SP URENS UCHE

Werner Lausecker Hilde Bruch – Der andere Weg in der Psychotherapie der Essstörungen „and the person within“. Eine biografische und psychotherapeutische Spurensuche und ein aktueller Ausblick1

uss man heute bereits nach den Spuren Therapie der Essstörungen andeuten und, drittens, der 1904 in Deutschland geborenen und fokussiert auf die Lebensgeschichte, die Ausbildungs- 1984 in den USA verstorbenen Hilde wege und die Emigration von Hilde Bruch eingehen. Bruch suchen? Ich kannte den Namen – Der Text schließt mit einem aktuellen Ausblick. Hilde Bruch. Aus Gründen, die ich nicht In der Zeit ihrer größten Resonanz und Anerkennung Mnachvollziehen kann, war er für mich einerseits mit in den 1970er und 80er Jahren galt Hilde Bruch als eine, Sympathie und Wertschätzung besetzt, aber irgendwie vielleicht die weltweit führende, Expertin zur Behand- auch mit „antiquiert“ und „überholt“. Wenn ich mich lung und Psychotherapie der Essstörungen. Theodore für meine therapeutische Arbeit gezielt über Essstö- Lidz hielt in seinem Vorwort zu „Conversations with rungen informieren wollte, griff ich zu aktueller Lite- Anorexics“ (dt.: „Das verhungerte Selbst. Gespräche ratur. Durch mein spezifisches Interesse an der mit Magersüchtigen“) 1987 fest: „Als diese in früheren Geschichte der Psychoanalyse und der Systemischen Zeiten seltene Störung [die Anorexia nervosa W.L.] bei Familientherapie in ihrem Zusammenhang – nicht in jungen Frauen häufiger wurde, ja fast epidemische ihrer Abgrenzung – bin ich auf Hilde Bruch aufmerk- Ausmaße erreichte, war Hilde Bruch aufgrund ihrer sam geworden. Ich bin bei meinen Recherchen einer Vertrautheit mit dem Zustand in der Lage, Arbeits- ungemein interessanten und für mich wegweisenden bündnisse mit Patientinnen herzustellen, die nicht be- Psychotherapeutin begegnet. Und ich habe eine unge- reit waren, bei anderen eine Behandlung aufzunehmen mein berührende Lebensgeschichte kennengelernt. oder sinnvoll in einer Therapie mitzuarbeiten. Sie galt Ich werde im Folgenden erstens Hilde Bruch als Psy- bald als höchste Autorität auf diesem Gebiet; sie erhielt chiaterin und Psychotherapeutin vorstellen, zweitens, aus allen Teilen der Welt Überweisungen, wurde mit die nahen psychoanalytischen Ausgangspunkte und zahllosen ratsuchenden Briefen „eingedeckt“ und war die sich entfernenden psychotherapeutischen Wege als Vortragsrednerin, Lehrerin und Autorin für wissen- von Hilde Bruch und Mara Selvini-Palazzoli in der scha!liche und populäre Beiträge sehr gefragt.2 Hier sind bereits einige der Merkmale angesprochen,

1 Der Text ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags, der die in ihrem Zusammenhang eine Vorstellung der Be- unter dem Titel „Hilde Bruch. Eine biografische und psychotherapeutische deutung von Hilde Bruch im damals zeitgenössischen Spurensuche“ auf der von „intakt - Therapiezentrum für Menschen mit Essstörungen“ veranstalteten Fachtagung zum Thema „Und was nun? Schwierige Phasen im Therapieprozess“ am 26. 1. 2018 im Kardinal König 2 , Vorwort, In: Hilde Bruch, Das verhungerte Selbst. Haus in 1130 Wien gehalten wurde. Gespräche mit Magersüchtigen, Frankfurt/M. 1998 (1990), 7–14, 11f.

14 SYSTEMIS CHE NOT IZEN 01/18 Feld der Behandlung und Psychotherapie der Essstö- grammatisch für die Art der Therapiebeziehung, die rungen geben. Vieles von dem im Folgenden Ausge- Hilde Bruch als heilsam erkannte: „Die therapeutische führten wird heute vielleicht als selbstverständlich Aufgabe besteht darin, der anorektischen Patientin bei angesehen. Hier geht es darum aufzuzeigen, dass diese ihrer Suche nach Autonomie und selbstbestimmter Einsichten bereits in den Arbeiten Hilde Bruchs zu Identität zu helfen“ und ihre Wahrnehmung für Ge- finden sind, womit ihre bedeutenden innovativen fühle und Impulse zu schärfen.5 Bruch kritisierte eine Fähigkeiten unterstrichen werden. Aber die Beschäfti- damals weitverbreitete therapeutische Haltung, Ano- gung mit Hilde Bruch kann auch dazu führen, heute rektikerinnen als unehrlich zu betrachten. Darin sah Neues zu entdecken oder wiederzuentdecken. sie einen entscheidenden Grund für viele gescheiterte therapeutische Bestrebungen.6 In Bruchs Sicht konnte HILDE BRUCH ALS PSYCHIATERIN die magersüchtige Patientin entscheidende Fortschrit- UND PSYCHOTHERAPEUTIN te machen, „wenn sich zwischen ihr und dem Thera- peuten eine warmherzige, menschliche Beziehung Hilde Bruch arbeitete als Pädiaterin, Psychiaterin, psy- entwickelt und wenn ihr verbaler Austausch die Of- choanalytisch orientierte und ausgebildete Psychothe- fenheit und Direktheit der gewöhnlichen Konversati- rapeutin und zunehmend anerkannte Spezialistin über on annimmt. Daher der […] Titel [‚Conversations‘ W.L.] Jahrzehnte mit Menschen, die überwiegend lange Er- ‚Gespräche mit Magersüchtigen.‘“7 fahrungen mit Essstörungen und vielen gescheiterten Therapieversuchen hinter sich hatten.3 Dabei ist die THEORIE UND KRANKHEITSKONZEPTION Formulierung „Menschen mit Essstörungen“ wichtig DER ANOREXIE UND POSITIONIERUNG und eben nicht die Reduktion auf Krankheitsbilder, IN UND ZU DEN ZEITGENÖSSISCHEN Symptome oder familiale Kommunikationsformen. PSYCHOANALYTISCHEN ANSÄTZEN Das kommt auch bereits in ihrem grundlegenden Buch „Essstörungen – Zur Psychologie und Therapie von In ihren früheren Arbeiten sah Hilde Bruch drei Merk- Übergewicht und Magersucht“ zum Ausdruck, das male als charakteristisch an: „die beinahe wahnhafte 1991 auf Deutsch erschien. Der Englische Originaltitel Fehlwahrnehmung des Körpers (gestörtes Körperbild), bringt ihr wichtigstes Anliegen präziser zum Aus- Konfusion hinsichtlich körperlicher Empfindungen druck: „Eating Disorders. Obesity, Anorexia nervosa und ein alles umfassendes Gefühl von Unzulänglich- and the Person Within.“ keit.“ Später fasste sie diese Merkmale unter dem Be- griff eines „defekten Selbstkonzepts“ zusammen, „der BEHANDLUNGSPRAXIS UND Angst vor innerer Leere oder Schlechtigkeit, vor etwas, THERAPIEBEZIEHUNG das unter allen Umständen verborgen bleiben muss.“8 Das Konzept eines „defekten Selbstkonzepts“ lässt aus Hilde Bruch entwickelte und praktizierte als Psycho- heutiger Sicht an Heinz Kohuts Selbstpsychologie und therapeutin eine besondere Fähigkeit im Aufbau und Donald Winnicotts „falsches Selbst“ denken. Doch das in der Gestaltung von Therapiebeziehungen, die von waren, soweit meine Kenntnis reicht, nicht die für Kolleg*innen und Klient*innen/Patient*in- Hilde Bruch wesentlichen Bezugspunkte. nen als alleinstehend beschrieben wurde. Vielmehr arbeitete sie als Zeitgenossin Ko- Eine gute Therapiebeziehung war bereits huts mit eigenem theoretischem und thera- damals die wichtigste Arbeitsgrundlage peutischem Anspruch, der aus anderen Hilde Bruchs. Eine diesen Umstand veran- Quellen schöpfte, zweifellos aber zu vielen schaulichende Erinnerung einer Patientin Parallelen mit Kohut führte. Die beiden für an Hilde Bruch als Therapeutin findet sich Hilde Bruch wichtigsten psychoanalyti- in dem bereits erwähnten Buch „Das ver- schen Lehrer waren Frieda Fromm-Reich- hungerte Selbst. Gespräche mit Magersüch- mann und Harry Stack-Sullivan. Ich werde tigen“, das 1988 posthum erschien. Hilde MAG. WERNER darauf im Zusammenhang mit Hilde Bruchs LAUSECKER ist Bruch starb 1984, unmittelbar nachdem sie Historiker und Emigration aus Deutschland und ihrem per- sich dieses Buch trotz schwerer Erkrankung Psychotherapeut in sönlichen und professionellen Ankommen noch abgerungen und eine Rohversion fer- Ausbildung unter in den USA noch näher eingehen. Mit Sulli- tigdiktiert hatte.4 Der Titel, im Englischen – Supervision (SF); Mit- van und Fromm-Reichmann ist auch Hilde „Conversations with Anorexics“ – ist pro- arbeiter der Persönlichen 5 Bruch, Das verhungerte Selbst, 1998, 23. Betreuung beim 6 Ebd. 25f. 3 Bruch, Das verhungerte Selbst, 1998, 28. Verein LOK - Leben 7 Ebd. 27. 4 Lidz, Vorwort, 1998, 8. ohne Krankenhaus in 8 Ebd. 20. Wien

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Bruchs Verortung in der zeitgenössischen Psychoana- Fromm-Reichmann ha"e ihr schon 1948 abgeraten, in lyse der USA der 1940er und 50er Jahre umrissen: „Sul- einem Vortrag den Begriff „Selbst-System“ zu verwen- livan und Fromm-Reichmann hatten einen interperso- den. Fromm-Reichmann befürchtete, Bruch würde nellen Zugang in die Psychoanalyse eingebracht, aber Zweifel und Missfallen der vorherrschenden Autoritä- sie wurden damals als Abweichler gesehen und vom ten hervorrufen, wenn sie die Wichtigkeit des Selbst Mainstream nicht akzeptiert“, wie Robert S. Waller- herausstrich. Bruch erinnert sich in dem Zusammen- stein rückblickend feststellte. Alles, was als Entfer- hang an viele Gespräche der beiden Immigrantinnen, nung vom Fokus auf das Intrapsychische angesehen was wohl „die Amerikaner“ sagen würden. „Who cares?“ worden war, wurde automatisch ausgegrenzt und als meinte Bruch, „I care“ antwortete Fromm-Reichmann. Tendenz in Anlehnung an Melanie Klein gesehen. Das Im Blick auf die 1982 gegenwärtigen „erregten Diskus- änderte sich erst zu Beginn der 1980er Jahre mit dem sionen über die ‚neue‘ [alle Anführungszeichen hier Erscheinen des Buches von Greenberg und Mitchell.9 und im Folgenden im Original W.L.] Psychologie des Wallerstein bezieht sich hier auf Greenberg, Jay R., and Selbst“ habe sie „eine definitive Déjà-vu Erfahrung, Stephen A. Mitchell, Object Relations in Psychoana- weil die Worte und Konzepte so ähnlich sind. Der Be- lytic Theory. Cambridge, MA 1983. griff ‚Empathie‘ [der für Kohut grundlegend wurde Für Hilde Bruch waren nicht theoretische Positionie- W.L.] wird als die Basis einer ‚neuen Technik‘ verwen- rungen sondern ihre Erfahrungen in der psychothera- det und die Beschreibungen der Veränderungen des Be- peutischen Arbeit mit Patient*innen – und deren Wohl handlungszugangs sind exakt dieselben, die bereits – entscheidend. Rückblickend stellte sie Anfang der diskutiert wurden – nicht von Sullivan, der seinen Frie- 1980er Jahre fest: „Obwohl der Unterschied zwischen den damit gemacht ha"e, in offenem Widerspruch zu dem von mir beschriebenen Ansatz und den derzeitigen stehen, aber von Frieda, immer wieder, während der psychoanalytischen Praktiken nur gering ist, galt die 1950er Jahre. Ich wünsche manchmal, sie wäre noch Methode in den 50er Jahren, als ich sie zum ersten Mal am Leben und könnte an der Deba"e teilnehmen. Ich formulierte, als deutliche, beinahe häretische Abwei- bin sicher, sie wäre zu taktvoll, es in dieser Weise aus- chung.“ Überzeugt von ihrem therapeutischen Zugang, zudrücken, aber sie könnte sagen, ‚Ich hab’s dir gesagt, der auf Verstehen, Wechselseitigkeit, Selbsterkenntnis schon vor so langer Zeit.‘ [Übersetzung W.L.]“11 und aktiver Mitgestaltung des Therapieprozesses durch Heute, mit der zunehmenden Etablierung der inter- die Patientin auûaute, zeigte sie sich vielmehr verwun- personellen Ansätze im Mainstream der Psychoanaly- dert, dass ihr in den späten 70er und frühen 80er Jahren se, die von den bereits erwähnten Greenberg und Mit- immer noch anorektische Patientinnen überwiesen chell vorangetrieben wurde, können Sullivan, wurden, die einer „passiven Form psychoanalytischer Fromm-Reichmann, Bruch, Kohut und die britischen Behandlung unterzogen“ worden waren, die sie als Objektbeziehungstheoretiker*innen gemeinsam als nicht hilfreich erlebten. Zur kritischen Veranschauli- innovative Wegbereiter*innen einer neuen gemeinsa- chung zitiert Hilde Bruch die Aussage einer Patientin men intersubjektiven Basis der Psychoanalyse gesehen über ihren früheren Analytiker: „Er war kalt und abwei- werden. Martin Altmeyer und Helmut Thomä sahen send, sagte nie etwas, außer ‚was es bedeutete.‘“10 Hilde schon 2006 die Zukunft der Psychoanalyse in einem Bruch ließ sich durch die frühere Erfahrung der psy- „gemeinsamen Fundament“. Sie gaben der Hoffnung choanalytischen Ausgrenzung ihres psychotherapeuti- und Erwartung Ausdruck, dass die Gegenwartspsycho- schen Zugangs nicht einschüchtern. 1974 veröffentlich- analyse dabei sei, „unter dem Paradigma der Intersub- te sie ihr Buch „Learning Psychotherapy“, deutsch jektivität diesen ‚common ground‘ (Wallerstein 1990) „Grundzüge der Psychotherapie“, das dem Gedenken freizulegen.“12 an Fromm-Reichmann, Sullivan und ihrem späteren 2. Lehranalytiker Lawrence S. Kubie gewidmet ist. PARADIGMENWECHSEL IN DER PSYCHO- In ihren 1982 veröffentlichten persönlichen Erinne- ANALYTISCHEN UND PSYCHODYNAMISCHEN rungen an Frieda Fromm-Reichmann beschrieb Hilde THEORIEBILDUNG Bruch ein Déjà-vu. Sie blickte amüsiert auf die große Aufregung über die neue „Psychologie des Selbst“ [die Hervorzuheben ist auch, dass Hilde Bruch entschei- durch die Arbeiten Heinz Kohuts seit den 1970er Jah- dend zu einem Paradigmenwechsel in der psychoana- ren hervorgerufen worden war W.L.]. Frieda

11 Hilde Bruch, Personal Reminiscences of Frieda Fromm-Reichmann, in: 9 Luca di Donna, Oral History. The Life and Work of Robert S. Wallerstein: A , Vol. 45, May 1982, 98-104, hier 104. Die Zeitschrift Psychiatry Conversation, in: American Imago, Vol. 67, No. 4, 2011, 617–658, 631, 643f. wurde 1938 von Sullivan begründet. https://www.ipa.world/IPA_Docs/luca%20didonna%20oral%20history.pdf 12 Martin Altmeyer, Helmut Thomä, Einführung: Psychoanalyse und Letzter Zugriff 25. 1. 2018. Intersubjektivität. In: Dies (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive 10 Bruch, Das verhungerte Selbst, 1998, 25. Wende in der Psychoanalyse, Stuttgart, 3. Aufl. 2016, 7–31, 7.

16 SYSTEMIS CHE NOT IZEN 01/18 lytischen und psychodynamischen Theoriebildung im ren Form litten. Bruch konstatierte auch, dass diese Blick auf Essstörungen beitrug. Bruch machte die Er- primäre Form in den letzten Jahren so rapide zuge- fahrung, dass das veränderte Körpererleben von Ano- nommen habe. Diese primäre Form der Anorexie diffe- rektikerinnen mit klassischen triebtheoretischen An- renzierte sie von unspezifischen Formen eines psycho- sätzen nicht erklärt und behandelt werden konnte. Die logisch begründeten Gewichtsverlusts im Zusammen- bis dahin etablierte psychoanalytische Sicht sah die hang mit anderen psychischen Erkrankungen wie Anorexia nervosa als hysterische Form der Konversi- „Hysterie, Schizophrenie oder Depression.“14 Hilde on. Bruch merkte in ihren frühen Versuchen, Anorek- Bruch hob in dem Zusammenhang auch hervor, dass tikerinnen klassisch psychoana- lytisch zu behandeln, dass das nicht viel nützte. Anders als Mara Selvini-Palazzoli, die aus Hervorzuheben ist, dass Hilde Bruch ent- einer ähnlichen Erfahrung die Abkehr von der Psychoanalyse scheidend zu einem Paradigmenwechsel hin zur Mitentwicklung der Sys- in der psychoanalytischen und psychody- temischen Familientherapie vollzog, forcierte Hilde Bruch ei- namischen Theoriebildung im Blick auf nen psychodynamischen Para- Essstörungen beitrug. Bruch machte die digmenwechsel. Sie erkannte, „‚dass Anorexia nervosa mit frü- Erfahrung, dass das veränderte Körper- hen [im psychoanlytischen erleben von Anorektikerinnen mit klassi- Sprachgebrauch präödipalen W.L] Entwicklungsstörungen zu- schen triebtheoretischen Ansätzen nicht sammenhängt und erst in zwei- erklärt und behandelt werden konnte. ter Linie mit sexuellen Konflik- ten‘ […] und wies bereits damals auf die Bedeutung der Körperbildstörung hin,“ die viele Fallgeschichten in der älteren Literatur aus spä- heute als zentraler Aspekt in der Behandlung gestör- terer Sicht diesem zweiten, unspezifischen Typ zuor- ten Essverhaltens gesehen wird.13 denbar sind. Dieser Umstand ist auch bedeutend für den zuvor beschriebenen Paradigmenwechsel in der SOZIALGESCHICHTLICHER KONTEXT psychoanalytischen Sicht der Anorexie, an dem Hilde Bruch maßgeblichen Anteil hatte. Die jahrzehntelange Arbeit von Hilde Bruch mit ess- Der soziale Wandel, der in der rapiden Zunahme von gestörten Menschen von den 1930ern bis in die 80er an Anorexie erkrankten jungen Frauen zum Ausdruck Jahre fand in einem spezifischen sozialgeschichtli- kam, führte in der Wahrnehmung Hilde Bruchs auch chen Kontext statt. Während dieser Zeit kam es zu ei- zu einer Veränderung der Krankheitsbilder. In ihrer nem massiven Anstieg der an Magersucht und ande- Sicht war jede Patientin der 1950er und 60er Jahre für ren Essstörungen erkrankten Menschen ca. ab den sich selbst die „Erfinderin“ dieses Bestrebens nach 1970er Jahren. Hilde Bruch reflektierte diese Entwick- Selbstbehauptung. Die Patientinnen ab den 1970er lung und meinte am Ende ihres Lebens rückblickend, Jahren wussten nach Bruchs Erfahrung meistens be- dass damit auch eine klarere Differentialdiagnose der reits etwas über die Erkrankung oder kannten selbst Anorexia nervosa und Veränderungen der Krankheits- eine andere Betroffene. Es gab mediale Berichte, Fern- bilder feststellbar wurden. Sie unterschied zwischen sehfilme und Selbsthilfegruppen. Hilde Bruch be- primärer und sekundärer Anorexie. Als charakteris- schrieb bereits damals, dass die veränderten gesell- tisch für die primäre Form sah sie neben dem signifi- schaftlichen Kommunikationspraktiken zu einer Ver- kanten Gewichtsverlust massive Körperbildstörungen, änderung des klinischen Erkrankungsbildes, in ihrer inadäquate Körper- und Gefühlswahrnehmungen und Sicht teilweise sogar zu einer Veränderung der Psycho- eine alles durchdringende Selbstwahrnehmung des dynamik führten. Diese Veränderungen hielt sie An- unzureichend Seins. Hilde Bruchs Arbeitsschwerpunkt fang der 1980er Jahre noch nicht für klar fassbar. In galt Mädchen und jungen Frauen, die an dieser primä- ihrer Suche nach Worten beschrieb sie eine „Passion“,

13 Werner Köpp, Sybille Kiesewetter, Hans Christian Deter, Zur Psychodyna- 14 Hilde Bruch, Four Decades of Eating Disorders, In: Handbook of Psychothe- mik der Bulimia nervosa, in: Forum Psychoanal 2007 · 23: 266–277, 267. rapy for Anorexia Nervosa and Bulimia. New York, 1985, 7-18, 9. http:// www.dr-werner-koepp.de/public/BN-Ps_dynamik_Forum_Sept_2007.pdf icpla.edu/wp-content/uploads/2013/09/Bruch-H.-Four-Decades-of-Eating- Letzter Zugriff 25. 1. 2018. Disorders-1985-p-7-18.pdf Letzter Zugriff 25.01.2018.

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die vom Bild, der Abbildung, ausgehen konnte und mals als Bezugnahme auf Frieda Fromm-Reichmann nahm an, dass die Rezeption medialer Bilder zu einem zu lesen ist, die 1950 unter dem Titel „Principles of in- „Ausprobieren“ der Anorexie führen konnte. Diese tensive psychotherapy“ ihre wichtigsten Aufsätze ver- „me-too“-Anorektikerinnen – Hilde Bruch verwendet öffentlichte. 1998 kamen dann auch die ausgebildete diesen aktuellen Begriff – sah sie auch in einem neu- Ärztin und Psychoanalytikerin Mara Selvini-Palazzoli, artigen Wettbewerb miteinander.15 die seit den 1970er Jahren mit unterschiedlichen Kon- zepten und Teams einen Paradigmenwechsel von der ARBEIT IM EINZELSETTING UND Psychoanalyse hin zu einer systemisch orientierten EINBEZIEHUNG VON FAMILIENANGEHÖRIGEN Familientherapie gerade auch in Bezug auf Familien mit einer magersüchtigen Tochter propagiert hatte, zu Für mich, der ich gelernt habe, systemisch-familienthe- einer ähnlichen Einschätzung wie Hilde Bruch. In rapeutisch zu denken und zu arbeiten, ist eine Grund- einer follow-up-Studie, die sie und andere zu den von haltung von Hilde Bruch besonders relevant: Sie integ- Selvini-Palazzolis Teams seit den 1970er Jahren im rierte als Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin Familiensetting behandelten sogenannten Indexpa- ergänzend zur Einzeltherapie die Arbeit mit Familien tientinnen in den 1990ern durchführten, kamen sie zu und beschrieb typische Charakteristika von Familien, in dem Ergebnis, dass viele Patientinnen nach der Fami- denen eine Tochter den Ausweg der Anorexie suchte. lientherapie eine Einzeltherapie begonnen und als Ihre Beschreibungen der Familienmerkmale erinnern hilfreich erlebt hatten. Auch Selvini-Palazzoli und ihre mich in vielem an die Arbeiten von Mara Selvini-Palaz- Mitarbeiter*innen empfahlen daraufhin 1998 die the- zoli und ihren wechselnden Mailänder Kolleg*innen. rapeutische Arbeit parallel mit der Familie und der Pa- Hilde Bruch wandte sich aber immer wieder gegen die tientin.18 Dabei ist aber festzuhalten, dass die zugrun- in den 1970er und 80er Jahren zunehmende Tendenz, de gelegten therapeutischen Konzepte im Vergleich zu essstörungserfahrene Menschen nur mehr im Se"ing Bruch auch grundlegende Unterschiede aufweisen. der Familientherapie zu behandeln. In einem 1985 Eine vergleichende wissenschaftsgeschichtliche Stu- posthum veröffentlichten Vortrag stellte sie dazu die zu diesen beiden bedeutenden Therapeutinnen der nochmals mit der ihr eigenen Präzision fest: „Die stag- Essstörungen und Pionierinnen auf diesem Gebiet aus nierenden Muster der familialen Interaktion müssen heutiger Sicht wäre nach meiner Einschätzung ein verdeutlicht, geklärt und „unlocked“ – also entsperrt lohnendes Thema. Ich konnte in meiner zeitlich be- oder gelöst – werden. Aber Familientherapie alleine ist grenzten Beschäftigung mit dem Thema relativ wenig nicht genug. Unabhängig davon, was der Beitrag der dazu finden. Im Folgenden können deshalb nur weni- Familie zur Krankheit in der Vergangenheit war, die ge Markierungspunkte angedeutet werden, die das Patientin hat diese abnormalen Konzepte über sich Thema für eine zukünftige Analyse umreißen. und andere in ihre eigene Persönlichkeit integriert. Individuelle intensive Psychotherapie [Hervorhebung HILDE BRUCH UND MARA SELVINI-PALAZZOLI: W.L.] ist für die Korrektur der zugrundeliegenden feh- NAHE PSYCHOANALYTISCHE AUSGANGS- lerhaften Annahmen notwendig – für die Korrektur PUNKTE UND SICH ENTFERNENDE der selbsttäuschenden Pseudolösung, die Anorexia THERAPEUTISCHE WEGE nervosa repräsentiert. Direkte Arbeit mit der Familie und individuelle Psychotherapie ergänzen einander.“ Hilde Bruch stellte noch als Pädiaterin 1939 – bereits Im Weiteren führt Bruch dazu aus, dass die Eltern in den USA – in einer heute als epochemachend einge- selbst Hilfe bräuchten, um mit ihren Ängsten umzuge- schätzten medizinischen Abhandlung gemeinsam mit hen und dem jungen Menschen mehr Freiheit zu ge- Grace Touraine als eine der ersten einen Zusammen- währen. [Übersetzung W.L.]16 hang zwischen einer psychiatrischen oder physiologi- Die Präferenz für Einzel- und/oder Familientherapie schen Störung und der Familienumwelt eines Men- bei Essstörungen ist ein weiterhin auch medial disku- schen her und entwickelte eine sozialpsychiatrische tiertes Thema.17 Auch die meisten systemischen Fami- Perspektive. In „Obesity in Childhood: The Family Fra- lientherapeutinnen und therapeuten werden dieser me of Obese Children“ [„Fettleibigkeit in der Kindheit: Aussage Hilde Bruchs heute wahrscheinlich zustim- Der familiale Rahmen fettleibiger Kinder“ W.L.] führ- men. Ich habe dieses Zitat auch deshalb gewählt, weil ten die Autor*innen aus, dass die damals sogenannte die Spezifizierung „intensive Psychotherapie“ noch- „Fröhlich-Krankheit“ (schwerwiegende Fettsucht, Trägheit und scheinbar kleine Genitalien bei Buben) 15 Ebd. 11. 16 Ebd., 14. 17 Vgl. z.B. www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/vergleichsstudie- 18 Mara Selvini Palazzoli, S. Cirillo, M. Selvini, A. M. Sorrentino, Anorexie und familientherapie-senkt-rueckfallgefahr-bei-magersucht-a-722012.html Bulimie. Neue familientherapeutische Perspektiven, Stuttgart 1999, 130ff.

18 SYSTEMIS CHE NOT IZEN 01/18 nicht auf eine unbekannte Dysfunktion der Hypophy- Sullivan und Frieda Fromm-Reichmann zu machen. se, sondern auf übermäßiges Essen und Bewegungs- Ich gehe später darauf noch näher ein. Mara Selvi- mangel aufgrund einer gestörten Mutter-Kindbezie- ni-Palazzoli wandte sich Anfang der 1950er Jahre der hung zurückzuführen sei und die Genitalien nur in Psychiatrie zu und ließ sich zur Psychoanalytikerin Relation zur Fettleibigkeit klein erschienen.19 ausbilden, „lediglich, um die Anorexie zu verstehen, Ähnlich weit reicht das Interesse an Essstörungen der weil ich an diesem Problem sehr interessiert war“, wie 1916 in Mailand geborenen Mara Selvini-Palazzoli zu- sie sich 1979 in einem Interview mit Klaus Deissler er- rück. Während ihres Medizinstudiums und ihrer Fach- innerte.22 Sie wählte wie Hilde Bruch nicht den räum- arztausbildung zur Internistin an der Mailänder Uni- lich nächstgelegensten Ort für eine klassische psycho- versitätsklinik war sie in der Zeit des Zweiten Welt- analytische Ausbildung, sondern machte diese in Ba- kriegs nie einem Fall von Anorexie begegnet. In den sel bei dem 1920 geborenen, aus Sizilien stammenden, Jahren nach dem Krieg, als das Nahrungsangebot wie- renommierten Psychiater und Psychoanalytiker Gae- der besser geworden war, wurden innerhalb weniger tano Benedetti, der zu der Zeit bereits Professor an der Tage drei Mädchen mit der Diagnose „Magersucht“ dortigen Universität war. Rückblickend kommentierte in die Mailänder Universitätsklinik eingeliefert, wo Selvini-Palazzoli 1979 ihren Weg so: „Die Psychoanaly- Selvini-Palazzoli damals als Internistin tätig war. Jahr- se war für mich eine sehr wichtige ‚Ausbildung‘ [An- zehnte später – 1998 – stellte sie im Gespräch mit führungszeichen im Original W.L.], ich habe über 15 Satuila Stierlin zu dieser Erfahrung rückblickend fest: Jahre mit diesem Modell gearbeitet. Ich hatte eine sehr „…ich hatte nie ein Buch über Psychologie in die Hand gute Ausbildung bei Professor Benedetti. Ich hatte kei- genommen. Aber damals brannte ich vor Neugier, et- ne Angst, von meinen Klienten an der Nase herumge- was über die psychologischen Zusammenhänge der führt zu werden, und ich lernte auch die nonverbale Magersucht zu erfahren. Ich hatte mein Facharztdip- Sprache zu verstehen – das Verhalten als Kommunika- lom bereits in der Tasche, aber nun entschloss ich tion usw. Aber bedingt durch das psychoanalytische mich, es beiseite zu legen und mich ausschließlich der Modell war ich für eine gewisse Zeit gezwungen, das Psychologie und Psychiatrie zu widmen. Ich wollte ‚lineare‘ Modell anzuwenden und dementsprechend zu unbedingt verstehen, warum die Mädchen nicht aßen. denken.“23 Und noch immer ist meine Neugier nicht befriedigt.“20 Bevor wir den später unterschiedlichen und sich ent- Hilde Bruch und Mara Selvini-Palazzoli verbindet die fernenden Wegen von Hilde Bruch und Mara Selvini- Erfahrung, als ausgebildete Fachärztinnen für Pädiat- Palazzoli noch weiter folgen, erscheint es hier interes- rie bzw. Innere Medizin durch die Begegnung mit ess- sant, noch kurz auf die räumlich entfernten, psycho- störungserfahrenen oder anders psychiatrisch er- analytisch und wissenschaftlich aber nahen Ausgangs- krankten Menschen den Weg zur Psychotherapeutin punkte von Bruch und Selvini-Palazzoli zu blicken. und Wissenschaftlerin gewählt und gefunden zu Wie schon festgestellt, wurden Sullivan und haben.21 Aufgrund ihrer Erfahrungen mit ihren Pati- Fromm-Reichmann in der zeitgenössischen institutio- ent*innen und sich selbst überschritten sie beide die nalisierten Psychoanalyse als Dissident*innen angese- Grenzen der zeitgenössischen Medizin. Sie gingen die- hen. Und auch für die Psychoanalytikerin Selvini- se Wege als Zeitgenossinen bis zum Tod von Hilde Palazzoli waren Sullivan und Fromm-Reichmann zent- Bruch in den 1980er Jahren. Gemeinsamkeiten, Unter- rale Bezugspunkte. Matteo Selvini charakterisiert ihre schiede, wechselseitige Bezugnahmen und persönliche psychoanalytische Ausbildung so: „Unter der Anlei- Kontakte können hier nicht untersucht werden. Wich- tung von Gaetano Benedetti beginnt ihre Ausbildung tig erscheint mir aber, ein paar weitere Wegmarkie- in den 1950er Jahren auf orthodoxer Grundlage mit rungen und signifikante Unterschiede festzuhalten. Supervisionen, die den Focus auf die Beziehung Pati- Bruch ging Anfang der 1940er Jahre von New York ent-Therapeut richten.“ In dieser Orientierung komme weg, wo sie sich bereits beruflich etabliert hatte, um bereits eine Fokussierung auf jene interpersonellen ihre Ausbildung zur Psychiaterin an der Henry Phipps Ansätze im Spektrum der zeitgenössischen Psycho- Psychiatric Clinic in im Bundesstaat Mary- analyse zum Ausdruck, die mit Sullivan und Fromm- land und zur Psychoanalytikerin am Washington-Bal- timore Psychoanalytic Institute u. a. bei Harry Stack 22 Klaus Deissler, Das Mailänder Modell. Ein Interview mit Mara Selvini Palazzoli, in: systemagazin. Online-Journal für systemische Entwicklungen. 19 Lidz, Vorwort, 1998, 8f. Rubrik Klassiker. Selvini Palazzoli, Mara, Luigi Bosocolo, Gianfranco 20 Satuila Stierlin, Mara Selvini, In: „Ich brannte vor Neugier!“ Familienge- Cecchin, Giuliana Prata, Paradoxon und Gegenparadoxon. Ein neues schichten bedeutender Familientherapeutinnen und Familientherapeuten, Therapiemodell für die Familie mit schizophrener Störung. file:///C:/Users/ Heidelberg 2001, 11–38, 30f. werner/Documents/Abschlussarbeit/Systemagazin%20-%20Klassiker_ 21 Im dritten Teil dieses Artikels gehe ich auf den professionellen Werdegang Interview_Selvini-Palazzoli.htm Letzter Zugriff 2. 3. 2018. von Hilde Bruch noch ausführlicher ein. 23 Ebd.

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Reichmann verbunden sind.24 Es kann hier nicht dis- aus der therapeutischen Arbeit mit Klient*innen wie kutiert werden, ob Fromm-Reichmann und Sullivan auch verschiedene theoretische Bezugspunkte. Hilde noch dem Konstrukt einer psychoanalytischen Ortho- Bruch entwickelte ihren interpersonell fokussierten doxie zuzurechnen sind, wie Matteo Selvini aus späte- psychoanalytischen Zugang weiter, der in der Thera- rer systemischer Sicht meint, oder mehr als „Abweich- pie von Menschen mit Essstörungen auf einer intensi- ler“ gesehen werden müssen, wie es Wallerstein be- ven Therapiebeziehung im Einzelsetting unter ggf. er- schreibt. Festzuhalten ist, wie Matteo Selvini hervor- gänzender Einbeziehung von Angehörigen aufbaute. hebt, dass 1963, bei der Veröffentlichung der ersten Mara Selvini-Palazzoli wählte dagegen den Weg einer Italienischen Auflage von Selvini-Palazzolis Buch radikalen Abkehr von der Psychoanalyse. Sie hatte „Magersucht“ offensichtlich wurde, welche Aufmerk- 1964/65 in Mailand eine Gruppe begründet, die psy- samkeit die Autorin der „amerikanischen Schule“ von choanalytisch geprägte Psychotherapie in das psychia- Sullivan und Fromm-Reichmann zuwandte: „Diese trische Krankenhaus einführen wollte. Sie behandelte Schule eröffnete Neues, da sie, obwohl im Grunde der in der Zeit ca. 60 anorektische Patienten. Die thera- orthodoxen Psychoanalyse treu, zwischenmenschliche peutischen Erfolge waren für sie nicht zufriedenstel- Beziehungen und ihre Konsequenzen für all die Gege- lend. Sie gewann den Eindruck, „daß die Psychoana- benheiten, unter denen solche Beziehungen stattfin- lyse kein gutes Instrument sei. Zu wenig Patienten den, zum Gegenstand der modernen psychopathologi- konnten behandelt werden, die Behandlung war sehr schen Theorie machten.“25 Und hier überrascht es nun teuer und die Ergebnisse waren mager, ärmlich.“28 Sel- nicht mehr zu erfahren, dass es Selvini-Palazzolis Leh- vini-Palazzoli wählte aus dieser Erfahrung heraus den rer Gaetano Benedetti war, der „in den 1960er Jahren Weg einer radikalen Neuorientierung. Unter dem Ein- Sullivans Werk mit Enthusiasmus in Italien eingeführt druck von Aufsätzen von Lyman Wynne und Margret hatte“ und auch noch zur Jahrtausendwende eine ge- Thaler Singer unter dem Titel „Thought Disorders and genwärtige Aktualität von dessen Ansätzen für Psychi- Family Relations of Schizophrenics“, die 1963 veröf- atrie, Psychotherapie und Psychoanalyse sah.26 fentlicht worden waren und die Selvini-Palazzoli dann Hilde Bruch und Mara Selvini-Palazzoli nahmen als 1965 las, traf sie aus einer Krise heraus eine für sie zu- die in ihrer Zeit wichtigsten Expertinnen zur Psycho- kunftsweisende Entscheidung: „Innerhalb einer sehr therapie der Essstörungen in ihren Veröffentlichungen kurzen Zeit entschied ich, daß es für mich nicht mehr vielfach auf die Arbeiten der jeweils anderen Bezug.27 aufrichtig war, Psychoanalytiker zu sein, weil ich über- Diese wechselseitigen Bezugnahmen und nuancierten zeugt war, daß der Weg falsch war. Deshalb entschloß Unterscheidungen harren noch der weiteren Untersu- ich mich innerhalb einer Woche, meinen Beruf aufzu- chung und können hier nicht beleuchtet werden. Ent- geben. Ich wollte lediglich die Fälle beenden, die ich scheidend ist aber festzuhalten, dass die beiden Prota- begonnen hatte – es wäre nicht aufrichtig gewesen sie gonistinnen zumindest seit den späten 1960er Jahren im Stich zu lassen – aber ich nahm keine neuen Fälle ihre therapeutischen Entwicklungslinien in deutlich mehr an. Meine Haushälterin hatte damals den Auf- unterschiedliche Richtungen lenkten. Ausschlagge- trag, wenn jemand um einen Termin bitten sollte, mit- bend dafür waren sowohl ihre jeweiligen Erfahrungen zuteilen: ‚Dr. Selvini hat ihren Beruf aufgegeben.‘“29 1967 gründete Selvini-Palazzoli das erste Zentrum für Familientherapie. „Wir waren sehr arm, ich hatte kein 24 Matteo Selvini, Einführung, In: Ders. (Hg.), Mara Selvinis Revolutionen. Geld. Dieses Zentrum befand sich in einem Keller, ei- Die Entstehung des Mailänder Modells, Heidelberg 1992, 18–37, 18. 25 Ebd. ner Art Katakombe. Dort traf ich die ersten Familien. 26 Gaetano Benedetti, Geleitwort, In: Marco Conci, Sullivan neu entdecken. Danach ging ich in die Staaten – nur für kurze Zeit: Leben und Werk Harry Stack Sullivans und seine Bedeutung für Psychia- Ich hielt mich insbesondere in Philadelphia auf. Dort trie, Psychotherapie und Psychoanalyse, Gießen 2005, 13f. 27 Exemplarisch: Mara Selvini Palazzoli, Magersucht. Von der Behandlung war ich sehr unglücklich, denn ich ging zum Institut einzelner zur Familientherapie, Stuttgart 1982, hier: 7. Aufl. 1998. In den von Boszormenyi-Nagy und Framo: Sie verwandten ersten 3 Teilen des Buches, die noch stärker auf die Behandlung einzelner das psychoanalytische Modell. Als ich zurückkam, fokussiert sind – im Unterschied zum systemisch-familientherapeutisch schlugen alle Bemühungen fehl. Deshalb entschied orientierten vierten Teil – eine Vielzahl von Verweisen auf Bruch und Sullivan. Die erste noch stärker psychoanalytisch orientierte Italienische ich, daß die Psychoanalyse nicht das richtige Modell Originalausgabe erschien 1963 unter den Titel L‘anoressia mentale in sei und daß es notwendig sei, das systemische Modell Mailand. Der deutschen Übersetzung liegt die englische Ausgabe unter zu wählen. Wir entschlossen uns damals, Dr. Watzla- dem Titel Self-Starvation, New York 1978 zugrunde. Ebenso exemplarisch: Hilde Bruch, Eßstörungen. Zur Psychologie und Therapie von Übergewicht wick für ein paar Tage einzuladen, um zu entscheiden, und Magersucht, Frankfurt/M. 1991, hier: 8. Aufl. 2001, mit ebenso mehre- daß wir unsere Richtung geändert hatten. Unsere An- ren Erwähnungen von Selvini Palazzoli. Die amerikanische Originalausgabe unter dem die therapeutische Grundhaltung der Autorin charakterisieren- den Titel Eating Disorders; Obesity, Anorexia nervosa and the Person 28 Klaus Deissler, Mailänder Modell. Ein Interview mit Mara Selvini Palazzoli. Within, New York 1973. 29 Ebd.

20 SYSTEMIS CHE NOT IZEN 01/18 strengungen bestanden also darin, absolut kohärent nen zu tun hatte. Eben „die Psychoanalyse in eine mit dem Modell zu werden, das wir gewählt hatten, Schublade zu stecken und sie zu vergessen“, wie Mara die Psychoanalyse in eine Schublade zu stecken und Selvini-Palazzoli 1979 meinte. Damit konnte aus dem sie zu vergessen.“30 Die folgende Geschichte der wech- Blick geraten, dass viele frühe Familientherapeut*in- selnden Mailänder Teams und Konzepte kann und soll nen und Wegbereiter*innen der Systemischen Thera- hier nicht erzählt werden.31 pie ihre professionellen Anfänge und Bezugspunkte – In der Beschreibung der einander nahen psychoanaly- so wie Bruch und Selvini-Palazzoli – gerade in den in- tischen Ausgangspunkte von Hilde Bruch und Mara novativen unorthodoxen psychoanalytischen Kontex- Selvini-Palazzoli werden am Beispiel der psychothera- ten um Harry Stack Sullivan fanden. Don Jackson, peutischen Arbeit mit essstörungserfahrenen Men- Salvador Minuchin, Nathan Ackerman, Jay Haley, Ivan schen unterschiedliche Optionen in der theoreti- schen und praktischen Entwicklung der Geschich- Hilde Bruch entwickelte ihren interpersonell te der Psychotherapien les- fokussierten psychoanalytischen Zugang bar. In den aufgezeigten unterschiedlichen Ent- weiter, der in der Therapie von Menschen wicklungslinien können mit Essstörungen auf einer intensiven Thera- exemplarisch auch die Ge- schichten der Psychoana- piebeziehung im Einzelsetting unter ggf. lysen, Fami lienthera pien und Systemischen Famili- ergänzender Einbeziehung von Angehörigen entherapien seit den aufbaute. Mara Selvini-Palazzoli wählte 1950er-Jahren nachvollzo- gen werden. Mit dem dagegen den Weg einer radikalen Abkehr postulierten Paradigmen- von der Psychoanalyse. wechsel von der Psycho- analyse und Familientherapie hin zur Systemischen Boszormenyi-Nagy und Virginia Satir betonten aus- Therapie wurde eine konsequente Abkehr von der Psy- drücklich die Verdienste Sullivans für die Entwicklung choanalyse hin zur Systemischen Therapie mit dem ihrer Arbeitsperspektiven, um hier nur einige zu nen- Ziel und dem Effekt der Etablierung als eigenständige nen. Jackson und Minuchin hatten darüber hinaus Richtung der Psychotherapie propagiert. Kurt Ludewig Ausbildungen an der von Sullivan geprägten Washing- sieht beispielsweise in dem vielbeachteten Artikel von ton School of Psychiatry absolviert. Auch die theoreti- Gottlieb Guntern, „Die kopernikanische Revolution in schen Konstruktionen zum „double bind“ der Gruppen der Psychotherapie: der Wandel vom psychoanalyti- um Gregory Bateson am Mental Research Institute schen zum systemischen Paradigma“32 einen theoreti- (MRI) in Palo Alto, wie auch die zeitgenössischen For- schen Höhepunkt dieser Gründerepoche.“33 Mit diesem schungsgruppen um Theodore Lidz und Lyman Wynne angestrebten Paradigmenwechsel erfolgte in der Sys- griffen auf Ansätze Sullivans und Fromm-Reichmanns temischen Familientherapie oft die Abgrenzung von zurück.34 einem idealtypischen und orthodox vorgestellten Bild Diese historischen Bezüge sind aus meiner Sicht von „der“ Psychoanalyse, das mehr oder weniger viel mit großer Aktualität für die Gegenwart der Systemischen der Selbstsicht zeitgenössischer Psychoanalytiker*in- Familientherapien. Wenn heute vermeintlich neue theoretische Ansätze für die therapeutische Arbeit mit 30 E bd. Gefühlen, intrapsychischen Prozessen oder schwer- 31 Vgl dazu: Selvini, Einführung, In: Ders. (Hg.), Mara Selvinis Revolutionen; wiegenden psychiatrischen Störungsbildern gesucht Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin, Lynn Hoffman, Peggy Penn, Famili- oder Therapiebeziehungen reflektiert werden, könnte entherapie - Systemtherapie. Das Mailänder Modell, Dortmund, 2. Aufl. 1990; Bodo Christian Pisarsky, Die Mailänder Schule. Systemische und sollte es um mehr gehen, als um den Import von Therapie von der paradoxen Intervention zum epigenetischen Ansatz, Bruchstücken aus anderen Psychotherapierichtungen, Göttingen 2000. des psychiatrischen Diskurses oder der Psychothera- 32 Gottlieb Guntern, Die kopernikanische Revolution in der Psychotherapie: der Wandel vom psychoanalytischen zum systemischen Paradigma, in: pieforschung. Aus einer gegenwärtigen Perspektive im Familiendynamik, 5. 1980, Heft 1, 2-41. Blick auf die Vergangenheit steht die Abgrenzung des 33 Kurt Ludewig, Systemtherapie in Deutschland. Stand der Entwicklung in inzwischen etablierten Systems der Systemischen Fa- Theorie und Praxis im Jahr 2003, 2004, 3. http://www.kurtludewig.de/ Downloads/11%20SystTh%20BRD%202003.pdf Letzter Zugriff 02.03.2018. 34 Conci, Sullivan neu entdecken, 2005, 453f.

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milientherapie zu seiner vermeintlichen Umwelt in dem Ersten Weltkrieg, 1904 in Dülken am Niederrhein Frage. Eine historisch-gegenwärtige Reflexion der Zie- geboren, das heute zur Stadt Viersen (Nordrhein-West- hung der Systemgrenzen könnte die bis heute oft ge- falen) gehört. Viersen grenzt – zur besseren Orientie- schlossen scheinende Schublade mit der vergessen ge- rung – an Mönchengladbach. Ihre Eltern waren Adele machten Psychoanalyse öffnen helfen; hin zu einem geb. Rath und Hirsch Bruch, ein wohlhabender Vieh- offenen Dialog mit den interpersonellen und relatio- händler. Hilde war das dritte von sieben Kindern der nalen Ansätzen in den gegenwärtigen Psychoanalysen, Familie. Bereits mit zwölf Jahren gab sie ein starkes die historisch so viel Gemeinsames mit der Systemi- Zeichen ihrer Autonomie. Sie setzte in ihrer Familie schen Familientherapie verbindet. Zu diesem Thema durch, dass sie – trotz der dafür notwendigen tägli- wird vom Autor dieser Zeilen in einer der nächsten chen Bahnfahrt – eine höhere Schule im benachbarten Nummern der Systemischen Notizen ein eigener Arti- Gladbach besuchen konnte, die Mädchen bessere Bil- kel erscheinen. dungschancen bot. Ihr Wunsch war ursprünglich, Ma- thematikerin zu werden. Sie entschied sich dann aber III.) LEBENSGESCHICHTE, AUSBILDUNGSWEGE für das Medizinstudium in Würzburg, Freiburg, Mün- UND DIE EMIGRATION VON HILDE BRUCH chen und Köln. Schon unter den Bedingungen der Weimarer Republik schien ihr als Frau und Jüdin der Ich möchte im Folgenden einen Eindruck von Hilde Beruf der Ärztin bessere Perspektiven zu bieten.36 Hil- Bruchs Lebensgeschichte vermitteln. Es ist für de Bruchs Vater war gestorben, als sie 16 Jahre alt war. Historiker*innen, Literaturwissenschaftler*innen oder Er hatte ein erhebliches Vermögen hinterlassen. Durch Psychotherapeut*innen oft eine Aufgabe, Beziehungen die fortdauernde Wirtschaftskrise nach dem Ersten zwischen der Lebensgeschichte und dem Handeln und Weltkrieg und die Hyperinflation war dieses Vermö- Werk eines Menschen herzustellen. Kurzschlüsse wer- gen 1923 vernichtet. In diesem Jahr 1923 schloss Hilde den aber zurecht kritisch gesehen und werden weder Bruch, die eine sehr gute, wissbegierige, durch ihre dem Menschen noch dem Werk gerecht. Mein Ein- häufigen Nachfragen aber auch unangepasste Schüle- druck ist, dass zwischen der Lebensgeschichte und rin war, das Gymnasium ab. Sie wollte studieren. Trotz dem Werk dieser bedeutenden Therapeutin Verbin- des Vermögensverlusts wurde ihr das mit Unterstüt- dungslinien sichtbar, die genannten Lebensthemen zung von beiden Seiten ihrer elterlichen Familie er- auch in ihrer therapeutischen Arbeit lesbar werden. möglicht. In ihrer eher ländlich und traditionell orien- Ich möchte es aber den Leser*innen überlassen, diese tierten Familie galt der Grundsatz: „Alles was der Er- Zusammenhänge mit Ihren Erfahrungen herzustellen, ziehung und Ausbildung dient ist akzeptabel.“37 Nach und mich hier auf Andeutungen beschränken. dem damals üblichen und verbreiteten Studium an Noch ein zweiter Hinweis. Es ist in der gebotenen Kür- verschiedenen Universitäten wurde sie 1929 an der ze nicht möglich, dem Lebens- und Ausbildungsweg Universität Freiburg zum Doktor der Medizin promo- wie der Wirkungsgeschichte einer so produktiven und viert und absolvierte anschließend an der Universität vielseitigen Ärztin, Pädiaterin, Psychiaterin, Psycho- Kiel eine physiologische und ab 1930 an der Universi- analytikerin, Psychotherapeutin und Wissenschaftle- tät Leipzig eine pädiatrische Ausbildung.38 Bei der rin gerecht zu werden. Mein Fokus liegt im Folgenden Reichstagswahl im Juli 1932 wurde die NSDAP mit Ab- auf Hilde Bruchs Emigrationsgeschichte aus Deutsch- stand zur stimmenstärksten Partei (37,3 % gegenüber land und ihrem Ankommen in Amerika. Wichtige As- 21,6 % für die SPD. Alle anderen Parteien blieben unter pekte, Ausbildungsorte und Wirkungsstätten bleiben 15 %).39 Hilde Bruch stand damals am Beginn einer dabei unberücksichtigt.35 medizinischen Karriere als Pädiaterin in Deutschland. Ich stütze mich im Folgenden überwiegend auf die

ausgezeichnete biografische Skizze von Randy Sparks 36 Psychoanalytikerinnen. Biografisches Lexikon. https://www.psychoanaly- im Nachlassverzeichnis von Hilde Bruch an der Hous- tikerinnen.de/usa_biografien.html#Bruch. Letzter Zugriff 23. 1. 2018. ton Academy of Medicine, wo sie seit 1964 als Profes- 37 Randy Sparks, Biography, in: Papers of Hilde Bruch, Manuscript Collection sorin tätig war. Dieses Verzeichnis ist unter „Papers of No.7 of the John P. McGovern Historical Collections and Research Center Academy of Medicine – Texas Medical Center Library 1133 John Hilde Bruch“ im Netz zugänglich, dort finden sie auch Freeman Blvd., Houston, Texas 77030, Compiled by Randy Sparks with ein Schriftenverzeichnis. Hilde Bruch wurde noch vor Foreword by Shervert H. Frazier, MD and Introduction by Theodore Lidz, der ersten Epochenkatastrophe des 20. Jahrhunderts, MD, 1985. http://library.tmc.edu/mcgovern/wp-content/uploads/sites/ 3/2016/06/MS007-Bruch.pdf. Letzter Zugriff 23.01.2018. Für ausführliche- re biografische Informationen siehe auch: Joanne Hatch Bruch, Unlocking 35 Weiterführende biografische Hinweise zu Hilde Bruch finden sich auf der the Golden Cage. An Intimate Biography of Hilde Bruch M.D., Carlsbad, von Brigitte Nölleke gestalteten Website „Psychoanalytikerinnen. Bio- California, 1996. grafisches Lexikon“, das dem Leben und Werk von Frauen in der Geschichte 38 Lidz, Vorwort, 1998, 8. der Psychoanalyse gewidmet ist. www.psychoanalytikerinnen.de/index. 39 https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagswahl_Juli_1932. Letzter Zugriff html. Letzter Zugriff 25. 1. 2017. 23. 1. 2018.

22 SYSTEMIS CHE NOT IZEN 01/18 Schon früh war ihr Wunsch gewesen, Wissenschafte- Kinder ist Ausdruck davon. Aus dieser Beschäftigung rin zu werden. Die Unterstützung vieler ihrer Kolle- heraus verband sie zunehmend ihre pädiatrische Ex- ginnen und Kollegen für Hitlers Bewegung machten pertise mit einem psychiatrischen Interesse und ent- ihre Position in Leipzig für sie unhaltbar. Im Oktober schloss sich zu einer Ausbildung in Psychiatrie und 1932 eröffnete sie eine private Praxis in einem Vorort Psychoanalyse. Sie wählte ihren Ausbildungsort ge- von Düsseldorf. Ihre Entscheidung war durch die poli- zielt nach fachlichen Interessen und wechselte nach tischen Umstände motiviert. Sie befürchtete, unter Baltimore im Bundesstaat . Dort startete sie dem zunehmenden Einfluss der Nationalsozialisten ihre psychiatrische Ausbildung an der Henry Phipps als Jüdin bald als Mitarbeiterin jeder Krankenhausbe- Psychiatric Clinic am John-Hopkins-Krankenhaus noch legschaft in Deutschland entlassen zu werden.40 unter Adolf Meyer, dem Pionier der Psychosomatik Hilde Bruch war nicht nur eine bedeutende Wissen- und einem der wenigen zeitgenössischen Psychiater, schafterin, sie hatte auch einen klaren politischen die Schizophrenie einer psychotherapeutischen Be- Blick. Bereits kurz nachdem die Nationalsozialisten handlung zugänglich sahen. Am John-Hopkins-Kran- mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am kenhaus arbeitete sie auch mit Leo Kanner zusammen, 30. Jänner 1933 an die Macht gelangt waren, entschied der damals mit seinen Autismusstudien beschäftigt sie sich zur Emigration. Im April 1933 schloss sie ihre war. Mit ihm stimmte Bruch in wesentlichen Punkten Praxis. Gegen den Rat ihrer Familie ging sie unter dem nicht überein. Ihre Ausbildung zur Psychoanalytikerin Vorwand eines internationalen Pädiatrie-Kongresses machte sie am Washington-Baltimore Psychoanalytic im Juni 1933 nach , wissend, dass sie nicht Institute, wo ihre Lehrer, wie erwähnt, u. a. Harry mehr zurückkommen würde. Ihre Familie setzte noch Stack Sullivan und Frieda Fromm-Reichmann waren, Vertrauen in die lange Geschichte des guten Zusam- beide Pionier*innen der psychoanalytischen Behand- menlebens von Juden, Katholiken und Protestanten im lung der Schizophrenie. Hilde Bruch nahm auch an kleinstädtischen Milieu, während Hilde Bruch bereits den berühmten Seminaren in Chesnut Lodge teil und die existenzielle Bedrohung erkannte. In London fand wurde vor ihrer Spezialisierung auf Essstörungen auch sie für ein Jahr Arbeit in einer child guidence Klinik. eine anerkannte Therapeutin und Autorin in der Be- Mit einem Affidavit, das ihr ein Onkel in den USA er- handlung schizophrener Zustände, was für die spätere möglichte, erreichte sie im Oktober 1934 New York. Entwicklung ihrer Behandlungskonzepte in der Arbeit Durch eine Zufallsbekanntschaft auf der Schiffspassa- mit essgestörten Menschen wichtig war. 1943 kehrte ge und ihre als herausragend erkannte Kompetenz Hilde Bruch nach Abschluss ihrer Ausbildungen nach fand sie bald nach ihrer Ankunft eine Anstellung als New York zurück, eröffnete eine private Praxis und Assistenzärztin in der Kinderklinik des Columbia wurde Mitarbeiterin des Kinderberatungsdienstes am Presbyterian Medical Center. Sie konnte sich rasch an Psychiatrischen Institut des Staates NewYork, den sie das neue berufliche Umfeld adjustieren, doch die stän- zeitweise auch leitete. Auch in New York arbeitete sie digen neuen Nachrichten aus Deutschland erschütter- bis zu dessen frühen Tod 1949 eng mit Sullivan zusam- ten sie tiefgreifend. Sie sah ihre Familie zunehmend men. 1964 folgte sie einem Ruf als Professorin für Psy- in Lebensgefahr. Später beschrieb sie, man könne sich chiatrie am Baylor College of Medicine in Houston, heute nur mehr so schwer jene „Atmosphäre völliger Texas, wo sie 1978 emeritiert wurde und bis zu ihrem Verzweiflung und ständiger Sorge“ vorstellen. „Die Tod 1984 lebte.42 Schuld, gegangen zu sein und die noch größere Ich gehe nochmals ins Jahr 1941 zurück. Der Kriegsein- Schuld, nicht mehr tun zu können.“ Ihr geringes Ein- tritt der USA am 8. 12. 1941 zerriss für Hilde Bruch das kommen machte es für Hilde Bruch – genauso wie für dünne, bis dahin noch verbliebene, Band der Kommu- so viele andere Emigrant*innen – unmöglich, Famili- nikation mit Angehörigen ihrer Familie. In ihrer fort- enangehörige ins sichere Amerika zu bringen. Diese bestehenden Sorge und Verzweiflung darüber wandte Situation führte zu einer tiefen Depression, die 1935 sie sich an Frieda Fromm-Reichmann um bei ihr in für Hilde Bruch einen längeren Krankenhausaufent- Analyse zu gehen. Bei Fromm-Reichmann, die selbst halt erforderlich machte. Ihr erster Kontakt mit der eine Emigrantin aus Deutschland war, und mit deren Psychiatrie.41 Art therapeutisch zu arbeiten, fühlte sich Hilde Bruch In den folgenden Jahren fand Hilde Bruch in den USA in der unbeschreiblichen Not der Angst um ihre Fami- rasch Anerkennung als Pädiaterin. Sie spezialisierte lie verstanden. Nach Beendigung der Analyse blieben sich auf die Arbeit mit adipösen Kindern. Die bereits Bruch und Fromm-Reichmann bis zu deren Tod 1957 erwähnte Arbeit von 1939 über stark übergewichtige eng befreundet. Zu Beginn der Analyse wusste Hilde Bruch noch nichts von der Ermordung ihrer Angehöri-

40 Sparks, Biography, 1985. 41 Ebd. 42 Lidz, Vorwort, 1998, 7-10.

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gen. Sie konnte dazu beitragen, dass ihre Mu"er und gungs- und Vernichtungspolitik gegen Jüdinnen und zwei ihrer Brüder sich mit ihrer Hilfe re"en konnten. Juden beschlossen, ihre Grenzen für Emigrant*innen Ihr älterer Bruder, ihre ältere Schwester und andere aus dem Machtbereich Nazideutschlands möglichst zu Verwandte wurden im Holocaust ermordet. 1945 war schließen und Einwanderungsquoten nicht zu erhö- ihr Neffe Herbert, der Sohn ihres ältesten Bruders und hen bzw. weiter herunterzufahren oder gänzlich zu noch ein Kind, als einziger Überlebender seiner Familie streichen. Die nationalsozialistische Politik gegen Jü- in einem Hostel in London. Reise und Einreisemög- dinnen, Juden u. a. schien damals noch „begrenzt“ auf lichkeiten waren strikt begrenzt. Hier nun bekam ihre eine Verfolgungs-, Ausgrenzungs-, Raub- und Vertrei- Beziehung zu Fromm-Reichmann und Sullivan eine bungspolitik, war noch nicht in die Phase der planmä- ganz persönliche Wendung. Sullivan gelang es mit sei- ßigen und systematischen Vernichtung möglichst al- nen Kontakten zur Administration Einreisepapiere für ler Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti und anderer Herbert zu bekommen und Fromm-Reichmann erhielt verfolgter Menschengruppen eingetreten. Hilde Bruch eine Reisegenehmigung, ihre alte Mu"er, die sich nach hatte bereits 1934 die Todesdrohung für ihre Familie London re"en konnte, dort zu besuchen. Fromm- erkannt. Die Ergebnisse der Konferenz von Evian tru- Reichmann brachte dann Herbert in die USA, den Hil- gen dazu bei, vielen von den Nationalsozialisten ver- de Bruch adoptierte.43 Fromm-Reichmann ha"e Hilde folgten Menschen, die nicht früher emigrieren wollten Bruch vorangekündigt, ein Schrankkoffer mit den Hab- oder konnten, den Weg in eine rettende Emigration zu seligkeiten von Herbert sei unterwegs. Als dieser versperren. Das mindert nicht die Verantwortung der Schrankkoffer nie ankam, erfuhr Hilde Bruch von Her- nationalsozialistischen Mörder für ihre Taten, aber es bert, dass das kleine Köfferchen, mit dem er angekom- ist eine historische Erfahrung, mit der wir uns heute men war, sein ganzer Besitz war. Bruch meinte, dass es auseinandersetzen müssen – die Auswirkungen unter- für Fromm-Reichmann unannehmbar war, dass ein lassener Hilfeleistung durch Grenzschließung, wenn Kind so „deprived“ sein könnte. Herbert machte Frieda Menschen an Leib und Leben bedroht sind. Wenn uns Fromm-Reichmann dann zu seiner Großmu"er, und heute die Abschottung der europäischen Grenzen, die sie empfand ähnliche Gefühle für ihn, wie Hilde Bruch Schließung der sogenannten Balkan- oder Mittelmeer- es beschrieb. „Herbert konnte immer zu ihr kommen route und die Unterbindung des Familiennachzugs und klagen, wenn er das Gefühl ha"e, das Leben mit von Flüchtlingen als politische Konzepte verkauft wer- mir sei unmöglich. [Übersetzung W.L.]“44 den, ohne legale Reisemöglichkeiten für Flüchtlinge Ich habe die Sorgen von Hilde Bruch um ihre Familie und deren Angehörige zu eröffnen, dann ist die kriti- und die Ermordung ihrer Angehörigen erwähnt. Auf sche Reflexion dieser Bestrebungen nicht nur ein poli- der Konferenz von Évian, die vom 6. bis 15. Juli 1938 tisches, sondern auch ein psychotherapeutisches The- stattgefunden hatte, haben nahezu alle Länder der ma! Wahrscheinlich kennen alle, die mit Flüchtlingen Welt angesichts der nationalsozialistischen Verfol- psychotherapeutisch gearbeitet haben, deren quälende Angst um ihre Angehörigen. Ich halte es für überle- 43 Sparks, Biography, 1985. benswichtig, hier als Psychotherapeut*innen unsere 44 Bruch, Personal Reminiscences, 100f. Stimme zu erheben.

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