mit dem er versucht, Bereits 1905 bedient van den Bruck sich überdies in die humanistische Tradition mit der sozialistischen seinem Aufsatz Die Ueberschätzung französischer Revolution künstlerisch zu verschmelzen (Lunat- Kunst in Deutschland des Begrifs des »Faustischen«, scharski 1973, 214). Lunatscharski, der sich ebenso um den »ewigen Drang« der Deutschen zu charakteri- wie viele andere russische Intellektuelle des frühen sieren, »das Individuelle zum Universalen zu steigern« 20. Jahrhunderts intensiv mit Nietzsche auseinander- und die »Schranken des Eigenen und Inneren zu setzt, stellt sein Drama in den Dienst der Erzeugung durchbrechen« (Moeller van den Bruck 1905, 501). ›höherer Menschen‹. Wie schon der Titel Faust und Oswald Spengler, dessen breit rezipierte kulturkriti- die Stadt nahelegt, knüpf der Text thematisch an die sche Schrif Der Untergang des Abendlandes (1918/22) Schlussszene des Faust II an, in der Faust sein Projekt für die Deutung des ›Faustischen‹ vor der Folie von der Landgewinnung und Besiedlung verwirklicht Nietzsches Übermenschen-Konzeption richtungswei- glaubt. Im Zentrum steht der Kampf um die Stadt als send wird, entwickelt die Vorstellung des nordischen ein Kampf um das richtige politische System. Faust Tatmenschen weiter, freilich ohne sich Moeller van tritt als Herrscher der Stadt gegen seinen despotischen den Brucks deutschnational verengter Faust-Interpre- Sohn Faustulus an, den gegen seinen tation anzuschließen. Vielmehr erweitert Spengler auf Vater aufgehetzt hat. Dem deutschen Herausgeber der Grundlage seiner Nietzsche-Lektüre die Idee des Ralf Schröder zufolge illustriert Lunartscharski an- ›faustisch-deutschen Menschen‹ zur Idee der ›fausti- hand des Widerstreits von Faust und Faustulus den schen, westeuropäischen Kultur‹. Zu ihrer Charakteri- Kampf zwischen »humanem und antihumanem sierung greif er unterschiedliche anthropologische Übermenschen« (ebd., 225). Versatzstücke aus Nietzsches Texten auf, sodass sein ›faustischer‹ Menschentyp zu einem Vexierbild aus Übermensch und ›blonder Bestie‹ gerinnt. Laut Speng- 47.6 Faust als nordischer Tatmensch in den lers Der Mensch und die Technik (1931) sind die ›fausti- Schriften der Konservativen schen‹ Menschen »mit einem bis aufs äußerste ge- Revolution schärfen Geist, mit der kalten Glut einer unbändigen Leidenschaf im Kämpfen, Wagen, Vorwärtsdrängen« Die Deutungsfolie des Übermenschen bestärkt ins- ausgestattet (Spengler 1931, 63) und verfügen über ei- besondere ein Faust-Verständnis, das in Faust das Pa- nen »Willen zur Macht, der aller Grenzen von Zeit und radigma des sich rücksichtslos über alle Einschrän- Raum spottet, der das Grenzenlose, das Unendliche kungen hinwegsetzenden großen Individuums sieht – zum eigentlichen Ziel hat« (ebd., 64). Spengler erachtet eine Deutung, die sich nicht nur mit Goethes ängstlich sie als »echte Raubtiere« (ebd.), deren Stärke sich aus schwankendem Erdgeistbeschwörer Faust schlecht der Beherrschung der Technik speise. Als »faustischer verträgt, sondern auch in schrofem Kontrast zu den Erfnder und Entdecker« schwinge sich der nordische Äußerungen in Nietzsches Texten steht, die Goethes Mensch zu übermenschlichem Vermögen auf: Die

XHUB-Print-Workfow | 04_HB_Rohde_Faust_{Druck-PDF} | 29.06.18 414 IV Faust und das ›Faustische‹ – 1850 bis 1945

›faustischen‹ Erfnder »zwangen der Gottheit ihr Ge- große Rolle spielt wie Nietzsche, wurde doch auch heimnis ab, um selber Gott zu sein. Sie belauschten die Faust zu ideologischen Zwecken instrumentalisiert (s. Gesetze des kosmischen Taktes, um sie zu vergewalti- Kap. 49). Da das ›Faustische‹ bereits seit Mitte des gen, und sie schufen so die Idee der Maschine als eines 19. Jahrhunderts immer wieder mit dem ›deutschen kleinen Kosmos, der nur noch dem Willen des Men- Wesen‹ identifziert wird (Schwerte 1962; s. Kap. 41), schen gehorcht« (Spengler 1993, 1186 f.). Für Spengler können regimetreue Interpreten an eine bereits beste- ist der ›faustische‹ Mensch der Repräsentant »einer hende Tradition der nationalistischen Faust-Deutung energischen, imperativischen, dynamischen Kultur« anknüpfen. Die schon bei Spengler vorgeprägte Iden- (ebd., 447), die er gleichwohl auf einen Zustand zivili- tifkation von ›faustischem‹ Mensch und Übermensch satorischer Dekadenz zusteuern sieht. Denn die Ent- kommt besonders prägnant in den Schrifen des sich fesselung der Technik mache in dialektischer Umkehr zum Nationalsozialismus bekennenden Leipziger den einstigen »Herrn der Welt« zum »Sklaven der Ma- Psycholo­gen und Pädagogen Hans Volkelt zum Aus- schine« (Spengler 1931, 75) und besiegle damit den druck: »Der faustische Übermensch gibt es nie und Untergang des ›faustischen‹ Menschen. nimmer auf, in seinem Fühlen, Denken und Wollen Spengler weist Nietzsche vor dem Horizont der auf die Grenzen des Menschlichen und Möglichen zu die Vernichtung zutreibenden abendländischen Kul- sprengen und ins Unendliche zu stürmen.« (Volkelt tur eine ambivalente Rolle zu: Einerseits erklärt er ihn 1944, 18 f.) Neben dem ›Faustischen‹ als Signatur des zum bahnbrechenden Kulturdiagnostiker, anderer- deutschen Wesens rückt besonders Fausts Projekt der seits spricht er ihm die Fähigkeit ab, echte Alternati- Landgewinnung, das als Antizipation des deutschen ven zu entwerfen. Sobald es um konkrete Ziele gehe, Kampfs um Lebensraum herhalten muss, ins Zentrum verliere sich Nietzsche in »nebelhafe Allgemeinhei- nationalsozialistischer Vereinnahmung. ten«, und auch seine »Übermenschenlehre« stuf Fritz Giese, der als Psychologieprofessor bereits vor Spengler als bloßes »Lufgebilde« (Spengler 1993, 466) Hitlers Machtübernahme ein Seminar zu Mein Kampf ein. Die Alternative sieht er in einem praktisch-politi- veranstaltet, weist in Nietzsche. Die Erfüllung (1934) schen Übermenschentum: »Tatsachenmenschen gro- sowohl dem Typus des »Faustischen Menschen« als ßen Stils« seien es, »welche heute den Willen zur auch dem Ideal des Übermenschen eine wichtige Rolle Macht über das Los der andern und damit die fausti- zu. Mit Hilfe etablierter Dichotomien – nordisch-süd- sche Ethik überhaupt repräsentieren« (ebd., 447). lich, apollinisch-dionysisch, männlich-weiblich – ent- Spengler spricht sich für die Notwendigkeit politi- wirf Giese eine psychologische Typologie, die kul- scher Führerfguren aus, eine »höhere Art Menschen« turelle und rassische Unterschiede von Völkern erklä- sei gefordert, welche sich – hier zitiert er ein Nachlass- ren soll. Dabei greif Giese die »Teorie vom Fausti- Notat Nietzsches, das Eingang fand in die Kompilati- schen Menschen« (Giese 1934, 36), die von Spengler on Der Wille zur Macht – »dank ihrem Übergewicht begründet und von Moeller van den Bruck weiterge- von Wollen, Wissen, Reichtum und Einfuß, des de- führt worden sei, zur Bestimmung des idealtypischen mokratischen Europas bedienen als ihres gefügigsten deutschen Wesens auf. Der mit dem Typus des Ro- und beweglichsten Werkzeuges, um die Schicksale der mantikers identifzierte ›faustische‹ Mensch zeichne Erde in die Hand zu bekommen, um am ›Menschen‹ sich durch »geistige Bisexualität« (ebd., 40) aus, da er selbst als Künstler zu gestalten« (ebd.). in organischer Weise apollinisch-nordisch-männliche wie auch dionysisch-südlich-weibliche Eigenschafen in sich vereine. Giese plädiert dafür, dass der NS-Staat 47.7 Der ›faustische‹ Übermensch im sich nicht allein am Ideal des Männerbundes orientie- ›Dritten Reich‹ ren dürfe, um optimale rassische Züchtungsergebnisse zu erreichen, sondern sich an der ›faustischen‹ Dop- In der Zeit des Nationalsozialismus wird der Über- pelnatur des idealtypischen deutschen Menschen aus- mensch-Begrif in erster Linie dazu verwendet, die richten müsse. Wie der Titel Nietzsche. Die Erfüllung Ideologie der rassischen Rangordnung zu untermau- nahelegt, deutet Giese die nationalsozialistische Ge- ern. Nietzsche dient als der philosophische Gewährs- genwart als Einlösung von Nietzsches »Weltanschau- mann, dessen Texte – allen voran der Zarathustra – ung« (ebd., 184). Ihr Züchtungsprogramm, das der sich durch selektive und verzerrende Interpretationen Schafung einer »neuen Rasse, einem Neuadel aus Blut besonders gut vereinnahmen lassen. Wenngleich Goe- und Boden« diene, wertet er als Verwirklichung von the in der nationalsozialistischen Propaganda keine so Nietzsches Ideal des »Übermenschen« (ebd., 72 f.). 47 Übermensch Faust 415

Im Hinblick auf die Übermenschen-Tematik sticht zur »heiligen Pficht« im »Ringen um unser Dasein« unter den nationalsozialistischen Goethe-Interpreten (Volkelt 1944, 1). Dabei versteht Volkelt die Faust-Fi- besonders Richard Grützmacher hervor, der mit Goe- gur als Vertreter des »Menschen faustischer Artung« thes Faust. Ein deutscher Mythus (1936) und Fausts (ebd., 3), der das Unmögliche zu erreichen suche – wo- Rechter Weg (1943) gleich zwei ideologiekonforme mit er indirekt auch auf die aussichtslosen Ambitionen Faust-Deutungen vorlegt. In Goethes Faust. Ein deut- der Deutschen anspielt, den Krieg noch gewinnen zu scher Mythus präsentiert Grützmacher den Faust als wollen. Der optimistische Ton, der noch Grützma- ein Werk, das in mythologisch-verdichteter Form das chers Faust-Buch von 1936 durchzieht, weicht bei Vol- nordische bzw. germanische ›Wesen‹ zum Tema habe kelt einer trotzig-entschlossenen Durchhalteparole. und überdies zentrale Ideologeme des Nationalso- Für Volkelt ist der Mensch ›faustischer‹ Art ein »tragi- zialismus vorwegnehme. So sei etwa der Erdgeist – scher Held« (ebd., 4), der in seiner Bestimmung zum »[g]eistesgeschichtlich formuliert« – »der Genius des Übermenschen beständig und unerfüllbar über sich nordischen Voluntarismus, welcher sich die Welt unter- hinaus strebt. Freilich ist Volkelts Argumentation werfen will« (Grützmacher 1936, 1, 33). Der Erdgeist nicht stringent, denn an anderer Stelle bezeichnet er werde jedoch – auch wenn dies in Goethes Text nicht den Übermenschen als real vorhanden: »Der fausti- steht – wiederum von Faust unterworfen, denn dieser sche Übermensch gibt es nie und nimmer auf, in sei- sei »als Magier Übermensch in dem Sinne, daß er das nem Fühlen, Denken und Wollen die Grenzen des Übermenschliche in seinen Dienst stellt« (ebd., 37). Menschlichen und Möglichen zu sprengen und ins In Fausts Rechter Weg (1943) hebt er dagegen den Unendliche zu stürmen.« (Ebd., 18) Wenn der Verfas- Plan der Landgewinnung und Staatsgründung als po- ser Faust zum Tatmenschen und Schöpfer einer neuen sitiven, am Diesseits orientierten Gegenentwurf he- Lebenswirklichkeit, zu einem dem »Volke Raum und raus. Faust schrecke vor keiner Tat zurück, auch wenn Kultur schafenden Führer« (ebd., 7) erklärt, dann er dadurch vordergründig schuldig werde, wie etwa scheint hinter diesen Worten Hitler als vollkommene im Fall der Ermordung von Philemon und Baucis ge- Verkörperung des ›faustischen‹ Übermenschen auf. gen Ende von Faust II. Während humanistische Inter- pretationen Fausts Verbrechen häufg verharmlosen, Literatur Bahr, Hermann: Tagebuch. In: Neues Wiener Journal stimmen die nationalsozialistischen Deutungen darin 12.12.1920, 4 f. überein, dass sie die destruktiven Handlungen des Benz, Ernst: Das Bild des Übermenschen in der europäi- ›Tatmenschen‹ Faust rechtfertigen und bejahen (Zab- schen Geistesgeschichte. In: Ders. (Hg.): Der Über- ka 1995, 320). Dies gilt auch für Grützmacher, dessen mensch. Eine Diskussion. Zürich, Stuttgart 1961, Feststellung, die Schuld sei für den ›faustischen‹ Men- 19–161. schen lediglich ein »phantastisches Schreckgebilde« Byron 1831: Letters and Journals of Lord Byron. With Noti- ces of His Life. Hg. v. Tomas Moore. Bd. 2. Paris 1831. (Grützmacher 1936, 2, 79), implizit eine Rechtferti- Byron, Gordon George: Te Complete Poetical Works. Hg. v. gung des kriegerischen deutschen Expansionsdrangs Jerome J. McGann. Bd. 4. Oxford 1986. bedeutet: Wenn es im Wesen des germanisch-›fausti- Flex, Walter: Gesammelte Werke. Bd. 1. München [1925]. schen‹ Menschen liegt, seine Macht zu erweitern, sind Gerhardt, Volker: Übermensch. In: Historisches Wörter- Kriege und Eroberungen unumgänglich. Nach Grütz- buch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Bd. 11. Basel 2001, 46–50. macher fndet der ewig strebende, zunächst noch in- Giese, Fritz: Nietzsche. Die Erfüllung. Tübingen 1934. dividualistische und der Magie ergebene Faust seine Goethe FA: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Erfüllung im Ideal der nationalen und sozialen Ge- Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. v. Friedmar Apel, meinschaf. Im Stadium seiner Erlösung wolle Faust Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp-Renken u. a. 40 Bde. nicht mehr Übermensch sein, sondern gehe als »pla- Frankfurt a. M. 1985–2013. nender und machtvoller Herrscher« im »Dienst am Grabbe WuB: Grabbe, Christian Dietrich: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden. Volke« auf (Grützmacher 1943, 92 f.). Hg. v. der Akademie der Wissenschafen in Göttingen. Noch wesentlich weiter als Grützmacher treibt Bearb. v. Alfred Bergmann. Emsdetten 1960–1973. Hans Volkelt die ideologische Vereinnahmung des Grützmacher, Richard H.: Goethes Faust. Ein deutscher Faust-Dramas. In seiner kurzen Schrif Goethes Faust Mythus. 2 Bde. Berlin 1936. – und Deutschlands Lebensanspruch (1944) erklärt er Grützmacher, Richard H.: »Fausts Rechter Weg«. Eine Ein- vor der Folie der »äußersten Härte unseres heutigen führung in Goethes Faust-Tragödie. Amersfoort 1943. Haase, Marie-Luise: Der Übermensch in Also sprach Zara- Kampfes«, d. h. angesichts der sich abzeichnenden thustra und im Zarathustra-Nachlass 1882–1885. In: Kriegsniederlage, die existenzielle Deutung des Faust

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