<<

15 +2 RAINERFASSBINDER WERNER HEUTE

KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 1

DIE FILME DES RWF

Filme müssen irgendwann einmal aufhören, Filme zu sein, müssen aufhören, Geschichten zu sein und anfangen, lebendig zu werden, daß man fragt, wie sieht das eigentlich mit mir und meinem Leben aus. (Fassbinder, 1974)

Als 1969 die ersten beiden Spielfilme Fassbinders, LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD und , aufgeführt wurden, war das der Beginn einer neuen Epoche im deutschen Kino. Zwar hatten innovative Ideen, Programme und Spielfilme in der Folge des Oberhausener Manifests den Tod von Opas Kino besiegelt und Abschied von gestern genommen, und erste Zielgruppenfilme trugen die Revolte auf Super 8 und 16mm in Hörsäle, Gewerkschaftsgruppen und Kellerkinos, aber Fassbinder brachte nun mit seinem filmischen Doppelschlag eine neue Qualität in die Ausein- andersetzung um den deutschen Kinofilm: Radikal in Form und Inhalt, kompromiß- los gegenüber Verleihern und Fernsehredaktionen, operierte er mit Genres und einer Ästhetik, die seine Kritik an lebensfeindlichen Verhältnissen der Bundesrepu- blik einem breiten Publikum nahebringen sollte.

Von diesem ersten Moment an bis zu seinem Tod 1982 war Fassbinder Anreger und Motor des unabhängigen deutschen Films, öffnete Wege des Erzählens und des unabhängigen Denkens auch für andere FilmemacherInnen, zeigte, wie Kreati- vität mit gesellschaftlichem Scharfblick und Engagement zusammengehen konnte. Seine immense Bedeutung für das Kino liegt deshalb vielleicht auch weniger in einzelnen Werken, als vielmehr in der radikalen persönlichen Haltung, mit der er an seinen Stoffen arbeitete. Und je größer jetzt der Abstand zur Entstehungszeit der Filme wird, desto deutlicher tritt deren Konsequenz und innere Beziehung zueinander ans Tageslicht.

Der Basis-Film Verleih bringt anlässlich von Fassbinders 20. Todestag in Zusam- menarbeit mit der Foundation ein Programm von 15 Spiel- und 2 Kurzfilmen dieses Autor-Regisseurs heraus. Entsprechend einem der Filmtitel steht diese Werkschau unter dem Motto

WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE

Nichts könnte den berserkerhaften Willen zur Wahrheit und zur Analyse seiner selbst und seiner Zeit besser beleuchten, als diese Warnung, wenn man sie nicht nur auf die Nutte Kino bezieht, sondern auch auf deren Schöpfer selbst: Da ist einer, der Geld, Kraft und Können anderer Leute rigoros dazu einsetzt, seine Visio- nen, Ängste und Träume in die Öffentlichkeit zu bringen; dessen bitteres Urteil und dessen aggressive Menschlichkeit die Bitterkeit und das Liebesbedürfnis all dieser Leute mit aufnimmt.

Die Werke dieses größten Filmkünstlers und Unruhestifters des deutschen Nach- kriegskinos gewinnen neue Qualitäten, wenn man sie wiedersieht. Während man- ches von dem, was bei der Premiere provozierte, heute an Brisanz verloren hat, nimmt anderes, früher eher Übersehenes, an Deutlichkeit zu. Zerrüttungen und VORWORT In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERFASSBINDER WERNER HEUTE

KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 2 Täuschungen, die durch neue Moden, leicht verteilt über einen größeren Zeit- Ideologien und geänderte politische raum aufführen können. Dafür werden Weichenstellungen unsichtbar gemacht Kapazitäten, Programmpolitik und werden, treten im Licht seiner Filme inhaltliche Konzeption der Kinomacher schärfer hervor. Fassbinder, großer Stilist ausschlaggebend sein. Jeder Fassbinder- (bis zur Manieriertheit) und großer Rea- Film ist ein Erlebnis. Doch wir hoffen, list (ohne in Naturalismus zu verfallen) dem Filmemacher nicht Unrecht zu tun bleibt Stachel im Fettlebe-Fleisch der und ihn nicht auf einfache Schlagworte Bundesrepublik, Prüfstein für ihre zu reduzieren, wenn wir die Filme in Glaubwürdigkeit, ihre Menschlichkeit zwei Themenbereiche einteilen, die wir und ihre Fähigkeit, das eigene Gesicht, als zentral für sein Werk und auch als wo es entstellt ist, kritisch anzusehen. besonders aktuell ansehen: FASSBIN- DER HEUTE: SEELE IN DEUTSCH- Es wäre sicher für jedes Publikum ein LAND und FASSBINDER HEUTE: DIE einmaliges Erlebnis, diese Filme nach- ANDERE SEITE DER GEWALT. Mit dem einander in einer großen, mehrtägigen Vorschlag an die KinomacherInnen, in Gesamtschau zu sehen. Nicht nur die ihrem Programm diese beiden Aspekte Entwicklung Fassbinders vom suchen- des RWF zu repräsentieren, wollen wir den, experimentierenden Genre-Kenner dessen radikalem Blick auf die Gesell- und theatralischen Realisten (Gang- schaft und auf die Kämpfe und Leiden sterfilme und KATZELMACHER) zum der Menschen entsprechen, ohne ihm Chronisten und Analytiker von seine wunderbare und herausfordernde Gefühlen und Machtstrukturen (DIE Vieldeutigkeit zu nehmen. EHE DER MARIA BRAUN) kann erfah- ren werden, sondern auch die innere Die folgende Materialsammlung soll Homogenität dieses Oeuvres und seine künftige Diskussionen über Fassbinders radikale Bindung an das subjektive Filme unterstützen. Das Neu-Heraus- Empfinden des Filmemachers. bringen dieser 15+2 Fassbinder-Filme Ich habe neulich mal sämtliche Filme wird von unserem Optimismus beglei- im Laufe von vier Tagen gesehen ... tet, dafür ein neues, insbesondere jun- Wenn man sie im Zusammenhang sieht ges Publikum zu gewinnen. Wir haben (RWF spricht hier speziell von seinen die Auszüge aus Interviews, Kritiken, ersten neun Filmen), dann wird einem Essays und Monografien ausgewählt klar, daß sie von jemandem gemacht unter der Fragestellung: Mit welchen wurden, der da seine Sensibilität, seine künstlerischen Mitteln hat RWF seine Aggressionen und seine Angst umsetzt. Sicht der Welt ausgedrückt? Wie ist die (Fassbinder, 1976) Kunst seiner Filme mit dem Zustand der Aus den vielen Filmen wird in einer Gesellschaft verbunden? Wie zielen solchen Gesamtschau ein einziges, seine Filme ins Heute? grandioses Werk. Der Zuschauer kann Jede Zeit muß die Aktualität des RWF durch Zeiten und Geschichten wan- neu für sich entdecken. Wir wollen dern, und bald wird er feststellen, daß etwas beitragen zum Kino unserer Tage. er sich auf einer großen Wanderung durch sein eigenes Leben befindet. Clara Burckner Viele Kinos werden die Filme jedoch Christian Ziewer nur einzeln oder in einer Auswahl, viel- Basis-Film Verleih Berlin, Juli 2001 VORWORT In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERKINO ODER WERNER LEBEN

KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 3

Inhaltsverzeichnis

Ich muß versuchen, Zusam- VORWORT ...... 1 menhänge herzustellen, um INHALT, ANMERKUNGEN & IMPRESSUM ...... 3 mich dagegen wehren zu 2 KURZFILME: DER STADTSTREICHER, DAS KLEINE CHAOS . . . . . 4 können, in von anderen Leu- LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD ...... 5 ten gemachten Zusammen- KATZELMACHER ...... 7 hängen unterzugehen ... GÖTTER DER PEST ...... 9 Kunst? Mit dem, was man DER AMERIKANISCHE SOLDAT ...... 11 macht, versucht man, sein WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE ...... 13 Publikum in einer bestimm- HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN ...... 17 ten Art und Weise zu sensi- DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT ...... 19 bilisieren für’s Leben, für die ANGST ESSEN SEELE AUF ...... 21 Umwelt. Das ist ein Sensibi- FONTANE ...... 25 lisierungsprozeß, den man FAUSTRECHT DER FREIHEIT ...... 27 mit sich selbst vorgenom- MUTTERS KÜSTERS FAHRT ZUM HIMMEL ...... 29 men hat und den man über- ANGST VOR DER ANGST ...... 31 tragen muss für sein Publi- SATANSBRATEN ...... 33 kum – mehr ist es nicht. CHINESISCHES ROULETTE ...... 37 (Fassbinder 1979) DIE EHE DER MARIA BRAUN ...... 39

Diese 15+2 Filme werden, dank einer Förderung der Filmboard Berlin-Brandenburg GmbH und der FilmFernsehFonds Bayern GmbH, mit neuen Kopien (neue Lichtbestimmung) ab August 2001 vom Basis-Film Verleih Berlin in Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Foundation neu herausgebracht

Anmerkungen zur nachfolgenden Materialsammlung Texte von Fassbinder, bei denen die Quelle nicht angegeben ist, sind dem Katalog Rainer Werner Fassbinder Werkschau der Rainer Werner Fassbinder Foundation entnommen. Die Kurzinhalte orientieren sich an den Inhaltsangaben von Wilhelm Roth in Peter W. Jansen / Wolfram Schütte (Hrsg.): Rainer Werner Fasssbinder. Die filmografischen Angaben von H.H.Prinzler sind aus demselben Sammelband. Überschriften und Hervorhebungen wurden von uns gewählt.

Impressum Konzeption, Kommentare und Textauswahl: Christian Ziewer Grafik, Satz und Layout: Studio Kraut Herausgeberin: Basis-Film Verleih GmbH internet: www.basisfilm.de email: [email protected]

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERDIE ERSTEN (KURZ)FILMEWERNER von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 4

DER STADTSTREICHER DER STADTSTREICHER Fassbinder Heute: Seele in Deutschland Darsteller Momentaufnahme eines Einsamen. Keine Veränderung, kein Voran- Christoph Roser, Susanne Schimkus, kommen im Leben, nur der kurze Augenblick einer Angst und einer , Thomas Fengler, Todessehnsucht. Fassbinders Sympathie zeigt sich im ruhigen, beharrli- chen Blick seiner Kamera, in der Wahl der melancholischen Musik Stab und der Poesie eines kleinen Liedes, gesungen für eine Scheibe Brot. Buch/Regie: R. W. Fassbinder Kamera: Josef Jung Kurzinhalt: Ein Stadtstreicher findet eine Pistole. Vergeblich versucht er, die Waffe loszuwerden. Zwei Männer, die ihn beobachten, nehmen Technische Angaben ihm die Pistole schließlich weg. BRD 1966, 35 mm, s/w, 10 min

DAS KLEINE CHAOS DAS KLEINE CHAOS Fassbinder Heute: Die andere Seite der Gewalt Darsteller Fassbinder macht aus dieser Beschreibung der drei Mini-Gangster eine Rainer Werner Fassbinder kleine Studie über abgeschaute Gesten, Floskeln und Rituale des ame- Marite Greiselis, Christoph Roser rikanischen Genre-Films. Sehr witzig und spielerisch erzählt er auch Stab von der fröhlich genossenen Brutalität im Alltag. Buch/Regie: R. W. Fassbinder Kamera: Michael Fengler Kurzinhalt: Drei junge Leute sind als Abonnentenwerber für Illustrierte unterwegs. Sie nutzen die Möglichkeit, unverdächtig in Wohnungen Technische Angaben einzudringen, für einen Überfall auf eine Frau. Sie nehmen ihr Geld BRD 1967, 35 mm, s/w, 9 min und verschwinden unbehelligt. Ich möcht’ endlich mal einen Krimi sehen, der gut ausgeht. (Fassbinder als Franz in diesem Film)

DAS KLEINE CHAOS DER STADTSTREICHER

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERLIEBE IST KÄLTER WERNER ALS DER TOD Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 5

FASSBINDER HEUTE: DIE ANDERE SEITE DER GEWALT Darsteller Die Lust Fassbinders und seiner Darsteller, mit den Mustern amerikanischer und französischer Gangsterfilme zu spielen, erschöpft sich nicht darin, die Handlung einige bekannte Statio- Rainer Werner Fassbinder nen des Genres durchlaufen zu lassen. Viel mehr ist das Interesse Hans Hirschmüller auf die Pausen zwischen den Aktionen gerichtet, auf das „Atem- holen“, in dem sich die Welt der Protagonisten entfaltet. Wie Ursula Strätz Irm Hermann diese in den handlungsarmen Situationen aufeinander reagieren, Yaak Karsunke wie ihr Schweigen und Reden, ihr Laufen, Warten und Lieben aussieht, das wird dem Zuschauer kühl (in seiner Stilisierung) und Stab genau vorgeführt, sodaß er sich schließlich fragt: Wieviel Echtes, Buch/Regie: R. W. Fassbinder Authentisches ist an diesen Figuren, und wieviel ist Leben aus Kamera: zweiter Hand, angenommene Pose und Kinostereotype? Ins Heute Schnitt: Franz Walsch hinein erzählt Fassbinder von Einsamkeit, Sehnsucht nach (d.i. Rainer Werner Fassbinder) menschlicher Nähe und der Suche nach einer eigenen Identität. Musik: / Holger Münzer Es sind Leute, die, um das leben zu können, was ihnen lebens- Produktion: antiteater-X-Film wert erscheint, sich in Rollen begeben, die eigentlich nicht die ihren sind. Das ist natürlich etwas Trauriges oder auch etwas Technische Angaben Schönes. Mir geht es darum, daß das Publikum die eigenen, BRD 1969, 35 mm ganz privaten Gefühle überprüft. Die Leute (auch 16mm), s/w, 88 Min. meinen, daß man sich gern haben muss, obwohl sie gar nicht Prädikat: wertvoll wissen, was das ist. (Fassbinder, 1969) FSK ab 16 Jahren

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERLIEBE IST KÄLTER WERNER ALS DER TOD Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 6

Kurzinhalt Gespräch der Zeitschrift FILMKRITIK mit Mit wieviel Kapital haben Sie denn angefangen? Der Zuhälter Franz (R. W. Rainer Werner Fassbinder (RWF) und seinem RWF: Angefangen haben wir mit 15 000 und dann haben wir noch mal ein paar tausend gekriegt. Fassbinder) weigert sich, Ensemble im Juni 69 vor der Premiere des ersten Films bei den Berliner Filmfestspielen: Und das hat dann gereicht? einem Verbrechersyndikat RWF: Das mußte reichen. Es war einfach nicht beizutreten. Das Syndikat Sie haben beim Drehen sehr viel geändert. mehr da. Wie soll man sich das genauer vorstellen? läßt ihn zusammenschla- Wie haben denn Verleiher reagiert, die den Film RWF: Wir haben halt ziemlich viel Einstellungen gen und setzt Bruno (Ulli bisher gesehen haben? zusammengezogen beim Drehen. Im Drehbuch RWF: Ja, der erste Verleiher, der ihn gesehen hat, Lommel) auf ihn an. Franz waren es ungefähr 500 Einstellungen, jetzt sinds hat gesagt: Ja, dieser Typ von dem Syndikat, der liebt Bruno, will auch 240. Jeden Abend vor dem Drehen haben wir uns muß immer wieder auftauchen in dem Film. Außer- überlegt, wie man das alles in einer Einstellung seine Freundin Joanna dem müssen ungefähr drei Mädchen hinein. Und sagen kann, was man sonst in zehn sagt. (Hanna Schygulla), die für dann dürfen die Einstellungen nicht so lang sein. ihn auf den Strich geht, mit Kam denn dieser Entschluß, so mit möglichst lan- Das war der erste ... Und der andere Verleiher, der ihm teilen. Im Auftrage des gen Einstellungen zu operieren, erst kurz vor dem hat gesagt, bei der Einstellung von Lommel an der Drehen? Tür, da müssen die Titel drüber. Syndikats begeht Bruno RWF: Ja, erst beim Drehen selbst. Morde, die Franz angela- Die wissen aber doch schon, woraufs ankommt. stet werden sollen. So soll Und warum? Peer Raben: Das Schlimme ist, daß die Verleiher RWF: Bei einer Sache war es so, daß ich gesehen sich immer auf ihr Publikum herausreden, und dieser an das Syndikat habe, daß es viel schöner ist, wenn man es in einer man merkt, daß sie glauben, sie hätten das aller- gebunden und zur Mitar- Einstellung macht. Das war ein Zufall. Irgendwas schlechteste Publikum. Die halten von dem Publi- beit gezwungen werden. ging nicht. Ich hatte mir da im Drehbuch irgend- kum überhaupt nichts. was ausgedacht, wo man einen Kran gebraucht Schließlich planen Bruno Sagten die dann auch noch, wir findens ja gut, hätte. Da habe ich gesagt: Gut, wenns nicht geht, aber ... und Franz einen Banküber- dann machen wirs ganz einfach in einer Einstel- Raben: Ja. Der eine sagte, die Katrin Schaake, die fall. Joanna verrät sie an lung. Und dann hab ichs in den Mustern gesehen, will das Publikum sehen, die muß immer wieder die Polizei. Im Durchein- das fand ich ungeheuer schön ... In dieser einen kommen. Die andere, die wolln wir nicht sehen, Einstellung hier am Abend, wo die Hanna nach ander des Überfalls wird die Hanna Schygulla, die will niemand sehen. Bruno von der Polizei Hause kommt und das Geld abliefert, eine Vier- minuteneinstellung, da wars auch so, daß ich mir Eine pauschale Frage. Wie weit hat das, was Sie erschossen. Franz und gedacht habe, daß das von den Möglichkeiten der im Theater und auch im Film machen, mit Sozia- Joanna können fliehen. Kamera und vom Spielen her am stärksten wird, lismus zu tun? wenn man es in einer Einstellung macht. ... Es geht also im Film wie auch in der Anarchie in Bayern in erster Linie nicht um irgendwelche Das war die erste entscheidende lange Einstel- größeren politischen Strukturen, sondern es geht lung. Wie weit waren die Dialoge vorgegeben? darum zu zeigen, wie Gewaltanwendung durch RWF: Ja, die waren alle vorgegeben. Die mußten private Dinge, durch Liebe und Gefühle, wie das wir, weil wir am zweiten Drehtag beschlossen zusammenhängt, oder daß da Zusammenhänge haben, ganz ohne Tonband zu drehen, ganz ohne sind. Daß man versuchen sollte, im ganz Privaten Was übrig bleibt, wenn Primärton auch, so sprechen, wie sie im Drehbuch Revolution zu machen, nicht irgendwelche man diesen Film gesehen gestanden haben, weil wir sonst niemals hinge- Umschwünge zu machen zu einem Zeitpunkt, der kommen wären beim Synchronisieren. hat, das ist nicht, dass hier gar nicht richtig ist. Das ist meine Vorstellung von jemand sechs Leute ermor- Sie hatten doch nicht von Anfang an vor zu syn- Sozialismus. chronisieren? det hat, dass es hier ein Und da gehören also auch Flipper dazu? RWF: Doch, doch, der Film sollte synchronisiert paar Tote gegeben hat, son- RWF: Logisch gehören Flipper dazu und lauter werden von Anfang an ... und weil wir so wahn- Dinge, die Spaß machen. Wenn ich gerne Flipper dern dass hier arme Leute sinnig wenig Leute gewesen sind. Wir hatten einen spiele, kann damit niemand was anfangen. Aber waren, die nichts mit sich Kameramann, einen Beleuchter, das war die ganze wenn ich jemand so gerne mag, daß ich ihn heira- anfangen konnten, die ein- technische Crew, und sonst waren nur noch die te, das ist dann schon wieder benutzbar. fach so hingesetzt wurden, Schauspieler da. Selbst der Herr Raben, der Pro- wie sie sind, und denen duktionsleiter, war noch eine Woche in Berlin von Was heißt benutzbar? der Drehzeit. Wir hätten gar keinen Mann dafür RWF: Ich heirate jemand, dann habe ich ein Ver- keine Möglichkeit gegeben gehabt und auch kein Geld mehr, um einen Ton- antwortungsbewußtsein, folglich muß ich arbeiten, wurde - die einfach keine menschen zu bezahlen. Wenn man Originalton weil ich für jemand mitarbeiten muß oder umge- haben. dreht, dann muß man einen Tonmann haben, der kehrt, und dadurch bin ich in einem Prozeß drin. (Fassbinder in Film 8/1969) das wirklich ein bißchen versteht.

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERKATZELMACHER WERNER Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 7

FASSBINDER HEUTE: DIE ANDERE SEITE DER GEWALT Darsteller Die Sprache der Floskeln und Gemeinplätze, das unbewegte Beieinander- Hanna Schygulla sein vor starrer Kamera, das dumpfe Schweigen im grellen Licht, die Rainer Werner Fassbinder Eintönigkeit der Spaziergänge und der Kamerafahrten lassen vor dem Irm Hermann Zuschauer das Bild einer bedrückenden Gegenwart entstehen. Was da Rudolf Waldemar Brehm lauert und darauf wartet, daß es freigesetzt wird und loswüten kann, was Hans Hirschmüller sonst sich unsichtbar hinter alltäglichen Ritualen versteckt – hier gerät es in den Blick der Öffentlichkeit und macht sie erschrecken. Nicht erst die Lilith Ungerer körperliche Brutalität gegen den „Griech’ aus Griechenland“ macht die Elga Sorbas geschilderten Ereignisse zum menschlichen und politischen Skandal, son- Doris Mattes dern schon in den üblichen, alltäglichen Umgangsformen dieser Kleinbür- ger, in ihren Redensarten und Versuchen, Liebe wie Schulden einzutrei- Stab ben und die eigene Abgestumpftheit als Lebenstüchtigkeit auszugeben, Buch/Regie: R. W. Fassbinder liegt der Terror. Wie Fassbinder dieses Gewebe aus Handlungen, Lügen Kamera: Dietrich Lohmann und emotionalen Erpressungen knüpft, wie er ihm theatralisch Worte und Schnitt: Franz Walsch Bilder gibt, darin liegt für das Publikum eine entschiedene Herausforde- rung: Ablehnung oder Sich-Einlassen aufs Exemplarische, Modellhafte? (d.i. Rainer Werner Fassbinder) Solche Ästhetik schafft wache Zuschauer. Musik: Peer Raben Produktion: antiteater-X-Film „Der Kleinbürger ist ein Mensch, der unfähig ist, sich den Anderen vorzu- stellen. Wenn der Andere sich seinen Blicken zeigt, wird der Kleinbürger Technische Angaben blind, oder er ignoriert oder leugnet ihn, oder aber er verwandelt ihn in BRD 1969, 35 mm sich selbst. Im kleinbürgerlichen Universum sind alle Fakten der Konfron- (auch 16 mm), s/w, 88 Min. tierung solche der Rückstrahlung ... Die Schauspiele, die Gerichte, Orte, Prädikat: besonders wertvoll an denen der Andere sich möglicherweise zeigt, werden zu Spiegeln. Das FSK ab 16 Jahren kommt daher, daß der Andere ein Skandal ist, der die Essenz bedroht.“ (Roland Barthes: Mythen des Alltags)

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERKATZELMACHER WERNER Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 8

Kurzinhalt Fassbinder diesen Träumen reden, glauben sie der Eine Gruppe junger Men- So habe ich den Schwerpunkt auf klein- Freiheit nahe zu sein, für die Geld und schen schlägt sich die Zeit bürgerlich-proletarische Normen abge- Liebe ein uneingelöstes Versprechen tot. Man hockt zusammen stellt, auf den täglichen Leerlauf von sind. Aber Freiheit bleibt fern, und das in der Kneipe oder auf Klischeevorstellungen, geprägt von Glück, wenn sie’s mit Worten fassen, ist dem Hinterhof, trinkt, Wunsch- und Wohlstandsmoral, von dennoch nicht da. spielt Karten, endlos sich ‘Bild’ - Zeitungserkenntnissen und (W. Schütte, Frankfurter Rundschau, 3.12.69) im Kreise drehende ‘gesundem Volksempfinden’. Gespräche, man spaziert (Oktober 1969 bei der Mannheimer Filmwoche) PRINZIP HOFFNUNG herum, tauscht Klatsch und Als Mahnung verbleibt das dem Film Tratsch, Gehässigkeiten Die Kamera als Zuschauer vorangestellte Motto: „Es ist besser, und heuchlerische Freund- Der amerikanische Filmkritiker Vincent neue Fehler zu machen, als die alten lichkeiten, schläft mitein- Canby verglich die Kamera in KATZEL- bis zur allgemeinen Bewußtlosigkeit zu ander, auch mal gegen MACHER mit „einem trägen Vorstadt- konstituieren.“ Geld. Und als der Fremde, Punk, der so gelangweilt ist, daß er Das Zitat von Yaak Karsunke verweist, der griechische Gastarbei- nicht einmal mehr hinschaut, wenn bei aller demonstrativen Tristesse der ter (R. W. Fassbinder), auf- einer seiner Freunde hereinkommt oder Szenerie, zugleich auf das utopische taucht, kann man an ihm hinausgeht. Mitten im Kommen und Potential der Inszenierung: daß das seine Aggression abreagie- Gehen der Leute glotzt die Kamera ein- „falsche Bewußtsein“ aufgeklärt, das ren. Auch einen Profit fach stur geradeaus, manchmal auf eine gesellschaftlich vorgeschriebene kann Elisabeth (Irm Her- kahle Wand, so wie ein Bursche, in „Glücksversprechen“ durchschaut, ein mann) aus dem ausländi- dessen Kopf absolute Leere herrscht.“ „alternatives Leben“ realisiert werden schen Untermieter heraus- (M. Töteberg in R.W. Fassbinder, Die Kinofilme 1) könnte. Dieses Prinzip Hoffnung, schlagen. Nur Marie unschwer im soziokulturellen Kontext (Hanna Schygulla) bricht Liebe und Geld der so genannten 68er- Bewegung zu aus der Gruppe und ihren In dem Maße, in dem uns Fassbinders verorten, manifestiert sich in dem fast Vorurteilen aus und geht Film den unteren Rand unserer Gesell- brechtschen Gestus der Dramaturgie, mit ihm. schaft zeigt, den wir aus den Augen die unverkennbar der Bühnenarbeit ent- verloren und vor dem wir sie verschlos- stammt. Die fragmentierende Szenen- sen hatten, kommt er einer Entdeckung Montage (vom Theaterregisseur Fassbin- gleich, einer Entdeckung seiner künstle- der zuvor ausgiebig erprobt), das kurio- rischen Fähigkeiten und unserer bisheri- se Kunst-Bayrisch („Eine Liebe und so, gen Blindheit ... Vier bis fünf Mädchen, das hat immer mit Geld was zu tun“) die gleiche Anzahl junger Männer: In und die ins Leere gerichteten Blicke der ihrer Welt wird mit einer Penetranz von Nachkommen des Kleinbürgertums Liebe gesprochen, die nur vergleichbar (zumeist von einer statischen Kamera ist der Penetranz, mit der im selben fixiert) durchkreuzen die aufkeimenden Ich weiß, daß meine Kri- Satz von Geld die Rede ist. Man hat Träume von Geld und Glück („Eine tiker mich oft für einen das in einem deutschen Film noch nie Liebe braucht jeder im Leben“). Was Psychopathen halten - gehört und mit gutem Grund: So wie den Figuren vorenthalten bleibt, sollten aber wie ich die Dinge wir gelebt werden, ist Geld und Liebe die Zuschauer realisieren. sehe, haben die oft einen dasselbe. Der mehrfache Umschlag von (aus J. Felix „Die heilige Hure“ in T. Koebner Therapeuten eher nötig als Zärtlichkeit in Brutalität macht diese (Hrsg.): Idole des deutschen Films) ich - denn ich kann Identität deutlich. Liebe und Geld schließlich all das im Film wären aber die einzigen Hoffnungen, Zu einer Liebe, da gehört loswerden, was mich aus der Dumpfheit des Lebens zu ent- schon ein Schmerz bedrückt oder belastet. kommen. Diese jungen Menschen träu- (Filmzitat) (Fassbinder) men von beidem, und während sie von

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINER WERNER

Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 9

FASSBINDER HEUTE: DIE ANDERE SEITE DER GEWALT Darsteller Ein äußerst melodramatischer Film: Gangster, Polizei, Liebe, Harry Baer Eifersucht und Tod. Aber hinter dem Genre-Stück werden Men- Hanna Schygulla schen in ihrer Alltäglichkeit sichtbar: Sehnsucht nach Liebe und Günther Kaufmann Nähe, Angst vor Einsamkeit und vor der wortlosen Kälte des All- Ingrid Caven tags. Erschreckend und faszinierend zugleich sind Zärtlichkeit, Carla Aulaulu Gleichgültigkeit und Brutalität ineinander verflochten. Yaak Karsunke Der Film ist ein schönes Beispiel dafür, wie Fassbinder sich der Reize und Wiedererkennungseffekte von Kino-Mythen bedient, Stab wie er sie mit seiner persönlichen Erfahrung verbindet und sie Buch/Regie: R. W. Fassbinder umwandelt. Durch die Darsteller und den Blick seiner Kamera Kamera: Dietrich Lohmann kreiert er aus Vorgefundenem und Eigenem seine subjektive Schnitt: Franz Walsch Welt. (d.i. Rainer Werner Fassbinder) Musik: Peer Raben Produktion: antiteater Für mich war immer wichtig, Filme zu drehen über Menschen und deren Verhältnis zueinander, deren Abhängigkeit voneinan- Technische Angaben der und von der Gesellschaft. Abhängigkeit macht Menschen BRD 1969, 35 mm (auch 16 mm), s/w, 91 min unglücklich, und wenn man das bewußt macht, dann arbeitet Prädikat: besonders wertvoll man halt sozial. (Fassbinder, 71) FSK ab 16 Jahren

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINER WERNER

Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 10

Kurzinhalt Licht und Dunkel Zwischen den Zeilen ... Franz (Harry Baer) wird aus Für mich ist unter den frühen Filmen Fass- Schlüsselfiguren, Schlüsselsätze seiner Zeit dem Gefängnis entlassen binders GÖTTER DER PEST der persönlich- und Generation hat Fassbinder angehäuft, und sucht frühere Bekannte ste, auch der pessimistischste, der schwär- aufeinander kopiert und in ein so artifiziel- auf. Die Nachtclubsängerin zeste. In diesen Dekors (den ersten, die les wie geschlossenes Beziehungsschema Joanna (Hanna Schygulla), Fassbinder hat bauen lassen), die fast im gebracht. Parodie, Allegorie, Moralstück ... die ihn liebt, will ihm hel- Dunkel ertrinken, in diesem sonnenlosen Wie er es anfängt bei dauernder Aktion - es fen. Aber um ihrem Besitz- München, müssen diese kleinen Gangster wird gesoffen, gejeut, gemordet und viel in anspruch zu entkommen und armen Mädchen scheitern. Ob Marga- immer neuen Kombinationen ins Bett und sich nicht weiter von ihr rethe Franz liebt oder Joanna Franz nicht gegangen - so wortkarg-poetisch, so sta- mehr liebt: das Ergebnis ist immer das glei- tisch-anschaulich, ist bemerkenswert. aushalten zu lassen, verläßt che. Die Personen sind so sehr auf sich In diesem Film findet alles Entscheidende er sie. Er sucht seinen Bruder allein gestellt, so wenig fähig, sich einander zwischen den Zeilen statt. (Hilde Spiel, FAZ) und findet ihn tot. Der zu öffnen, so sehr auch isoliert von Ge- „Gorilla“ Günther (Günther schichte und Gesellschaft, daß nur Einsam- Filme und Leben Kaufmann) gibt zu, ihn keit und Tod am Ende stehen können. Als Fassbinder Ende der Sechziger mit dem erschossen haben: „Er hat (W. Roth in Jansen/ Schütte: Rainer Werner Fassbinder) Filmemachen begann, befand sich Holly- gesungen, es war ein wood bereits in einer tiefen Krise, und seine Befehl.“ Franz lernt Marga- Kameramann dieser Nachtwelt ist Dietrich glorreiche Vergangenheit fungierte für die rethe (Margarethe von Trotta) Lohmann. Er setzt das Licht sparsam ein, cinephile Gemeinde als so etwas wie das kennen. Gemeinsam überle- konzentriert es auf wenige Punkte. Die Per- verlorene Paradies. Dies nicht nur aufgrund gen die drei, wie sie zu Geld sonen kommen aus dem Dunkel und ver- des anderen Kulturbegriffs und der Zeitver- kommen können, und Franz schwinden in ihm. Hartes Schwarz steht schiebung. Es war die doppelte Verschiebung und Günther beschließen, neben grellem Weiß. Die Zwischentöne, in von Sprache und historischem Moment einen Supermarkt zu über- denen Leben stattfindet, fehlen fast völlig. selbst, die beim Wiedersehen der Filme die fallen. Doch sie werden von ... Ein Fatum waltet über dieser Welt. Alle Sehnsucht nach der naiven Unschuld am Joanna aus enttäuschter Auswege sind verschlossen. Sprache funk- ergreifendsten machte. Nostalgie und Trauer Liebe zu Franz verraten. Der tioniert nicht als Mitteilung, sie erstarrt wurden so zu einem integralen Bestandteil Überfall mißlingt, Franz und zum Monolog. dessen, was Hollywood einerseits zu einer (ders. in Süddeutsche Zeitung, 19.4.75) der Supermarktbesitzer wer- sehr persönlichen und subjektiven Filmerfah- den von der Polizei erschos- rung, andererseits aber auch zu der kollek- Die Gewalt des Privaten tiv-formierenden Jugenderfahrung im Nach- sen. Günther kann entkom- GÖTTER DER PEST handelt rigoros und kriegseuropa machte ... Was wenige Kritiker men, aber auch er wird nach ziemlich ausschließlich von ein paar Men- registrierten, war, daß diese tollwütigen Pro- einem weiteren Mord ster- schen und ihren ganz privaten Beziehungen vinzmachos aus den Münchener Vororten, ben. Margarethe und Joanna zueinander - ohne Rücksicht auf die Spiel- die hier „Chicago“, „Gangster“ oder „Profi- stehen gemeinsam am Grab regeln des Gangsterkinos. Killer“ spielten, in ihrem Nachahmungsbe- von Franz. Diese Beziehungen - Liebe, Eifersucht, dürfnis ein beständiges Moment der Populär- „Das Gangstermilieu ist Haß, Gleichgültigkeit - sind eigentlich kultur transportieren: das Vergnügen an der sozusagen auch ein bürgerli- gewöhnlich, normal einfach ... Solche ein- perversen oder invertierten Identifikation, der ches Milieu, nur mit umge- fachen Gefühle und Reaktionen - in guten mimetische Impuls der Maskerade, kurz: die kehrtem Vorzeichen, aber Gangsterfilmen Randerscheinungen, in karnevalesken Utopien und Überschreitun- mit den gleichen bürgerli- schlechten sentimental ausgespielt - werden gen, die im Herzen des Filmfans zu Hause chen Idealen. Meine Gang- hier ausführlich beschrieben, ausgestellt: sind: „Ich mache keine Gangsterfilme, son- ster sind Opfer der Bürger- Sie sind das Thema des Films. Das Faszinie- dern Filme über Leute, die viele Gangsterfil- lichkeit und keine Rebellen - rende daran ist, daß Fassbinder heraus- me gesehen haben.“ Hier war ein Regisseur, kriegt, wie gemein, brutal, ja gewalttätig wenn sie das wären, müs- der mit Versatzstücken aus der Popkultur und nachgerade terroristisch diese Men- sten sie sich anders verhal- arbeitete, allerdings vom Zuschauer die Auf- schen sind, die sich lieben, hassen oder ten. Die verhalten sich im merksamkeit verlangte, sich permanent zwi- sich auch nur gleichgültig sind. schen dem, was dem „Leben“ und dem was Prinzip genauso wie sich der (Fernsehen + Film, Juli 1970) Kapitalismus und die bürger- anderen Filmen abgeguckt war zu bewegen. (T. Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder) liche Gesellschaft verhalten. (Fassbinder)

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERDER AMERIKANISCHE WERNER SOLDAT Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 11

FASSBINDER HEUTE: DIE ANDERE SEITE DER GEWALT Darsteller Von allen vergleichbaren Filmen Fassbinders ist dieser sicherlich Karl Scheydt Jan George am deutlichsten eine Paraphrase auf den amerikanischen Polizei und Gangsterfilm: „Ich zeige, daß die staatliche Gewalt letztlich Eva Ingeborg Scholz über die Gangster-Gewalt siegt, und zwar im Prinzip mit genau Kurt Raab den gleichen Methoden.” (Fassbinder, 1971) Aber die stringente, Elga Sorbas geschlossene Form, die sich so offensichtlich den Mustern des Marius Aicher Genres anpaßt, kann nicht verbergen, daß ihre innere Welt ins Margarethe v.Trotta Offene drängt, in den freien Raum des Alltags, in dem der R.W. Fassbinder Zuschauer sich seinen Assoziationen und Gefühlen überläßt. Katrin Schaake Was oberflächlich betrachtet nur wie ein Spiel mit Filmzitaten Irm Hermann, Ulli Lommel und Kinoerinnerungen aussieht, erweist sich bei näherem Hin- sehen als authentische Lebenserfahrung. Fassbinder sprengt die Stab Buch/Regie: R. W. Fassbinder Grenzen des Genres und findet zu einer sehr persönlichen Sicht Kamera: Dietrich Lohmann auf Lebensängste, Hoffnungen und Illusionen. Schnitt: Thea Eymèsz Die Gangster haben dieselben bürgerlichen Wünsche wie die Musik: Peer Raben Bürger. Darin liegt vielleicht auch der Unterschied zu den ame- Produktion: antiteater rikanischen Gangsterfilmen, wo die Gangster in manchen Fällen Technische Angaben wirklich outsider sind, während meine kleinen Gangster und BRD 1970, 35 mm Diebe im Grunde genommen in die Gesellschaft integriert sind. (auch 16 mm), s/w, 80 min (Fassbinder, 1971) Prädikat: besonders wertvoll FSK ab 16 Jahren

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERDER AMERIKANISCHE WERNER SOLDAT Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 12

Kurzinhalt Gefühle verboten und So-als-ob-Realität. Und überall wird Drei Münchner Polizisten Sentiment und Brutalität, Freundschaft der US-Gangster-Film der dreißiger Jahre (Jan George, Hark Bohm, und Verrat, Tristesse und Melancholie wer- sichtbar. Fassbinders Kino-Welt ist trost- Marius Aicher) haben den den in elegischen Bildern eingefangen. los, öde, ohne Ausweg. Hier benutzt Berufskiller und Vietnamve- Ursprünglich war als erste Szene Rickys jeder jeden. Hier haut jeder jeden übers teranen Ricky (Karl Scheydt) Ankunft auf dem Flughafen vorgesehen. Ohr. Hier räumt jeder jeden aus dem angeheuert. Er soll für sie Bei der Paßkontrolle fragt ihn der Beamte Weg, wenns sein muß. Hier gibt es keine einige Personen umbringen, nach dem Grund seines Besuches in Beziehungen, keine Liebe, nur Kontakt- die sie als "Gesetzeshüter" Deutschland. Ricky: „Ich möchte in mei- Geplänkel und schwache Signale frag- nicht töten könnten. Vor der nem Heimatland sterben.“ Liebe und Tod würdiger Gefühle. Der Zufall wütet blind Erledigung des Auftrages sind in dieser Welt untrennbar verbunden. und erbarmungslos. Die Menschen sind Momente großer Zärtlichkeit ziehen seelische Krüppel, die andere schlagen, trifft Ricky seinen alten immer Leichen nach sich: Während Ricky weil sie selbst so geschlagen sind. Freund Franz (R. W. Fassbin- Rosa umarmt, erschießt er sie. Kurt kann Am Ende aber steht wie immer der Tod. der). Rickys erstes Opfer ist seine unterdrückten, verbotenen Gefühle Und eine Zeitlupenorgie, als sich der ein Zigeuner (Ulli Lommel); erst zeigen, als er sich über die Leiche des Bruder über den Leichnam des geliebten dann ein Mädchen, das mit Bruders wirft. Killers wirft, zu einer nicht endend wol- Pornoheften und Informatio- Es ist, als ob die Menschen ihre Gefühle lenden Umarmung, zu der er vorher nicht nen handelt (Katrin Schaa- erst dann ausdrücken können, wenn der fähig war. ke). Da ihr Freund gerade andere keine Handhabe mehr hat, solche (Karsten Peters, AZ München, 2.12.70) anwesend ist, erschießt Eingeständnisse gegen den Liebenden Ricky auch ihn. Als Ricky auszunutzen. Im Leben können die Men- Vom Zustand der Welt II im Hotel ein Mädchen ver- schen nicht zueinander kommen. Er zeigt die Zustände. Wenn etwa der langt, schicken ihm seine (M. Töteberg in Fassbinders Filme 2) Ami und sein deutscher Freund Franz den Auftraggeber Rosa (Elga Sor- Hinterhof eines Gebäudekomplexes bas), die Geliebte eines der Zitat und Ironie betrachten, in dem der Killer vor 15 Jah- Polizisten. Sie verliebt sich DER AMERIKANISCHE SOLDAT, eine Kil- ren gelebt hat, stellen sie gemeinsam fest, in ihn. Nach einem kurzen lergeschichte, zitiert perfekt den gesam- daß sich in den 15 Jahren nichts verän- Besuch bei seiner Mutter ten US-Krimi der späten dreißiger, der dert habe. Diesen Schlüsselsatz kann vierziger und fünfziger Jahre. Da stimmt man als Motiv für die Fassbindersche und seinem Bruder erhält alles, von der Einstellung über Gestik und Dramaturgie betrachten: das Unveränder- Ricky seinen letzten Auftrag: Mimik bis hin zur Sprache. Und mehr te zu zeigen, indem die Welt als eine Rei- Er soll Rosa töten. Ohne zu noch: Fassbinder läßt weder tote noch hung von Zuständen gezeigt wird. Ein zögern, tut er es. Am lebende Personen noch den jungen deut- ausgesprochenes Kunstmittel also, das mit Hauptbahnhof kommt es schen Film noch sich selbst aus. Werden der Realität nur ideologisch etwas zu tun zum Showdown: Durch das Klischees gekonnt erfüllt, übererfüllt ent- hat (die Welt, wie sie ist, ist nur noch ein Eintreffen von Rickys Mutter steht Ironie daraus. DER AMERIKANI- Zustand), das aber mit rigoroser künstleri- und Bruder abgelenkt, wer- SCHE SOLDAT ist herrlich ironisch, wit- scher Konsequenz durchgehalten wird den Ricky und Franz von zig und brillant. und immer auf die Wirklichkeit zurück- der Polizei erschossen. Der (Gerd-Niels Wötzel, AZ 10.10.70) verweist. ... Die letzte Momentaufnahme Bruder wirft sich über den aber demonstriert, daß weder Haß noch toten Ricky -- in einer end- Vom Zustand der Welt I Liebe die Mensche voneinander befreien los langen Zeitlupenaufnah- Wieder diese eigentümliche, abstoßend- können. Sie sind unentrinnbar miteinan- me. faszinierende Atmosphäre-Mischung aus der verwickelt, auf ihren Zustand fixiert. Brutalität, Tristesse, Melancholie, Zärtlich- (Bremer Nachrichten, 28.11.1970) keits-Spurenelementen und Sentiment. Unterkühlt das Klima, unverblümt und spröde die Sprache, ungekünstelt die Bil- der und die Szenen. Quasiimprovisation

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERWARNUNG VOR EINER WERNER HEILIGEN NUTTE Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 13

FASSBINDER HEUTE: SEELE IN DEUTSCHLAND Darsteller Heute, 30 Jahre nach seiner Entstehung, wird man in diesem Künst- lerportrait eine umfassende, die Tiefenschichten ausleuchtende Sicht Hanna Schygulla auf die 68er- Bewegung und deren Folgen für die Gegenwart erken- nen. Wie Fassbinder vom inneren Zustand jener Zeit, von den Äng- Rainer Werner Fassbinder sten, der Zerrissenheit und den vergeblichen Emanzipationswün- Rudolf W. Brem schen erzählt, öffnet er dem Zuschauer selbst noch in den fehlschla- Ulli Lommel genden Versuchen seiner Protagonisten ein utopisches Fenster (Bloch). Katrin Schaake, Karl Scheydt Eine Kamerafahrt und ein langsamer 360 Grad-Schwenk durch die Margarethe von Trotta Hotelhalle, in der vom Filmemachen geredet wird und die Protagoni- Kurt Raab, sten ihre Selbstdarstellungen, ihre kleinen und großen Gefühlsaus- Stab brüche zelebrieren. Dann einige Zeit später der nahezu gleiche Buch/Regie: R. W. Fassbinder Rundumschwenk. Nun ist der Raum fast menschenleer, nur gleich- Kamera: mäßiges Rauschen des Meeres ist zu hören. Und doch ist die Szene Schnitt: Franz Walsch beredt: Der Zuschauer füllt sie, die so still und handlungsarm vor ihm (d.i. R. W. Fassbinder), Thea Eymèsz liegt, mit Erinnerungen an vorherige Ereignisse des Films und mit Par- Musik: Peer Raben, Gaetano Donizet- ti, u.a. tikeln seines eigenen Lebens. Fassbinder fordert lebendige Phantasie Ausstattung: Kurt Raab heraus und öffnet den Film für die Wirklichkeit. Er lässt durch seine Produktion: antiteater-X-Film / Bilder und den Rhythmus des Erzählens einen imaginären Raum ent- Nova International, Rom stehen, in dem der Zuschauer nicht alles schon zu wissen glaubt. In dem er sich auf die Suche nach neuen Antworten begibt. In dem er Technische Angaben einem flüchtigen Augenblick nicht-entfremdeten Lebens begegnet. BRD 1970, 35 mm, Farbe, 103 Min. Prädikat: besonders wertvoll FSK ab 12 Jahren

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERWARNUNG VOR EINER WERNER HEILIGEN NUTTE Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 14

Kurzinhalt Aus einem Interview mit Und daß Sie so schnell produzieren In einem Hotel irgendwo R. W. Fassbinder: konnten, lag das am eingespielten am Meer wartet ein Film- Team? team auf den Regisseur, den Wie haben Sie gelernt Filme zu Das liegt daran, daß ich extrem sicher Star, das Geld der Staatli- machen? bin. Das kann dann fast jedes Team. chen Filmförderung und das Indem ich sie gemacht habe. Nur wer Filmmaterial. Eine Stim- Leier spielt, lernt Leier spielen. Ich hab Warnung vor einer heiligen Nutte war mung, gemischt aus Hyste- halt mal bei einem Film Ton gemacht, doch eine deutsch-italienische Kopro- rie und Apathie, Hoffnun- mal bei einem Regie-Assistenz und hab duktion. Welchen Vorteil hatten Sie von gen, Gezänk, Neid, Affären. bei ein paar Filmen mitgespielt. Regie- dieser Produktionsform? Als der Regisseur Jeff (Lou Assistenz hab ich gemacht bei einem Der Vorteil liegt klar auf der Hand. Der Castel) zusammen mit dem Film über kindergelähmte Kinder, wie Star (Eddie Constantine) ein- Koproduktionspartner übernimmt die Sport treiben. Ton hab ich gemacht trifft, wird er sofort zum Mit- bestimmte Teile, in diesem Fall das bei einem Dokumentarfilm über unehe- telpunkt des Chaos. Wech- Beleuchtungsmaterial, Kameramaterial liche Mütter in Norditalien, und gespielt selnde Paare und Gruppen. und ein paar Schauspieler und hat dafür Autoritär versucht der Her- hab ich bei Bundeswehrfilmen, die für die italienischen Rechte bekommen. Das stellungsleiter (R.W.Fassbin- die Bundeswehr produziert werden, um Motiv war auch, einen Film, der in Itali- der), die Dreharbeiten zu den armen Soldaten zu zeigen, daß en oder Spanien gedreht werden mußte, organisieren. Eddie, der man, wenn man in der Autoreparatur- etwas billiger herzustellen. Ich hab Eddie unter den anderen wie ein Werkstatt arbeitet, auf die Bremskolben Constantine nicht genommen, weil ich Fossil aus vergangenen Zei- kein Öl spritzen darf, weil sonst ein töd- glaube, daß wegen dem jemand ins ten wirkt, findet Kontakt zur licher Unfall passieren kann. So hab ich Kino geht oder wegen Lou Castel, son- Schauspielerin Hanna halt das Filmemachen gelernt. Und dann dern weil die für die Rollen halt die rich- (Hanna Schygulla). Jeff bin ich sehr viel ins Kino gegangen, drei tigen Interpreten sind. Ich hab überhaupt erläutert die Inszenierung Jahre lang jeden Tag zwischen drei- und wenig spekuliert, sondern ich hab ver- der nächsten Szenen. Das viermal. In alle Filme, ich hab mich da sucht, die Sachen, die ich mache, mit ganze Team, das sich nicht spezialisiert, was man halt so den Möglichkeiten, die ich habe, richtig zunehmend von Jeff abhän- schafft am Tag, vom Leopold ins Mar- zu machen. Daß diese Koproduktion gig fühlt, rebelliert in sinnlo- morhaus und vom Marmorhaus ins ABC zustande kam, hat mit Peter Berling zu sen Aktionen. Jeff wird und vom ABC ins Studio für Filmkunst, tun, der in Italien lebt und diese Kopro- zusammengeschlagen. Dann oder dasselbe in der Stadt. Und dann duktion aufgetrieben hat und mir auch aber kann endlich mit den gab´s da mal so ein Institut in München, gesagt hat, man müsse Koproduktionen Dreharbeiten begonnen das Deutsche Institut für Film und Fern- werden. machen, man müsse internationaler wer- sehen, da konnte man so Filmliteratur den. Das hat mich aber nicht so sehr an aus dem Ausland lesen, die Cahiers und Ohne daß sie es recht dieser Sache interessiert, sondern mehr Sight and Sound, man konnte auch merken, ist aus dramati- die Möglichkeit, einen Film etwas teurer, reden und man konnte zugucken, wie scher Hysterie und kli- mit etwas mehr Stab zu machen. andere Leute Film schneiden. Da gab´s schierter Leidenschaft (B. Bronnen, C. Brocher: Die Filmemacher) einen Schneidetisch, wo ich mir an etwas entstanden, was sie einem Tag das Schneiden beigebracht nie recht greifen konnten, habe. was den Grund ihrer Ver- wirrung ausmachte, was Wie kam es, daß Sie in so kurzer Zeit so sie sündigen und beten viele Filme produzieren konnten? ließ: der Film, der sie Weil ich so schnell produzierte, je weni- anzieht und sich ihnen ger Drehtage man hat, um so billiger entzieht, der Film - eine wird alles. heilige Nutte. (RWF im ersten Presseheft, 1970)

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERWARNUNG VOR EINER WERNER HEILIGEN NUTTE Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 15

Die Verwirrung der Gefühle ken, probiert das doch mal. Ist nämlich Die Gebrochenheit menschlicher Bezie- gar nicht so schwer, mit seinem Hirn hungen scheint durch all die klischierten mal was anzufangen. Leidenschaftsausbrüche. Die Künstlich- keit dieser Realität verdeutlicht die Frag- Verkehrsformen II würdigkeit, die in der Einbeziehung (Drehbuchauszug) ungestalteter Wirklichkeit in der Kunst Hotelhalle. Mike (der Kameramann) grüßt Eddie, geht dann liegt, die Verwirrung der Gefühle zeigt zu Jeff. die Problematik einer - ohne Maßstäbe - MIKE: Hast du Lust, mir was von morgen allgemeiner Ratlosigkeit ausgesetzten zu erzählen? Generation. Wer mit künstlerischen JEFF: Logisch, komm. Sie gehen zusam- Machern irgendeines Bereiches, nicht men durch die Hotelhalle. nur des Films, zu tun hat, wer die nerv- Also, Mike, ich will eine unheimlich liche Labilität der heute Erfolgreichen ruhige und lange Einstellung drehen. Ich spürt, wer die Spannungen innerhalb will ganz langsam durch beide Räume solcher künstlicher Gemeinschaften fahren. Gerade weil hier zwei brutale ahnt, wird in diesem Film erschreckt die Morde begangen werden, da muß unse- Tiefe der Verzweiflung, die grausame re Haltung dazu eine völlig alternative Furcht vor der Resignation, die neuen, sein. Denn wenn die Sachen so zack- doch unausrottbaren Formen von Pres- zack passieren und du schnipselst da sionen und Zwängen erkennen. Fassbin- nachher so rum, dann kriegen die Leute der, an dessen Ehrlichkeit nie zu zwei- doch nie ein Gefühl dafür, daß ein Mord feln war, lieferte mehr, als nur das Psy- eben ... eben seine Zeit braucht, ja? Daß chogramm eines Filmteams: er gibt son Mord eben gar nicht so einfach ist ... einen Einblick in eine moderne Kunst- Ja, son Mord, das ist schon ne komische welt, der vielleicht später erst als wichti- Sache. Das wirkt so schön sentimental, ger Beitrag zur Filmgeschichte dieser und das Publikum ist dann auch immer Epoche erkannt wird. gleich erschüttert, weil es glaubt, es (Effi Horn, Münchner Merkur, 2.6.72) kennt die Leute da oben. Aber funktio- nal, so als Funktion doch nie. Und Verkehrsformen I genau das wollen wir hier mal versu- (Drehbuchauszug) chen. Man muß das mal kapieren, was Die Entwicklung, die mein Am Set Jeff (der Regisseur) steht vor einer Wand. Im Spie- das ist, ein Mord oder so was. Regisseur durchläuft, gel sind Eddie Constantine und das blonde Mäd- MIKE: Das ist ungeheuer schön. Aber besteht darin, daß ihm chen zu sehen, die ihm zuschauen. Zeitweise schwierig. Und du meinst, Eddie kann klar wird, daß die Gruppe sind Honey und Antonio im Spiegel bei der dir das bringen? Arbeit zu sehen. keine Gruppe ist und er JEFF: Bringt das, bringt das. Der hat JEFF: Ihr habt das so zu machen, wie ich den Traum des Kollektivs doch Verstand im Kopf. aufgibt. Er verliert seine das will, und wenn ich euch sage, die Schienen werden dahin gelegt, dann Illusionen und sieht die Der filmische Blick Situation so, wie sie ist ... werden sie eben auch dahin gelegt und Vermittels Schwenks, Fahrten und Schär- Das eigentliche Thema ist, nicht woanders - ist das klar? Ihr müßt fentiefenverlagerung löst der Kamerablick, wie die Gruppe arbeitet erst mal lernen, was überhaupt Film ist! der immer wieder den Bewegungen und und wie Führerpositionen Ich mußte es ja auch lernen. Aber euch Blicken einzelner Figuren folgt, die Konti- entstehen und ausgenutzt scheint das ja wohl alles nur so zuzuflie- nuität der filmischen Erzählung in separie- werden. gen, oder? Wirklich zum Kotzen. Ver- rende Zeiträume auf, die den Beobachter (R. W. Fassbinder, 1971) sucht doch mal mit eurem Kopf zu den- immer wieder zu einer Um- und Neu-

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERWARNUNG VOR EINER WERNER HEILIGEN NUTTE Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 16

orientierung zwingen, ohne daß jemals ein System injizierten, sie letztlich von den umfassender, gleichsam auktorialer Über- Massen isolieren und damit wirkungslos blick auf die Ereignisketten und Erlebnis- lassen würde. Er vertraute seinem eigenen welten gewährt würde. Es ist eben der politischen Konzept und drehte Filme, die filmische Blick, der (ergänzt durch die prä- die Menschen auch dann bewegten, wenn zise Sprachregie und choreographischen sie selbst von ihnen kritisiert wurden. Es Arrangements) den Betrachter zum Betei- ging nicht darum, Filme zu machen, die ligten einer kinematographisch evozierten den Staat als illiberal entlarvten oder die Lebenswelt werden läßt, aus der alle ob- RAF verdammten, sondern die innere Ver- jektiven Wahrheiten zugunsten konkurrie- arbeitung des resultierenden Schmerzes, render Subjektivitäten verbannt sind. Die der Paranoia und der unerträglichen Span- Interessen sind heterogen, widersprüchlich, nung ins Bild zu setzen. wetteifernd. (aus T. Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder) (J. Felix: Die heilige Hure, in T. Koebner (Hrsg.): Idole des dtsch. Films) Schein und Wirklichkeit beim Filmemachen Auf ein Gewitter warten ... Der Kopf, die Energie, die Sexualität des WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE Teams ist freilich - wie sollte es anders sein ist zumeist als Wendepunkt in Fassbinders - der Regisseur: Lou Castel hat sich Fass- Werk gesehen worden, aber selbst binders Lederjacke angezogen und agiert wenn man von den autobiographischen wie der junge Brando. Erst als er mit dem Elementen absieht, verrät die Atmosphäre, Star des Films - Eddie - einfliegt, kommt träger, von Langeweile und Erwartung Leben in das Team. Und was sich nun zwi- gekennzeichneter Aggression viel von der schen ihm und seinen Mitarbeitern ab- Stimmung der politischen Gruppen und spielt, hat einfach nicht das geringste mit studentischen Kommunen zu Beginn der dem zu tun, was sich vor der Filmkamera siebziger Jahre, die auf so etwas wie ein abzuspielen hat. Patria o Muerte soll der Gewitter warteten, was das spannungsrei- Film laut Klappentext heißen, man befindet che Klima aus leidenschaftlichem Engage- sich in der Dekoration Villa des Ministers, ment in der Anti--Bewegung und Marquard Bohm trägt eine Phantasieuni- den an Che Guevaras Guerilla-Aktivitäten form, Eddie soll die Frau des Ministers per in Bolivien geknüpften Hoffnungen zur Handkantenschlag töten und weigert sich. Entladung brächte. Immer wieder fragten Lemmy Caution als Agent einer diktatori- sie sich, wie man den Vietnam-Krieg nach schen Staatsmacht? Nein! Die Konkretisie- Hause bringen könne, um den Feind im rung von Phantasie spielt nur eine unterge- eigenen Land endlich zu entlarven und ihn ordnete Rolle in diesem Film gegenüber nachfolgend direkt zu attackieren. Insofern den Versuchen, mit sich und den anderen bedurfte es für Fassbinder nicht erst der zu Rande zu kommen, der Schein hat mit Roten Armee Fraktion und der Ereignisse der Wirklichkeit derer, die ihn fabrizieren, von 1977, um zu verstehen, auf welche nicht das geringste zu tun. Leben = filmen? Ein wesentliches Bedürfnis Weise aktionistische Provokationen dazu Schizophrenie, Prostitution. Es soll ein Film der Kunst ist das nach Aus- angetan sind, den Staat die eiserne Faust gedreht werden über die staatlich sanktio- nutzung und Organisierung aus dem liberal-demokratischen Samthand- nierte Gewalt, aber die ihn machen, wer- derjenigen Energien des schuh hervorziehen zu lassen, um die den nicht fertig mit der kleinen alltäglichen Menschen, die im Alltag eigene latente Gewaltbereitschaft zu mani- Gewalt, die die menschlichen Beziehun- entweder gar nicht oder festieren. Wiewohl intellektuell angezogen gen zusammenklebt oder auseinanderreißt. nur partiell und einseitig von der bedingungslosen Radikalität der (W. Limmer, SZ., 2.6.72) zur Geltung kommen. Baader-Meinhof-Gruppe, war Fassbinder (aus Boris Eichenbaum: Literatur sich nur zu bewußt, daß der Wahnsinn, und Film, 1926) den deren Aktionen dem politischen

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de +2 15 RAINERHÄNDLER WERNER DER VIER JAHRESZEITEN Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 17

FASSBINDER HEUTE: DIE ANDERE SEITE DER GEWALT DARSTELLER Wie Fassbinder das Melodram mit Leben füllt, wie er dem Pathos Hans Hirschmüller großer Gefühle einen realen Boden gibt, wie er die theatralische Irm Hermann Form der Tragödie im Alltag des Wirtschaftswunder-Deutschlands Hanna Schygulla ansiedelt, das ist das Ereignis dieses Films. Fassbinders Trauerarbeit Klaus Löwitsch über die Einsamkeit der „kleinen Leute”. Eine Geschichte darüber, Andrea Schober was es heißt, seinem eigenen Leben entfremdet zu sein. Hans Ingrid Caven schlägt dieses Leben am Ende aus, das ihm die Erfüllung seiner Kurt Raab Träume versagt hat. Diese Träume, wie auch die bösen Erinnerun- Gusti Kreissl, Karl Scheydt gen, nehmen konkrete Gestalt an: Schwester und „große Liebe“, Lilo Pempeit, Mutter, Straßenmädchen und Folter. Daß Vergangenheit oder Traum STAB (Halluzination) ins Bild gesetzt wird, ist ungewöhnlich in Fassbin- Buch/Regie: R. W. Fassbinder ders Werk, in dem sonst fast nur vom Gegenwärtig-Realen erzählt Kamera: Dietrich Lohmann wird (s.a. ein kurzer traumhafter Moment im STADTSTREICHER Schnitt: Thea Eymèsz oder die ALEXANDERPLATZ-Apokalypse). Musik: “Kleine Liebe” von R.W.F. Nachdem Fassbinder Hans’ Passion immer wieder in starre Meta- Ausstattung: Kurt Raab phern und Tableaus getrieben hat, gewährt er ihm unverhofft Bilder Produktion: Tango-Film, München eines gleitenden, schwingenden Frei-Seins und führt ihn aus klaus- trophobischer Enge von Wohnungen und Hinterhöfen in die Offen- TECHNISCHE ANGABEN heit der Natur. Dieses einzige Mal im Film lässt er eine zärtliche BRD 1971, 35 mm Melodie (eine eigene Komposition) erklingen, deren Charakter so (auch 16 mm), Farbe, 89 Min. anders ist als jener der nostalgischen Schallplatte. Daß Hans vor Prädikat: besonders wertvoll dem bitteren Ende aus Schnaps und trostloser Erinnerung diese klei- FSK ab 16 Jahren ne Glück geschenkt wird, zeigt, wie sehr Fassbinder ihn liebt.

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation +2 15 RAINERHÄNDLER WERNER DER VIER JAHRESZEITEN Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 18

Kurzinhalt Fassbinder OHNE AUSWEG Der Ex-Fremdenlegionär Der „Händler“ ist nach einer Zeit entstanden, (Es) fallen einem zahlreiche Beispiele für „ver- und Ex-Polizist Hans Epp in der ich mich sehr intensiv mit den Melodra- knotete“ Logik oder „wahres falsches Bewußt- men von beschäftigt habe, und sein“ in Fassbinders Filmen ein, und oft hat es (Hans Hirschmüller) zieht ich hab´ ein paar Elemente, die ich da begrif- den Anschein, als entkämen die Figuren den als Obsthändler mit sei- fen hatte, von denen ich auch begriffen hatte, Teufelskreisen des politisch falschen Bewußt- nem Karren durch die Hin- daß das Publikum sie mag und sich dafür inter- seins nur, um sich anschließend in der viel- terhöfe. In seinem Leben essiert, halt da rein getan. Zum Beispiel die leicht interessanteren, aber auch noch verhee- ist schon vieles schiefge- Geschichte mit dem Karl Scheydt, der da eine renderen Logik des double bind wieder zu fin- laufen. Den Ansprüchen Liebesnacht mit der Frau vom Obsthändler hat den. und dann später wieder als Angestellter Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür liefert seiner Mutter konnte er nie kommt. Das hätte ich wahrscheinlich früher erneut HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN, genügen, seine große nicht gemacht, weil mir das zu sehr Traumfa- als das Leben von Hans Epp durch die Zurück- Liebe (Ingrid Caven) durfte brik gewesen wäre. Und das hab´ ich mich weisung seiner Mutter, die ihn beschimpft, ihn aus Standesgründen dann halt plötzlich getraut. ... Damals, als ich weil er heimkehrt, vernichtet wird: nicht heiraten. Er trinkt, angefangen habe, haben mir halt so ganz kühle, stilisierte, kalkulierte Filme besser gefal- Mutter: Daß du in die Legion gegangen bist, prügelt seine Frau (Irm len als so Dramen. Mittlerweile gefallen mir ist deine Sache. Aber daß du einen so netten, Hermann), die ohne Liebe die Melodramen besser. freundlichen Jungen wie den Wagner Manfred neben ihm lebt und Kind (aus B.Bronnen, C.Brocher: Die Filmemacher) mitziehst (...). Die Schwierigkeiten, die ich mit (Andrea Schober) und den Eltern hatte! Mich haben sie dafür verant- wortlich gemacht! Mich! Ist er auch zurück? Haushalt versorgt. Eines INTERVIEW MIT FASSBINDER Hans: Manni ist tot. Tages erleidet er den ersten Mutter: Immer das Gleiche! Die Besten blei- Herzinfarkt. Nach seiner Ihre neueren Filme sind natürlich nicht realis- ben draußen, und so einer wie du kommt Genesung heuert er Harry tisch im Sinn einer genauen Rekonstruktion zurück. der Wirklichkeit. Hans: Ich habe mich geändert, Mutter! (Klaus Löwitsch), einen Der Realismus, den ich meine und den ich will, alten Kameraden aus der Mutter: Was Teufelchen vor Mittag, bleibt Teu- das ist der, der im Kopf der Zuschauer passiert, felchen nach Mittag! Fremdenlegion, als Ange- und nicht der, der auf der Leinwand ist, der stellten an. Der Obsthan- interessiert mich überhaupt nicht, den haben Hier geht es nicht um das Verweigern von del fängt an zu florieren. die Leute ja jeden Tag. Was ich will, ist ein Anerkennung durch eine wichtige Bezugsper- son. Das, was Hans’ Mutter ihm mitteilt, ist Hans aber wird immer offener Realismus, einer, der einen Realismus zuläßt und nicht provoziert, daß die Leute sich eigentlich, daß er tot sein müßte, ehe sie ihn depressiver. Er kommt mit zumachen. Wenn man den Leuten noch einmal liebhaben könne. Damit beginnt eine Kette dem kalten Egoismus der dasselbe, so wie sie es erleben, vorzeigt, ver- von Ereignissen, die darin kulminieren, daß er Welt, die ihn umgibt, nicht schließen sie sich meiner Ansicht nach. gegen sich selbst Partei ergreift und sich zu zurecht. Auch seine Tode säuft. Das Muster ist jedoch bereits zuvor Seit dem HÄNDLER hat sich auch die Sprache offengelegt worden, wenn Hans erklärt, daß er Schwester (Hanna Schygul- in Ihren Filmen geändert, es ist nicht mehr die seinen Job bei der Polizei verloren hat, weil er la), der einzige Mensch, typische Fassbinder-Sprache, wie man sie etwa sich auf dem Polizeirevier den Annäherungen vom KATZELMACHER kennt. der ihm mit Liebe begeg- einer Prostituierten hingab: „Ist doch ganz Ich habe für mich entdeckt an dieser Sprache net, kann den Druck, der klar, daß so ein Verhalten untragbar ist, bei der aus den frühen Filmen, daß die zwischen dem Polizei. Ich beschwer´ mich ja gar nicht. auf ihm lastet, nicht min- Zuschauer und dem Film steht, daß der Wenn ich das nicht selber wüßte, das ... dann dern. In seiner Stammknei- Zuschauer eben über die Sprache nicht einen wär´ ich ein schlechter Polizist gewesen, oder? pe säuft er sich in Gegen- Zugang zum Film findet, sondern, daß ihm Und ich bin ein guter Polizist gewesen.“ diese spezifische Fassbinder-Sprache den wart seiner Frau zu Tode. Solche double binds, bei denen Identität und Zugang zum Film eher verstellt. Das, was ich Nach der Beerdigung tun deren Verleugnung denselben psychischen Ort früher in der Sprache drin hatte, das versuche sich die Witwe und Harry belegen, machen die meisten Anläufe von ich jetzt in die Struktur der Bewegung und in Fassbinders Protagonisten, egal ob männlich zusammen. die Struktur der Bilder zu legen, weil ich glau- oder weiblich, sich ins Familien- oder auch be, daß das mehr Wirkung hat, also mehr auf ins Arbeitsleben einzupassen, zunichte. die Gefühle der Leute wirkt als so eine zwar (aus : Rainer Werner Fassbinder) schöne und genaue, aber doch sehr fremde Sprache. (W. Wiegand in Jansen/Schütte: Rainer Werner Fassbinder)

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERDie bitteren Tränen WERNERder Petra von Kant Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 19

FASSBINDER HEUTE: SEELE IN DEUTSCHLAND Darsteller Wie freundlich in diesem Film der Terror daherkommt! Wie diszipliniert und zivilisiert die Sprache, wie die Bilder dem Auge schmeicheln, wie elegant die Hanna Schygulla Bewegungen gleiten, wie sanft das Licht. Doch hinter Floskeln und Selbststili- Irm Hermann sierung versteckt und schließlich zerstörerisch aufbrechend: der Wille zur Macht über den anderen Menschen, die Eifersucht, die Besitzgier und auch Katrin Schaake das Aufbegehren dagegen, fortdauernd unfrei zu sein. Gisela Fackeldey Die Rituale der Gangsterfilme, das Nachahmen und Rolle-Spielen, das Zitie- ren und Kopieren, haben ein anderes Gesicht bekommen: Das Personal hat die Klasse gewechselt, aus proletarisch-kleinbürgerlichen Ganoven sind Frau- Stab en der besseren Gesellschaft geworden, die nicht mehr die elegante Haltung Buch/Regie: R. W. Fassbinder der Pistole, sondern des Lippenstiftes zelebriert. Und so haben auch Ton und Kamera: Michael Ballhaus Habitus gewechselt. Aber ist das „Ich“ selbständiger geworden? Schnitt: Thea Eymèsz Fassbinder sucht nach dem Leben unter der Schminke. Was ist authentisch Ausstattung: Kurt Raab unter dem Joch der Masken und Heuchelei? Die Kamera gleitet dahin, um- Produktion: Tango-Film, München kreist Modell-Puppen und puppenhafte Wesen, beobachtet Selbstinszenierung und Selbststilisierung hinter Glas oder vor Bild-Dekor, ein Abtasten, Ahnen, Technische Angaben Blickeverschieben, Standortwechseln. Und die Spannungen brechen auf, die BRD 1972; 35 mm Fassung ist nicht zu wahren, das Gesicht nicht mehr zu kontrollieren (kein (auch 16 mm), Farbe, 124 Min. Pistolenschuß schafft mehr ein einfaches Ende). Die Manier der Kamera und der Montage wird anders im dritten, vierten, fünften Akt: Schnitte, Zusam- Prädikat: besonders wertvoll menstöße, heftige Schocks. FSK ab 16 Jahren Fassbinder gibt dem Zusammenbrechen von Lebensformen eine Form und vertreibt damit den Zuschauer aus dem Paradies seiner Gewißheiten.

Film hat auch damit was zu tun, daß der Regisseur weiß, für welche Emotion er welche Optik benützen muß. (Fassbinder)

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERDie bitteren Tränen WERNERder Petra von Kant Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 20

Kurzinhalt Liebe und Unterdrückung I Aus einem Interview Die erfolgreiche Mode- Der Film beschäftigt sich mit einem Thema, mit Margit Carstensen: schöpferin Petra von Kant das in Fassbinders Welt von fundamentaler Was war es, was euer Einverständnis Bedeutung ist: Ist die Liebe eine Alternative (Margit Carstensen) lebt in ausmachte? zur herrschenden Unfreiheit, oder ist sie einem opulent eingerichte- Rainer hat mich als erster so sehen wollen, vielmehr eine Reproduktion dieser Unfrei- wie ich war. Er machte mir bewußt, daß es ten Wohn-Atelier, zusam- heit? men mit ihrer Assistentin in der Rolle auch um mich selbst ging und Petras Liebe zu Karin entsteht dadurch, daß daß ich mir selbst vertrauen durfte. Ich und Dienerin Marlene (Irm Karin anders ist als Petra: Sie spricht eine begann, meine eigene Persönlichkeit zu Hermann), die wortlos alle natürliche Sprache, reagiert spontan und begreifen und auch einzusetzen. Für mich Befehle ausführt und alle ohne Hintergedanken, besitzt eine Ehrlich- war die Begegnung mit Rainer der eigentli- Launen über sich ergehen keit, die in Petras heuchlerischem Mode- che Einstieg ins Leben. In den Beruf sowie- läßt. Aus erster Ehe hat sie milieu schlecht gedeiht. Aber sobald Petra so, aber ins Leben auch, denn ich habe vor eine Tochter (Eva Mattes), Karin zu sich nach Hause ins Doppelbett ihm und nach ihm keinen gefunden, der gelotst hat, fängt sie im Namen der Liebe von ihrem zweiten Mann mich mit so viel Spaß benutzen wollte, wie an, Karin zu „erziehen“, ihr „Kultur“ und ich war. ist sie geschieden. Petra gute Manieren beizubringen, kurzum, gera- verliebt sich in die gut de die Unterschiede zu beseitigen, die die zehn Jahre jüngere Karin Was verstehst du unter benutzen? Liebe ausgelöst haben. Das bedeutet, sich die spezifische Qualität (Hanna Schygulla), und sie Fassbinders Kritik an den Geschlechterrol- einer Sache zunutze zu machen. Was kann will sie ganz für sich len und Zweierbeziehungen ist radikal, einem Schauspieler Besseres passieren? Was haben. Karin möchte zwar aber indem er die Person, die die Kritik for- will man anderes, als sich selbst voll zur die vermögende Petra aus- muliert, als falsch und verlogen darstellt, Geltung zu bringen? Um das Wesen von nutzen, aber auch ihre vermeidet er, daß der Film wie eine Heils- uns Schauspielern zu provozieren, gab Rai- eigene Unabhängigkeit botschaft wirkt. Seine Kritik wird um so fun- ner uns ja auch bei manchen Filmarbeiten damentaler, als Fassbinders Sprachrohr im bewahren. Als ihr Mann, erst kurz vor Drehbeginn einen neuen, uns Film selbst dem kritisierten Rollenmuster der in Australien war, sich unbekannten Text, so daß eigentlich keine unterliegt. (aus C. Braad Thomson: RWF) überraschend meldet, kehrt Zeit blieb, ihn zu lernen oder zu erarbeiten. sie zu ihm zurück. Petra Diese Situation, die im Grunde günstig war, Liebe und Unterdrückung II kann man so beschreiben: Der Schauspieler verzweifelt. Allmählich Marlene geht, weil sie ihre Rolle als Unter- steht am Rande der Verzweiflung, der beginnt sie zu verstehen: drückte und Ausgebeutete akzeptiert hat Kamera ausgeliefert, und ist in dieser exi- “Ich habe Karin gar nicht und weil sie in Wirklichkeit vor der ange- stentiellen Situation nicht in der Lage, etwas geliebt, ich habe sie nur botenen Freiheit Angst hat. Freiheit bedeu- vorzutäuschen. Rainer nahm dabei gerne besitzen wollen.” Sie bietet tete nämlich, sich Gedanken über sein schon den ersten Versuch, um möglichst viel ihrer Sekretärin Marlene, Leben zu machen, und daran ist sie nicht Spontaneität und Sensibilität zu bewahren. gewöhnt. Sie hat immer auf Kommando die sie bisher wie einen So „benutzte“ er gewissermaßen den Schau- gehandelt und nie selber Entscheidungen Gegenstand behandelt hat, spieler in seiner Eigenheit. Es kamen aber getroffen. Deshalb hat sie Angst vor der auch spannungsreichere Zeiten mit ihm. Ich Zusammenarbeit, Freiheit, Freiheit, und als sie zum Schluß Petra ver- Spaß an. Doch Marlene bin, wie andere auch, mit ihm unter Druck läßt, geht sie meiner Meinung nach nicht in geraten. Diese Entwicklung war fast zwangs- packt wortlos ihren Koffer die Freiheit hinaus, sondern auf die Suche läufig. Wenn nach der anfänglichen Neugier und geht. nach einer anderen Sklavenstellung. Viele ein Interesse nachläßt, kann es sich auch so haben den Film dahin interpretiert, daß sie auswirken, als reduziere sich ein Bild vom Ich bin Frauen gegenüber sich zum Schluß befreit, aber daran glaub´ anderen auf wenige markante Zeichen. In genauso kritisch wie Män- ich halt überhaupt nicht. Es wäre viel zu dieser reduzierten Form benutzt zu werden, nern. Aber mir geht das optimistisch und utopisch, daran zu glau- ist verletzend. Es bewirkt, daß man sich mit ben, daß jemand, der 30 Jahre lang nur das eben so, daß ich das, was dem eigenen Image nicht mehr identifizie- gemacht und gedacht hat, was andere für ren kann. Dieses Problem hatte irgendwann ich über die Gesellschaft sie gedacht haben, sich plötzlich für die sagen will, besser anhand jeder von uns. Freiheit entscheiden kann. (aus Juliane Lorenz (Hrsg.): Das ganz normale Chaos) von Frauenfiguren kann. (Rainer Werner Fassbinder, 1973) (Fassbinder)

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERAngst essen WERNER Seele auf Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 21

FASSBINDER HEUTE: DIE ANDERE SEITE DER GEWALT Darsteller Kein anderer Film Fassbinders erzählt so direkt und so anteilneh- mend von menschlicher Güte, Solidarität und Mitgefühl. Diese fast unglaubliche Geschichte einer Liebe spielt im Milieu Irm Hermann unansehnlicher Gastarbeiterkneipen und spießig-bürgerlicher Rainer Werner Fassbinder Küchen, Stuben und Hausflure, in denen Vorurteil, Heuchelei Karl Scheydt und ressentimentgeladene Agressivität herrschen. Fassbinder kon- Walter Sedlmayr Marquard Bohm frontiert die Erfahrung von Einsamkeit, Isolation und Gefühlskälte Liselotte Eder mit dem Anspruch seiner beiden Protagonisten auf persönliches Glück - auch gegen die gesellschaftlichen Konventionen. Wie die Stab Liebe des ungleichen Paares stärker wird und wie sie wieder in Buch/Regie: Rainer Werner Fassbinder Frage gestellt ist, zeigt, daß Fassbinder in keinem Augenblick in Kamera: Jürgen Jürges Schnitt: Thea Eymèsz die Idylle ausweicht - ein Meister des realistischen Blicks. Auch Ausstattung: Rainer Werner Fassbinder das Happy End ist sehr gebrochen. Heimisch wird der ausländi- Produktion: Tango-Film, München sche Ehemann hier nie werden, und innere Fremdheit bedroht die Liebenden auch weiterhin. Immer aufs Neue muß sich Hoff- Technische Angaben nung gegen einen zerstörerischen Alltag behaupten. BRD 1973, 35 mm (auch 16 mm), Farbe, 93 Min. Prädikat: wertvoll Filme müssen irgendwann einmal aufhören, Filme zu sein, müs- FSK ab 12 Jahren sen aufhören, Geschichten zu sein und anfangen, lebendig zu werden, daß man fragt, wie sieht das eigentlich mit mir und meinem Leben aus. (Fassbinder, 1974)

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERAngst essen WERNER Seele auf Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 22

Kurzinhalt Die kleinen Möglichkeiten - der Wirklichkeit zu tun hat, das kann In einer Gastarbeiterkneipe Fassbinders Optimismus doch nur im Kopf des Zuschauers pas- lernt die etwa 60jährige Eigentlich wären viele Dinge möglich. sieren. (Fassbinder im ersten Presseheft 1974) Witwe Emmi (Brigitte Ich halte den Menschen nicht für unver- Mira), die als Putzfrau änderbar. Das ist schon auch in der Exemplarische Fallstudien arbeitet, den viel jüngeren Struktur des Films drin, daß man sagt, ja, Das Erstaunlichste an diesem lakoni- Marokkaner Ali (El Hedi so ein bißchen anders, das geht schon schen Film ist nicht nur Fassbinders ben Salem) kennen. Ali besser. Und wenn man da weiter denkt, Mut, sich an das heikle Thema zu tanzt mit Emmi, sie reden geht´s immer noch ein bißchen besser. wagen, sondern auch seine Fähigkeit, miteinander, er begleitet Zu dem großen ideologischen Entwurf diese Liebesgeschichte und ihre sie nach Hause. Er zieht zu bin ich nicht fähig, das ist auch nicht Schwierigkeiten ohne falsches Pathos, Emmi. Schließlich heiraten meine Aufgabe, dazu sind andere Leute kühl fast und doch voller Symphatie mit sie. Für die anderen ist geschulter und auch richtiger. Mich inter- seinen beiden Hauptfiguren zu diese Eheschließung ein essieren halt diese kleinen Möglichkei- erzählen, daß keine Unglaubwürdigkeit Skandal: Emmis erwachse- ten, weil ich davon eine Ahnung habe aufkommt. Es wäre falsch, dem Film ne Kinder schämen sich und die auch spannend finde. mangelnden Realismus vorzuwerfen, ihrer Mutter, die Nachbarn (RWF im Interview mit H.G.Pflaum, FR 9.3.74) weil vor allem das gewandelte Verhal- tuscheln, der Kolonialwa- ten der Umwelt nach dem Urlaub nicht renhändler (Walter Sedl- Früher hätte ich die Geschichte sicher begründet wird. Dieser Regisseur ent- mayr) weist Emmi aus dem so erzählt, wie sie eigentlich ist, näm- wickelt keine psychologischen Melo- Laden, Emmis Arbeitskolle- lich, daß die alte Frau stirbt, weil die dramen, sondern exemplarische Fallstu- ginnen verachten sie. Gesellschaft nicht zuläßt, daß eine alte dien. In ihnen kristallisiert sich wech- Doch schließlich läßt der Frau und ein junger Gastarbeiter selndes oder auch analogisches Verhal- äußere Druck auf Emmi zusammenleben. Aber jetzt geht´s mir ten, wobei die Lücken, die Hohlräume und Ali nach, und nun darum zu zeigen, wie man sich wehren stummen Zeigens, Verharrens, Aushar- werden ihre inneren Pro- kann und es trotzdem irgendwie schafft. rens, die sich da immer wieder auftun bleme deutlicher. Ali Heute glaub´ ich eher, daß man, wenn zwischen dem schmalen Sprach- und besucht wieder seine man diese deprimierenden Verhältnisse Körpergestenspiel der Darsteller und frühere Geliebte, die Knei- nur reproduziert, sie damit verstärkt. dem Zeigegestus des Films, den penwirtin Barbara (Barbara Deshalb sollte man lieber die herr- Zuschauer zu einer Mitarbeit, zu einer Valentin). Als Emmi ihn schenden Verhältnisse so durchschau- deutenden Interpretation ansaugen und zurückholen will und die bar darstellen, daß sie bewußt werden, auffordern. Unverkennbar, daß Fassbin- beiden wie zu Beginn ihrer und zeigen, daß sie überwunden wer- ders Neigung zur Didaktik der Parabel, Bekanntschaft miteinander den können. (Fassbinder, 1973) die sich in der fast symmetrischen tanzen, bricht Ali zusam- Struktur der Fabel ebenso niederschlägt, men. Der Arzt diagnosti- Der Reiz des Films liegt wirklich darin, wie in der reliefhaften Kameraarbeit, ziert ein aufgebrochenes daß es gut geht zwischen den beiden, einer möglichen melodramatischen Magengeschwür. “Der daß so eine Liebe überhaupt möglich Sentimentalisierung entgegenwirkt. ganz besondere Stress, den ist. Die Erwartungshaltung des (W. Schütte, Frankfurter Rundschau, 27.6.74) die haben.” Emmi bleibt Zuschauers ist doch, so eine Geschich- bei Ali, hält seine Hand. te kann überhaupt nicht gut gehen. Die Partikel, aus denen der Film zusammen- gesetzt ist, finde ich schon sehr reali- stisch. Ich weiß nur nicht, ob die Geschichte als Ganzes realistisch ist. Aber das ist mir auch egal gewesen, weil der Realismus doch immer beim Betrachter passiert. Das, was dann mit

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERAngst essen WERNER Seele auf Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 23 Fassbinder als Melodramatiker Schwiegersohn am anderen Ende des „Sirk hat gesagt, man kann nicht Filme über Raumes. Sowohl ihre Position als auch ihre etwas machen, man kann nur Filme mit Reaktionen wirken stilisiert und künstlich. etwas machen, mit Menschen, mit Licht, Dabei bleibt die Kamera die meiste Zeit auf mit Blumen, mit Spiegeln, mit Blut, eben Emmis Gesicht, nur durch kurze Gegen- mit all diesen wahnsinnigen Sachen, für die schnitte auf Tochter und Schwiegersohn es sich lohnt. Sirk hat außerdem gesagt, das wird die konträre Beziehung zueinander Licht und die Einstellung, das ist die Philo- dargestellt. Wenn Emmi aufsteht, schwenkt die Kamera mit und verharrt dabei kurz auf sophie des Regisseurs.“ (Fassbinder, 1971) einem großen Heimatbild - ein ironischer Daß Fassbinders Arbeit wesentlich durch Kommentar. Während bei Sirk die Frage des die amerikanischen Melodramen Douglas Sohnes: „Mutter, soll das ein Witz sein?!“ Sirks motiviert und beeinflußt wurde, ist ein Ausdruck seiner tatsächlichen Fassungs- weithin bekannt - nicht zuletzt durch seine losigkeit ist, nehmen Tochter und Schwie- eigenen Statements. Jedoch verdienen gersohn in ANGST ESSEN SEELE AUF die Eigenständigkeit und kritische Haltung Mutter überhaupt nicht ernst und erklären besonders hervorgehoben zu werden, mit sie für verrückt. Carey wird zwar von ihren denen Fassbinder sich Sirks Filme angeeig- Kindern angegriffen, aber kann sich deut- net, ihre Themen adaptiert und Tendenzen lich erklären. Emmi dagegen hat diese verändert hat. Möglichkeit nicht, Tochter und Schwieger- Das soll im Folgenden an zwei Beispielen sohn lachen sie nur aus. aus den Filmen ANGST ESSEN SEELE AUF (1973) und 2. In ALL THAT HEAVEN ALLOWS hat (1956) erläutert werden: Carey dem Druck ihrer Umwelt nachgege- ben und Rock Hudson den Laufpass gege- 1. Die Witwe Carey (Jane Wymann) teilt in ben. Nun - es ist Weihnachten - wird sie ALL THAT HEAVEN ALLOWS ihrem Sohn auch noch von ihren Kindern verlassen, als und ihrer Tochter mit, sie wolle ihren Gärt- Abschiedsgeschenk bekommt sie einen ner (Rock Hudson) heiraten. Der Sohn fragt: Fernsehapparat gegen das Alleinsein. „Mutter, soll das ein Witz sein?!“ Diese Während der Vertreter, der den Fernseher Auseinandersetzung ist im klassischen gebracht hat, Carey für das Gerät zu begei- Schuß-Gegenschuß-Stil gefilmt, wobei stern versucht, blickt diese traurig in den jeweils die Akteure, die mit dem Rücken schwarzen Bildschirm. Die Kamera fährt zur Kamera stehen, angeschnitten mit im auf den Fernseher zu, in dem sich Carey Bild sind. Die Szene ist entsprechend der spiegelt, und hält sie einige Sekunden im üblichen Kinokonvention „natürlich“ Bild-Rahmen fest. Die Konzentration der gespielt, weder Darsteller noch Kamera Kamera auf Carey und die Unterlegung der erwecken den Eindruck einer besonderen Szene mit trauriger Musik hat zum Ziel, theatralischen Künstlichkeit. Das Publikum möglichst jede Distanz zwischen Careys soll sich spontan und naiv in Carey, die Schmerz und dem mitfühlenden Zuschauer Symphatie-Trägerin der Szene einfühlen. aufzuheben. Dagegen steht die entsprechende Szene in In ANGST ESSEN SEELE AUF ist der Fernse- Fassbinders Film: Emmi (Brigitte Mira) her in Emmis Wohnung dazu da, vom Sohn besucht ihre Tochter (Irm Hermann) und aus Protest gegen die „unmögliche Heirat“ ihren Schwiegersohn (R. W. Fassbinder) und eingetreten zu werden: „Mutter, jetzt mußt erzählt, daß sie sich in einen Marokkaner du vergessen, daß du Kinder hast.“ Es ist verliebt habe. Die beiden lachen sie aus: der Schluß einer quälend langsam gefilm- „Du machst wirklich eigenartige Witze, ten Szene: Emmi hat ihren Mann vorge- Mama.“ stellt, und nun fährt die Kamera langsam an Die Akteure werden getrennt voneinander den Gesichtern der zwei Söhne, der Tochter gezeigt: Emmi am Tisch, Tochter und und des Schwiegersohnes vorbei. Alle star- ren ausdruckslos auf Emmi und Ali, und

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERAngst essen WERNER Seele auf Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 24

auch die darauf folgenden Handlungen und Die sozialen Mechanismen dieses „Treib- Gesten wirken wie gebremst. hauses der Gefühle“ werden offenbar, und Den Wutausbruch des Sohnes inszeniert bei vollem Verstand erleben die Zuschauer, Fassbinder völlig kontrolliert und bis an die wie die Bilder des Filmes „durchtränkt sind Grenze der Lächerlichkeit stilisiert. Schier von der Politik, der Geschichte und dem endlos lange dauert die Einstellung, bis alle Alltag.“ (Wolfram Schütte). An diesem Pro- nacheinander das Bild verlassen haben. zeß der Aufdeckung (einen „Prozeß“ macht Danach wird nicht etwa Emmis oder Alis Fassbinder der Gesellschaft in jedem seiner Reaktion gezeigt, sondern sie sind nur in Filme) nehmen die Zuschauer teil - auf- den ablehnenden Blicken der Kinder prä- merksam und nüchtern, anstatt mit tränen- sent. So wird dem Zuschauer die Identifika- umflortem oder zorngetrübtem Blick. tion mit Emmi oder Ali erschwert. Dennoch ist diese Teilnahme nicht ohne Emphase: Der erkennende Blick löst einen „Die Szene in ANGST ESSEN SEELE AUF, „Wärmestrom“ menschlicher Anteilnahme wo der Fernseher zerstört wird, ist anders aus und fordert Protest gegen unsolidari- als in ALL THAT HEAVEN ALLOWS, wo die sches, entleertes Leben. Fassbinders filmi- Kinder statt des Typen einen Fernsehapparat sche Mittel lösen Bewegtheit und innere schenken. Bei mir passiert das in einer Aktivität aus. Weil sie über die Beredsam- roheren, brutaleren Welt ... Dabei ist sein keit politischer Parolen und über Verlautba- (Sirks, d. Verf.) Vorgang, einen Fernseher rungen von handelnden Figuren hinausge- statt einen Mann zu schenken, vor diesem hen, setzen sie nicht nur rationales Wissen, Hintergrund viel böser als bei mir der bru- sondern auch emotionale Energien frei. tale Akt. Das sind so Kleinigkeiten, wo man Mit „Licht und Einstellung“, dieser für ihn nicht einfach nachmachen darf, sondern wichtigsten Essenz Sirkscher Philosophie, umsetzen muß.“ (Fassbinder, 1979) leuchtet Fassbinder das Handeln, die Der Vergleich der Szenen macht aber nicht Worte, Ängste und Illusionen seiner Filmfi- nur psychologische und soziale Unterschie- guren aus. Und weil er darauf besteht, de innerhalb der Film-Stories deutlich, son- seine anarchische Vernunft auch außerhalb dern auch das besondere Verhältnis Fass- des Kinos nicht schlafen zu lassen, bringt er binders zu seinem Publikum: Er will den die Verhältnisse im Kino selbst immer wie- Zuschauer als selbständig urteilenden, kriti- der zum Tanzen. schen Zeitgenossen, der die erzählte Florian Scheibe / Christian Ziewer Geschichte „mit seiner eigenen Realität auf- füllen“ soll, um an diesem Beispiel „die eigenen Veränderungsmöglichkeiten“ zu reflektieren. (Fassbinder, 1976)

Durch theatralische Stilisierung des Spiels, holzschnittartige Szenenarrangements, eine (in Standort, Bildausschnitt und Bewegung) demonstrative Kamera, akzentuierende, ver- fremdende Musik und Bildsymbolik hält er Ich finde, daß alle Dinge, die mit den Zuschauer auf Distanz, läßt ihn gerade- Vorurteilen behaftet sind, interes- zu außen vor, als sollte er mit kühlem Kopf ein Modell oder eine Versuchsanordnung sant sind. Man kann nachsehen, ob prüfen. Fassbinders Hinwendung zum es wirklich notwendig ist, daß ein gefühlsbetonten Melodram wird von sei- Vorurteil besteht. Und man kann an nem Bestreben konterkariert, Leidenschaf- dem Film erkennen, was man für ten, Sehnsüchte, Unterdrückung und Vorurteile hat. (Fassbinder 1974) Mißbrauch von Gefühlen mit scharfem Ver- stand und geschärftem Blick zu sezieren.

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERFontane EWERNERffi Briest Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 25

FASSBINDER HEUTE: SEELE IN DEUTSCHLAND Darsteller Alles in dieser Literaturverfilmung ist in „Kino” aufgelöst: Melodie Hanna Schygulla und Rhythmus der Stimmen; das Sichtbare in den Bildern: die visu- Wolfgang Schenck elle Präsenz von Menschen, Räumen, Gegenständen, das Spiel der Ulli Lommel Karlheinz Böhm Lichter und Schatten; die Beziehung der Figuren zueinander, ihre Ursula Strätz Blicke, Gesten und Bewegungen. Durch seine epische Erzählweise Irm Hermann schafft Fassbinder Distanz, läßt der fernen Zeit ihre Fremdheit und Lilo Pempeit fasziniert uns doch! Mit Schönheit, welche die Sinne reizt - und Herbert Steinmetz, Hark Bohm, erbarmungslos täuscht. Dies ist vielleicht Fassbinders infamster Rudolf Lenz, Karl Scheydt Film. Der Zuschauer will nostalgisch versinken wie vor einem Liebermann-Bild oder einer Schwarz-Weiß-Fotografie August San- Stab ders, aber hier ist nicht Malerei oder Fotografie vor uns sondern Buch/Regie: R. W.Fassbinder Film, erfunden, um Bewegungen Raum und Zeit zu geben. Wenn Kamera: Jürgen Jürges / Fassbinder in diesem Medium Figuren „stillstellt“, als wären es Dietrich Lohmann, Modelle, zur Bewegungslosigkeit gezwungen, dann fällt er sein Schnitt: Thea Eymèsz Urteil über die Welt. Eine schöne Welt, eine geordnete Welt, aber Ausstattung: Kurt Raab hinter Posen und Umgangsformen: die Tragödie. Auf den vorgege- Kostüme: Barbara Baum benen Fahrwegen der Sprache, auf denen Effi durchs Leben geführt Produktion: Tango-Film, München wird (Fassbinder bleibt ganz in der Manier von Fontanes Erzählen), wird ihr auch regelgemäß, mit dem erschütternden Unterton elter- Technische Angaben licher Liebe, die Aufnahme ins Elternhaus verweigert: „Das zu tun, BRD 1972/74, 35 mm sind wir entschieden nicht geneigt.“ schreibt ihr die Mutter. Was für (auch 16 mm), s/w, 141 Min. eine Gesellschaft! Prädikat: besonders wertvoll FSK ab 12 Jahren

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERFontane EWERNERffi Briest Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 26

Kurzinhalt Dies ist kein Frauenfilm, sondern ein Film sie leben in einem Käfig, sind gefangen in den Die 17jährige Effi Briest über Fontane, über die Haltung eines gesellschaftlichen Normen. FONTANE EFFI (Hanna Schygulla) wird mit Dichters zu seiner Gesellschaft. Es ist kein BRIEST ist kein , das an Gefühle Film, der eine Geschichte erzählt, sondern appelliert. Fassbinder: „Es ist der Versuch, einen dem 20 Jahre älteren Film ganz klar für den Kopf zu machen, also es ist ein Film, der eine Haltung nachvoll- Baron von Innstetten einen Film, in dem man nicht aufhört zu denken, zieht. Es ist die Haltung von einem, der die (Wolfgang Schenck) ver- und wie man beim Lesen Buchstaben und Sätze Fehler und Schwächen seiner Gesellschaft heiratet. Sie fühlt sich in eigentlich erst durch die Phantasie zu einer durchschaut und sie auch kritisiert, aber Handlung macht, so sollte es auch in diesem ihrer neuen Heimat einsam dennoch diese Gesellschaft als die für ihn Film passieren. Also jeder sollte die Möglichkeit und von ihrem prinzipien- gültige anerkennt ...Mein Problem ist gewe- und die Freiheit haben, diesen Film zu seinem treuen, ehrgeizigen Mann sen, meine Haltung zu der Gesellschaft, in eigenen zu machen, wenn er ihn sieht; und das nicht wirklich geliebt. der ich lebe, dadurch klar zu machen, funktioniert meiner Meinung nach nur über die indem ich versuche, einen Film über Fonta- dreifache Verfremdung, über die Distanz. Zunächst nur Abwechs- (M. Töteberg in: Fassbinder Filme 3) lung, dann Verwirrung ne zu machen. (Fassbinder, 1974) bringt ihr die Bekannt- Das Bild einer Epoche Wenn er von „Hollywood“ sprach, so dach- schaft mit dem neuen FASSBINDERS BILDER ALS VORSCHLÄGE Bezirkskommandeur Major Fassbinders Haltung gegenüber der Vorlage: sein te er an Stoffe und Sujets, die sowohl per- Crampas (Ulli Lommel). ehrlicher Respekt und seine zarte Distanz. sönlich gestaltet als auch kollektiv vermit- telbar waren, indem sie sich auf die kollek- Spaziergänge, Gespräche, Wahrscheinlich geht das nur bei einer Vorlage, die man nicht neu erzählen muß, weil man vor- tiven Traumata, populären Mythen des All- Begegnungen in den aussetzt, daß jeder sie kennt. So sind die Bilder tags, auf das „falsche Leben“ (Adorno) und Salons der guten Gesell- nur Vorschläge zu einer möglichen Illustration, was es an Erfahrungs- und Artikulations- schaft lassen eine zwi- die gleichwohl Lücken klaffen läßt und damit „Kitsch“ mit sich schleppte, entschieden schen Freundschaft und den Zuschauer auffordert, die Verbindung selber einließen. Freilich nicht in der Form einer herzustellen. In diese Lücken fällt Fassbinders naturalistischen Imitation, aber auch nicht Leidenschaft schwankende einfach wunderbares Licht. Es erfüllt auf unauf- Beziehung entstehen, die dringliche, doch präzise, auf scheinbar natürli- im demonstrativen Gestus des Godardschen aber mit dem Umzug der che und doch enorm kalkulierte Art, was sonst Zitats. Die Rekonstruktion historischer Familie Innstetten nach die wechselnden Einstellungen zu leisten haben. Momente - ob des 19. Jahrhunderts in EFFI Berlin endet. Sechs Jahre Das Ergebnis ist ein ganz ruhiger, geduldiger BRIEST, ob der Nazi-UFA in , und dadurch auch verständnis- und liebevoller die Nachkriegszeit in DIE EHE DER MARIA später stößt Innstetten Blick auf Figuren, denen in keinem Moment das BRAUN oder das Wirtschaftswunder- zufällig auf Briefe, die Effi bewertende Urteil des Regisseurs aufgepappt deutschland in LOLA - reflektierte zugleich von Crampas erhalten hat. wird. Symphatie und Ablehnung gibt Fassbinder die zeitgenössischen Codes und Standards nicht durch die Entfernung der Kamera zu ihrem Er tötet Crampas in einem des Visuellen und Akustischen: Photogra- jeweiligen Objekt zu erkennen; er leistet quasi Duell und verstößt seine nur Interpretationshilfe durch die Beleuchtung, phie, Kino, Radio, Mode. Frau, die auf die gemeinsa- die in den Halbtotalen und Totalen den momen- Historische Erinnerungen, gesehen durch me Tochter verzichten tanen Stand der Geschichte zeigt und durch den Paravent der massenmedialen Entwick- muß. Eine Rückkehr ins Glanzlichter die Aufmerksamkeit auf Einzelhei- lung, das Kino als Projektionsfläche von Haus ihrer Eltern bleibt Effi ten lenkt. Wie Fontane, dessen Haltung zur jeweils zeittypischen Erfahrensweisen: die- Gesellschaft er sich verbunden fühlt, will Fass- wegen deren rigider Moral- ses mehr als nur ästhetische Programm wird binder nicht verurteilen - er zeigt nur, aus wel- an Fassbinders Oeuvre als bestimmendes vorstellungen lange Zeit chen Gründen die Personen sich ins Unheil ver- Grundthema erkennbar. stricken, stellt ohne moralischen Zeigefinger dar, verschlossen. Ihr Lebens- (W. Schütte in: Rainer Werner Fassbinder Werkschau wie´s läuft in der Welt, in der man das Glück wille erlischt, und nach 1992- Katalog) nicht pachten kann. (Peter Buchka, SZ, 6.7.74) einem Jahr stirbt sie. Fassbinders Angebot an den Zuschauer Der Chronist, welcher die Ereignisse “Mich ekelt, was ich Der historische Abstand zur Vorlage wird immer hererzählt, ohne große und kleine zu getan. Aber mehr noch mitinszeniert. Ruhige Kameraführung und unterscheiden, trägt damit der Wahr- langsame Schnittfolge unterstreichen die stati- heit Rechnung, daß nichts, was sich ekelt mich eure Tugend! sche Bildgestaltung. Die Kamera ist oft so posi- Weg mit euch! Ich muß tioniert, daß das Bild gleichsam gerahmt jemals ereignet hat, für die Geschichte leben!” (Effi) erscheint. Raffinierte Spiegeleffekte, Durchblicke verloren zu geben ist. (Walter Benjamin: durch Vorhänge und Gitter: Die Menschen sind Geschichtsphilosophische Thesen) nicht frei, ihre Möglichkeiten sind eng begrenzt;

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERFAUSTRECHT DWERNERER FREIHEIT Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 27

FASSBINDER HEUTE: SEELE IN DEUTSCHLAND Darsteller Hinter dieser schwulen Liebesgeschichte läßt Fassbinder eine Rainer Werner Fassbinder böse Parabel über die Ausbeutung von Lebenslust, Lebensenergie Peter Chatel und Arbeitskraft erscheinen. Sarkastisch dekuvriert und parodiert Karlheinz Böhm er die heuchlerischen Rituale bürgerlicher Wohlanständigkeit. Adrian Hoven, Ulla Jacobsen Christiane Maybach Was als satirisch zugespitzte Komödie einer Freundschaft beginnt, Kurt Raab , Irm Hermann wendet sich zum Melodram mit tragischem Ausgang. An sich Ursula Strätz , Harry Baer selbst in der Hauptrolle macht Fassbinder die Probe aufs Exempel , Barbara Valentin und geht den Weg eines Menschen durch die Stadien der Täu- Rudolf Lenz, Karl Scheydt schung, der Manipulation und des Mißbrauchs von Gefühlen bis in den Untergang. Wie verinnerlichte oder kühl imitierte, ange- Stab nommene oder mühevoll angestrebte Verhaltensmuster und Buch/Regie: R. W. Fassbinder, Codes den Umgang der Menschen miteinander bestimmen, wie Kamera: Michael Ballhaus sie den Einzelnen manipulieren und sich selbst entfremden, das Schnitt: Thea Eymèsz führt Fassbinder in vielen seiner Filme vor. In keinem aber treten Musik: Peer Raben die Rituale der Erziehung so brutal und offen hervor wie hier. Ausstattung: Kurt Raab Franz Biberkopf wird, wie sein Namenspatron in Fassbinder-Döb- Produktion: Tango-Film, München / lins großem Werk BERLIN ALEXANDERPLATZ, um das betrogen, City Film GmbH, Berlin was an seinem Leben authentisch ist oder sein könnte. Bürgerlich und kultiviert will er sein, um bei seinen neuen Freunden Aner- Technische Angaben BRD 1974, 35 mm kennung und Liebe zu finden, um dazuzugehören. Statt dessen (auch 16 mm), Farbe, 123 Min. wird er am Ende - nicht nur wie jene in ihrer Seele - gänzlich Prädikat: besonders wertvoll ausgelöscht sein. FSK ab 16 Jahren

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERFAUSTRECHT DWERNERER FREIHEIT Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 28

Kurzinhalt FASSBINDER timentale Geschichte, in der das Homosexuel- Franz (R. W. Fassbinder), Ich glaube, daß es zufällig ist und wurscht, daß len-Milieu wiederum als exotische Mode-Szene arbeitsloser Schausteller, die Geschichte unter Schwulen spielt. Sie könnte ausgebeutet wird - auch wenn Fassbinder genau genausogut unter anderen Leuten spielen. Ich das Gegenteil will, nämlich „Normalität“ im wird durch den Antiquitä- glaube sogar, daß die Leute gerade deshalb Milieu. tenhändler Max (Karlheinz genauer hingucken, als wenns nur eine andere Manierismen, gewiß. Die begleiten Fassbinder- Böhm) in eine Gruppe vor- Liebesgeschichte wäre, dann wäre auch der Filme wie ein unvermeidlicher Schatten. Doch nehmer Homosexueller melodramatische Aspekt wirklich größer. Ich dann packt der Film einfach durch seine Direkt- glaube, daß die Leute ab einem bestimmten heit, seine unverblümte Preisgabe von Unglück eingeführt. Er verliebt sich Moment gar nicht mehr wahrnehmen, daß sie durch Dummheit, Liebe, Armut. in den Unternehmersohn schwul sind, aber sie werden dann fragen: Was Fazit: Aschenputtel-Melodram als kräftiges Kino- Eugen (Peter Chatel). Sie haben wir denn da eigentlich gesehen? Wir Stück, pessimistisch und böse. ziehen zusammen in eine haben eine Geschichte gesehen, die unter Leu- (Ponkie, AZ München, 14.6.75) eigene Wohnung, die ten spielt, die wir eigentlich für unnormal hal- ten. Und durch eine solche Verblüffung, durch Neue Wirklichkeit aus Jahrmarkt und Comic Franz mit dem Geld, das er ein gewisses Schockmoment, sieht man die Der Film ist mit gröberen, routinierteren Mitteln im Lotto gewonnen hat, ganze Geschichte auch anders. gemacht, als der ebenfalls gesellschaftskritische bezahlt und die von Eugen Ich glaube, daß Filme erst da Filme sind, wo sie Film „Händler der vier Jahreszeiten“, er hat etwas von Jahrmarktsklamauk an sich. Aber zu exquisit eingerichtet wird. „angekommen“ sind, in den Köpfen der Leute. Und deshalb glaube ich auch nicht, daß der dieser im Stil der Comics gehaltenen Geschichte Außerdem saniert Franz Film auf der Leinwand zu Ende ist, sondern daß paßt das nicht schlecht. Roy Lichtensteins Wort: durch einen Kredit die da eine Wut im Zuschauer entstanden ist auf „Mich interessiert die Darstellung einer Art Anti- bankrotte Firma von die Leute, die vorweg die größeren Chancen Sensibilität, die die Gesellschaft durchzieht, eine Eugens Eltern (Adrian und Möglichkeiten erhalten haben. (1974) gewisse, grobe Über-Simplifizierung“ läßt sich auf Fassbinders Absichten in diesem Film über- Hoven, Ulla Jacobsen). Vorbild oder Schreckbild? tragen ... Fassbinder könnte mit ihm, was er Eugen will Franz feinere Viele Homosexuelle distanzieren sich in ähnli- beabsichtigt, ja ersehnt, ans große Publikum her- Manieren und Kultur bei- cher Weise von FAUSTRECHT DER FREIHEIT ankommen. Mir persönlich liegen die differen- bringen, aber der Klassen- wie viele Frauen von den BITTEREN TRÄNEN zierteren Filme Fassbinders wie „Katzelmacher“, „Effi Briest“ und „Händler der vier Jahreszeiten“ unterschied bleibt unauf- DER PETRA VON KANT. Sie lehnen den Film als defätistisch und abwertend in bezug auf die mehr. FAUSTRECHT DER FREIHEIT ist in einem hebbar. Franz wird von Schwulenszene ab. Hinter diesen Vorwürfen lag direkten, plakathaften Stil gedreht. Aus seinen Eugen fortlaufend finanzi- die Auffassung, schwules Leben sei revolutionär überzeichneten Kontrasten entsteht eine neue ell ausgenommen, er ver- und „alternativ“. Aber Fassbinder sah das anders. Wirklichkeit, die verblüfft. Seine stärksten Effekte liert seinen Anteil an der Für ihn war das Schwulenmilieu ein Zauberspie- bezieht der Film aus seinem Franz Biberkopf Fassbinderscher Prägung, der in den stummen Firma und schließlich auch gel, durch den man die Mechanismen in der eta- blierten Gesellschaft deutlicher und grotesker Momenten des zweiten Teils erschüttert. noch die Wohnung. Sie erkennen kann. Die Kritik der Schwulen an Fass- (Brigitte Jeremias, FAZ 10.6.75) trennen sich, und Eugen binder beruhte wohl eher darauf, daß auch sie Schauspieler von früher - neu entdeckt sich lieber Vorbilder als Schreckbilder wünsch- kehrt zu seinem früheren Zugleich ist FAUSTRECHT DER FREIHEIT ein ten. Für Fassbinder bot aber eine andere Form Liebhaber (Harry Baer) Film über alle bisherigen Filme von Rainer Wer- von Sexualität nicht schon an sich die Garantie ner Fassbinder und außerdem über ein Jahrzehnt zurück. Franz nimmt sich für menschlichere und weniger ausbeuterische deutscher Filmgeschichte der Nachkriegszeit. das Leben. Haltungen. Die Ausbeutung von Gefühlen ist Dafür stehen die Namen der Darsteller am immer als abschreckendes Bild in seinen Pro- Anfang, es sind die Namen fast aller Schauspie- duktionen vorhanden, weil Ausbeutung mit Der Freund zum Freunde ... ler, mit denen der Regisseur arbeitete, und es sozialer Orientierung der Personen zu tun hat "Du mußt lernen, lernen sind die Namen von deutschen Filmschauspie- und nicht mit ihrer sexuellen. und nochmals lernen. Das (Braad Thomsen: Rainer Werner Fassbinder) lern einer Generation, die im deutschen Unter- ist schwer, gewiß! Aber wir haltungsfilm bestimmter Provenienz verschlissen wurde. Daß Fassbinder ihnen kein Denkmal werdens schon schaffen, Liebe zum Volksstück Wo andere nur eine Erfahrung machen, macht setzt, sondern sie entdeckt und mit ihnen arbei- aus dir einen Menschen Fassbinder einen Film. Immer mit seiner (vor- tet, wie kaum jemals mit ihnen gearbeitet wurde zu machen." trefflichen) Stamm-Mannschaft, immer mit seiner und damit fast eine klägliche Vergangenheit des (Eugen zu Franz, Filmzitat) unverhohlenen Liebe zum Trivialen, zum Volks- Films tilgt, ist eine besondere filmische Leistung. stück mit kunstvoll simpler Naivsprache, in der (F.J. Bröder, Nürnberger Nachrichten, 18.10.75) Banalsätze plötzlich wie Brandzeichen dastehen ... Manchmal eine rührende, manchmal eine bit- ter zynische, manchmal auch nur eine billig sen-

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERMUTTER KÜSTERSWERNER FAHRT ZUM HIMMEL Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 29

FASSBINDER HEUTE: DIE ANDERE SEITE DER GEWALT Darsteller Fassbinder hat dieses Gegenstück zum Klassiker von 1929 „Mutter Brigitte Mira Krausen’s Fahrt ins Glück” in der gesellschaftlichen Situation der BRD Ingrid Caven der 70er Jahre angesiedelt. In einer Mischung aus politischer Polemik Karlheinz Böhm und einfühlsamem Frauenporträt spricht er wieder von seinem zentra- Margit Carstensen, len Thema: von Demütigung und Erniedrigung, von der Ausbeutung Irm Hermann der Gefühle. Mit der um das Andenken ihres Mannes kämpfenden Mutter Küsters schafft er ein eindrucksvolles Bild vom rebellierenden Menschen. Kurt Raab, Peter Kern Der Film dokumentiert die Rigorosität, mit der Fassbinder auf Ausein- andersetzungen seiner Zeit reagiert. Außerdem ist er aber eine weitere Stab Variation in der Reihe Fassbinder’scher Darstellungen einer Welt aus Buch/Regie: R. W. Fassbinder Stereotypen, Klischees und Ritualen. Höfliches Lügen, zuvorkommen- Kamera: Michael Ballhaus des Hintergehen, charmantes Sich-Tarnen: wie Mutter Küsters mit Phra- Schnitt: Thea Eymèsz sen, Gesten und Blicken, getäuscht in ihrem Vertrauen auf Menschen- Musik: Peer Raben freundlichkeit und Ehrlichkeit in den Untergang getrieben wird, das Ausstattung: Kurt Raab gibt ein Kompendium individueller und gesellschaftlicher Falschheit. Produktion: Tango-Film, München Daß Fassbinder dabei melodramatische Typisierungen seinerseits bis zum Klischee treibt, zeigt zu welchem Risiko er bereit ist, wenn er Technische Angaben dadurch ein breites Publikum bei dessen eigenen Kinoerfahrungen BRD 1975, 35 mm ansprechen kann. (auch 16 mm), Farbe, 120 Min./ Langfassung Was ich von mir und meinen Filmen immer sagen würde: daß ich (dt. + erstmalig amerikan. Schluss) auch den sogenannten kleinen Leuten große Gefühle zugestehe. 128 Min. (nur 35 mm) (Fassbinder) FSK ab 16 Jahren

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERMUTTER KÜSTERSWERNER FAHRT ZUM HIMMEL Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 30

Kurzinhalt Karriere und Gewalt zum Beispiel Staatssekretär Globke oder des Ein Arbeiter erschießt wegen Als Mutter Küsters tot daliegt, stürzt ihre Tochter, Bundeskanzlers Kiesinger. Es war bekannt, daß der Ankündigung von Masse- die Sängerin Corinna Corinne, herbei und nimmt die Amerikaner mit Alt-Nazis lieber kooperierten sie in die Arme, um sich für die Zeitungen foto- als mit Sozialdemokraten und zurückgekehrten nentlassungen seinen Vorge- grafieren zu lassen: nichts ist so schlimm, als daß Emigranten, weil sie Wert auf einen zuverlässi- setzten, dann sich selbst. man es nicht noch als Reklamemittel für die gen Antikommunismus legten. Seine Frau, “Mutter Küsters” eigene Karriere verwenden könnte ... Doch auch die politischen Skandale dienten (Brigitte Mira), steht der Kata- Fassbinder hat viel Symphatie für ihren pragmati- Fassbinder nur selten als Material für seine Filme. strophe hilflos gegenüber. Ihr schen Überlebenswillen und ihre Art, die Dinge Ein Grund für sein Mißtrauen gegenüber solcher Sohn (Armin Meier) und des- zynisch zu durchschauen. Auch sie hegt keinerlei Systemkritik mag die Tatsache gewesen sein, daß Illusionen über die existierende Gesellschaft und man sich damit unweigerlich außerhalb des Kriti- sen Frau (Irm Hermann) wol- durchschaut dabei auch routiniert die politischen sierten platzierte, wobei man sich weder auf eine len in der Öffentlichkeit Phrasen von Kommunisten und Extremisten. Sie ernst zunehmende politische Alternative stützen nicht mit dem “Fabrikmör- ist irgendwie ein Selbstporträt von Fassbinder konnte, noch wirklich an denen interessiert war, der” in Verbindung gebracht und doch wieder nicht: Man kann nämlich nicht an denen die Kritik formuliert wurde. In dieser werden. Ihre Tochter Corinna sagen, daß er als Filmregisseur Mutter Küsters Hinsicht ist MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM (Ingrid Caven), eine Nacht- Tragödie ausnützt, wie seine Figuren es tun. Viel- HIMMEL gewiß die offenste Kritik an Parteipoli- leicht wäre es so gewesen, wenn er seinen Stoff tik, Gewerkschaften und dem Anti-Parlamentaris- clubsängerin, nutzt die uner- nach Art seiner Hollywood-Lieblingsregisseure mus maoistischer Gruppen. Indem er sich auf die wartete Publizität für ihre verfilmt hätte, nämlich mit dem Hauptgewicht moralische Verfehlung konzentriert - auf die pei- Karriere aus. Ein Reporter auf den Action-Szenen. nigende Scham, die Mutter Küsters erfährt, als sie (Gottfried John) schreibt Aber der Regisseur von FONTANE EFFI BRIEST versucht, die Liebe und die Loyalität zu ihrem einen verleumderischen Arti- verschmäht konsequent die filmischen Möglich- Mann zu bewahren, der der Öffentlichkeit längst kel. Zuspruch findet Mutter keiten, die sich in Form von Mord, Selbstmord als „kriminell“ und „verrückt gilt -, zeigt der Film, und Schußwechsel zwischen Terroristen und Poli- daß gegenwärtig niemand in der Lage ist, stell- Küsters nur bei dem Salon- zei bieten ... Fassbinder beschränkt sich darauf, vertretend die Dinge zu formulieren, um derent- und Parteikommunisten Karl die Gewalttaten zu Beginn und am Ende des willen gewöhnliche, unpolitische Menschen zu (Karlheinz Böhm) und seiner Films zu referieren, weil er die Ereignisse nicht handeln beginnen, und die Familie oder den Frau Marianne (Margit Car- emotional ausschlachten, sondern über sie reflek- Arbeitsplatz politisieren, das heißt die Öffentlich- stensen). Mutter Küsters fühlt tieren will: selten hat er sich Brecht so sehr keit suchen. sich ernst genommen, aber angenähert wie in diesem Film. Im Unterschied Allgemeiner gesprochen: Was Fassbinder beschäf- zu Brecht sucht Fassbinder jedoch keine politi- tigte, waren die (Un-)Möglichkeiten, eine „kriti- sie erhofft sich vergeblich schen Lösungen: MUTTER KÜSTERS FAHRT sche“ oder eine allgemein verbindliche politische eine Rehabilitierung ihres ZUM HIMMEL ist eher ein antipolitischer Film, Position zu beziehen. Sein Lösungsversuch für Mannes in der Öffentlichkeit. der das menschenverachtende Element aller dieses Dilemma ist die klassische Dramenstrate- So wendet sie sich schließ- Ideologien anklagt. gie, dem Publikum auch die Perspektive des Ver- lich hilfesuchend einem (aus C. Braad Thomsen: Rainer Werner Fassbinder) brechers, des Verlierers und des underdog vorzu- “Anarchisten” zu. Der führen. (aus T. Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder) Fassbinders Deutschland besetzt mit Freunden die Fassbinders Blick auf die westdeutsche Nach- Proletarische Existenz in Fassbinders Sicht Redaktion der Zeitung, in kriegsgeschichte mag Einschätzungen wie „die Der erste offen politische Film Fassbinders welcher der verleumderische Wiederkehr des Verdrängten“ oder der Rede von kommt aus einer verzweifelten Enttäuschung: Artikel erschienen ist. Eine fatalen Kontinuitäten ähneln, unterschied sich daß sein Autor befürchtet, die Passion für die Geiselnahme endet im Des- jedoch fundamental von den polemischen oder menschliche Sache der Mutter Küsters sei nir- gendwo mehr aufgehoben ... Marxisten werden aster. (Der amerikanische gewalttätigen Auseinandersetzungen mit dem Staat von Seiten der Linken. Die Tatsache, daß das als kleinbürgerlich denunzieren; mag sein; Schluss bietet eine optimisti- die Bundesrepublik international als Rechtsnach- dennoch schimmert durch dieses Debakel, das sche Überraschung). folger des Deutschen Reiches auftrat, eröffnete auch seine starken vampiristischen Momente hat, zwar einerseits die Möglichkeit, für beide deut- ein trotziges Aufmucken durch, das radikale Fra- „Fassbinder hat mein Leben sche Staaten zu sprechen, aber dadurch, daß gen stellt. In „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ verändert. Ich spiele einen man die Justiz, die Wissenschaft, die technischen war die proletarische Existenz noch aufgehoben in der proletarischen Solidarität; rund fünfzig Kompromißler, weil ich und ökonomischen Eliten nicht einmal oberfläch- lich „entnazifizierte“, verspielte man Respekt und Jahre später ist, in Fassbinders Antwort, nichts durch Fassbinder den Loyalität der jüngeren Generation, die auf das mehr davon vorhanden. Seine Weigerung, den Kompromiß zu hassen Schweigen bezüglich der nazistischen Vergan- einzelnen, wie immer auch, verschwinden zu gelernt habe.“ genheit hinweisen konnte, das zum Beispiel in lassen zugunsten einer Idee, hält die Erfahrung (Karlheinz Böhm, in: Sunday Schulen und an Universitäten, zum „guten“ Ton eines Außenseiters fest, wie sie Hans Mayer eben Times) gehörte. Hinzu kam die kompromittierende NS- in seinem Buch über die „Außenseiter“ formuliert Vergangenheit hoher Vertreter des Staates, wie hat. (Wolfram Schütte, FR 11.7.75)

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINER WERNER

Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 33

FASSBINDER HEUTE: DIE ANDERE SEITE DER GEWALT Darsteller Radikal forciert Fassbinder seine Kritik am Kulturbetrieb, am Elend menschlicher Kurt Raab Beziehungen, an Identitätsverlust und verdrängter Mordlust des bourgeoisen Margit Carstensen Spießers, am Selbstbetrug desillusionierter Alt-68er. Nur noch die erbarmungs- Helen Vita loseste Groteske scheint ihm angemessen, die Verkommenheit seiner Zeit, sei- ner Gesellschaft und seiner selbst zu brandmarken. Und weil der Inhalt seines Ulli Lommel wilden Fabulierens in unzählige Absurditäten aufsplittert, anstatt der Logik des bürgerlichen Ordnungssinnes zu folgen, nehmen auch die Darstellungsmittel Katharina Buchhammer andere Formen an. (Dem Film ist ein bezeichnendes Zitat (s.u.) von Artaud als Ingrid Caven Motto vorangestellt.) Sprache dient im SATANSBRATEN nicht mehr dazu, Sach- Marquard Bohm, Y Sa Lo verhalte und Gefühle mitzuteilen, also Inhalte darzustellen (Was kann Sprach- Inhalt bei Charaktermasken und tönenden Larven überhaupt noch sein?). Viel- Stab mehr ist es das Sprechen selbst, das zur Mitteilung wird, zum akustischen Buch/Regie: R. W.Fassbinder Resultat von Affekten. Die Physis des Befehlens, Geiferns, Deklamierens macht Kamera: Jürgen Jürges (1. Phase) aus Worten eine atavistische Eruption, sie verlassen den Körper als bellendes, Michael Ballhaus keifendes Geräusch wie schrille Musik ein Instrument. Leib und Glieder aber Schnitt: Thea Eymèsz verweigern sich dem Kanon gewohnter Ausdrucksformen und explodieren in Musik: Peer Raben ekstatischer Rhetorik. Im Chaos der Bewegungen stülpen die Protagonisten ihr Ausstattung: Kurt Raab Inneres nach außen. Gegen die Rationalität des Alltags ergreift Fassbinder „die Partei der unterdrückten Lebensenergien, des kasernierten Lebenswillens und Produktion: Albatros Produktion, der entgrenzenden Freiheit des Wahnsinns“ (W. Schütte) München / Trio-Film, Duisburg Und noch einen weiteren, den leichtesten, fröhlichsten Aspekt hat dieser berser- kerhafte Rundumschlag, dieses exhibitionistische Tönen und Rasen: Fassbinders Technische Angaben unbändigen komödiantischen Spieltrieb, seine sinnenfrohe provozierende Lust, BRD 1975/76, 35 mm die Grenzen des guten Geschmacks und des Kunstempfindens einzureißen. In (auch 16 mm), Farbe, 112 Min. der anarchistischen Tradition von Buñuel, Mack Sennet und den Marx Brothers Prädikat: besonders wertvoll macht Fassbinder Trash und Nonsens zum Material seiner Film-Fantasie. Und FSK ab 18 Jahren schallend lacht er über seine eigene Pulp Fiction.

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINER WERNER

Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 34

Kurzinhalt Motto am Anfang des Films: daß das theatralische Spiel wie die Pest Der Dichter Walter Kranz Was die Heiden von uns unterscheidet, eine Raserei ist, und daß es ansteckend (Kurt Raab) befindet sich in ist jene, am Ursprung all ihrer Glaubens- wirkt. Die Pest benützt schlummernde einer totalen Schaffenskri- formen unternommene Anstrengung, nicht Bilder einer latent vorhandenen Unord- se: Ihm fällt nichts mehr vom Menschen aus zu denken, um die nung und treibt sie plötzlich bis zu den ein. Geblieben sind Schul- Verbindung mit der ganzen Schöpfung, äußersten Gebärden. Und auch das Thea- den, eine keifende Ehefrau das heißt mit der Gottheit zu erhalten. ter benützt Gebärden und treibt sie bis (Helen Vita) und ein debi- zum äußersten. ...Wie die Pest löst das ler Bruder (Volker Speng- Theater Konflikte, macht Kräfte frei, bringt Theatererfahrungen I ler), der tote Fliegen sam- Möglichkeiten zur Auslösung, und wenn Das läuft auf eine entschiedene Absage melt. Doch nachdem diese Möglichkeiten, diese Kräfte, diese des Realismus hinaus und mündet in der Mächte schwarz sind, so ist das nicht die Kranz seine reiche Gelieb- Forderung nach einem Drama, das kol- Schuld der Pest und des Theaters, sondern te hingemeuchelt hat, fließt lektive Archetypen auf die Bühne proji- des Lebens. ... Es hat den Anschein, als die dichterische Ader wie- ziert. leere sich durch die Pest und auf kollekti- der, nur erweist sich sein Das Theater kann nur dann wieder es ver Basis ein gigantischer Abszeß, der Werk als Plagiat eines Ste- selbst werden, wenn es dem Zuschauer sowohl geistig wie gesellschaftlich ist. fan-George-Gedichtes. Da wahrheitsgetreu die sich jagenden Traum- Und wie die Pest ist auch das Theater zur steigert sich Kranz in den bilder bietet, in denen seine verbrecheri- kollektiven Entleerung von Abszessen da. Wahn, selber George zu schen Neigungen, seine erotischen (Antonin Artaud: Das Theater und sein Double) sein. Die Ersparnisse einer Zwangsvorstellungen, seine Wildheit, glühenden Verehrerin seine Chimären, seine utopischen Vorstel- Theatererfahrungen III (Margit Carstensen) erlau- lungen vom Leben und den Dingen, ja, Ich habe den Unterschied, der zwischen ben es ihm, junge Schau- sein Kannibalismus sich entladen. ... dem Komischen und dem Tragischen spieler zu engagieren, die Der Bereich des Theaters ist nicht das bestehen soll, nie begriffen. Da das Komi- gegen Bezahlung den Psychologische, sondern das Plastische sche die unmittelbare Erkenntnis des bewundernden Kreis von und Körperliche ... Und es handelt sich Absurden ist, scheint es mir eher geeig- Jüngern abgeben. Auch ein nicht um die Frage, ob die körperhafte net, Verzweiflung zu erregen, als das Tra- Sprache des Theaters zu denselben psy- Versuch, als Homosexuel- gische. Das Komische bietet keinen Aus- chologischen Resolutionen gelangen ler zu reussieren, gehört zu weg. Ich sage „Verzweiflung erregen“, in kann wie die Sprache der Worte, ob sie Kranz' Kreativ-Übungen. Wirklichkeit liegt es aber jenseits von Ver- Gefühle und Leidenschaften ebenso gut Aber dann ist das Geld zweiflung oder Hoffnung. ... Der Humor auszudrücken vermag, wie Worte das bringt uns ja in ungetrübter Klarheit die ausgegeben, auch das, können - die Frage ist vielmehr, ob es lächerliche Situation des Menschen zum welches er seinen Eltern nicht im Bereich des Denkens und der Bewußtsein. ... Das grauenvolle Erkennen geklaut und einer Prostitu- Intelligenz Verhaltensweisen gibt, die sich und darüber lachen heißt die Herrschaft ierten abgepreßt hat. Die nicht in Worte fassen lassen und die von über das erlangen, was grauenvoll ist. ... „Jünger“ machen sich den Gebärden und von alledem, was an nur das Lachen läßt keine Tabus gelten, davon. Kranz wird nun einer Sprache des Räumlichen teilhat, es verhindert die Aufstellung von neuen völlig größenwahnsinnig. genauer ausgedrückt werden können als Gegen-Tabus; nur das Lachen vermag uns Faschistische Ideen über- von Worten. die Kraft zu geben, die Tragödie der Exi- kommen ihn. Das Chaos (Antonin Artaud: Das Theater und sein Double) stenz zu ertragen. im Tollhaus ist nicht mehr (Eugène Ionesco, Zitat in M. Esslin: Das Theater zu bändigen. Kranz fertigt Theatererfahrungen II des Absurden) einen großartigen Roman, 1981 dreht Fassbinder einen Dokumen- wird verprügelt, dann auch tarfilm „Theater in Trance“ über das Köl- noch erschossen, aber ner Festival „Theater der Welt“. Er unter- schließlich erstehen alle legte diese Aufführungen experimentellen Leichen fröhlich wieder Theaters mit von ihm selbst gesprochenen auf. Texten von Antonin Artaud: Wichtig vor allem ist das Zugeständnis,

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINER WERNER

Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 35

Fassbinder über seinen Film Gesetze außer Kraft Eine theatralische Stilisierung des Perso- Walter Kranz ist ein Mensch, Das karnevalistische Leben ist ein nals, das einem grellen Comic strip ent- der aus dem Kleinbürgertum Leben, das aus der Bahn des Gewöhnli- sprungen zu sein scheint, konnte dabei kommt, der über literarische chen herausgetreten ist. Der Karneval das einzig mögliche stilistische Prinzip Wege Erfolg gehabt hat, der ist die umgestülpte Welt. Die Gesetze, sein. sich im Zuge der Zeit politisch Verbote und Beschränkungen, die die Dennoch ist Fassbinders SATANSBRA- engagiert hatte. Und jetzt macht er einen Schritt: Er geht gewöhnliche Lebensordnung bestim- TEN sein bisher präzisestes Porträt bun- zurück zu diesen kleinbürger- men, werden für die Dauer des Karne- desrepublikanischer Wirklichkeit - ein lichen Verhaltensweisen, auch vals außer Kraft gesetzt. Das betrifft vor Alptraum, der ein immenses emotiona- wenn sie ganz faschistisch allem die hierarchische Ordnung und les Engagement des viel beschäftigten werden. Das kommt mir ganz alle aus ihr erwachsenden Formen der Regisseurs erkennen läßt. „Die Durch- logisch vor: wie sollte ein Furcht, Ehrfurcht, Pietät und Etikette. schlagskraft seines Films“, so sagt Fass- Mensch wie der Kranz, ein Karneval ist ein Weltempfinden des binder, „hat mit der Wahrheit der Künstler, etwas anderes leben Volkes früherer Jahrtausende, wohlge- Gefühle zu tun.“ als das, was die Gesellschaft merkt des ganzen Volkes. Dieses Welt- (R. Thissen, Kölner Stadtanzeiger, 5.3.77) ihm vorschreibt, solange er empfinden befreite von Furcht, näherte innerhalb dieser Gesellschaft Was den Film faszinierend macht, ist lebt. Und was er lebt, ist Mensch und Welt, Mensch und Mensch nichts als das Normale, zum aneinander an, zog alle Menschen in der Grundton tiefer Verzweiflung, fast Extrem gelebt ... die Zone des freien, intim-familiären des Menschenhasses, der sich hier, alle Kranz verarbeitet nicht, er lebt Kontakts hinein. Die sich in diesem Grenzen von Geschmack und Erzähl- es noch einmal, immer wie- Weltempfinden ausdrückende Fröhlich- kultur einreißend, gewaltsam Bahn der, wie die meisten Men- keit des Wechsels, die fröhliche Relati- bricht. Man spürt allenthalben, daß schen, praktiziert er sein Elter- vität stand der einseitigen und finsteren Fassbinder sich diese ekligen Einzelhei- haus. Im Film gibt es eine offiziellen Ernsthaftigkeit entgegen, die ten und grotesken Überzeichnungen Szene mit seinen Eltern, wo von Furcht geboren, von Dogmen nicht ausgedacht hat, damit wir sie als diese Art der Vergangenheit/ beherrscht, die dem Werden und Gags belächeln oder uns vielleicht Gegenwart sehr deutlich wird. schockiert fühlen. Wir begreifen viel- Man kann das deshalb als Wechsel feindlich gesinnt war, die den eine Art Schlüsselszene gewordenen Zustand des Seins und der mehr, daß hier einer drauflos erzählt, betrachten. Aber an sich Gesellschaft verabsolutieren wollte. Von ohne Rücksichten zu nehmen, ohne brauchte es diese Szene auch solchem Ernst befreite das karnevalisti- noch an sein Gegenüber zu denken, wieder gar nicht: Der Wert, sche Weltempfinden den Menschen ... wie wenn jemand vor Verzweiflung den diese Szene für den Außerdem entblößt sich der Charakter weint oder schreit oder herumtobt und Zuschauer hergibt, den könnte des Helden im Spiel und in karnevali- es ihm egal ist, ob seine Worte wohlge- er auch aus seiner eigenen stisch gearteten Skandalen und Exzen- setzt oder auch nur akustisch klar ver- Wirklichkeit beziehen, auf die trizitäten. ständlich sind. ... Unzensierte Mittei- er im Film immer wieder tref- (Michail Bachtin: Literatur und Karneval) lungen eines einzelnen an ein möglichst fen muß. Auch in dem, wie großes Publikum: private Leiden, veröf- Kranz mit den Frauen umgeht, Extreme Gefühle - Extreme Handlung fentlicht in einem Massenmedium. wie er sie behandelt, gibt es Es ist seltsam: Je grotesker das Gesche- nichts Unbekanntes. Auch (W. Wiegand, FAZ 17.12.76) hen wird, je unmenschlicher die Figu- wenn er da in Ansätzen so Dinge macht, die scheinbar ren handeln, um so mehr machen sie über bürgerliches Verhalten den Betrachter betroffen, der sich selbst hinausgehen, so tun sie es ja in ihnen wieder erkennen muß - freilich letztendlich nie, sondern wie nur, wenn er den Mut zur Ehrlichkeit er versucht, sich Spaß zu ver- hat. Fassbinder wendet dabei ein einfa- schaffen, geht immer auf ches Mittel an: Er steigert das, was nor- Kosten der Frau. (Fassbinder im mal und alltäglich, ist bis zum Extrem. ersten Presseheft, 1976)

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINER WERNER

Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 36

Ist das noch Wut? Familie) und nach der Poesie. Er entläßt So ist SATANSBRATEN ein fast schon aus sich, einem Egomanen und Solipsi- abgeklärter Rundumschlag, der mit sten, den nackten Faschismus. zynischer Komik weniger auf abge- (W. Schütte, FR 4.12.76) grenzte Mißstände als auf eine ver- schwommene Atmosphäre haut, daß Eine authentische, eine kulturelle Pro- einem die Trümmer von Wirklichkeit vokation also. Man mag hinter der nur so in die Augen fliegen. Aggressivität, mit der Fassbinder sich Ist das noch Wut - bei solchem offen- allen Konventionen verweigert, Verletzt- kundigen Augenzwinkern? Dieses heit vermuten, Enttäuschung, Wut. Wie Durcheinanderwirbeln der verrückte- auch immer: Die anti-kulturelle Provo- sten Personen, dieses übermütige Spiel kation ist konsequent, sie zerstört auch mit den Vorstellungen von großer Kunst und vor allem die Form. Der SATANS- - das könnte selber als ein freies, inter- BRATEN ist nicht mehr konsumierbar, esseloses Hantieren mit Kunstgriffen es ist kein Film, den man „mögen“ angesehen werden. mag. Vielmehr eine Herausforderung, Frei schwebend hat Fassbinder wieder der man sich verweigern, der man sich jene Atmosphäre getroffen, die seine stellen kann. Es geht nicht um hohe früheren Vorstadtballaden und Effi Politik in diesem Film, es geht um Briest trug. Indem er etwas Ungreifba- einen alltäglichen Faschismus. Denn res, aber doch allenthalben Spürbares Walter Kranz, so wie Kurt Raab ihn mit Vehemenz und Rücksichtslosigkeit spielt, ist eine faschistoide Figur; nicht anging, hat diese Realität des gleich- eine Figur, die in gesellschaftstheoreti- wohl Phantastischen etwas sichtbar schen Regionen sich bewegt, sonder gemacht. Und die Wut, die der eine Figur, die uns die Intoleranz, die Zuschauer daraus entnimmt, hat er ja Gewalt, den Terror in einem Alltag ent- erst einmal hineinstecken müssen. deckt, der wenigstens partikelhaft als (P. Buchka, SZ 26.11.76) unser aller Alltag erkennbar wird. (Klaus Eder, medium 12/76) Abgefilmte Wirklichkeit, Furor und Faschismus das finde ich das Tristeste, Diesem rabiatesten Stück Kino, dieser was es gibt, weil eben so wüsten Psychopathologie des Alltags, nicht vermittelt werden diesem Wahrheitsspiel über Verzweif- kann, was wirklich ist. Ich lung und Lügengespinst über erzähle meine Geschichten (Selbst)Ausbeutung hat unser Film so, daß sie ihren Wert erst augenblicklich wenig an die Seite zu beim Zuschauer bekom- stellen, was von vergleichbarer Wut, men, nicht nur auf der ähnlichem Zynismus und verwandtem Leinwand. Der Wirklich- Furor wäre. Es wird abgewrackt, was in keitswert des Filmes der trüb-derben Melange von Kulturbe- kommt da zustande, wo trieb und Lebensbetrieb als kaputte Exi- der Film mit seiner (des stenzen herumschwankt. Der geistig Zuschauers) Wirklichkeit und materiell bankrotte ehemalige zusammenkommt, und das „Dichter der Revolution“ Walter Kranz hat mit der Wahrheit der läßt seine Ängste, seine Aggressionen, Gefühle zu tun. (Fassbinder seine Phantasien Amok laufen - immer im ersten Presseheft, 1976) auf der Suche nach Geld (für seine

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERCHINESISCHES WERNERROULETTE Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 37

FASSBINDER HEUTE: SEELE IN DEUTSCHLAND Darsteller Mit äußerstem Stilbewußtsein erzählt Fassbinder in diesem Psy- Margit Carstensen chothriller von der Zerstörung menschlicher Beziehungen. Er arbeitet mit hochartifiziellen Kamerabewegungen, irritierenden Alexander Allerson Ulli Lommel Lichtreflexen, vieldeutigen Spiegelungen und verstellten Ansich- Andrea Schober ten und Durchblicken. Seine Inszenierung wird zur Choreogra- Macha Méril, Brigitte Mira phie, sein ästhetisches Kalkül zum Manierismus. Ironisch ver- Volker Spengler fremdet er immer wieder das Spiel der Darsteller zu melodrama- Armin Meier tischer Theatralik. Die Künstlichkeit der Szenerie hat Konsequen- zen: Der Zuschauer blickt mit einer Mischung aus Faszination Stab und Distanziertheit auf diese Gesellschaft, deren Gefühle zerrüt- Buch/Regie: R. W. Fassbinder tet und bis zur Leblosigkeit erstarrt sind. Von Hitchcock und Kamera: Michael Ballhaus Chabrol, an die CHINESISCHES ROULETTE denken läßt, unter- Schnitt: Ila von Hasperg scheidet Fassbinder, daß er seine ästhetische Strategie, bei aller Juliane Lorenz (Assistenz) Raffinesse, fortwährend dem Zuschauer bewußt macht, wo jene Musik: Peer Raben Ausstattung: Curd Melber sie elegant hinter der Handlung verbergen. Fassbinders stilisti- Produktion: Albatros Produktion, schen Mitteln entspringt sein Anspruch, das Publikum nicht nur München / Les Films du Losange, Paris zum Erfühlen, sondern auch zum Erkennen zu verleiten. „Sie spielen ein Spiel. Sie spielen damit, kein Spiel zu spielen. Technische Angaben Zeige ich ihnen, daß sie spielen, dann breche ich die Regeln, BRD 1976, 35 mm und sie werden mich bestrafen. Ich muss ihr Spiel, nicht zu (auch 16 mm), Farbe, 86 Min. Prädikat: wertvoll sehen, daß ich das Spiel sehe, spielen.“ (Ronald D. Laing: Knoten) FSK ab 16 Jahren

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERCHINESISCHES WERNERROULETTE Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 38

Kurzinhalt Fassbinder: DER KOMPONIST PEER RABEN Die Geschichte eines lan- Das ist der erste meiner Filme, in dem ich ÜBER DIE MUSIK BEI FASSBINDER: gen Wochenendes in der die Geschichte nicht mehr anhand von Fassbinder hat sich bei gleichbleibenden Abgeschiedenheit eines Schauspielern erzähle. Die Geschichte Grundthemen formal und handwerklich weiter- fränkischen Schlosses: Auf handelt davon, daß die Personen so ent- entwickelt. Gibt es eine parallele Entwicklung fremdet sind, daß sie ihre Beziehungen in der Musik zu den Fassbinder-Filmen? dem gemeinsamen Besitz- Dazu fällt mir der Film „Chinesisches Roulette“ tum treffen sich überra- zueinander fortsetzen, obwohl die längst ein. Da hat er Szenen so gedreht, als ent- schend die Ehepartner Ari- überstanden sind. Alle menschlichen sprächen die Bewegungen der Personen einer ane (Margit Carstensen) Beziehungen wurden auf Wiederholungen Ballett-Choreographie. Ich konnte dann dazu und Gerhard (Alexander und Rituale reduziert - das wollen wir eine Ballett-Musik schreiben. Das ergänzte sich so gut, daß er so etwas später immer wieder Allerson) in Begleitung aufdecken, aber nicht indem wir zeigen, wie die Menschen sich eigentlich verhal- machen wollte. ihrer jeweiligen Geliebten ten oder wie sich das in ihren Gesichtern (Ulli Lommel, Anna Kari- Martin Scorsese läßt sich vor den Dreharbeiten widerspiegelt, sondern wir wollen es mit na), nachdem sich beide die Musik schreiben und setzt sie während der den Bewegungen der Kamera zeigen. Dreharbeiten ein. Halten Sie das für eine sinn- angeblich auf Geschäftsrei- Wenn die Kamera sich sehr lange um volle Möglichkeit? se in verschiedene Him- etwas Totes herum bewegt, dann wird das Ich halte das für sehr schwer, denn eine vorgege- melsrichtungen begeben Tote als tot erkennbar, und dann wird die bene Musik bestimmt die Länge der Einstellun- hatten. Anwesend sind fer- gen und Kamerabewegungen. Da verliert jedes Sehnsucht nach etwas Lebendigem, ent- Element des Films seine Eigenständigkeit. Das ner eine intrigante Haus- stehen können, und deshalb wird man besondere eines Films ist ja unter anderem die hälterin (Brigitte Mira) und sich danach sehnen, mit dem bürgerli- Zusammenführung von zunächst gegensätzlichen deren schriftstellernder chen Ritual zu brechen. Elementen wie Sprache, Musik und Optik. Man Sohn (Volker Spengler). Ich habe versucht, einen Film zu machen, muß die Grenzen all dieser Teile noch sehen, Völlig unerwartet kommt der die Künstlichkeit, eine Kunstform bis dann macht es erst Spaß. Es ist ungefähr so, wie jedes gute Gericht nur dann gut schmeckt, wenn auch noch die gehbehin- ins Äußerste treibt, um sie hinterher voll- man schmeckt, was da alles drin ist. derte Tochter des Paares kommen in Frage stellen zu können. Ich (Andrea Schober) mit ihrer bin ziemlich sicher, daß es in der Filmge- War Fassbinder ein solcher Koch? Erzieherin (Macha Méril). schichte keinen einzigen Film gibt, der so Ja. Deshalb auch das Akzeptieren von Schau- spielern und ihrer speziellen Art zu sprechen. Eine von Eifersucht, viele Kamerabewegungen, Kamerafahrten und Gegenbewegungen der Schauspieler Deshalb hat man auch dann ganz genau auf den Mißtrauen, Egoismus und Text geachtet, wenn jemand nicht besonders Haß zerfressene Gesell- enthält wie dieser. Der Film, den ich gekonnt gesprochen hat. schaft, in der das verkrüp- gedreht habe, und der sich für die Ehe als Institution auszusprechen scheint, han- pelte Kind aus verletzter Sie haben für andere Regisseure, teils Altersge- delt in Wirklichkeit davon, wie infam, nossen Fassbinders, teil erheblich jüngere, Film- Liebe die Konflikte auf die verlogen und destruktiv Ehen eigentlich musik geschrieben. Was sind die maßgeblichen Spitze treibt: Es läßt alle sind und wirkt vielleicht gerade durch Unterschiede? Bei Fassbinder gab es eine außerordentlich star- das CHINESISCHE ROU- diese Doppeldeutigkeit stärker als andere LETTE spielen, ein Wahr- ke Offenheit, sich auf etwas einzulassen. Es ist Filme, die sich offen gegen die Ehe aus- immer ein ganz gewaltiger Vorgang, wenn die heitsspiel. Verdrängte sprechen. Für mich ist das so, daß die Musik zum Film dazukommt. Der Film verändert Affekte und jahrelang auf- Rituale sich in den Spiegeln fortsetzen sich dadurch in gewisser Weise. Fassbinder war gestaute Unzufriedenheit und von den Spiegeln gebrochen werden, immer offen und neugierig auf diese Verände- kommen gewaltsam zum und ich hoffe, daß sich diese Brechungen rung, nicht ängstlich davor. Es gibt Regisseure, Ausbruch. Ein Schuß fällt. die furchtbar ängstlich werden, wenn die Musik in das Unterbewußtsein des Zuschauers dazukommt, wegen der Veränderung. Fassbinder einprägen werden, so daß er bereit ist, mit hat interessiert, auch diese Veränderung mitzu- diesen Ritualen, den Endpunkten einer steuern. Zum Beispiel durch anderen Einsatz der bürgerlichen Lebensform, zu brechen. Musik, sie dramatisch zu verwenden, sie an Aber natürlich ist es zu viel verlangt, sich bestimmten Stellen besonders leise oder beson- von einem Film diese oder jene Wirkung ders laut zu machen. zu versprechen. (1977) (aus Juliane Lorenz (Hrsg.): Das ganz normale Chaos)

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERDIE EHE DER MWERNERARIA BRAUN Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 39

FASSBINDER HEUTE: SEELE IN DEUTSCHLAND Darsteller Wie Maria Braun um ihre Liebe kämpft, wie sie sich selbst als Hanna Schygulla, Klaus Löwitsch Preis ihrer Karriere einsetzt, wie sie sich behauptet, emanzipiert Ivan Desny, Gisela Uhlen und schließlich doch scheitert, wie alle Personen, auf die sie Gottfried John, Günter Lamprecht George Byrd, Hark Bohm trifft, sich entblößen und ihren inneren Zustand zu erkennen geben, das wirft ein grelles Licht auf die aus Ruinen auferstehen- Stab de Bundesrepublik und deren mörderische Entschlossenheit, das Buch: Peter Märthesheimer/ Wirtschaftswunder zu schaffen. Wo desavouierte Herrschafts- Pea Fröhlich / R.W.Fassbinder; nach strukturen neu etabliert werden, wo die Männer ihre alten Macht- einer Idee von R.W.Fassbinder positionen in Familie und Staat zurückfordern, wo Gefühle nach Regie: Rainer Werner Fassbinder Soll und Haben berechnet werden - wie sollte da noch Platz Kamera: Michael Ballhaus sein für Marias bedingungslose Liebe? Fassbinders Film von Schnitt: Juliane Lorenz 1978 läßt die unbändige Lebensenergie der Maria Braun auf die Musik: Peer Raben Gesellschaft der Nachkriegszeit treffen. Dabei führt er den Kostüme: Barbara Baum Zuschauer von heute in dessen eigene Gegenwart. Bauten: Norbert Scherer Produktion: Albatros Produktion, München / Für mich sind Frauen nicht nur dazu da, Männer in Gang zu Trio-Film, Duisburg / WDR Köln setzen, diese Objektfunktion haben sie nicht ... Ich zeige eben, daß die Frauen mehr als Männer gezwungen sind, zu zum Teil Technische Angaben ekelhaften Mitteln zu greifen, um dieser Objektfunktion zu ent- BRD 1978, 35 mm gehen. (Fassbinder, 1976) Farbe, 120 min Prädikat: Besonders wertvoll FSK ab 12 Jahren

In Zusammenarbeit mit der Rainer Werner Fassbinder Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 793 15 51 • email: [email protected] • www.basisfilm.de Foundation 15 +2 RAINERDIE EHE DER MWERNERARIA BRAUN Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 40

Kurzinhalt Der Kameramann im Regisseur chung war, daß der Brandt das Selbstinfra- Während im Zweiten Welt- Von Anfang an habe ich die Leute so behan- gestellen eher herausgefordert hat, was der krieg ringsum die Bomben delt und so gefilmt meiner Ansicht nach, als Wehner aber offenbar nicht so wollte, näm- fallen, heiraten Hermann wären es Stars ... nicht einfach dadurch, lich das Kritisierbarhalten von so staatserhal- Braun (Klaus Löwitsch) und dass man jemand vor eine Kamera stellt, tenden Momenten. Ich hab´ nur das Gefühl, Maria (Hanna Schygulla). wird er ein Star, sondern nur in einer das (was Brandt getan hat) war etwas, was allen nicht so recht war. Das kann ganz Eine einzige Nacht bleibt bestimmten Funktion, in einem bestimmten falsch sein, auch von mir, auch mein Gefühl ihnen, dann muß der Ehe- Bild, in einer bestimmten Kamerabewegung. - aber wenn ich so zurückblicke, dann hab´ mann wieder an die Front. Wenn die Kamera nicht Hollywood ist, ich den Eindruck, daß das die Zeit war, wo Nach Kriegsende – ihr dann ist auch der Schauspieler, der fotogra- fiert wird, nicht Hollywood. (Fassbinder, 1976) es lebendiger war. Ich versteh´ Demokratie Mann, heißt es, sei gefallen eher als etwas, das wie ein Kaleidoskop – hat Maria ein Verhältnis Der Regisseur im Kameramann arbeitet, das heißt nicht die permanente mit dem schwarzen G.I. Bill. Wir haben immer versucht, mit der Kamera Revolution, aber die permanente Bewegung, Doch Hermann kommt einen Subtext zu erzählen, also das, was die die permanente Infragestellung durch jede unerwartet aus der Gefan- Leute nicht sagten, mußte die Kamera Generation. Wenn ich jetzt dieses ganze genschaft nach Hause. In erzählen. Das interessiert mich sowieso am Theater um „Holocaust“ sehe, was müssen der Konfrontation mit Mann meisten an dem Job, wenn die Kamera die so ein Theater machen, haben die das und Liebhaber erschlägt etwas eigenständiges erzählt, wenn sie dem wirklich so verdrängt und vergessen? Das Maria Bill mit einer Flasche. Zuschauer ein Gefühl vermittelt, das nicht können die doch gar nicht vergessen haben, Hermann nimmt die Schuld in Worten ausgedrückt ist, was nicht aus das müssen die doch im Kopf gehabt haben, auf sich und muß ins Zucht- dem Dialog hervorgeht, sondern manchmal als die ihren Staat aufgebaut haben. Wenn haus. Maria lernt den Fabri- ein Kontrapunkt ist zu dem, was gesagt so etwas Entscheidendes vergessen werden kanten Oswald (Ivan Desny) wird. (Michael Ballhaus in Juliane Lorenz (Hrsg.): Das konnte oder verdrängt - und jetzt durch den kennen und macht sich in ganz normale Chaos) Fernsehfilm, den ich gar nicht mal für so dessen Leben und Firma schlecht halte -, dann kann doch an dieser unentbehrlich, während sie Modell Deutschland Demokratie und dem „Modell Deutsch- land“ etwas nicht ganz richtig sein. auf Hermanns Entlassung Was halten Sie denn vom „Modell Deutsch- Warum muß es aber ein amerikanischer wartet. Als es aber soweit land“? Fernsehfilm sein, der das Thema wieder ist, verschwindet der spur- Fassbinder: Da beißt die Maus keinen Faden ab: Das Modell ist eine geschenkte Demo- unter die Leute bringt? Warum ist so etwas los. Erst nach Oswalds Tod hier nicht entstanden? taucht er wieder auf. Maria kratie, aber was ist das denn für eine Demo- kratie, deren Verteidigung über das Stützen Fassbinder: Ich wollte das ja machen. Ich erfährt von einem Vertrag von unkritisierbaren Werten geht? Wo man wollte das ja mit „Soll und Haben“ machen, zwischen beiden Männern, nicht mal mehr sagen kann: Was sind das der sollte ja nicht zur Bismarck-Zeit auf- demzufolge Hermann zu für Werte auf denen das hier ruht? Demo- hören. Das Erschreckende für alle Leute war Lebzeiten Oswalds auf kratisch wäre doch gerade, daß Demokratie aber gerade auch, daß ich das fortführen Maria verzichtete, der Fabri- durch ständiges Infragestellen und Kritik am wollte bis heute, da wäre ich ganz logi- kant dafür aber das Ehepaar Leben bleibt. Aber es hat sich doch im scherweise auch ins Dritte Reich gekommen zu seinen Erben eingesetzt Laufe der Zeit ergeben, daß die Demokratie und in diese Republik jetzt. Und das ist hat. Statt der erwarteten bei uns so autoritär geleitet wird, wie es in für manche schon etwas Erschreckendes Wiedersehensfeier kommt einem autoritären Staat nicht besser gesche- gewesen. es zur Katastrophe: Maria hen könnte. Ich würde jedenfalls nicht (aus einem Gespräch mit W.Schütte, FR 20.2.79) lässt – Absicht oder Verse- sagen, daß das „Modell Deutschland“ eines hen? – den Gashahn des für die ganze westliche Welt ist. Herdes geöffnet, und Hat es etwas damit zu tun, daß Sie im Dialektik der Aufklärung während in der Radioüber- Nachspann der „Maria Braun“ zwar die Bil- Nicht um die Konservierung der Vergangen- tragung die deutsche Fuß- der der deutschen Bundeskanzler zitieren, heit, sondern um die Einlösung der vergan- genen Hoffnung ist es zu tun. ballnationalmannschaft dem aber bezeichnender Weise nicht das von (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno) Weltmeistertitel 1954 entge- Willy Brandt? genspielt, wird das Haus Fassbinder: Ja, ich hab´ den Eindruck, daß von einer gewaltigen Explo- die Zeit von Willy Brandt eine Unterbre- sion erschüttert.

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERDIE EHE DER MWERNERARIA BRAUN Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 41

Private Bilder - öffentliche Töne Überereignis, das alle privaten Bewe- ... Unterdessen hört man schon lange gungen, Emotionen, Entscheidungen als und wird es lange hören, was man fast bedeutunglos und beliebig erschei- damals Suchmeldungen nannte, jene nen lässt, als Kraftakte von Zwergen vor warme und besorgte, monotone Stim- dem Gang des Zeitgeistes durch die me, die ganze Listen von Namen ver- Geschichte. liest, Namen von Vermißten: ein Volk (Peter W. Jansen, DIE ZEIT 23.3.79) sucht seine versprengten Kinder, ein Private Geschichte - Volk sucht sich selber. Der Film ist Politische Geschichte überzogen mit „öffentlichen“ Tönen, Maria Brauns eigene Geschichte entfal- Radionachrichten, Schlagern mit Rudi tet sich, indem sie andere Geschichten Schuricke, Caterina Valente, Reden von streift, sich mit ihnen verbindet, in sie Adenauer, Lärm von Baumaschinen, eingreift, sich an ihnen reibt; wir sehen der Herbert-Zimmermann-Reportage ihr Leben in den Lebensgeschichten der vom Endspiel der Fussballweltmeister- Personen ihrer Umgebung mehrfach schaft 1954 in Bern. widergespiegelt, wie verzerrt auch So objektiv diese Töne ihrer Herkunft immer. Selbst Randfiguren ist Zeit gege- nach sein mögen, so extrem subjektiv ben, von ihrem Leben zu erzählen. So sind sie eingesetzt, aus der Subjektivität erfahren wir z.B. von einer Rotkreuz- des Films sozusagen, denn sie tönen schwester, sie hätte, als ihr Mann im jenseits der Wahrnehmung durch die Krieg in eine Bergspalte gestürzt sei, Personen auf der Szene (sie hören von der Heeresleitung als Entschädi- nicht, was da trällert oder schwadro- gung ein massenproduziertes Ölgemäl- niert). Dennoch sind die Töne ihrem de erhalten, das Meereswellen zeigte Bewußtsein zugehörig. Irgendwann und folgende Aufschrift trug: „Er starb, haben sie (oder hat der Nachbar) diese auf daß Deutschland lebe.“ Der in die- Töne gehört, sie sind in der Luft, die sie sem einen Satz aufbrechende Wider- atmen, die Töne gehören ihnen, und sie spruch zwischen zynisch verfälschen- gehören den Tönen. der offizieller Darstellung der Inhalt und Form dieser Tonmontage und Geschichte und leidvoller Lebenserfah- ihr essayistischer Appeal bewirken eine rung faßt ein Handlungsmotiv zusam- merkwürdige Verkehrung der Bedeu- men, das sich durch den ganzen Film tungsfelder und ihrer Bezüge. Die Bil- hindurchzieht: Das feindliche Verhältnis der, obwohl satt mit Accessoires der zwischen privater und politischer Zeit und durch Möbel, Trümmer, Tape- Geschichte. Die zahlreichen Miniatur- ten, Rucksack, Kostüme, Frisuren, Hal- lebensläufe, die teils inszeniert. teils tungen als zeitgeschichtlich exakt erzählt werden, fügen jeweils neue beglaubigt, erscheinen als privateste Facetten zu dem Zeitbild hinzu, das Beobachtungen der Zeit, während die Fassbinder konstruiert. Es sind Lebens- Töne – nicht zufällig, aber willkürlich geschichten, die im „Innern“ der hinzugemischt; sozusagen unabhängig „großen“ Geschichte stattfinden. Dem und aus einer abgehobenen Position – Zuschauer soll bewußt werden, wie sich als der objektive allgemein gültige stark politische Geschichte die privaten Tatbestand schlechthin gebärden. Geschichten determiniert und wie Sie sind die akustische Präsenz der wenig dies von den Betroffenen ver- Zeitgeschichte, die sich ungerührt von standen wird. den Ereignissen und Sensationen der (aus Anton Kaes: Deutschlandbilder) Handlung und der Dialoge gibt, als das

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de 15 +2 RAINERDIE EHE DER MWERNERARIA BRAUN Ein Film von Rainer Werner Fassbinder KINO ODER LEBEN FASSBINDERSeite 42

Ein Filmkritiker stellt Fragen Das Publikum erreichen ... Auf dem letzten Westberliner Festival MARIA BRAUN ist von Fassbinders Filmen berichtete Fassbinder auf einer Pressekonfe- der am klassischsten konstruierte. Er hat ein renz, daß er den Plan habe, eine Geschich- klares dramatisches Zentrum, eine Heldin, te der BRD in Filmen zu schreiben und eine erkennbar einfache Aufstieg- und- Fall- „wenn ich beim Hier und Heute anlange Handlungskurve und eine Erzählstruktur, bis zum Jahr 2001, dann höre ich auf“. Er die sich entlang einer Folge von verdeckten wolle herausfinden, was für eine Welt das oder offenen Wiederholungen und Symme- ist, in der er hier und heute lebt. Eine Aus- trien entwickelt. Zum Beispiel befriedigt der kunft über die BRD müsse auch etwas Schluss, trotz der Dramaturgie des „reiten- damit zu tun haben, wie dieser Staat ent- den Boten“, weil er eine Wiederholung der standen ist. Deshalb beschäftige er sich mit Eröffnungseinstellung (und zugleich dessen den fünfziger Jahren, und die fünfziger spiegelbildliche Zurücknahme) bedeutet. Jahre seien noch nicht zu Ende. Es fragte Wie alle klassischen Filme erlaubt seine Er- ihn jemand, wie er dies alles aushalten zählung eine Vielzahl von Interpretationen könne. Es ist besser es auszuhalten und und Reaktionen und ist so konzipiert, daß wiederzugeben, als gar nichts wiederzuge- unterschiedliche Publikumsinteressen be- ben. Und wenig später sagte er: „Ich halte dient werden: Deutsche und Nicht-Deut- es auch für fast nicht auszuhalten.“ Fassbin- sche, Männer und Frauen, großes Publikum der machte einen angespannten Eindruck, und Intellektuelle - alle können „ihren“ Ein- als ob er versuchte, sich zurückzuhalten. stieg in den Film finden. Obwohl ein Melo- Er sagte es auch direkt, er wolle keinen dram, besitzt der Film durch die emotionale Skandal. Er formulierte in kurzen, zuge- und dramatische Bewegung vom Aufstieg spitzten, einen Gedanken nur anreißenden und Fall die einfache Kraft einer Moritat, Sentenzen. Für seinen letzten Film hatte er deren Moral man als säkulare Form der 22 Drehtage gebraucht und erklärt, daß er Tragödie bezeichnen könnte. So knüpft von vielen Proben nichts halte, mehr vom MARIA BRAUN am Vorverständnis des Verstehen. Ich frage mich, wie er mit dem Publikums an, um eine unmittelbare Identi- Unbehagen über seine Welt, das er auszu- fikation mit der Heldin, ihrem Ehrgeiz, drücken versuchte, in den künftigen Filmen ihren Zielen und Enttäuschungen zu umgehen würde. Fassbinder war eine schil- sichern. Gleichzeitig birgt der zweideutige lernde Persönlichkeit des Films der BRD. Schluss genügend Geheimnis, um die Gewiß kein sozialer Analytiker, ihn interes- Handlung nachklingen zu lassen. Denn sierten Stimmungen und Befindlichkeiten rückblickend bleibt unklar, ob Maria sich seiner Figuren. Figuren, die es zumeist willentlich oder versehentlich in die Luft schwer hatten, ihren Platz in der Gesell- sprengte, ob sie stets vermutete, daß Her- schaft zu finden und oft an ihr zerbrachen. mann mit Oswald unter einer Decke steckt, Für diese emotionalen Situationsberichte ob sie die Abwesenheit Hermanns brauch- benutzte er Mittel des , auch te, um ihre Liebe zu ihm stark und rein zu Wirkungen, die der kommerzielle Film erhalten. Dies mag die Zuschauer ermuti- bevorzugte, ergriff mal mehr, mal weniger gen, über die tiefere Bedeutung der Erzäh- ein Stück von wichtigen sozialen Stimmun- lung zu spekulieren, ohne deshalb ent- gen. Aber alles baute er ein in seinen Traum täuscht oder verwirrt aus dem Kino entlas- von einem aggressiven, wehmütigen Kino. sen zu werden, wenn man einmal davon Seine Filme kamen gleichzeitig scharf und ausgeht, daß solche offenen Fragen ein entschärft, wach und sentimental, eine ver- Publikum produktiv machen. Die Erzählung führerische Mischung. Ich hätte gern ist linear, transparent und realistisch, schafft gewußt, ob es ihm gelingen würde, sich aber zugleich Raum für Ambivalenzen und aus den Klischees, die er kultivierte, zu Mehrdeutigkeiten und befriedigt den befreien. Ich war neugierig auf seine Filme Wunsch nach Bedeutungsstiftung an sich. zur Geschichte der BRD. Wer wird sie jetzt (Thomas Elsaesser in „Rainer Werner Fassbinder“) nur machen? (Rolf Richter - DDR - in „Filmspiegel 14/1982“)

Körnerstr. 59 • 12169 Berlin • Tel 030-793 51 61 /71 • Fax 030-793 15 51 • email: [email protected] • internet: www.basisfilm.de