Die Opernsinfonien Francesco Cavallis
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Axel Teich Geertinger: Die Opernsinfonien Francesco Cavallis. Schütz-Jahrbuch 25 (2003), pp. 105-143. Bärenreiter, Kassel 2003 Die Opernsinfonien Francesco Cavallis AXEL TEICH GEERTINGER ine möglichst vollständige Edition der Opernsinfonien Francesco Cavallis stellt ein E langgehegtes Desideratum auf dem Forschungsgebiet der Ouvertüre und der Sinfonie dar, können doch damit die Grundlagen für die Bewertung der venezianischen Opernsinfonia des 17. Jahrhunderts erheblich erweitert werden. Die vorliegende Studie schließt sich beson- ders an die Arbeiten Helmut Hells und Stefan Kunzes an, die sich jedoch hauptsächlich auf das 18. Jahrhundert bezogen und die venezianische Opernsinfonia deshalb nur summarisch behandeln konnten1. Somit zählen die älteren Studien von Alfred Heuß, Hermann Kretzsch- mar und Egon Wellesz noch immer zu den wichtigsten Arbeiten auf diesem Gebiet2. Mit der Veröffentlichung von Cavallis Opernsinfonien lassen sich einige der mittlerweile ein Jahrhundert alten Auffassungen neu beurteilen, etwa die auch in neueren Darstellungen noch zu findende These, es sei vor allem ein zweiteiliger Typus (langsam, geradtaktig – schnell, ungeradtaktig) vorherrschend. Dies erweist sich bei genauerem Hinsehen zumindest für Cavalli als irreführend. Die auf Kretzschmar und Heuß zurückzuführende Verallgemeine- rung, die Opernsinfonien Cavallis seien pauschal als „Programmouvertüren“ zu verstehen, ist schon von Helmut Hell wie auch von Stefan Kunze in Frage gestellt worden, wobei jedoch die gegenteilige Behauptung Hells, die instrumentale Operneinleitung nähme „zum jeweiligen Stück […] keinerlei Bezug“, wiederum zu kategorisch ausfällt3. Die große Mehrzahl der Sätze besitzt zwar keinen direkten musikalischen oder dramatischen Zusammenhang mit der dar- auffolgenden Oper, doch gibt es Ausnahmen (so z. B. die Einleitungsstücke zu L’Egisto, Mutio Scevola und Il Pompeo Magno). Als Opernsinfonien werden im folgenden die instrumentalen Sätze bezeichnet, die den Prolog bzw. den ersten Akt einleiten und demnach zu einem gewissen Grad die Funktion einer Ouvertüre tragen. In diesem Sinne ist also auch z. B. die „Tocco di Battaglia“ von Mutio Scevola eine Opernsinfonia, obwohl sie nicht als „Sinfonia“ bezeichnet ist. Instrumentalstücke innerhalb der Akte blieben indes grundsätzlich außer Betracht. Von den 33 Opern, die heute allgemein als Werke Cavallis anerkannt werden, sind be- kanntlich 27 in der Sammlung Contarini der Biblioteca Nazionale Marciana (I-Vnm) erhalten. Davon enthalten 23 eine einleitende Sinfonia. Diese Stücke sind im Anhang in kritisch revi- dierter Edition wiedergegeben. Dabei ist zu bemerken, dass die Opern Xerse, Erismena, Statira und Artemisia ursprünglich mit einem Prolog gespielt wurden, der jedoch im Manuskript in 1 Helmut Hell, Die neapolitanische Opernsinfonie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts [...], Tutzing 1971 (= Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 19); Stefan Kunze, Die Sinfonie im 18. Jahrhundert, Laaber 1993 (= Handbuch der musikalischen Gattungen 1). Die vorliegende Studie basiert auf der Arbeit Francesco Cavallis operasymfonier, die der Verf. im Jahr 2001 am Musikwissenschaftlichen Institut der Ko- penhagener Universität (Prof. Dr. Siegfried Oechsle) zur Erlangung des Kandidatgrades vorgelegt hat. 2 Alfred Heuß, Die venetianischen Opern-Sinfonien, in: SIMG 4 (1902–1903), S. 404–477; Hermann Kretzsch- mar, Die Venetianische Oper und die Werke Cavalli’s und Cesti’s, in: VfMw 8 (1892), S.1-76; Egon Wellesz, Studien zur Geschichte der Wiener Oper. Cavalli und der Stil der venezianischen Oper von 1640–1660, in: StzMw (1913), S. 1–103. 3 Hell (wie Anm 1), S. 29. 106 AXEL TEICH GEERTINGER Venedig nicht erhalten ist. In diesen Fällen handelt es sich bei den hier wiedergegebenen Stü- cken also nicht um die primären Einleitungsstücke der Opern, was bei einer Diskussion der eröffnenden Funktion zu berücksichtigen wäre. Auch den Manuskripten der Opern La virtù de’ strali d’amore (1642), L’Orimonte (1650) und L’Hipermestra (1654, Erstaufführung 1658) fehlt der ursprüngliche Prolog. Da sie auch vor dem ersten Akt keine Sinfonia enthalten, sind sie hier nicht vertreten. Hinzugenommen wurden dafür die Sinfonia vor dem ersten Akt der Oper Le nozze di Teti e di Peleo, deren Prolog keine Sinfonia aufweist, und diejenige vor dem zweiten Akt von L’Er- cole. Auch diese Sätze stellen zwar nicht die Haupteinleitungsstücke dar. Sie besitzen jedoch immerhin eine einleitende Funktion sekundären Grades und sind für das Gesamtbild der Opernsinfonien Cavallis von Bedeutung – zum Teil eben durch ihre Andersartigkeit, die ge- rade mit ihrer n i c h t primären Eröffnungsfunktion zusammenhängt. Wo unmittelbar auf die Einleitungssinfonia ein Ritornell folgt, ist dieses im Notenanhang wiedergegeben, obwohl es keinesfalls zur Sinfonia zu rechnen ist. Im Falle der L’Ormindo-Sinfonia wurde zur Illustration außerdem die g-Moll-Variante des wechselweise in d-Moll und g-Moll erklingenden (und als „Sinfonia“ bezeichneten) Prolog-Ritornells verzeichnet. Das Ritornell folgt zwar nicht unmit- telbar auf die Einleitungssinfonia. Da es jedoch aus einer Variation der letzten vier Takte der Einleitungssinfonia gewonnen wurde und den scheinbaren Bruch zwischen Takt 13 und 14 der Sinfonia (Oktavparallelen, leere Quint in T. 14)4 vermeidet, ist es für den Zusammenhang von Bedeutung. Um die Entwicklung innerhalb der knapp 30 Jahre von 1639 bis 1667 zu skizzieren und möglicherweise vorherrschende Typen festzumachen, wurden die insgesamt 25 Opernsinfo- nien auf ihre Form- und Satzstruktur hin untersucht. Dabei war bei der Formstruktur unter anderem die Frage der Ein- oder Mehrteiligkeit zu stellen (von einer Mehrsätzigkeit der Sin- fonia kann bei Cavalli noch nicht die Rede sein), während bei der Satzstruktur das Vorkom- men verschiedener Elemente wie Fugato bzw. Imitation, Concertato und Fanfare zu prüfen war. Auch das Eindringen der von Alfred Heuß als „Allegro-Elemente“5 bezeichneten leb- hafteren Satzteile wurde untersucht. Um einen Gesamtüberblick zu geben, sind in Tabelle 1 auf der folgenden Seite die Stücke in skizzenhafter Form dargestellt. Dabei wurde versucht, sowohl Satzstrukturen als auch ver- mutete Tempocharaktere sowie die Länge ungefähr wiederzugeben. Die Titel der Opern fol- gen dem Manuskript. Die oftmals geläufigeren Titel der Libretti sind im Notenanhang in Klammern angegeben. Die Datierung folgt hauptsächlich Peter Jeffery, der mit seiner Studie über die autographen Manuskripte Cavallis einen wertvollen Beitrag zur Cavalliforschung ge- leistet hat6. Der homorhythmische Satz mit feierlichem, ruhig schreitendem Charakter herrscht insge- samt vor. Für die frühen Sätze gilt dies sogar in nahezu ausschließlicher Weise. Die frühen Opernsinfonien sind alle einteilig – auch die Sinfonia vor dem ersten Akt von Le nozze di Teti e di Peleo (1639), wo sich trotz des Wechsels zwischen ruhigem und lebhaftem Satz weder Takt noch Grundtempo ändern. Im Laufe der 1640er Jahre tritt des weiteren der oft als typisch venezianisch bezeichnete zweiteilige Typus auf, der aus einem langsamen, geradtaktigen 4 Heuß (wie Anm. 2) notiert Note 1 der 2. Stimme in T. 14 fälschlich a' statt c''. 5 Heuß ebd., S. 407. 6 Peter Jeffery, The Autograph Manuscripts of Francesco Cavalli, Ph. D. Princeton University 1980. Die Opernsinfonien Francesco Cavallis 107 Tabelle 1: Form- und Satzstrukturen OPER AKT TEILE TONART FORM- UND SATZSTRUKTUR Le nozze di Teti I * 1 e (0 ) e di Peleo (1639) La Dafne (1640) P1 C La Didone (1641) P 1 G (0 ) L’Egisto (1643) P 1 g (1 ) L’Ormindo (1644) P 1 g (1 ) La Doriclea (1645) P2 a Il Giasone (1649) P2 C :: L’Oristeo (1651) P1 C La Rosinda (1651) P1 (2)a La Calisto (1652) P 2 D (0 ) ==== L’Eritrea (1652) P 1 G (0 ) Il Delio (1652) P2 a L’Orione (1653) P3 C :=========: :=======: Il Ciro (1654) P 1 (3) D (0 ) Il Xerse (1655) I * 1 D (0 ) L’Erismena (1655) I * 3 C ==== La Statira (1656) I * 1 (3) e (0 ) == L’Artemisia (1657) I * 1 d (0 ) Il rapimento d’Helena P1 F :: (1659) L’Ercole (1662) P3 C : : L’Ercole (2) (1662) II * 3 F :=====: Scipione affricano I2 C : : :: (1664) Mutio Scevola (1665) I1 C Il Pompeo Magno I1 C :: :: :: :: (1666) L’Eliogabalo (1667) I3 a :: :: :: ZEICHENERKLÄRUNG Langsam Contertato Schnell Fanfare Akkordisch/homorhythmischer Satz * Sätze, die einen Akt, nicht aber die Oper == Imitation/Fugato insgesamt einleiten 108 AXEL TEICH GEERTINGER und einem schnellen, ungeradtaktigen Tempo besteht. Zu beobachten ist er übrigens bereits in Cavallis La Dafne (1640), dort jedoch noch nicht als Eröffnungssinfonia, sondern vor dem zweiten und dritten Akt. Da nur etwa ein Viertel der Sinfonien diesem Schema gehorcht, kann es nicht als Prototyp der Opernsinfonia Cavallis gelten. Zwar trifft zu, dass die Sinfo- nien mit Tempowechsel stets mit einem langsamen Teil beginnen, so dass die Folge langsam- schnell durchaus als ein Grundmuster anzusehen ist. Es stellt jedoch eher eine aus den Sätzen gewonnene Abstraktion als eine konkrete, dominierende Formstruktur dar. Folgende Typolo- gie ließe sich skizzieren: 1. Einteilige, langsame, durchwegs homorhythmische Sätze. Die Gruppe bildet mit den Sinfonien der Opern La Dafne, La Didone, L’Egisto, L’Ormindo, L’Oristeo, Il Xerse, L’Artemisia und Elena die größte des Corpus und betrifft vor allem die frühen Werke. 2. Zweiteilige Sätze mit der Folge langsam/geradtaktig – schnell/ungeradtaktig. Hierbei kann der schnelle Teil eine Neurhythmisierung des ersten Teils sein.