Sendung vom 31.5.2016, 20.15 Uhr

Annegret Kramp-Karrenbauer Ministerpräsidentin Saarland im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum alpha-Forum, heute aus dem "studio 4A" in Berlin, weil wir einen besonderen Gast haben. Es ist Annegret Kramp-Karrenbauer, sie ist die Ministerpräsidentin des Saarlandes und Präsidentin des Deutschen Volkshochschulverbandes. Ich freue mich, dass Sie hier sind, herzlich willkommen, Frau Ministerpräsidentin. Kramp-Karrenbauer: Vielen Dank für die Einladung. Reuß: Lassen Sie uns zunächst ein bisschen über das Saarland reden. Es ist das kleinste Flächenland der 16 Bundesländer in Deutschland mit rund einer Million Einwohnern. Das Saarland entstand als politische Einheit nach dem Versailler Friedensvertrag. Zweimal wurde es aus dem deutschen Staatsgebiet ausgegliedert und es gab dann zweimal Volksbefragungen, bei denen sich die Saarländer beide Male dafür entschieden haben, zum deutschen Staatsgebiet gehören zu wollen. Zuletzt war das 1955 so und seit 1957 ist das Saarland ein eigenes Bundesland. Was macht das Saarland eigentlich so besonders, das Land, die Region und die Menschen? Kramp-Karrenbauer: Das hat in der Tat etwas mit der Geschichte des Saarlandes zu tun. Sie haben es gerade eben gesagt: Wir personifizieren sozusagen die Entwicklung von einem Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich, von einem Stolperstein auf dem Weg zur europäischen Einigung bis heute, bis zu einem deutschen Bundesland, das im Herzen Europas in einem Dreiländereck und in einer Großregion liegt. Es prägt uns besonders, dass wir wissen, wie wichtig es ist, sozusagen zu jemandem zu gehören, denn wir haben uns ja zweimal für Deutschland entschieden. Gleichzeitig wissen wir aber auch, wie wichtig es ist, in einem friedlichen und gut nachbarschaftlichen Gebilde mit seinen Nachbarn zu leben. Deswegen sagen wir von uns: Wir sind selbstverständlich von Herzen Deutsche, wir sind aber vor allem auch überzeugte Europäer und versuchen, beides nach vorne zu bringen und miteinander zu vereinbaren. Reuß: Wenn man im Saarland unterwegs ist, dann hat man den Eindruck, die Menschen haben – ich sage das mal so – ein bescheidenes Selbstbewusstsein, d. h. die Saarländer wirken bescheiden, aber auch selbstbewusst. Sie selbst haben mal über sich gesagt: "Ich bin sicher kein Lautsprecher, aber man sollte daraus nicht schließen, dass ich eine Leisetreterin bin." Wie würden Sie daraus Ihren Politikstil ableiten? Was ist Ihnen wichtig? Kramp-Karrenbauer: Es ist mir wichtig, dass sich in der Politik wirklich etwas bewegt und dass wir Fragen und Probleme, die sich ergeben, auch tatsächlich lösen. Ich versuche, das immer mit einem ganz persönlichen Ansatz anzugehen, indem ich mich als Bürgerin frage: Wie geht es mir? Wie empfinde ich das? Was würde ich mir wünschen? Ich glaube, als Bürgerin würde ich mir vor allem wünschen, dass man versucht, egal welche politische Meinung man hat, ein Problem gemeinsam anzugehen. Dieser Ansatz, gemeinsam etwas zu tun, ist mir ganz wichtig. Das ist vielleicht auch landsmannschaftliche Prägung, wenn man aus so einem kompakten Bundesland kommt, in dem die Fragen der sozialen Beziehungen und der sozialen Interaktionen eine sehr große Rolle spielen. Das heißt, das ist ein sehr pragmatischer Politikansatz, der nicht eine Kontroverse betont, nur damit man in der politischen Kontroverse und in der politischen Diskussion vorkommt. Dennoch sagt dieser pragmatische Politikansatz schon auch sehr selbstbewusst: Es gibt Unterschiede, es gibt auch in der einen oder anderen Frage sehr grundlegende Unterschiede und die darf man dann auch nicht verwischen, nur um irgendeinen Kompromiss zu bekommen. Das heißt, ich trete nicht immer laut auf, aber dann, wenn es nötig ist, erhebe ich sehr wohl meine Stimme. Ich versuche also, genau diese Abwägung hinzubekommen. Reuß: Sie haben als eines der wichtigsten Ziele Ihrer Regierung einmal den Erhalt der Eigenständigkeit des Saarlandes genannt. Das Saarland ist aufgrund des Strukturwandels hoch verschuldet. Es gibt zwar den Länderfinanzausgleich, aus dem es auch Mittel für das Saarland gibt, aber die Länder haben eben auch die Schuldenbremse beschlossen. Das bedeutet, eigentlich dürften die Länder ja ab 2020 keine Nettokredite mehr aufnehmen, also keine Neuverschuldung mehr machen. Ist das denn durchzuhalten, vor allem auch mit Blick auf die Altlasten? Kramp-Karrenbauer: Wir sind ja schon bis 2020 an einen strengen Konsolidierungskurs gebunden. Dafür erhalten wir auch Konsolidierungshilfen und unterliegen auch der Kontrolle des Stabilitätsrates. Wir haben bisher diesen Konsolidierungskurs auch sehr klar eingehalten. Das ist ein schwieriger Prozess. Wir sind auch fest entschlossen, das weiterhin so zu machen. Aber wir wissen, dass wir ohne eine weitere solidarische Unterstützung ab 2020 nicht die Fähigkeit haben werden, die Schuldenbremse einzuhalten und gleichzeitig die Aufgaben, die wir als Bundesland haben, zu erfüllen. Das ist auch der Grund dafür, weshalb wir mit den anderen Bundesländern und gemeinsam mit ihnen wiederum mit der Bundesregierung um die Neuordnung des Länderfinanzausgleichs ringen. Wir haben dabei auch schon den ersten großen Schritt erzielt, dass es eine Einigung gibt auf ein System der 16 Bundesländer untereinander, bei dem diese Hilfe für das Saarland – und im Übrigen auch für Bremen – unzweifelhaft anerkannt wird. Jetzt gilt es, in den weiteren Verhandlungen mit dem Bund dies durchzusetzen. Wenn man das Saarland als eigenständiges Bundesland akzeptiert und auch auf Dauer akzeptieren will, dann muss man ihm auch in einer – wie ja festgestellt wurde – unverschuldeten Haushaltsnotlage helfen. Wenn man dies jedoch nicht will, dann muss man so ehrlich sein und sagen: "Wir wollen eigentlich weniger Bundesländer haben als bisher." Reuß: Bis 1994 stand in der Verfassung in Artikel 72 die Forderung nach der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, heute spricht man hingegen von "gleichwertigen Lebensverhältnissen". Was ist damit gemeint? Kramp-Karrenbauer: Gleichwertige Lebensverhältnisse bedeuten für mich, dass sich für die Menschen im Saarland gleiche Entwicklungschancen ergeben wie z. B. für Menschen, die meinetwegen in Bayern oder in irgendeinem anderen Bundesland leben, d. h. auch, dass es hier aufgrund der Tatsache einer Haushaltsnotlage nicht massive Unterschiede gibt. Natürlich wird es immer regionale Unterschiede geben und wir merken das z. B. an Lohngefällen. Wir im Saarland haben allerdings auch ganz andere Lebenshaltungskosten, sodass man auch mit weniger Lohn eventuell einen höheren Lebensstandard halten kann als mit einem etwas größeren Gehalt meinetwegen im Großraum München. Das muss man vernünftigerweise immer miteinander in Beziehung setzen. Aber es darf auch nicht sein, dass z. B. die Bildungschancen und die gesamte Infrastruktur in einem Bundesland nur von dessen jeweiliger aktueller Kassenlage abhängen. Dass das nicht so ist, fordert, wie ich meine, das Gebot der Gleichmäßigkeit und der gleichmäßigen Entwicklung in ganz Deutschland. Die Bundesrepublik, die ich mir wünsche, ist keine Bundesrepublik, die fünf Boom-Regionen hat, während der Rest nur noch aus grüner Wiese besteht und keine Chancen bietet. Stattdessen ist das eine Bundesrepublik, die den Menschen auch wirklich in der Breite gute Entwicklungschancen und Perspektiven bietet. Reuß: Das wäre ja auch eine der Gründe dafür, warum die Bundesrepublik föderal organisiert und strukturiert ist. Sie sind seit August 2011 auch Bevollmächtigte der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrages über die deutsch- französische Zusammenarbeit. Das liegt einerseits nahe, weil Sie aus dieser Region kommen, und andererseits, weil Sie sehr frankophil sind. Sie haben nun im Saarland auch eine diesbezügliche Strategie entwickelt, denn Sie haben vorgesehen, dass bis zum Jahr 2043 neben der deutschen Sprache auch Französisch als zweite Verkehrs- und Umgangssprache eingeführt werden soll. Das gibt es meines Wissens in keinem anderen Bundesland. Warum war und ist Ihnen das wichtig? Kramp-Karrenbauer: Wir leben ja auch an der Grenze zu Luxemburg und wir sehen jeden Tag, welche Vorteile es bringt, wenn man zwei- oder dreisprachig ist. Das ist für Luxemburger selbstverständlich. Da unsere Kinder sicherlich nicht weniger intelligent sind als die Luxemburger Kinder oder die aus anderen Ländern, stellt sich doch die Frage, wie wir das organisieren können. Das heißt, wenn man mit französischsprechenden Nachbarn so eng zusammenlebt, dann ist es aus meiner Sicht mit Blick auf das Thema des Zusammenwachsens in Europa ein Gebot und auch eine Selbstverständlichkeit, die Nachbarsprache zu beherrschen. Das bietet aber auch enorme Vorteile, denn damit verbindet sich ja auch die Kenntnis der Kultur und ein wirtschaftlicher Vorteil. Und es verbindet sich damit das Bewusstsein, dass ein relativ kleines Bundesland zusammengenommen mit seinen europäischen Nachbarn sehr wohl eine große europäische Region abbildet. Deswegen ist das für uns wirklich eine Zukunftsstrategie. Wir haben bei uns im Saarland auch tatsächlich ganz gute Voraussetzungen dafür, dass man das real umsetzen kann. Reuß: Sie sind sehr viel in Frankreich, Sie kennen Frankreich sehr gut und für das Saarland ist das deutsch-französische Verhältnis von großer Bedeutung. Man hat ja den Eindruck, dass wir mit einer Europäischen Union aufgewachsen sind, bei der es immer vorwärtsging: Es kamen mehr Mitglieder dazu, das Ganze wurde vertieft, die Grenzen fielen und wir haben eine gemeinsame Währung. Aber nicht erst seit der Griechenlandkrise zeigen sich erste Risse, und auch in der Flüchtlingsfrage hat sich gezeigt, dass sich Europa auch auseinanderdividieren kann. Es gibt Länder, die die Option diskutieren, wieder auszutreten aus der EU. Was ist da passiert bzw. wie kann man diese Re-Nationalisierung stoppen? Braucht es eine neue Vision für Europa? Wie könnte diese aussehen? Kramp-Karrenbauer: Ich glaube, wir haben das Problem, dass all das, was Europa an positiven Auswirkungen hat, von den Menschen mittlerweile als vollkommen selbstverständlich empfunden wird. Ich brauche z. B. meinen Kindern erst gar nichts vom Schengener Abkommen erzählen, weil sie sich an eine Zeit, in der es dieses Abkommen nicht gegeben hat, gar nicht erinnern können. Für sie ist es vollkommen selbstverständlich, sich frei über Grenzen hinweg bewegen zu können und überall mit derselben Währung zu bezahlen. Das heißt aber auch, dass der Wert, der damit verbunden ist, überhaupt nicht als solcher wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite erleben wir ein zunehmendes Bewusstsein bei den Menschen vor Ort – nun auch noch verstärkt durch die aktuelle Flüchtlingssituation –, dass wir nicht auf einer isolierten Insel der Glückseligen leben, sondern umgeben sind von Konflikten: Es gibt nicht nur diese weltweiten Konflikte, sondern auch Konflikte in unmittelbarer Anrainerschaft zu Europa. Das heißt, diese Konflikte berühren uns sehr unmittelbar. Natürlich gibt es Teile in der Politik, gibt es unter den Menschen einige, die sich als Reflex darauf im wörtlichen Sinne einigeln und ihr Heil im Nationalstaat suchen. Ich glaube, die große Aufgabe besteht nun darin, diesem Reflex zu widerstehen und deutlich zu sagen: In einer international zusammenwachsenden Welt kann die Chance Deutschlands nur in einer international gegebenen Antwort liegen, d. h. für uns in diesem Fall vor allem in einer europäisch abgestimmten Antwort. Das ist einer der Grundkonflikte, die ich im Moment in Europa sehe, und das ist auch ein wirkliches Ringen um einen zukünftigen Kurs. Aus meiner Sicht ist das nämlich auch das Ringen um die Frage, wie viel Zukunftsfähigkeit wir in Europa insgesamt, aber insbesondere auch in Deutschland haben werden. Reuß: Lassen Sie uns nun ein bisschen über Ihren Politikstil, über Ihr Politikverständnis reden. Peter Struck, der langjährige Fraktionsvorsitzende der SPD im , hat einmal gesagt: "Politik ist eine Droge. Jeder, der das bestreitet, lügt." Ist das so? Empfinden Sie das auch so? Und wenn ja, wie versuchen Sie, sich davor zu schützen? Kramp-Karrenbauer: Ja, natürlich ist die Politik eine Droge bzw. hat sie etwas Drogenartiges an sich. Denn wenn man eine gewisse Grundleidenschaft dafür hat und in diesem politischen Feld tätig ist – egal ob das im kommunalpolitischen oder im landes- bzw. bundespolitischen Bereich ist – und zum ersten Mal dieses doch sehr befriedigende Gefühl erlebt, Probleme wirklich lösen zu können, politische Erfolge erzielen zu können, dann ist das etwas, was einen ungeheuer motiviert. Auf der anderen Seite habe ich jedoch das Glück, und ich empfinde das wirklich als Glück, sehr geerdet zu sein durch meine Familie – und ich habe eine sehr große Familie – und durch das sehr bodenständige Klima im Saarland. Das bewahrt einen davor, dass man sich sozusagen nur noch im politischen Raum bewegt, dass man sich z. B. nur noch mit politischen Freunden oder Konkurrenten unterhält. Ja, das hilft einem dabei, das Leben in seiner ganzen Breite wahrnehmen zu können. Das bringt einem auch immer wieder die Erkenntnis, dass es viele andere Dinge gibt, die vielen Menschen sehr viel wichtiger sind als die Frage, ob eine Landtagsdebatte als Sieg für den einen oder den anderen gewertet wird. Man braucht einfach so ein gewisses Korrektiv. Reuß: Sie haben einmal gesagt, Sie seien eine Quotenfrau. Nun sind aber Frauen in politischen Spitzenämtern keine ganz große Überraschung mehr. Denn das ist ja Gott sei Dank inzwischen doch ein bisschen normal geworden – und man weiß das auch zu schätzen. Sie sind eine von drei Ministerpräsidentinnen in der Bundesrepublik: Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen, Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz und Sie im Saarland. Die Bundeskanzlerin und unsere Verteidigungsministerin von der Leyen sind ebenfalls sehr starke Frauen in Spitzenämtern. Sie haben ja auch lange Jahre als Innenministerin des Saarlandes – ich glaube, Sie waren sogar die erste Innenministerin in Deutschland überhaupt – ein Amt geführt, das bis dahin nur von Männern geführt worden war. Sie haben einmal gesagt, Frauen würden entspannter miteinander umgehen. Machen Frauen auch anders Politik? Kramp-Karrenbauer: Das ist eine ganz häufig gestellte Frage, die ich in dieser pauschalen Art und Weise nicht mit Ja beantworten würde. Es ist so, dass jeder Mensch seinen ganz eigenen Politikstil hat. Das hat etwas mit persönlichen Erfahrungen, mit der Einstellung, mit dem Temperament zu tun. Trotzdem gibt es Merkmale, die ich als Gemeinsamkeit bei Kolleginnen feststelle, weniger aber bei Männern. Das ist z. T. der sehr pragmatische Umgang auch mit den sogenannten Insignien der Macht: Das ist bei Frauen entspannter. Es gibt aber auch manche ganz einfachen Problemstellungen und Fragestellungen, die sich nur für Frauen ergeben und weniger für die männlichen Kollegen. Wenn in der Politik bei einem Mann für einen ganzen Arbeitstag womöglich ein Anzug, eine Krawatte oder maximal zwei Krawatten ausreichen, dann ist das bei einer Frau in der Politik häufig doch etwas schwieriger. Deswegen tauschen sich Frauen über die Frage, wie sie am besten in einem Auto zwischen zwei Terminen das Outfit tauschen, mit einer Kollegin aus, während einem Mann diese Frage doch relativ fremd ist. Es gibt also sehr wohl Dinge und so manche Erfahrung, die verbinden, z. B. auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wenn man als Frau selbst berufstätig ist und Kinder hat, dann hat man da, wenn man mit einer anderen berufstätigen Frau darüber spricht, einen anderen Hintergrund als dann, wenn man mit einem Kollegen darüber spricht, bei dem immer schon klar gewesen ist, dass die Ehefrau den Haushalt managt und ihm den Rücken frei hält. Das sind einfach diese anderen Lebenserfahrungen und anderen Lebenshintergründe, die mich mit Kolleginnen verbinden. Reuß: Bei Ihnen war es umgekehrt, Ihnen hat Ihr Mann den Rücken frei gehalten, aber darauf kommen wir gleich noch zu sprechen. Wähler versuchen ja, die Politiker und Politikerinnen irgendwie zu verorten: Wo steht jemand? Lange Jahre war es üblich, jemanden als links oder rechts einzuordnen. Heiner Geißler, der langjährige CDU-Generalsekretär, sagte einmal, das seien Begriffe aus der "parlamentarischen Gesäßgeografie". Trotzdem will ich mal diesen Versuch unternehmen. Wenn man versucht, Sie zu verorten, indem man nachliest, was Sie gesagt, geschrieben oder gemacht haben, stellt man fest: In der Familienpolitik haben Sie eher ein konservatives, traditionelles Verständnis, in der Sozialpolitik – jedenfalls in der CDU – ein eher linkes Verständnis. Irgendjemand hat wohl auch mal ganz böse gesagt, Annegret Kramp-Karrenbauer sei eine "schwarz lackierte Sozialistin". Darf ich Sie also fragen, ob Sie eine linke Konservative sind? Kramp-Karrenbauer: Nicht in dem Sinne, wenn man linke Konservative sozusagen als strukturkonservativ versteht, die immerzu sagen: "Die Strukturen, wie wir sie im Moment in der Bundesrepublik haben, müssen auf jeden Fall so bleiben." Aber wenn man aus einem industriegeprägten Land kommt, aus einem Land, das z. B. in der Schwerindustrie von der Montanmitbestimmung geprägt ist, wenn man aus einem Land kommt, das politisch gesehen sicherlich eher mehrheitlich links orientiert ist, in dem der Großteil auch der eigenen Wähler andere Lebenserfahrungen hat als Menschen aus einem großbürgerlichen Milieu, dann zieht man daraus eben seine Erfahrungen und seine Werte. Und dann muss man auch Politik für diese Menschen machen. Das heißt, für Saarländer hat z. B. das Thema "Mindestlohn" eine andere Bedeutung als für Menschen anderswo. Um ein ganz aktuelles Beispiel zu bringen: Für die Menschen im Saarland, die in einem hohen Maß sich kleine Häuser selbst gebaut haben, die sehr konservativ sind, was das Sparen anbelangt – damit meine ich den klassischen Bausparvertrag, das klassische Sparbuch –, ist die Nullzinspolitik eine ganz existentielle Frage. Das muss man in der Politik natürlich aufgreifen. Und wenn das in diesem Schema eher linke Positionen sind, dann ist das halt so. Mir jedoch geht es um das, was den Kern einer Sache ausmacht. Und wenn ich überzeugt davon bin, dass es sich lohnt, für diesen Kern zu kämpfen, dann mache ich das auch. Aber ich hänge nicht an Positionen oder an Formen. Mit Blick auf die Familienpolitik bedeutet das: Ja, ich will Familie und das, was sie ausmacht, erhalten. Aber ich muss im Jahr 2016 Familienpolitik für die Menschen machen, die in diesem Jahr 2016 leben, und kann nicht eine Familienpolitik betreiben gemäß den Wertvorstellungen des Jahres 1950 oder 1955. Das ist eigentlich die große Herausforderung für konservative Kräfte generell. Reuß: Man hat bei den letzten Wahlen gesehen, dass wirklich Personen gewählt werden: Man schaut sich genau an, wer das ist, den man da wählen soll. Aus diesem Grund wird sogar mal über Parteigrenzen hinweg jemand gewählt, wie man in Baden-Württemberg am grünen Ministerpräsidenten Kretschmann sehen kann. In dieser Medienlandschaft, in der wir leben, in dieser Mediendemokratie spielt die Medientauglichkeit ganz offensichtlich eine große Rolle. Erhard Eppler, lange Jahre Vordenker der SPD, hat mal geschrieben: "Man darf fragen, ob die Gaben, die heute nötig sind, um Bundeskanzler zu werden, dieselben sind, die man braucht, um Bundeskanzler zu sein." Man kann das Amt in dieser Aussage sicherlich austauschen und meinetwegen das Amt der Ministerpräsidentin oder des Ministerpräsidenten einfügen. Sehen Sie das auch so? Besteht die Gefahr, dass Medien eher auf das Äußere achten und dem Affen da sozusagen auch noch Zucker geben und etwas hochpeitschen, während die Frage nach der Kompetenz einer Person darüber ein bisschen verloren geht? Kramp-Karrenbauer: Nein, ich sehe das nicht so, denn man braucht schon beides. Um es mit den Worten der Werbewirtschaft zu sagen: Das Produkt muss stimmen, und es muss im Kern stimmen. Ein schlechtes Produkt kann man noch so gut bewerben, es wird nicht überzeugen. Aber zu den Aufgaben eines Politikers, der in der heutigen Zeit Verantwortung trägt, gehört halt mit dazu, dass er auch die entsprechenden Kommunikationskanäle beherrscht. Kommunikation in verbaler Form und vor allem auch in nonverbaler Form wird heute in der Tat ein Stück weit verlangt. Da steckt aber auch durchaus etwas an Handwerk drin und deswegen sage ich, dass Politik auch ein Stück weit Handwerk ist. Die Frage, wie man auftritt, wie man kommuniziert, hat für mich wirklich etwas mit Handwerk zu tun. Man muss sich als Politiker in einem Spitzenamt immer bewusst sein, dass man weniger als Person wahrgenommen wird, sondern auch immer als Repräsentant von etwas. Das heißt, für viele Menschen in Deutschland ist, wenn sie in Kontakt mit mir kommen, wenn sie mich sehen, mich hören, mich erleben, das auch deren erster Eindruck vom Saarland. Warum? Weil ich eben auch Repräsentantin dieses Landes bin. Das ist eine Verantwortung und dieser Verantwortung muss man sich auch bewusst sein und muss versuchen, ihr gerecht zu werden. Reuß: Sie haben vorhin so schön gesagt, dass es befriedigend sein kann, Probleme zu lösen, gestalten zu können. Wie groß sind denn die Freiheitsgrade eines Politikers oder einer Ministerpräsidentin? Man unterstellt da immer sehr viel Macht, aber es wirken ja auch die Fraktionen und die Parteien Ihrer Koalitionspartner mit und es gibt Interessenverbände, es gibt Lobbyisten und Institutionen und Organisationen, die da alle etwas wollen. Wie groß sind da noch die Freiheitsgrade eines Politikers? Kramp-Karrenbauer: Wenn man Freiheitsgrade daran misst, dass man als Politiker sagen kann: "Das sehe ich so, das will ich so und das mache ich so", dann muss man zugeben, dass dieses Maß an Freiheit höchstens absolutistische Könige in Frankreich hatten – und seitdem bestimmt niemand mehr. Das heißt, man ist immer gebunden. Man ist zuerst einmal an Recht und Gesetz gebunden, auch bei der Frage, wie man Unterstützer und damit auch Mehrheiten organisiert, um das, was man sich vorstellt, durchsetzen zu können. Man ist in Sachzwänge eingebunden, man ist gebunden an Geld usw. usf. Das heißt, man muss eine Lösung wirklich zuerst einmal organisieren. Das macht es erforderlich, dass man nicht nur eine eigene Vorstellung von der Lösung hat, sondern auch immer daran denken muss, welche Unterstützung man sich im Grunde genommen erst noch erarbeiten muss, damit diese Lösung auch Realität werden kann. Das kann dann auch bedeuten, dass man an der einen oder anderen Stelle einen Abstrich machen muss, damit man das Ziel, das man verfolgt, trotzdem umsetzen kann. Das heißt, da ist oft eher diplomatische Kleinarbeit gefordert als eine große persönliche Freiheit, die man da für sich in Anspruch nehmen könnte. Reuß: Ich würde hier gerne eine kleine inhaltliche Zäsur machen und unseren Zuschauern gerne den Menschen Annegret Kramp-Karrenbauer näher vorstellen. Sie sind am 9. August 1962 in Völklingen geboren, also in der, wenn ich das richtig nachgelesen habe, viertgrößten Stadt des Saarlands. Ihr Vater war Rektor einer Sonderschule, Ihre Mutter war Hausfrau und Sie sind mit fünf Geschwistern aufgewachsen, haben also, wie Sie bereits angedeutet haben, eine große Familie. Wie war denn Ihre frühe Kindheit, Ihr Verhältnis zu Ihren Geschwistern und zu Ihren Eltern? Kramp-Karrenbauer: Ich habe eine ausgesprochen glückliche Kindheit verbracht, weil das wirklich eine Großfamilie gewesen ist. Im Haus lebte auch noch eine alleinstehende Tante, die für mich wie eine zusätzliche Großmutter war. Insofern ist das Thema "Mehrgenerationenhaushalt" bei uns wirklich gelebt worden. Ich hatte zu meinen Eltern ein sehr enges Verhältnis, vor allem zu meinem Vater, was vielleicht auch daran lag, dass ich das jüngste Mädchen in der Reihe war. Insofern halten mir daher meine älteren Geschwister heute noch vor, sie hätten für alle Privilegien, die wir Jüngeren in Anspruch genommen haben, zuerst einmal den Weg freikämpfen müssen und wir seien unendlich verwöhnt worden im Vergleich zu ihnen. Das weisen wir selbstverständlich immer von uns. Das war auch eine Kindheit, die gar nicht so sehr geprägt war von großen materiellen Möglichkeiten, sondern vor allem von einer wirklich sehr tief empfundenen Freiheit als Kind. Das habe ich sehr genossen und davon zehre ich auch heute noch. Reuß: Ich glaube, das Saarland ist immer noch das katholischste aller Bundesländer. Das muss man in Bayern allerdings erst mal zur Kenntnis nehmen. (beide lachen) Gewohnheiten, haben Sie mal gesagt, seien wichtig für Menschen, denn sie geben einem das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Sie haben auch erzählt, dass Sie in einer sehr traditionsbewussten katholischen Familie groß geworden sind: "Am Sonntag gingen wir alle in die Kirche und freitags gab es kein Fleisch. Das gab mir als Kind eine sichere Struktur." Sind Sie heute auch noch ein gläubiger Mensch? Kramp-Karrenbauer: Ja, ich bin ein gläubiger Mensch, das ist für mich vor allem eine sehr persönliche Angelegenheit. Das prägt mich aber selbstverständlich auch in meiner politischen Arbeit, weil einem das die beruhigende Gewissheit gibt, dass es sozusagen etwas gibt, das wesentlich größer ist als man selbst, und dass es am Ende des Tages wesentlich wichtigere Dinge gibt als das, womit man sich als Politiker permanent befasst. Das gibt mir aber auch die Möglichkeit eines klaren Blicks wie z. B. in einer sehr aktuellen Frage, nämlich der Frage, wie gestalten wir, wie organisieren wir hier in Deutschland das Zusammenleben der Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen mit unterschiedlichen Religionen. Ich kann nämlich auf der Basis meines Glaubens Menschen, die einen anderen Glauben haben als ich – oder die womöglich gar keinen Glauben haben –, mit Respekt gegenübertreten. Denn ich sage mir: "Ich nehme es für mich persönlich als Glück wahr, an etwas glauben zu können. Dieses Glück gestehe ich jedem anderen Menschen auch zu." Das ist etwas, was uns auch verbindet, d. h. unsere Aufgabe besteht also nicht darin, dem einen oder anderen dessen Glauben abzusprechen, sondern unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker besteht darin, das in einem staatlichen Zusammenleben so zu organisieren, dass getreu dem alten preußischen Spruch wirklich jeder nach seiner Fasson selig werden kann. Reuß: Sie haben einer Zeitung einmal anvertraut, dass als sonntägliches Familienritual eigentlich festgelegt gewesen wäre, dass Sie in der Küche Dienst tun, während Ihre Brüder zusammen mit Ihrem Vater sozusagen einen politischen Salon abhielten. Zu diesem Salon haben Sie sich immer öfter dazugeschlichen und haben dann mitdiskutiert über Gott und die Welt. Wurden Sie da bereits in Ihrem politischen Verständnis ein wenig auf die Schiene gesetzt? Wurde da Ihr großes Interesse an der Politik geweckt? War Ihnen das qua Familie sozusagen schon in die Wiege gelegt? Kramp-Karrenbauer: Es war so, dass wir immer ein sehr debattierfreudiges Haus gewesen sind und auch ein sehr offenes, denn meine Geschwister haben viele Freunde mitgebracht, sodass immer sehr viele Menschen bei uns waren und es bei uns zu Hause immer sehr lebhaft zuging. Es ist auch immer über Politik gesprochen worden. Mein Vater war Mitglied der CDU, allerdings nie ein großer Aktivist. Trotzdem gab es bei uns zu Hause immer rege Diskussionen über Politik. Meine Geschwister sind ja ein gutes Stück älter als ich und so führten sie in den späten 60er Jahren natürlich auch entsprechend heftige politische Debatten mit den Eltern – wie das wohl in den meisten Familien der Fall gewesen ist. Das hat mich als Kind durchaus interessiert, aber das hatte auch einen ganz profanen Grund, denn ich habe sehr schnell herausbekommen, dass es zwei Möglichkeiten gibt, mich vor der Hausarbeit zu drücken: entweder an solchen Debatten teilzunehmen bzw. dabei zumindest zuzuhören oder ein Buch in der Hand zu halten. Mein Vater war wirklich ein begeisterter Leser und es kam mir daher zugute, dass ich selbst auch eine Leseratte bin. Das Buch in der Hand ersetzte also quasi das Handtuch an der Spüle. Es kam da also beides zusammen: Interesse und Kalkül. Aber das hat ja, wie ich glaube, zu keinem schlechten Ergebnis geführt. Reuß: Auch zu Hause braucht man zuweilen eine gute Strategie. Kramp-Karrenbauer: Genau. Reuß: Sie haben Politik und Rechtswissenschaften studiert und sind mit 19 Jahren bereits in die CDU eingetreten. Sie waren dann nicht nur Parteimitglied, sondern Sie haben sich schon sehr früh engagiert. Sie haben sich in der Kommunalpolitik engagiert, waren in Püttlingen im Stadtrat und haben später auch mal den Stadtverband der dortigen CDU geführt. Waren diese kommunalpolitischen Erfahrungen auch wichtig für spätere höhere Ämter? Ist es wichtig, dass man als Politiker auch mal in der Kommunalpolitik Dienst getan hat und weiß, was die Menschen vor Ort bewegt und wie sich dort Politik ganz pragmatisch gestaltet? Kramp-Karrenbauer: Es schadet auf jeden Fall nicht. Ich lehne aber auch diese Unterscheidung zwischen großer und kleiner Politik ab. Es gibt nämlich nur gute oder schlechte Politik. Die Kommunalpolitik hat den unendlichen Vorteil, dass das, was man politisch entscheidet, wofür man politisch einsteht, eine unmittelbare Wirkung entfaltet. Das heißt, man ist in der Stadtratssitzung, entscheidet etwas, geht hinterher in die Kneipe nebenan und wird dort unmittelbar mit den Reaktionen der Bürgerinnen und Bürger auf diese Entscheidung konfrontiert – im Positiven wie im Negativen. Das fordert einen natürlich in der eigenen Fähigkeit, Kritik anzunehmen und auch auszuhalten, argumentieren und sich auch durchsetzen zu können und das schafft auch diese Fähigkeit, in einem unmittelbaren Austausch und Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern zu agieren. Das ist etwas, was einen sehr prägt, was einem sehr weiterhilft, später, in anderen Funktionen. Ich möchte diese Zeit in der Kommunalpolitik auf keinen Fall missen und ich kann sie auch jedem anderen nur ans Herz legen. Reuß: Ich versuche jetzt, Ihre Biografie ein wenig zu raffen und der Chronistenpflicht dennoch gerecht zu werden. Sie waren dann Nachrückerin von Klaus Töpfer im Bundestag, als er das Amt des Exekutivdirektors des Umweltprogramms der Vereinten Nationen in Nairobi in Kenia übernommen hat. Sie waren zwar nicht lange im Bundestag, haben dort aber den Regierungswechsel noch mitbekommen und auch die ersten Monate der Regierung von Gerhard Schröder. Sie sind dann wegen der Landtagswahl 1999 ins Saarland zurückgegangen. Die Landtagswahl 1999 ergab, man kann sich das heute kaum mehr vorstellen, ein Zweiparteienparlament: Im saarländischen Landtag saßen lediglich die CDU und die SPD. Die CDU hat bei dieser Wahl die absolute Mehrheit der Mandate errungen und Sie wurden Parlamentarische Geschäftsführerin der CDU und dann relativ schnell auch Innenministerin. Wir haben es schon gesagt, Sie waren die erste Frau in diesem Amt. Wie war es als Frau in diesem Männerklub? Wie wurden Sie von den anderen Männern aufgenommen? Mussten Sie, wenn ich das mal so provokant sagen darf, in diesem Klub besonders männlich auftreten? Kramp-Karrenbauer: Da gab es am Anfang schon ein gewisses Maß an Verunsicherung, weil sich ja die immer mit sehr harten Themen befasst. Da war man schon ein bisschen verunsichert: Muss man jetzt an den Umgangsformen schleifen oder so? Ich bin aber zu Hause u. a. mit drei Brüdern groß geworden und in dem gesamten Politikumfeld, in dem ich mich bis dahin bewegt hatte – von der Jungen Union über die CDU, den Bundestag bis in die Landtagsfraktion –, waren es eigentlich immer mehr Männer als Frauen, mit denen ich zu tun hatte. Insofern war das für mich nichts Neues. Und ich bin ja vom Umgang her ohnehin ein eher pragmatischer Typ und auch vom Erscheinungsbild her weniger dieser Typ "Prinzessin auf der Erbse". Insofern haben wir uns in der Innenministerkonferenz sehr schnell aneinander gewöhnt. Da ich von Haus aus – meine Mutter behauptet immer, das sei genetisch angelegt – jemand bin, der auch noch abends nach den offiziellen Sitzungen gerne den Austausch pflegt, war das dann gar kein Problem mehr. Diese Zeiten in der Innenministerkonferenz habe ich daher sehr genossen. Da sind auch über Parteigrenzen hinweg viele Freundschaften entstanden, die bis zum heutigen Tag halten und die ich auch bis zum heutigen Tag pflege. Reuß: 2007 kam es zu einer Kabinettsumbildung und Sie wurden Kultusministerin und ein Jahr später haben Sie auch den Vorsitz der Kultusministerkonferenz übernommen. Der Kultusbereich gehört ja zum Hoheitsbereich der Länder, dennoch frage ich jetzt mal ganz provokant: Können wir uns denn in Zukunft den Bildungsföderalismus überhaupt noch leisten? Man muss ja nur einmal daran denken, wie oft gesagt wird: "Diese Kultusministerkonferenz ist doch total behäbig, wie lange das jedes Mal dauert, bis die da zu einer Einigung kommen!" Die Regelungen sind auch wirklich von Bundesland zu Bundesland enorm unterschiedlich: Viele, die beruflich von einem Bundesland in ein anderes umziehen müssen, beschweren sich, wie kompliziert und belastend das für ihre Kinder sei, weil die Regularien im neuen Bundesland nun plötzlich komplett anders sind. Oder müssen wir uns diesen Bildungsföderalismus auch in Zukunft leisten, weil der Wettbewerb unter den Ländern auch immer zu Best-Practice-Lösungen führt? Kramp-Karrenbauer: Wir können das und müssen das! Als ich Bildungs- und Kultusministerin wurde, habe ich mir zuerst einmal gedacht: "Oh Gott, diese Zeit muss ich jetzt irgendwie überstehen! Danach schaue ich dann, wie es weitergeht." Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich wirklich mein Herz an dieses Thema verliere. Das ist aber passiert und das ist auch bis zum heutigen Tag so geblieben. Ich bin da auch Föderalistin aus Überzeugung, denn es mag zwar bequemer sein, aber es hat noch niemand den Beweis angetreten, dass ein zentralisiertes System wirklich besser ist. Es kann mir auch bisher niemand erklären, welches Niveau das denn sein soll, wenn wir 16 Bundesländer auf ein Niveau bringen wollen. Wir sehen ja im PISA-Test und auch in den anderen Vergleichsstudien, dass es zwischen den Ländern große Unterschiede gibt, auch hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen. Ich befürchte, dass es aufgrund unserer deutschen Traditionen und Debatten dann lediglich eine Einigung auf den kleinsten Nenner geben würde. Ich glaube, das kann aber wiederum nicht im Interesse der Kinder und Jugendlichen in der Bundesrepublik sein. Was ich aber als Präsidentin der Kultusministerkonferenz bei meinen Kollegen auch immer angemahnt habe, war, dass wir zu einem größeren Maß an Abstimmung und Gemeinsamkeit kommen müssen. Denn ansonsten wird eine Abstimmung mit den Füßen stattfinden. Das heißt, es liegt an uns selbst, ob wir den Föderalismus als solchen im Bildungsbereich auch wirklich lebendig und attraktiv halten. Dort, wo es vertretbar ist und wo es Sinn macht, muss man dann eben auch mal eigene Eitelkeiten hinter sich lassen, muss die vernünftige Zusammenarbeit suchen, übrigens auch mit dem Bund. Dafür habe ich immer geworben und das mache ich auch heute noch. Reuß: Nun gibt es hier ja neben den Ländern noch einen weiteren Player, nämlich den Bund. Man hat ja auch schon mal in einer Föderalismuskommission versucht, die Kompetenzen ein bisschen stärker abzugrenzen, damit auch wirklich klar ist, wer wofür zuständig ist. Es gab dann ein Kooperationsverbot von Bund und Ländern auch im Bildungsbereich. Das hat man im Hochschulbereich dann aber wieder gelockert. Nun gibt es einige Länder, die sich vorstellen können, dieses Verbot noch sehr viel stärker zu lockern. Ihr Kollege Stephan Weil aus Niedersachsen meinte, auch im Schulbereich könnte man das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern lockern. Wie sehen Sie dieses Verhältnis? Wie viel Bund ist nötig, wie viel Eigenständigkeit der Länder ist möglich? Kramp-Karrenbauer: Das ist eine Frage, die auch innerhalb der Länder sehr umstritten ist. Es gibt Bundesländer, die strikt dagegen sind, und zwar quer durch alle Parteien, das Kooperationsverbot im Schulbereich zu lockern. Man muss ja die Ergebnisse der Föderalismuskommission auch immer als Reflex auf die damalige Debatte und die damaligen Entscheidungen auf der Bundesebene sehen. Die Initialzündung war damals das Ganztagsschulprogramm der Bildungsministerin Bulmahn, bei der viele Länder das Gefühl hatten, es wird ihnen damit etwas aufoktroyiert. Ich sehe heute nach wie vor die Möglichkeit, in vernünftigen Vereinbarungen auf der Basis staatsvertraglicher Regelungen Dinge, die man gemeinsam will, auch gemeinsam voranzutreiben. Ein Stück weit in diese Richtung ging es ja z. B. beim Thema "Ausbau der Betreuungsplätze für die unter Dreijährigen", also beim Ausbau der Krippenbetreuung. Das war ja eine Vereinbarung freiwilliger Art zwischen Bund, Ländern, Städten und Gemeinden. Ich glaube, in diesem Bereich kann man weiter vorankommen. Hier ist es aus meiner Sicht eher eine juristische Frage, was man jetzt bereits an Zusammenarbeit organisieren kann und wo man eventuell rechtliche Dinge noch einmal verändern muss. Reuß: Ich mache wieder einen großen Sprung. 2009 kam es bei der Landtagswahl zu starken Einbrüchen der beiden Volksparteien. Oskar Lafontaine, der im Saarland immer noch sehr populär ist, trat mit der Linken an und es kam dann nach der Wahl zu einer sogenannten Jamaikakoalition, obwohl auch andere Koalitionen rechnerisch möglich gewesen wären. Peter Müller führte diese Koalition dann auch noch an, aber 2011 trat er dann ohne Skandal oder sonst irgendwelche Begleitumstände freiwillig von beiden Ämtern zurück, also vom Amt des CDU-Landesvorsitzenden und vom Amt des Ministerpräsidenten. Sie haben daraufhin beide Ämter übernommen und anschließend einen Schritt getan, der vielen den Atem hat stocken lassen, weil man nicht verstanden hat, was nun los sei. Nach einem halben Jahr haben Sie nämlich die Koalition aufgekündigt und gesagt: Einer Ihrer Partner ist – ich versuche, das wörtlich zu zitieren – in "zerrütteten Verhältnissen". Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, regierte damals hier in Berlin noch mit der FDP, und wenn ich das richtig nachgelesen habe, dann hat sie vorsichtig dazu geraten, die Koalition mit der FDP zu erhalten. Sie haben sich jedoch anders entschieden. Waren Sie sich sicher, dass dieser Schritt richtig ist, dass er auch machtpolitisch richtig ist, also nicht nur für Ihre damalige Regierung wichtig ist? Kramp-Karrenbauer: Sicher war ich mir natürlich nicht, aber ich hatte das tiefe Gefühl, dass die Situation des Landes, die Probleme, die Fragen, die vor uns lagen, eine absolut stabile Regierung notwendig machen. Gerade ein Land, das auf Hilfe von außen angewiesen ist, lebt natürlich auch davon, wie es von außen wahrgenommen wird. Wenn man aber erleben muss, dass vor allem auch durch das Verhalten eines Koalitionspartners das Land im Grunde genommen ein Stück weit zum Gespött wird, weil eine Negativschlagzeile die andere jagt und man trotz aller Versuche nicht den Ansatz sieht, wie man mit diesem Partner die notwendige Stabilität hinbekommt, dann gibt es meiner Meinung nach einfach eine staatspolitische Verantwortung, die besagt: zuerst das Land, dann die Partei und erst dann die persönliche Frage. Denn für mich persönlich war das ja auch die Frage: Werde ich dadurch das Amt der Ministerpräsidentin nach einem halben Jahr schon wieder los? Das war eine Grundentscheidung, die ich im engen Gespräch mit meinem Mann getroffen habe und von der ich auch sage, dass ich, als ich mich dann dazu entschieden hatte, das damit verbundene Risiko für vertretbar gehalten habe. Ich konnte mit diesem Risiko leben und ich muss Ihnen sagen: Wenn man sich erst einmal zu so etwas entschieden hat, dann befreit einen das ungemein. Von der Warte aus habe ich also diese Entscheidung getroffen, eine Entscheidung, die man vielleicht nur nachvollziehen kann, wenn man die Situation damals im Saarland hautnah miterlebt hat. Insofern habe ich natürlich Verständnis dafür, wenn die allermeisten Menschen in der Republik der Meinung waren: "Jetzt drehen sie im Saarland völlig durch!" Aber umso mehr hat es mich nachher dann gefreut, dass das anschließende Wahlergebnis diese Entscheidung gerechtfertigt hat. Reuß: Absolut, Sie wurden bestätigt und die CDU ging als stärkste Partei aus diesen Wahlen hervor. Die SPD, die es zunächst abgelehnt hat, in eine große Koalition einzutreten, hat das nach der Wahl dann doch getan. Sie regieren daher heute mit der SPD. Ich würde, wenn Sie einverstanden sind, gerne erneut einen kleinen Schnitt machen und zu Ihrer Funktion als Präsidentin des Deutschen Volkshochschul-Verbandes, des DVV kommen wollen. Sie wurden in der Nachfolge von Rita Süssmuth, die dieses Amt 27 Jahre lang innehatte, gewählt. Der DVV ist ja der Dachverband der 16 Volkshochschullandesverbände mit mehr als 900 Volkshochschulen und 3000 Außenstellen. Die Volkshochschulen sind der größte Weiterbildungsanbieter bundesweit: Was ist Ihr Selbstverständnis als Präsidentin des DVV? Kramp-Karrenbauer: Als Präsidentin des DVV sehe ich mich natürlich zum einen als Repräsentantin des Verbandes an sich, aber auch der Idee, die hinter den Volkshochschulen steht. Und ich sehe mich natürlich auch als Lobbyistin. Wenn wir ganz aktuell mit Blick auf die Flüchtlingsfrage über die Aufgaben der Volkshochschulen in Deutschland sprechen, dann stellt sich z. B. die Frage, ob die Integrationskurse quantitativ und qualitativ genügend gut ausgestattet und finanziert sind. Da kommt es mir natürlich zugute, dass ich, wenn ich das als Ministerpräsidentin mit dem Bund verhandle, die Sichtweise des DVV einbringen kann. Das stellt aber natürlich auch Rückfragen an mich als Ministerpräsidentin mit Blick auf die Volkshochschulen im eigenen Land. Das ist nicht immer ein ganz einfacher Spagat. Aber Lobbyistin und Repräsentantin zu sein, das empfinde ich schon als meine Hauptaufgaben in diesem Amt. Rita Süssmuth war da wirklich ein unglaubliches Vorbild, denn sie hat diesen Verband in den letzten Jahrzehnten wirklich enorm nach vorne gebracht. Reuß: Man muss vielleicht einfach mal sagen, was von den Volkshochschulen in Deutschland pro Jahr geleistet wird. Jährlich besuchen neun Millionen Menschen die über 700000 Veranstaltungen der Volkshochschulen. Man kann dort schulische Abschlüsse machen, man kann Fremdsprachen lernen, es gibt Kurse zur politischen, kulturellen und allgemeinen Bildung, es gibt Angebote zur Gesundheitsbildung und Angebote für junge und alte Menschen usw. Das heißt, die Volkshochschulen bieten Möglichkeiten für ein im wahrsten Sinne lebenslanges Lernen. Im Bildungskanal muss man natürlich ein bisschen näher definieren, was man unter Bildung überhaupt verstehen will. "Bildung" ist ein sehr dialektischer Begriff, er wird verstanden als Status und als Prozess. Oft wird Bildung aber auch sehr zweckbezogen verstanden, sehr funktional als die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten für einen Beruf. Reicht das aus? Was ist Bildung für Sie? Kramp-Karrenbauer: Bildung ist für mich persönlich etwas, was mich umgibt. Im Grunde genommen haben ja kleine Kinder das beste Bildungsverständnis. Kleine Kinder lernen nämlich jeden Tag, jede Stunde etwas hinzu: Sie lernen ständig, ohne dass sie sich dessen bewusst wären. Die Antriebskraft dabei ist ihre Neugierde und sie wollen etwas, was sie bereits können, noch weiter verbessern, sie wollen anderes auch noch lernen usw. Ich würde mir wünschen, dass genau das im Bewusstsein der Menschen noch stärker verankert ist. Denn wir haben in Deutschland aus meiner Sicht in der Tat ein sehr formalisiertes Verständnis von Bildung. Nehmen wir als Beispiel die Frage des Zugangs zu Bildungsmöglichkeiten: Dieser Zugang basiert bei uns sehr stark auf Zeugnissen, auf formalen Abschlüssen. Manchmal bremst das die Menschen in ihrer Entwicklung schon auch aus. Ich glaube, dass hier die Volkshochschulen mit ihrer Vielfältigkeit und auch mit ihrem ganz niederschwelligen Angebot die Menschen dazu ermutigen, etwas auszuprobieren, was sie bisher in ihrem Leben als Kompetenzen und Fähigkeiten für sich noch nicht entdeckt hatten und bei dem sie vielleicht auch in höherem oder hohem Alter feststellen: "Ja, das kann ich noch. Das traue ich mir zu." Insofern ist die Volkshochschule für mich nicht nur in einem formalen Sinne ein Bildungsträger, sondern wirklich ein Menschenbildner in einem ganz umfassenden Sinne. Reuß: Da Sie das Thema "Bildung" ja bereits von verschiedenen Seiten beackert haben oder beackern müssen, als Ministerpräsidentin, als ehemalige Kultusministerin und nun als DVV-Präsidentin, will ich Sie noch nach der "Bildungsrepublik Deutschland" fragen. Das ist ein schöner Begriff, der von der Bundeskanzlerin im Jahr 2008, glaube ich, geprägt worden ist. Sie hat auch gesagt, Bildung bedeute Chance, Einstieg und Aufstieg für alle. Wie weit sind wir dabei denn vorangekommen? Ich darf mal ein paar Negativzahlen nennen: Wir haben immer noch 7,5 Millionen funktionale Analphabeten im Land; ungefähr sechs Prozent eines Jahrgangs brechen die Schule ohne Abschluss ab; es gibt immerhin 14 Prozent der 24- bis 35-Jährigen, die keinen Schul- und/oder keinen Berufsabschluss haben. Und auch bei den Universitäten gibt es hohe Abbrecherquoten. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen und was wären Ihre zwei, drei Schwerpunkte in der Bildungspolitik? Kramp-Karrenbauer: Die größte Herausforderung für mich ist in der Tat, dass wir uns um diejenigen, die zwar formal unser Bildungs-, unser Schulsystem durchlaufen, aber im Grunde genommen nicht die Kenntnisse erwerben, die sie brauchen, noch stärker kümmern, als das bisher der Fall ist. Wir haben, um dem hier etwas entgegenzusetzen, auch positive Zahlen z. B. beim Blick auf diejenigen, die einen Migrationshintergrund haben, denn hier sind die Bildungserfolge in den letzten Jahren wesentlich besser geworden. Ich empfinde es aber als genauso wichtig, und das wäre der zweite Ansatz, dass wir diesen Begriff des lebenslangen Lernens noch einmal neu aufladen. Das lebenslange Lernen wird ja von manchen als Qual empfunden nach dem Motto: "Ich war doch lange genug in der Schule, warum soll ich jetzt ständig weiterlernen?" Es ist wichtig, dass die Menschen begreifen, dass da vor allem auch eine persönliche Weiterentwicklung mit drin steckt. Dass die Menschen darauf Lust bekommen, das würde ich mir wünschen. Das setzt auch voraus, dass wir vielleicht nach dem Vorbild anderer Länder Zugänge zu Bildungsangeboten leichter ermöglichen, also ohne große formale Hürden, wie das bisher der Fall ist. Ich glaube, dazu braucht man auch ein anderes, ein umfassenderes Verständnis von Bildung, als wir es heute haben. Es ist ganz wichtig, dass wir das in der allgemeinen bildungspolitischen Diskussion noch mal nach vorne bringen. Reuß: Das ist ein schönes Schlusswort, denn wir sind bereits am Ende unseres Gespräches. Ich darf mich ganz herzlich bedanken für das interessante und auch sehr angenehme Gespräch. Ich würde gerne mit einem Zitat über Sie dieses Gespräch beenden, das für die Zukunft noch ein bisschen was erwarten lässt. Ihr Vorgänger im Amt des saarländischen Ministerpräsidenten, der heutige Bundesverfassungsrichter Peter Müller, bezeichnete Sie nicht nur als "politische Allrounderin", sondern er sagte auch: "Es gibt keine Aufgabe, die man Annegret Kramp-Karrenbauer nicht anvertrauen kann." Das lässt doch in der Tat noch etwas erhoffen für die Zukunft. Herzlichen Dank, Frau Ministerpräsidentin. Ganz herzlichen Dank auch dem Team hier im "studio 4A" für die tolle Betreuung. Ihnen, verehrte Zuschauer, ganz herzlichen Dank für Ihr Interesse, fürs Zuhören, fürs Zuschauen. Auf Wiedersehen.

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