Modernisierungskrise
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B) Die Chambre des Députés in der Modernisierungskrise I. Der langsame Zerfall des Bloc national und die Verheißung einer linken Alternative Auch in Frankreich war der Beginn der zwanziger Jahre von einer allmählichen Erosion jener Regierungskonstellation geprägt, die 1919 in Fortführung einer breiten parlamentarischen Kriegskooperation begründet worden war. Ganz anders als in Deutschland ging es dabei allerdings nicht um das grundsätzliche Problem, überhaupt eine parlamentarische Mehrheit zu finden. Die Wahlen vom November 1919 hatten den rechtsliberalen und konservativen Kräften eine derart breite Kammermehrheit beschert, daß ihre regierungsbildende Dominanz bis zum Ende der Legislaturperiode völlig unangefochten blieb. Die langsame Auflösung des Bloc national war vielmehr von einem allmählichen und insgesamt diffus wir- kenden Anwachsen politischer Meinungsverschiedenheiten im ursprünglichen Regierungslager gekennzeichnet. Das Erwachen traditioneller politischer Gegen- sätze spielte dabei ebenso eine Rolle wie der Druck der großen Streitfragen in der Reparations- und Finanzpolitik. Unter den Bedingungen eines immer noch vor- herrschenden deliberativen Parlamentarismusverständnisses bedeutete dies trotz der gegebenen Mehrheitsverhältnisse einen erheblichen Unsicherheitsfaktor für amtierende Regierungen. Gleichzeitig und hier liegt ein wesentlicher Unter- - schied zur frühen Weimarer Republik belebte sich mit der Desintegration des Regierungslagers auch die parlamentarische- Alternativfunktion, indem sich für die Kammerwahlen von 1924 allmählich ein linkes Bündnis abzeichnete. Nach einem Rückblick auf die beiden ersten Jahre der Legislaturperiode sollen beide Vorgänge im folgenden für jene lange Endphase des Bloc national, die im Zeichen der Ministerpräsidentschaft von Raymond Poincaré stand, in ihren Wechselwirkungen betrachtet werden. Entsprechend der Leitfrage nach einer Modernisierung des französischen Parlamentarismus wird dabei besonders darauf zu achten sein, inwiefern sich Ansätze zu einer Neugestaltung parlamentarischer Funktionsweisen erkennen lassen. 1. Regierung und Abgeordnetenkammer in den ersten beiden Jahren des Bloc national Die Unscharfe des Begriffs Bloc national bildet ein charakteristisches Indiz für die fließenden Strukturen der französischen Parlamentarismusgeschichte in den Jah- 350 Parlamentarische Krisen der Inflationszeit ren 1919 bis 1924. Im Anschluß an die zeitgenössische Verwendung lassen sich drei Bedeutungsebenen unterscheiden1: Zum einen bezeichnete Bloc national als Sammelbegriff jene differie- - regional renden Wahlbündnisse von 1919, die im Zeichen der nationalen Einheit, des Anti- bolschewismus und der Forderung nach einer strikten Erfüllung des Versailler Vertrags standen und die ihre Existenz nicht zuletzt auch dem neuen Wahlrecht verdankten. Ursprünglich als breiter Bloc national républicain geplant, wurden diese Mitte-rechts-Bündnisse im wesentlichen von der Alliance démocratique und der Fédération républicaine getragen, während der zu diesem Zeitpunkt in einer schweren Krise befindliche Parti radical eher eine untergeordnete Rolle spielte und in vielen Departements auch eigenständige Listen aufstellte. Bei den Kam- merwahlen vom November 1919 ergab sich dann mit weit über 400 Mandaten eine deutliche rechtsliberal-konservative Dominanz. Zum zweiten wurde mit Bloc national jenes noch breitere - parlamentarische Spektrum von der Entente républicaine démocratique bis zum Parti radical be- nannt, auf das sich die seit 1920 amtierenden Kabinette bis zum Ausscheiden der Radicaux aus dem Regierungslager im Juni 1923 mehr oder minder verläßlich stützen konnten. Und drittens verweist die auch auf die Kabinette jener Jahre, deren - Wendung politischer Schwerpunkt teilweise relativ weit in der Mitte lag und die sich damit dem traditionellen Typus der „concentration républicaine" zwischen Radicaux und Modérés annäherten. Zeitgenössisch wurde der Terminus Bloc national eher auf der Linken ge- braucht und diente hier geradezu als Feindbild, während seitens der Modérés häufig auch von Bloc républicain oder Union républicaine die Rede war, was ins- besondere den Brückenschlag zu den Radicaux betonen sollte2. Der Einfachheit halber beschränkt sich unsere Darstellung auf den Begriff Bloc national. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs und die unklaren Grenzen eines politischen Verbundes, der mit einer Koalition im deutschen Sinne zunächst kaum etwas ge- meinsam hatte, sorgten in der parlamentarischen Realität für unterschiedliche Zielvorstellungen3. Während der gesamten Legislaturperiode stellte sich sei es - bei der Regierungsbildung, sei es bei der Formierung parlamentarischer Mehrhei- ten oder bei der Vorbereitung der Wahlen von 1924 immer wieder die Grund- - satzfrage, ob sich der Bloc national tm einem geschlossenen Mitte-rechts-Bündnis entwickeln oder ob er seinen Charakter als loses Band der republikanischen Kräfte unter Ausschluß der Sozialisten und Kommunisten beibehalten solle. Er- steres wäre eine wirkliche Innovation im parlamentarischen Leben Frankreichs 1 Zu den drei Bedeutungsebenen vgl. Berstein/Berstein, Dictionnaire historique, S. 78 f. Zur politi- schen Formierung der Wahlbündnisse und zur Deutung der Ergebnisse auch Roussellier, Parle- ment, S. 24-43. 2 Vgl. z.B. Artikel in La République Démocratique, 19. 8. 1923, S. 1, „Les possibilités d'union répu- blicaine". 3 Grundlegend zur Entwicklung bis Anfang 1922 v.a. Roussellier, Parlement, S. 65-179. Überblick in Delporte, IIIe République 3, S. 40-65; Mayeur, Vie politique, S. 259-265. Für den parlamentaris- musgeschichtlichen Ereignisablauf immer noch unentbehrlich: Bonnefous, Histoire 3, S. 75-282. Zu einzelnen Aspekten: Jeannesson, Poincaré; Berstein, Histoire 1, S. 336-370; Bariéty, Relations, S. 64-91; Farrar, Principled Pragmatist, S. 303-327; Bernard, L'affaire Millerand. I. Der langsame Zerfall des Bloc national 351 gewesen und hätte auch die Mechanismen der regierungstragenden Funktion ver- ändert. Letzteres knüpfte eher an die traditionelle Kooperationsform der „con- centration" von Modérés und Radicaux in der politischen Mitte an. Schon die beiden Kabinette Millerand, die vom Januar bis zum September 1920 amtierten, entsprachen nur bedingt dem rechtsliberalen und konservativen Wahl- sieg von 19194, denn neben mehreren außerparlamentarischen Fachleuten gehör- ten ihnen auch einzelne eher linksliberale Politiker an5. Dem breiten Regierungs- spektrum entsprach in der Abgeordnetenkammer eine weite und relativ stabile Mehrheit von über 500 Abgeordneten, der nur eine bescheidene sozialistische Minderheit von etwa 60 Mandaten gegenüberstand6. Ein partiell in die Friedens- zeit hinübergerettetes und durch die reparations- und sicherheitspolitische The- matik immer wieder bestärktes Klima der Union sacrée, verbunden mit der nur langsam überwundenen Schwäche des Parti radical und der geschickten Amtsfüh- rung des Président du conseil waren die wichtigsten Ursachen für diese erstaun- liche Kohärenz7. Was auf den ersten Blick wie ein Indiz parlamentarischer Moder- nisierung wirkt, war demnach eher das Produkt außergewöhnlicher Umstände; von einer tatsächlichen Disziplinierung der parlamentarischen Kräfte konnte keine Rede sein. Die Herrschaft einer scheinbar festgefügten Mehrheitsregierung verlor bereits im September 1920 an innerer Stabilität. Paul Deschanel, der nach kurzer Amts- zeit schwer erkrankte Nachfolger Poincarés als Präsident der Republik, reichte seine Demission ein, und der bisherige Regierungschef Alexandre Millerand ließ sich von der Assemblée nationale in das Amt des Staatspräsidenten wählen. Die bewegte und für den französischen Parlamentarismus nicht untypische Karriere des ersten sozialistischen Ministers der Dritten Republik (1899), der sich zum Initiator und Hoffnungsträger des Bloc national gewandelt hatte8, fand nun einen formalen Höhepunkt. Unklar bleibt, ob Millerand selbst dieses Ziel angestrebt hat oder ob er sich was wahrscheinlicher ist unter dem Druck der Ereignisse und auf das Drängen- politischer Freunde hin für- den Wechsel in das Amt des Staats- präsidenten entschieden hat9. 4 Zur parlamentarischen Konstellation vgl. v.a. Roussellier, Parlement, S. 118f. Üblicherweise wird von zwei Kabinetten gesprochen, weil die Regierung Millerand I wie traditionell praktiziert an- läßlich der Wahl des Staatspräsidenten formal demissioniert war. - - 5 Gleich nach seiner Präsentation in der Abgeordnetenkammer hatte Millerand deshalb von der kon- servativen Entente erst einmal einen „Denkzettel" präsentiert bekommen. Ein „ordre du jour", der die Berufung des profilierten Radikalen Théodore Steeg zum Innenminister billigte, erhielt ledig- lich die Zustimmung von 272 Abgeordneten bei 23 Gegenstimmen und 293 Enthaltungen, darunter 180 Mitglieder der Entente. Abstimmung vom 22. 1. 1920; Liste der namentlichen Abstimmung in JO, Débats, Chambre 1920, S. 35 f.; hierzu Roussellier, Parlement, S. 69-72; Bonnefous, Histoire 3, S. 104-107. Im eigentlichen Vertrauensvotum zum Start der neuen Regierung am 30.1. 1920 kam Millerand dann allerdings auf ein klares Ergebnis von 581 zu 70 Stimmen. Liste der namentlichen Abstimmung in JO, Débats, Chambre 1920, S. 101 f. 6 Erstmals bereits in der Abstimmung vom 30. 1. 1920. Vgl. ebd. 7 Nach Barthélemy/Duez, Traité élémentaire, S. 548f., war von 1919 bis 1924 mit Millerand nur ein Ministerpräsident wirklicher Chef der parlamentarischen Mehrheit. 8 Zum politischen Lebenslauf Millerands, der als radikaler Journalist und Abgeordneter begann und dessen Weg über den Sozialismus schließlich an