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Deutschland FOTOS: H. BAUR FOTOS: Diktator Hitler, Kriegsverletzte der Westfront (1940): Von der Zensur unterdrückte Bilder

material versprochen. Im Garten be- ZEITGESCHICHTE gann der Deutsche zielstrebig vor einem verwilderten Blumenbeet zu graben. In rund 70 Zentimeter Tiefe kam schließlich Hitler in Agfacolor ein brauner Jutesack zum Vorschein. In- halt: zwölf tellergroße Blechdosen, teil- Filmmaterial aus dem Dritten Reich lagerte über 50 Jahre weise angefressen vom Rost. Sergeant St. Goar befahl, den brisanten Fund zu im Haus eines ehemaligen US-Sergeants – seltene Farbdokumente, verladen. die Adolf Hitlers Pilot Hans Baur aufgenommen hatte. Der Deutsche in Zivil wurde ohne be- sondere Auflagen entlassen. Auch in den ie Fahrt ging durch die Trümmer- Sergeant Herbert St. Goar, 29, Chef der Akten des Washingtoner Nationalarchivs landschaft des zerbombten Mün- 70köpfigen Ermittlungsgruppe der „Intel- findet sich kein Hinweis auf seine Iden- Dchen im Winter 1945/46. Vor einer ligence Branch“ des 196th Field Artillery tität. Damals passierten täglich bis zu 40 Villa in den Außenbezirken stoppte der Battalion der amerikanischen Militärre- Personen, die wegen möglicher Kriegsver- schwere Mercedes mit dem Faltdach und gierung, folgte dem hageren Deutschen brechen vernommen wurden, den altdeut- der Aufschrift „MGE Bavaria“, der früher hinter das Haus. Der Mann, der sich beim schen Schreibtisch St. Goars im Gebäude dem NS-Gauleiter von München-Ober- Verhör als einer der Piloten Adolf Hitlers der ehemaligen Reichszeugmeisterei in bayern als Dienstwagen gedient hatte. vorstellte, hatte ihm interessantes Film- München-Giesing.

84 der spiegel 44/1998 Hitler mit Göring (1940), auf dem Flug nach Nürnberg (o.)*: Der Führer in allen Lebenslagen

mit der Kennung D-2600, wenn der Führer Kamera an Bord, mit der er, ungehindert auf Luftreisen ging. von Hitlers Leibwächtern und der Zensur Der Major und spätere General der Po- des Reichspropagandaministeriums, film- Hobbyfilmer Baur lizei hatte Zugang zum engsten Kreis der te, was ihm vor die Linse kam. Überzeugter Nazi bis zum Tod nationalsozialistischen Führungsschicht. Über ein halbes Jahrhundert später führt Ihm oblag die Oberaufsicht über zunächst der Sergeant a. D. Herbert St. Goar in Das Material, das der Sergeant erbeutet 6 und später bis zu 30 Flugzeuge, mit de- seinem Haus in Chattanooga im amerika- hat, stammt von Adolf Hitlers Chefpiloten nen die Elite des Dritten Reiches reiste. nischen Bundesstaat Tennessee dem deut- Hans Baur. Der Lufthansa-Mann wechsel- Ob Staatsbesuche in Rom oder Finnland, schen Besucher auf einem 16-Millimeter- te nach der Machtergreifung 1933 in den Visiten an der Ostfront oder geheime Ur- Projektor vor, was er 1946 in München hat- Dienst des neuen Reichskanzlers Hitler. laubstrips nach Stuttgart und Wiesbaden, te ausgraben lassen: in allen Bis Kriegsende saß er als „persönlicher Pi- Baur war immer dabei. Und fast immer lot“ am Steuerknüppel der Junkers Ju 52 hatte der Hobbyfilmer eine 16-Millimeter- * Zum Reichsparteitag 1935.

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Lebenslagen. In dem Wohnzimmer des Ehepaars St. Goar erscheint der Diktator auf der Leinwand. Zusammen mit Reichs- propagandaminister und NSDAP-Getreuen hat er es sich in der en- gen Kabine der Ju 52 bequem gemacht. Auf dem Weg nach Nürnberg zum Reichs- parteitag liest er seine Lieblingszeitung, den „Völkischen Beobachter“. Es ist ein ruhiger Flug. Hitlers beleibter Adjutant Wilhelm Brückner nutzt in der engen Kabine der Junkers die Zeit für ein Nickerchen. Vorn im Cockpit läßt sich Pilot Baur filmen. In Nürnberg wird Hitler – September 1935, „Reichsparteitag der Freiheit“ – be- geistert auf der Straße begrüßt. Mehrere Tage begleitete ihn Baur mit der Kamera, noch in Schwarzweiß, zu den diversen Großveranstaltungen: Eröffnung im Kon- greßsaal; Rede vor 54 000 Hitlerjungen („zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“); Marschkolonnen des Reichsarbeitsdienstes

(„diese strammen und tadellosen jungen H. BAUR FOTOS: Spatenmänner“); Appell der neuen Regi- Hitler mit Faschistenführer Mussolini in (1937): „Steif wie ein Ölgötze“ menter der bewaffneten SS-Truppen so- wie der Leibstandarte SS „Adolf Hitler“. chenschauen das Dritte Reich in Schwarz- kumentiert. Unter der Rubrik „Schönes Nach einem selbstgestalteten Zwi- weiß abbildeten – für Filmhistoriker eine Rom“ sind nicht nur die adrette Faschi- schentitel „Der Führer begrüßt die Werk- Sensation. stenjugend, sondern auch moderner Woh- scharen“ stellt Hobbyfilmer Baur die eben- In Rom und Neapel beim Staatsbesuch nungsbau zu sehen. falls neugeschaffenen uniformierten Ver- Hitlers in Italien 1938 hielt Baur die wich- Bei dem legendären Blitzbesuch von bände der Deutschen Arbeitsfront mit tigsten Stationen im Bild fest – die gewal- Adolf Hitler am 28. Juni 1940 im kurz zu- Spielmannszügen vor dem Hotel Deut- tigen Säulenhallen der faschistischen Mu- vor besetzten war Baur ebenfalls mit scher Hof vor. sterstadt bei Rom, Hitlers Begegnungen der Kamera dabei. Um fünf Uhr morgens Zwei Jahre später stieg Baur für seine mit dem italienischen König Viktor Ema- landete er auf dem Pariser Flughafen Le filmischen Reisenotizen auf Farbe um. nuel III. oder ein in Hakenkreuzform ge- Bourget. Hitler verwirklichte sich einen Ju- Der neuartige „Agfacolor Umkehrfilm“ pflanztes Blumenbeet. gendtraum: Er war zuvor noch nie in der wurde in Deutschland erstmals 1936 von Aber auch das touristische Begleitpro- französischen Metropole gewesen. den Herstellern vertrieben. Pilot Baur gramm der Führerreisen wie die römische In den Aufzeichnungen Baurs ist die überlieferte damit die ersten bewegten Engelsburg, das Kolosseum, Forum Roma- Stippvisite penibel dokumentiert: Farbbilder, während die offiziellen Wo- num und der Strand von Ostia wurden do- Vom Flugplatz ging es über die Champs d’ Elysées zum Denkmal des unbekannten Soldaten. Hitler entbot dem Mahnmal sei- nen Gruß und besichtigte dann eingehend den Arc de Triomphe. Wir fuhren noch zum Louvre, zum Trocadéro, zum Eiffelturm, zur Oper und abschließend zum Invali- dendom. Hier besuchte Hitler das Grab Napoleons. Nach einer guten Stunde – also gegen sechs Uhr – waren wir wieder auf dem Flugplatz. Der Start verzögerte sich etwas, weil aus dem Schwanzrad die Luft entwichen war. Selbst die ersten Schwerverwundeten aus dem Frankreichfeldzug 1940 erweisen in den Filmausschnitten Hitler auf einem Fluglatz ihre Reverenz. Es sind die bisher einzigen Filmdokumente in Farbe von Kriegsverletzten mit dem Führer. Solche Bilder wurden von der Zensur im Berliner Reichspropagandaministerium unterdrückt. Im französischen Compiègne läßt sich Hitler die zerbombten Gerippe gegneri- scher Flugzeuge vorführen.Auf einem fran- zösischen Flugfeld erörterte Hitler dann

* Mit Architekt Albert Speer (3. v.r.) und dem Bildhauer Kriegsherr Hitler (2. v. r.) in Paris 1940*: Jugendtraum erfüllt Arno Breker (r.).

88 der spiegel 44/1998 Deutschland mit Generalfeldmarschall Hermann Göring und schickte sie ungeöffnet heim nach salzberg in US-Archiven zu finden, die anhand von Kartenmaterial die militäri- Chattanooga. SPIEGEL-TV bereits ausgewertet hat. Und sche Lage. Dann heißt es antreten zum Anfang der fünfziger Jahre überspielte Christian Hartmann vom Münchner Insti- Essenfassen an einer Feldküche. er sie sorgfältig auf eine größere Rolle, da tut für Zeitgeschichte sieht in dem Materi- Vor allem Faschistenführer Benito Mus- die „alten Dosen so rostig“ waren. Der gel- al eine „wichtige Ergänzung“ der bisheri- solini spielt in den Filmen eine große Rolle. be Aufkleber auf der -Dose bekam gen Bildquellen über Hitler. In Rom und Neapel dreht Baur Hitler und die Beschriftung „Hitlers Movies“. Bislang verfügt nur das in Jerusalem an- Mussolini bei einer Vorführung militärischer Dann gerieten die Filme des Führers in sässige Spielberg-Filmarchiv über eine von Schlagkraft der Italiener. Zu sehen sind auch Chattanooga in Vergessenheit. St. Goar Pilot Baur gedrehte Filmrolle. Darin ist der abessinische Kamelreiter, Luftbombarde- machte Karriere als Präsident des Lebens- italienische Diktator Mussolini auf dem ments südlich von Civitavecchia an der Kü- mittelgroßhandels Dixie Savings Stores. Weg zur Ostfront im Cockpit „steif wie ste, Schlachtschiffe beim Abfeuern schwerer ein Ölgötze“ zu sehen. Hit- Geschütze und U-Boote. „Zuletzt wurden ler plante, ihm ein Exemplar zwei Frachtschiffe, die vor uns lagen, bom- der neuen, Anfang der vier- bardiert“, beobachtet Baur. ziger Jahre in Dienst ge- Auch in Berlin kommt der Duce vor Baurs stellten, viermotorigen Füh- Objektiv, etwa beim Staatsbesuch 1937. rermaschine Condor, Focke Weiß-rote Hakenkreuzfahnen beherrschen Wulf 200, zu schenken. Die die Prachtstraße Unter den Linden. Von ei- mit Bordkanone und Bord- nem Podest vor der Technischen Hochschu- küche ausgestattete Maschi- le nehmen Hitler und der italienische Dik- ne hatte in Hitlers Reiseses- tator eine dreistündige Militärparade ab. sel sowohl einen Fallschirm Der Mann, der die Filme im ersten Nach- als auch eine Bodenklappe kriegswinter in die Hand bekam, hatte die eingebaut, die als Notaus- stieg für den obersten Feld- herrn dienen sollte. Er mußte nur den roten Griff ziehen. Baur kam 1945 in sowjetische Kriegs- gefangenschaft, nachdem er bei einem Ausbruchsversuch aus der Reichskanzlei schwer verwundet worden war. Ein Bein wurde amputiert, und die Sowjets verhör- ten den Piloten monatelang, da sie nicht an Hitlers Selbstmord glaubten. Baur, so die Vermutung, habe den Führer heimlich in ein sicheres Land ausgeflogen. Der Pilot kehrte erst 1955 aus dem La- ger zurück und schrieb ein kämpferisches, aber detailgetreues Erinnerungsbuch „Ich flog Mächtige der Erde“ über seine Pilo- tenjahre und Filmarbeiten. Der überzeug- te Nazi wohnte bis zu seinem Tode 1993 in seinem Haus in Herrsching am Ammersee. In seinem Wohnzimmer hängen noch immer diverse Fotos mit Originalwidmun- gen Hitlers. Auf der Anrichte steht eine Grußpostkarte von Hitlers offizieller Pro- pagandafilmerin Leni Riefenstahl, und vor der Gästetoilette zieren Kriegserinnerun- gen im Hakenkreuz-Rahmen die Wand.

S. KNAUER / DER SPIEGEL Seit dem Tod Baurs verwaltet seine Pensionär St. Goar, als US-Sergeant in München (1945): Hitler- und Kinderfilme im Regal Witwe Centa, 91, das Erbe des Piloten.Von Filmen will die Witwe allerdings nicht viel Aufgabe, deutsche Dokumente und Ur- Die Filmdokumente verstaubten zusam- wissen. kunden auf ihre Echtheit zu untersuchen men mit einigen selbstgedrehten Kinder- Auf dem Dachboden verwahrt sie je- und vor allem deutsche Raketenwissen- filmen von Tochter und Sohn im Regal. doch in einer polierten Holzkiste einen schaftler in die USA abzuwerben. Herbert Bis sich St. Goar in diesem Frühjahr der Filmprojektor für 16-Millimeter-Streifen. St. Goar, Sohn eines vermögenden jüdi- Souvenirs aus Hitler-Deutschland und seiner „Ja mei, die Kinder haben daran ja kein In- schen Kaufmanns, stammt aus Hamburg. staatsbürgerlichen Verantwortung erinnerte, teresse“, sagt die alte Dame, „irgendwann Noch vor der Pogromnacht im November um sie der zeitgeschichtlichen Forschung in wird das alles weggeworfen.“ 1938 emigrierte er nach Amerika und ge- Deutschland zugänglich zu machen. Wäre schade. Denn irgendwo liegen wei- langte über New York nach Chattanooga. Hans Günter Voigt vom Berliner Bun- tere Rollen mit Baurs Filmnotizen vom Sein Vater kam im Hamburger Konzentra- desfilmarchiv hält den Fund aus Tennessee „Gröfaz“, dem größten Führer aller Zei- tionslager Fuhlsbüttel um. für „authentisch“ und „als zeitgeschichtli- ten. Sergeant Herbert St. Goar hatte zwar Eigentlich hätte der US-Sergeant alle ches Dokument für äußerst interessant“. vier Filmrollen aus dem Jutesack behalten, Filmrollen beim Kriegsministerium in Gutes Filmmaterial von „Amateuren“ aus zwölf aber seinem Vorgesetzten weiter- Washington abliefern müssen. Doch er jener Zeit sei „sehr rar“. So sind auch von gegeben. Die Filme sind noch immer behielt vier als Kriegsmitbringsel für sich Eva Braun Privatfilme auf dem Ober- verschollen. ™

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